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Ruediger Dahlke wagt es, ein delikates Thema "gegen den Strich zu bürsten". Männer und Frauen sollten gleichberechtigt sein – sie sind aber nicht gleich. Auch und vor allem nicht im Bett. Ein Buch, das uns die Augen öffnet, um die eigenen Wünsche zu entdecken und das Glück körperlicher Liebe befreit zu genießen. Medien, Mode und Werbung überschütten uns nur so mit sexuellen Reizen, ständig und in aller Öffentlichkeit. Doch wie sieht die heutige Realität im Privatissimum des Schlafgemachs aus? Dort herrscht tiefe Verunsicherung, wie die stark ansteigende Zahl der Paare in psychotherapeutischer Behandlung offenbart. Offensichtlich gibt es immer mehr Männer, die es nie gelernt haben, souveräne Liebhaber zu sein. Und Frauen, die meinen, dass tiefe Hingabe unweigerlich zu sexueller Unterdrückung führen muss. Der Autor entwirft die provozierende These, dass die Gleichheit von Mann und Frau in Beruf und Gesellschaft nicht unreflektiert auf den intimsten Bereich ihrer Beziehung zueinander übertragen werden sollte. Eine natürliche Erotik wiederzuentdecken bedeutet, sich dem spielerischen Tanz geschlechtlicher Polarität hinzugeben, statt etwas von sich zu fordern, für das man nicht geschaffen ist.
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Seitenzahl: 429
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RUEDIGER
DAHLKE
MYTHOS
EROTIK
Eine Lebenskraft tritt
aus dem Schatten
1. eBook-Ausgabe
© 2013 Scorpio Verlag GmbH & Co. KG, Berlin · München
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Satz: BuchHaus Robert Gigler, München
ePub-ISBN: 978-3-943416-12-1
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Dank
Ich danke Stephanie von Frankenberg, Dorothea Neumayr, Agnes Weber, Ingfried Hobert, Balthasar Wanz, Kurt Eicher und meiner Partnerin Rita Fasel für Korrekturen und »erotische« Inspirationen, letzteren beiden besonders auch für die Sorge um mich, bei diesem anspruchsvollen Thema und der damit verbundenen Gratwanderung. Eckhard Graf gilt mein Dank für die Betreuung seitens des Verlages, Christine Stecher für das Lektorat.
INHALT
REDEN WIR DARÜBER!
Eros als Lebensprinzip
Neue Freiheiten und die Folgen
Wenn die Erotik auf der Strecke bleibt
Rollenmodelle und Sprachlosigkeit
DIE MODERNE WELT ALS EROTIKFREIE ZONE
Verbotene Sinnenlust
Erotische Schattenwelt
Durchsexualisierung als Gegenpol der Lust
WAS IST EIGENTLICH EROTIK?
Zwischen Körper, Geist, Seele und Liebe
Zeit der Sinnlichkeit, Momente des Heilwerdens
Natur und Kultur
DAS GESAMTKUNSTWERK LIEBE
Spielarten der Vereinigung
Formen der Liebe
Die Liebe verkennen
NEUE SPANNUNGSFELDER
Archetypisches und Aktuelles über Mann und Frau
Psychologie des Verliebens
Stichwort Shades of Grey
Was uns das Nibelungenlied erzählt
Männer, das schwache Geschlecht
Was Frauen wünschen
DIE MACHT DER SCHICKSALSGESETZE
Anziehungskräfte
Liebe als Resonanzphänomen
Polarität und Liebe
DIE GÖTTER DER LIEBE
Die Schaumgeborene
Erotische Elemente der Liebe
Eros-Amor und Psyche
Abstieg und Fall
EROTIK HEUTE
Sexuelle Befreiung
Erotikkiller Routine
Liebestechnik, Liebeskunst
Wege und Abwege
Der ganz normale Wahnsinn
Schmetterlinge oder Kalorien im Bauch?
DIE (AL-)CHEMIE DER LIEBE
Eine wissenschaftliche Flirt- und Liebesschule
Sich verlieben, begehren
Sich binden, zusammen leben, sich entwickeln
Der (Sexual-)Hormonrausch
Geheimnisse erotisierender Düfte
PRAKTISCHES ZUR ENERGIE DER EROTIK
Lebendige Liebeskunst
Hilfe aus Eros’ engerer Familie
Regieanweisungen für erotische Spiele
Eine schrecklich(e) erotische Fantasie
RITUAL ALS WEG
ANHANG
Veröffentlichungen von Ruediger Dahlke
Adressen
Mit Küssen seines Mundes bedecke er mich.
Süßer als Wein ist deine Liebe.
Köstlich ist der Duft deiner Salben, dein Name
hingegossenes Salböl;
darum lieben dich die Mädchen.
Zieh mich her hinter dir! Lass uns eilen!
Der König führt mich in seine Gemächer.
Jauchzen lasst uns, deiner uns freuen,
deine Liebe höher rühmen als Wein.
Er küsse mich mit dem Kusse seines Mundes;
denn deine Liebe ist lieblicher als Wein.
Er erquickt mich mit Blumen und labt mich mit Äpfeln;
denn ich bin krank vor Liebe.
Seine Linke liegt unter meinem Haupte,
und seine Rechte herzt mich.
Da ich ein wenig an ihnen vorüber war, da fand ich,
den meine Seele liebt.
Ich halte ihn und will ihn nicht lassen …
Ich habe meinen Rock ausgezogen,
wie soll ich ihn wieder anziehen?
Ich habe meine Füße gewaschen,
wie soll ich sie wieder besudeln?
Aber mein Freund steckte seine Hand durchs Riegelloch,
und mein Innerstes erzitterte davor.
Da stand ich auf, dass ich meinem Freund auftäte;
meine Hände troffen von Myrrhe und meine Finger von
fließender Myrrhe an dem Riegel am Schoß.
Wie schön ist dein Gang in den Schuhen,
du Fürstentochter!
Deine Lenden stehen gleich aneinander wie zwei Spangen,
die des Meisters Hand gemacht hat.
Dein Schoß ist wie ein runder Becher,
dem nimmer Getränk mangelt.
Dein Leib ist wie ein Weizenhaufen, umsteckt mit Rosen.
Deine zwei Brüste sind wie zwei Rehzwillinge.
Wie schön und wie lieblich bist du, du Liebe voller Wonne!
Dein Wuchs ist hoch wie ein Palmbaum
und deine Brüste gleich den Weintrauben.
Ich sprach: Ich muss auf den Palmbaum steigen
und seine Zweige ergreifen.
Lass deine Brüste sein wie Trauben am Weinstock
und deiner Nase Duft wie Äpfel.
Mein Freund ist mein, und nach mir steht sein Verlangen.
Ich bin gekommen, meine Schwester, liebe Braut, in meinen
Garten. Ich habe meine Myrrhe samt meinen Würzen
abgebrochen; ich habe meinen Seim samt meinem Honig
gegessen; ich habe meinen Wein samt meiner Milch
getrunken. Esst, meine Lieben, und trinkt, meine Freunde,
und werdet trunken!
Aus Salomon, Hohelied der Liebe
»Die Liebe ist manchmal das Tragischste
und oft das Schönste, aber immer das Wichtigste.«
UNBEKANNTER VERFASSER
Ein Lebensprinzip sein – ist das nicht ein wenig zu viel der Ehre für eine Nebenfigur im griechischen Götterhimmel? Eine Gestalt, die im Laufe der Jahrhunderte zu einem dicklichen Engelchen abwirtschaftete, das mit Spielzeugpfeilen auf putzige rote Herzen zielt? Ich meine nein. Es ist überhaupt nicht zu viel der Ehre, denn Eros ist wahrhaftig ein Lebensprinzip.
Wir haben heute die einzigartige Chance, das schönste Thema der Welt wieder so anzugehen, dass es den ihm einst zugedachten Platz in unserem Leben einnehmen kann, und es noch schöner zu machen, als es ohnehin schon ist. Es ist die richtige Zeit dafür, auch wenn es manchmal gar nicht so aussehen mag.
Eros ist kein verschleißfester Kämpfer, der mit harten Ellbogen arbeitet, aber er besitzt ein zähes Durchhaltevermögen und hat sich jahrtausendelang gegen seine zahlreichen Feinde behauptet. Er ist ein hartnäckiger Begleiter des Menschen, der seinen Fuß (lebens-)prinzipiell in jede Tür zu stellen vermag, und sollte sie nur einen kleinen Spalt geöffnet sein. Eros’ Stimme ist nicht laut, aber sein Wirken nachhaltig. Um sich in der Welt der Menschen auf das Schönste zu verwirklichen, will er jedoch eingeladen sein.
Lange Zeit waren die gewöhnlichen Lebensverhältnisse wenig einladend für Eros. Als unsere Vorfahren noch in Schmutz, Kälte und Nässe ihr Dasein fristeten, als nicht nur mangelnde, sondern jegliche Abwesenheit von Hygiene die Regel war, dürfte Eros kaum eine Heimstatt unter ihnen gefunden haben. Hinzu kamen schwerste Arbeit, die den Körper erschöpfte, und der enorme Stress, den die ständige Sorge um das Überleben mit sich brachte. Somit wird von vornherein klar: Eros ist nicht nur ein Kind der Natur, sondern vor allem der Kultur. Vielleicht kam Eros sogar zur selben Zeit in das menschliche Dasein wie das Spiel. Dürften nicht sogar erotische Spiele die erste urmenschliche Äußerung des natürlichen Spieltriebs, der so vielen Kreaturen innewohnt, gewesen sein? Niemand weiß es genau, aber es wäre plausibel.
Für sehr lange Zeit konnten nur wenige Menschen es sich leisten, Eros mit gebührender Muße spielerisch zu begegnen. Erotische Kultur war ein reines Oberschichtenthema, wie wir es heute nennen würden. Sie entwickelte sich als ein Privileg der Herrschenden, Reichen und Gebildeten. Von jeher sind es die begüterten Kreise gewesen, und hier insbesondere die Männer, die über genügend Gelegenheit verfügten, überhaupt nennenswerte erotische Erfahrungen zu sammeln. Berühmt war Venedig für seine schönen und gebildeten Kurtisanen – bis die Kirche anlässlich einer Pestepidemie die Gelegenheit beim Schopfe packte und die gerade wieder einmal aufblühende Kultur des Eros erneut zerschlug. Und dies ist nur eines von vielen Beispielen aus einer nicht allzu fernen Epoche. Wenn wir heute drastisch formulieren, dass unsere Gesellschaft oversexed sei, so beschreibt dies auch den ungeheuer großen Unterschied an Lebensressourcen im Vergleich zu dem weit überwiegenden Teil der Vergangenheit.
Ein kulturell gebundenes Lebensprinzip wie Eros bedarf, um sich Geltung zu verschaffen, einer weiteren grundlegenden Voraussetzung, die heute überreichlich zur Verfügung steht: Information. Eine verfeinerte Genussfähigkeit ist nicht (jedem) angeboren. Sie will erlernt werden, auch aus Büchern. So ist es eine wenig beachtete, aber kaum erstaunliche Tatsache, dass erotische Literatur bereits in der Frühzeit des Druckerwesens eine der wichtigsten Einnahmequellen war. Doch erst in moderner Zeit ermöglichten Film, Fernsehen und Internet es prinzipiell jedem, das Thema Erotik jenseits eigener Erlebnisse und persönlicher Gespräche anzugehen und Anschauungsmaterial zu sammeln.
In diesem Zusammenhang ist es also keineswegs banal, darauf hinzuweisen, dass die Menschen heute in aller Regel lesen und schreiben können. Die allgemeine Schulpflicht setzte sich selbst in Mitteleuropa erst im 19. Jahrhundert durch, und ihre Einführung lässt in vielen Teilen der Welt weiter zu wünschen übrig. Sogar bei uns gibt es noch erschreckend viele sogenannte funktionale Analphabeten, Menschen, die nicht lesen können und das zu kaschieren suchen. Die ernüchternde Wahrheit ist, dass die Welt auf Film und Fernsehen warten musste, damit auch die Letzten mehr und mehr über das erfahren können, was uns alle mit am meisten interessiert, auch wenn es für viele von Angst und Scham begleitet ist. Die Überflutung unseres Alltags mit sexuellen Reizen, so vielschichtig ihre Folgen auch sein mögen, ist also zunächst einmal eine Folge dieser »Demokratisierung«. Man könnte sogar von einer Proliferation der Erotik, einem Wildwuchs, sprechen.
Es besteht darüber hinaus eine direkte Parallele zwischen der Beherrschbarkeit des Menschen und dem Entzug von Möglichkeiten des Spielens und Genießens. Hier deutet sich bereits die große Chance an, die eine gereifte und bewusste Erotik für die (innere) Befreiung des Menschen haben könnte. In ihrer Erotik freie Menschen sind weniger leicht beherrschbar, aber sie könnten viel mehr beherrschen – auch sich selbst. Sie wären frei für ein selbstbestimmtes Leben.
Eros hatte es immer schwer, gerade im für seine kulturellen Errungenschaften so hoch gepriesenen Abendland. Heute jedoch erhält die unterdrückte Lebenskraft wieder einmal eine Chance. In allerjüngster Zeit geschieht es auch dank einer neuen Variante der Frauenbewegung. Sie erhebt ihre Stimme gegen eine Lustfeindlichkeit, die ausgerechnet im Schatten ihrer eigenen politischen Schwester entstanden ist.
Auch im unmittelbaren Umfeld unserer Betten hat sich allein im letzten Jahrhundert sehr viel geändert, mit beträchtlichen Konsequenzen für das erotische Erleben. Wir haben heute praktisch alle die Möglichkeit, uns aus Liebe zusammenzutun und aus Liebe zu heiraten. Wir müssen uns in dieser Hinsicht eigentlich weder von Kirche noch Staat, noch Gesellschaft Vorschriften machen lassen, und wenn es hier dennoch Probleme gibt, existieren sie in unserem Kopf. Auch das ist relativ neu.
Nur scheint bei diesem Thema die (oberste) Oberschicht der Gesellschaft der Entwicklung etwas nachzuhinken; hier hat die Ehe bis heute wenig mit Eros zu tun. Doch offenbar befreien sich selbst reale Königskinder zunehmend von der Bevormundung ihres Liebeslebens und gehen den Weg ihrer Brüder und Schwestern aus dem Märchen, die stets viel Mut beweisen, um nach Neigung statt nach Standeszugehörigkeit zu lieben und zu ehelichen.
Wenn in Zukunft Gatte und Gattin von (geld-)adligem Stand den Beischlaf tatsächlich nicht mehr lediglich zur Reproduktion pflegten, würde das aber keineswegs den Niedergang des Geschäftsmodells moderner Märchenerzähler, der Gesellschaftsreporter der Hochglanzmagazine und Illustrierten, bedeuten. Schließlich ist kaum zu erwarten, dass die hohen Herrschaften auf ein Liebesleben außerhalb der Ehe verzichten, welches in anderen Gesellschaftsschichten ebenfalls schon gang und gäbe ist. Die Lebensweisen gleichen sich an, und wenn der modernen Gesellschaft prinzipiell etwas abhandengekommen ist, dann wohl das Prinzip lebenslanger Treue.
Ganz oben auf der familienpolitischen Tagesordnung steht inzwischen die Unterstützung der Patchwork-Familie, vermutlich weil sie eine wesentliche Voraussetzung für die Berufstätigkeit der Frau bildet. Es ist jedoch fraglich, ob für Mann und Frau so viel wirklich Neues an dieser Form des Lebens und Liebens ist. Schon in alter Zeit musste die Meisters- oder Bauersfrau, kaum war ihr Mann an TBC gestorben oder auf dem letzten Feldzug des Landesherrn gefallen, den übrig gebliebenen jüngeren Bruder heiraten, damit der Familienbetrieb fortgeführt werden konnte. Es gab ja weder Witwenrente noch Kinderkrippen, noch Sozialhilfe. Wiederverheiratung war das Mittel der Wahl zum Zweck des Überlebens für eine verwitwete oder verlassene Frau mit Kindern. Heute kommt es in der Regel zum familiären Patchwork, weil sich die bisherigen Partner nicht mehr (zu) lieben (meinen) und mindestens einer von ihnen für jemand anderen frei sein möchte. Der Grund ist in Wahrheit meist die (erhoffte) Aussicht auf eine befriedigendere Erfüllung von erotischen Liebesbedürfnissen. Eros hat dann seine Pfeile in zwei vergebene Herzen platziert, ohne Rücksicht auf zwischenmenschliche Kollateralschäden.
In diesem Sinne unterstützt selbst das statistisch erwiesene mehrheitliche Scheitern heutiger Liebesehen und -beziehungen den Marsch von Eros durch die Institutionen, zumindest durch das Versorgungsinstitut Ehe. So eröffnen sich neue Chancen für das von ihm vertretene Lebensprinzip, in die Lebensqualität des heutigen Menschen mit einzufließen. Jedenfalls dann, wenn man durch Scheidung aus Schaden klug wird und sich jemandem zuwendet, der im Bett besser »passt«.
Die Klage über mangelnde Erotik ist wohl so alt wie die menschliche Kultur selbst. Das ist nur zu verständlich vor dem Hintergrund, dass Liebe die alles verbindende Kraft des Lebens ist. Natürlich bedauern wir jeden Tag, an dem wir Eros nicht leben und erleben, seine Chancen nicht beherzt genug ergriffen haben. Wir bedauern es, in Beziehungen zu leben oder gelebt zu haben, die es nicht wert sind, so genannt zu werden, weil Eros sich in ihnen mehr und mehr rarmacht. Und wir haben Angst, dass wir vielleicht nicht mehr genügend nachholen oder, besser gesagt, nicht alles leben können, wonach wir uns im tiefsten Grunde sehnen und was wir vor unserem inneren Auge als Möglichkeit sehen, selbst wenn wir es vielleicht nie in der Wirklichkeit erfahren haben. Immerhin haben wir das Glück, in einer Zeit zu leben, in der auch das Altern kein Hindernis für erotisches Glück mehr sein muss und wir Menschen gleicher Überzeugung um uns haben können, die ebenfalls neugierig genug sind, neue Erfahrungen zu sammeln.
Natürlich existieren wir auch weiterhin in der Welt der Polarität, die dort Anlass zu Klagen gibt, wo sie nicht durchschaut wird. Beide Geschlechter müssen heute sehr vielen und vielseitigen Aufgaben gerecht werden. Frauen sollen attraktiv, gepflegt und gebildet sein. Sie (wollen und) sollen Kinder bekommen und sie großziehen, ihnen Nachhilfe geben, sie im Krankheitsfall pflegen und sich pädagogisch auf dem neuesten Stand zeigen. Daneben sollen sie möglichst auch noch arbeiten gehen und jederzeit Lust haben, mit ihrem oft überarbeiteten Mann zu schlafen. Bei alldem haben sie nicht nur ausgeschlafen auszusehen, sondern es auch zu sein.
Ähnliches gilt für den Mann, der wie eh und je als selbstständig und erfolgreich zu gelten hat, heute aber auch kochen können sollte. Er muss nicht nur attraktiv aussehen, sondern auch gut im Bett sein, dazu tüchtig im Beruf. Allerdings muss er auch zu Hause zur Stelle sein, wenn wegen der Berufstätigkeit der Frau die Kinder versorgt werden müssen. Wenn dann endlich ein Kindergartenplatz gefunden ist, bringt er den Nachwuchs jeden Morgen pünktlich und gut gelaunt dorthin, ohne sich als Weichling zu fühlen oder mit der Kindergärtnerin anzubandeln.
Für viele Frauen bringt die moderne Rollen-(Über-)Forderung mit sich, dass sie vermännlichen. In einigen Firmen dürfen sie nur im dunklen Kostüm oder Hosenanzug erscheinen; es ist ihnen verboten, lange Haare offen zu tragen, Parfum zu verwenden oder sich sichtbar zu schminken. Die Männer hingegen verweiblichen, indem sie der Forderung nachkommen, gefühlsbetonter und sensibler, eben weicher zu werden, allerdings bloß kein Weichei.
Beide Geschlechter kommen diesen Anforderungen bis hin zu tiefer Erschöpfung willig nach, weil es im Sinne ihrer erwünschten Gleichstellung so erwartet wird. Welcher Preis dafür in Form von Vitalität zu zahlen ist, wird aktuell zum Gegenstand einer immer schärfer werdenden Diskussion. Das Problem zeigt sich nicht zuletzt in der exponentiell steigenden Zahl von Seeleninfarkten in Form von Burn- und Bore-out.
Allerdings wird noch nicht diskutiert, welcher Tribut dabei auch der männlichen und weiblichen Natur in uns entrichtet werden muss. Diese Frage zu stellen ist nach wie vor tabu. Gesprächsverbot wird anlässlich dieses Themas nicht nur deshalb erteilt, weil damit verbundene Fragen und Probleme von jeher mit Scham belegt sind. Sondern heute kommt noch verschärfend hinzu, dass eine offene Diskussion zwangsläufig an dem erst vor kurzer Zeit und äußerst mühsam installierten modernen Rollenbild von Mann und Frau kratzen wird. Dabei ist dieses neue Modell in unseren altmodischen Seelen noch gar nicht wirklich verankert. So bleibt es beim hohen Anspruch und einer letztlich ambivalenten Definition. Die neue Zeit fordert etwas, das die alte Seele noch gar nicht kann.
In der Tiefe sorgen unklare Rollendefinitionen für unklare Verhältnisse. Die Diskrepanz zwischen politischer Korrektheit und Seelenbedürfnissen wird dabei immer auffälliger, und es wird immer deutlicher, dass die Rechnung dafür an einem Ort und bei einer Tätigkeit beglichen wird, über die wirklich ehrlich zu sprechen – aller Freizügigkeit zum Trotz – immer noch äußerst schwerfällt: in der Erotik, im Bett, beim Sex.
Mit dem wirklich offenen und ehrlichen Darüberreden ist es nach wie vor so eine Sache. Sicher können wir heute ungestraft über Sex sprechen und es sogar erstmals auf breiter Ebene tun. Immerhin bezeichnen wir ihn gern als Thema Nummer eins. Doch was so lange mit einem absoluten Tabu versehen war, muss in einem längeren Prozess erst im eigentlichen Sinn gesprächsfähig gemacht werden. Die Tatsache, dass unser Alltag mit (bewegten) Bildern und (bewegenden) Worten mittlerweile komplett durchsexualisiert ist, sagt überhaupt nichts über unsere entsprechende Aufnahmefähigkeit aus. Möglicherweise ist sogar die Mehrheit aller Ehepaare nach wie vor nicht in der Lage, miteinander frei von der Leber weg über ihren eigenen Sex zu reden. Dreißig Jahre therapeutischer Praxis haben mich wissen lassen, welch schwieriges Thema das Sprechen zwischen Mann und Frau grundsätzlich ist.
Andererseits ist diese Hilflosigkeit kein Wunder. Allein das unverfängliche, einfache Miteinandersprechen ist bei gesellschaftlichen Anlässen aller Art nicht nur in muslimischen Ländern, sondern auch in unseren Breiten noch bis in die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts so geregelt gewesen, dass Männer in aller Regel nur mit Männern und Frauen nur mit Frauen kommunizierten. Über Erotik wurde nicht einmal mit dem Ehepartner geredet; sie war Thema in »Etablissements«, allenfalls noch in intellektuell elitären Salons. Allerdings müsste die altbekannte Sprachlosigkeit heute eigentlich nicht mehr bedeuten, dass Liebe und Erotik beim Sexualkundeunterricht steckenbleiben und dieser, wie noch in meiner eigenen Schulzeit, hauptsächlich aus Warnungen vor Geschlechtskrankheiten besteht.
Es ist sicher kein Vorurteil, dass Männer sich bis heute schwertun, über Gefühle, über Seelisches allgemein zu sprechen, geschweige denn über Erotik – vor allem mit ihrer eigenen Frau. Kommunikation über sinnlich-erotische Erfahrungen außerhalb der abgeschlossenen Zone des typischen Männergesprächs ist neues Terrain. Über Erotik offen und ehrlich zu sprechen will übrigens auch von nicht wenigen Frauen gelernt werden. Wir alle haben stattdessen nur zu projizieren gelernt, also den Abfalleimer eigener schlechter Gefühle und Probleme auf dem Gegenüber auszuleeren. Das ist kein Vorwurf, sondern eine weitere Beobachtung aus der Sprechstunde und aus verschiedenen Arten von Selbsterfahrungsseminaren; sie könnte so urteilslos zur Kenntnis genommen werden wie die Tatsache, dass die Generation der heute Achtzigjährigen in der Regel nicht mit dem Computer umgehen kann. So weit die schlechte Nachricht; die gute ist: Jede Projektionsneigung lässt sich durchschauen und überwinden, wenn die dahinterstehende Polarität und die aus ihr folgende Schattenentwicklung erkannt werden.
Über Eros zu schreiben heißt, etwas zu schildern, das nie ganz zu erklären, sondern wohl besser zu besingen ist. Ein Sachbuch muss per Definition eine sachliche Sprache wählen. Doch möchte ich dabei nicht allzu viel Rücksicht auf gängige Tabus nehmen, weil diese doch immer wieder im Laufe der Zeiten und Moden wechseln. Ich erlaube mir, in einer mir lieben Sprache zu schreiben, gleichsam wie in freier Rede, und mit einer besonderen Steigerung gegen Ende des Buches.
Indem ich hier entgegen sonstiger Gepflogenheit über mein Schreiben schreibe, scheint einer der Gründe durch, warum das wichtigste Thema unseres Daseins, die Liebe, weder an Schulen noch an Universitäten gelehrt wird: Sie ist nicht akademisch.
Wenn es für die heutige Zeit ein Mittel gibt, um Hektik und Stress abzubauen und somit Seeleninfarkten von Burn- bis Bore-out vorzubeugen, so liegt dieses wohl im Erfahren und Erleben von Eros. Indem wir das unterdrückte Lebensprinzip in unsere Lebenswelt heimholen, könnte sich eine Liebeskultur entwickeln, die neue Maßstäbe setzt und unser gesamtes Dasein über den reinen Mammon hinauswachsen lässt. Erotik kann uns in den Augenblick bringen, kann Lust bis zur Ekstase vermitteln und uns in das absichtslose, befreiende Spiel kommen lassen – in das spielerische (Er-)Leben lebendiger Sinnlichkeit, ja, von Sinn und Leben in des Wortes umfassendster Bedeutung.
Ich bin der festen Überzeugung, dass heute die wundervolle Möglichkeit besteht, das Wissen um Eros weiter zu streuen denn je. Enge gesellschaftliche Grenzen und Abhängigkeiten haben sich aufgelöst; empfängnisverhütende Maßnahmen stehen allen zur Verfügung; die meisten können lesen und haben Zugang zu verschiedensten Medien. Und alle könn(t)en miteinander sprechen. Die Zeiten sind also gar nicht so schlecht, und die Zeichen stehen gut – für eine Einladung an Eros.
»Wenn der Mensch fähig sein soll zu lieben, muss
seine Entfaltung das höchste Ziel der Gesellschaft sein.«
ERICH FROMM
Das Alte Testament ist nicht gerade arm an erotischen Bildern; im Neuen Testament ist zu lesen, dass es eine frohe Botschaft sei. Zudem ist ihm nirgendwo zu entnehmen, dass Christus sinnenfeindlich gewesen sei. Er vermehrte bei der Hochzeit von Kanaan Wein und nicht etwa Traubensaft. Seine Jünger ermunterte er, die Zeit zu genießen und zu feiern, die er unter ihnen weilte. Dass er eine ehemalige Hure als Frau an seiner Seite gehabt hat, ist nach den Erkenntnissen einer kirchlich unabhängigen Textkritik sehr wahrscheinlich. An den religiösen Urtexten unserer Kultur lag es also kaum, dass die Kirche Eros in ihren eisernen Griff nahm.
Obwohl der Einfluss der Kirche kontinuierlich schwindet, scheinen wir weiterhin unsere Probleme mit Eros als Lebensprinzip zu haben. Dies ist allein schon deshalb verständlich, weil dessen Unterdrückung eine so lange Zeit so konsequent aufrechterhalten wurde, dass sie mittlerweile aus unserem Inneren heraus wirksam wird. Selbst ein komplettes Verschwinden äußerer Repression würde der Erotik nicht automatisch jenen Platz im Leben zukommen lassen, der ihr eigentlich entspricht und der für unsere weitere Bewusstseinsentwicklung – in meinen Augen – so wünschenswert ist.
Aber wie wichtig ist den Menschen heute die Liebe? Wer singt noch ihr Hohelied? Warum stellt uns das Thema auch Jahrhunderte nach der Aufklärung und Jahrzehnte nach der sexuellen Revolution weiter vor solche Probleme? Könnte es an Eros selbst liegen? Wir sollten uns fragen, wie viel Bedeutung Er(os), der Gott der erotischen Liebe, heute noch für uns hat.
Zumindest ist Erotik noch immer das wichtigste Thema der Jugend. Daran hat sich auch in der Facebook-Generation nichts geändert. Eros liefert nach wie vor jenes Spannungsfeld von Anziehung und Distanz, in dem sich für vitale Menschen der Tanz des Lebens abspielt.
Eros übt eine zeitlose Faszination aus. In manchen alten Genealogien wird er zu den Urgöttern gezählt; eine diesem Rang angemessene kultische Prominenz genoss er jedoch selbst im ältesten Griechenland nicht. Es scheint, als wäre sein Thema schon den Urahnen eher peinlich gewesen. Eros ist eben nicht nur ein schöner Jüngling, ein neckisch-verspielter, listiger Knabe. Er ist auch ein rebellisches Kraftpaket, eine kosmische Urmacht und damit Element der Weltenentstehung, ein schaffendes und zeugendes Prinzip.
Wir kommen aus einer vergleichsweise alten Zivilisation, die ihre kulturelle Identität in großem Maße aus den heroischen Taten ihrer bedeutendsten Staatenlenker bezieht. Würden wir uns an den großen Liebesgeschichten und -taten messen, die aus der Geschichte bekannt sind, fühlte und ließe sich manches in Vergangenheit und Gegenwart anders an. Im Schulunterricht haben wir bestenfalls zwei große Liebesdramen kennengelernt, das von Romeo und Julia und jenes von Tristan und Isolde. Hauptsächlich prasselte tote Information über eine Unzahl von Kaisern, Königen, Päpsten und anderen für fühlende Menschen völlig uninteressanten Figuren auf uns ein, inklusive der langen Listen dazugehöriger Jahreszahlen. Wir wehrten uns, wenn auch meist nur innerlich, dagegen und haben all diesen Wust zum einen Ohr herein- und zum anderen wieder hinausgelassen. Wer aber die beiden großen Liebesschicksale auch nur einmal vernahm, hat sie nie mehr vergessen, denn unsere Seele interessiert sich für Geschichten, nicht für Geschichtsdaten – am meisten jedoch für Liebe(sgeschichten). Unsere wirkliche Welt ist eine seelische und lebt nicht von nackten Zahlen und Fakten, sondern von Gefühlen und Emotionen.
Eros’ Abstieg in der von uns überschaubaren Vergangenheit wird deutlich im fortschreitenden Niedergang der ritualisierten Liebeskultur: von den erotischen Mysterien in den Tempeln der Antike zu den Eros-Centern der Moderne mit ihrer käuflichen »Liebe«. Dieser Weg führte immer stärker in das gesellschaftliche Abseits. Was nicht verhinderte, dass heute jede Kleinstadt ihr Rotlichtmilieu hat. Zur Prostitution steht zwar niemand, aber viele gehen ins Bordell. Andernfalls gäbe es solche Art Ware gar nicht im weltumspannenden Reich von Angebot und Nachfrage.
Doch das wirkliche Problem liegt tiefer, und es wurzelt nicht draußen im Straßenstrich, sondern in der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft. Wohl kaum etwas ist so sehr dafür verantwortlich, dass Eros sich schon fast davongemacht hat, wie der Anspruch auf die lebenslange Haltbarkeit der Ehe. Dabei wurde bisher noch kaum ein monogamer Mann gefunden und auch nur selten eine wirklich monogame Frau.
Die Anforderungen an eine monogame Beziehung sind naturgemäß schon mit der drastisch veränderten Lebenserwartung der Menschen gestiegen. Musste eine Ehe vor hundertfünfzig Jahren durchschnittlich nur elf Jahre halten, so hätten es heute über vierzig zu sein. Das schaffen wir nur selten und geraten stattdessen zunehmend in den Scheidungsdschungel. Viele mögen notgedrungen monogam und dabei sehnsüchtig leben. Selbstverleugnung, Unterdrückung und Verdrängung wirken jedoch nicht gerade erotisierend.
Aus der Ehe zieht sich Eros zurück, sobald die Spannung nachlässt und nicht wiederhergestellt wird. Die sich daraus ergebene Frustration ist der Erotik natürlich weiter abträglich. Gewohnheit und Routine greifen um sich, die nicht nur die Beziehung, sondern oft auch Beruf und Arbeit sabotieren und schließlich sogar lahmlegen. Eine Scheidung bedeutet dann für viele eine Befreiung aus dem Beziehungsbeton, in dem die Erotik erloschen war; nun kann Eros neu ins Spiel (des Lebens) kommen. Damit bringt auch diese Schattenerfahrung – potenziell – das Licht am Ende des Tunnels gleich mit sich.
Wichtig ist festzuhalten, dass es zweierlei ist, etwas nicht zu brauchen oder es verdrängen zu müssen. Auch die Moderne hat die Rolle des Liebesgottes ignoriert, vielleicht, weil er sich in den meisten Ehen so unwohl fühlt und rasch entflieht. Aber kann ein Mensch, der glücklich werden will, wirklich auf Eros verzichten? Warum schiebt die bürgerliche Gesellschaft Eros in Randbereiche ab, wo er seine »Liebesfeste« auf unerlöste Art in von der Polizei kontrollierten, verlockend und zugleich warnend rot erleuchteten »Liebes«-Festungen feiern muss. Es sei dahingestellt, ob deren Besucher ahnen, dass sie eine Sehnsucht, von der sie nicht lassen können, hier doch nicht erfüllt bekommen. Von Liebe bleibt da nichts, und die Lust ist einseitig.
Obwohl Eros längst nicht mehr als Gottheit verehrt wird und eine Kultur der Erotik ihren Stellenwert als Fixpunkt des menschlichen Daseins verloren zu haben scheint, dienen doch fast alle diesem Gott oder Lebensprinzip weiterhin, nur eben auf mehr oder weniger verschrobenen Wegen.
Bei uns ist Eros tief im gesellschaftlichen Schatten gelandet und sein Thema mit ihm. Das aber macht ihn für uns umso wichtiger, leiden wir doch vor allem am Unbewussten, am Schatten. Und zugleich ist dieser Schatten unser größter Schatz, sofern wir ihn heben, die dort gebundene Energie befreien und sie in erlöste Bereiche fließen lassen. Der Tiefpunkt hat auch den ungeheuren Vorteil, Umkehrpunkt zu sein. Das aus dem Griechischen stammende Wort Katastrophe meint genau das.
Bei der Betrachtung der Gründe, warum wir die Achtung vor der körperlich-sinnlichen Liebe so sehr verloren haben, spielt die Körperfeindlichkeit der Kirche, die aus dem alten Hohelied der Liebe und der neuen Lehre der christlichen (Nächsten-)Liebe so wenig machte, eine Rolle. Solche Moralvorstellungen wirken noch in unsere moderne Zeit hinein, auch ohne dass sie immer noch die allgemein verbindlichen Standards für äußeres Verhalten und innere Orientierung setzen würden. Ein weiterer entscheidender Grund ist der fortschreitende Turbo-Kapitalismus, der nicht nur die Arbeit entfremdete, sondern das ganze Leben zunehmend verfremdet. Wenn Geld regiert und alles immer schneller gehen muss, wenn Qualität gegenüber Quantität zurückzustehen hat, bildet sich ein für Erotik unbefriedigendes hektisch-oberflächliches Lebensgefühl.
Obwohl es als politisch inkorrekt gilt, muss auf unserer Spurensuche auch auf die fortschreitende Gleichstellung der Geschlechter in Gesellschaft und Beruf hingewiesen werden, die auf die Beziehungen und damit das erotische Geschlechtsleben tendenziell lähmend wirkt. Es muss erlaubt sein, zu fragen, ob Männer im Bett ihren Mann nicht mehr stehen und Frauen nicht mehr Frau sein können, weil sie heute im Alltag die gleichen Rollen bekleiden. Es könnte sein, dass sie im nackten Zustand zwar noch die äußeren Unterschiede, aber nicht mehr ihre unterschiedlichen Bedürfnisse erkennen und sie sich gegenseitig dann auch nicht befriedigen können.
Beide Geschlechter erleben das Problem auf ihre jeweilige Art und Weise: Männer sind zunehmend verunsichert, weil sie gesellschaftlich von Frauen massenhaft und auf beiden Seiten überholt werden. Lange haben sie es sich in scheinbar unangreifbarer Position bequem gemacht und erschrecken nun, wie sehr diese inzwischen infrage gestellt wird. Geschwächt auf vielen Ebenen, fällt ist es ihnen schwer, als souveräne Liebhaber aufzutreten und durch Emanzipation – jedenfalls politisch – gestärkten Frauen gerecht zu werden. Wenn diese zunehmend unter Brustkrebs leiden, ist im Sinne der Krankheitsbilder-Deutung davon auszugehen – und Psychotherapien belegen es –, dass viele auf der tieferen Seelenebene mit der Rollenangleichung nicht zurechtkommen.
Die sozialen Errungenschaften der politisch linken Emanzipationsbewegung sind uneingeschränkt zu begrüßen und waren überfällig; sie gehen heute aber so weit, dass sie manchmal schon über das Ziel von Gleichberechtigung hinausschießen. Deutlich werden solche nicht eingestandenen Übertreibungen – ebenso wie die damit verbundenen Defizite – nicht zuletzt an Kleinigkeiten. Ein so gut wie nie ausgesprochenes, aber beredtes Beispiel ist die Tatsache, dass Frauen auch rein modisch ihren Sexappeal immer selbstbewusster ausspielen, während Männer darauf anscheinend kaum noch reagieren dürfen, ohne sich dem Vorwurf des Sexismus auszusetzen. Auch in Deutschland widmet man erstaunlich viel Zeit publizistisch aufgeschäumten Sexismusdebatten, die doch vom eigentlichen Problem nur ablenken: der Tatsache, dass wir es immer noch nicht vollbracht haben, eine sowohl für Frauen als auch für Männer gerechtere und genussvollere Gesellschaft zu schaffen.
Zu beobachten ist, dass sich immer mehr Frauen immer weniger für die Ambitionen und Aktionen der Emanzipationsbewegung interessieren. Zwar nehmen sie deren politische Früchte lässig mit, wagen es aber, wieder von »richtigen« Männern zu träumen. Viele weibliche Seelen scheinen sich dabei in Fantasien zu flüchten. Sie träumen – wohl in politisch höchst unkorrekten inneren Bildern – von einer Welt, in der Eros wieder ein großer, starker Gott ist, der mit dem Feuer seines Vaters Mars und dessen Kriegswaffen, Pfeil und Bogen, das Anliegen seiner Mutter, der Liebesgöttin Venus, in die Herzen der Menschen schießt oder mit der Brandfackel hineinstößt, um es zu entflammen.
Bleiben wir noch kurz beim Mythos, der uns später noch intensiver beschäftigen wird: Eros ist das illegale Kind eines illegalen Verhältnisses. Die kunstsinnige, Versöhnung und Frieden vermittelnde Aphrodite-Venus wendet sich, dem Polaritätsgesetz gemäß, ihrem Gegenpol zu. Sie verfällt Ares-Mars und gibt sich seiner ungezähmten Natur hin. Gegensätze ziehen sich an, und nur so kann es zu solch prachtvollen Kindern kommen wie Harmonia und Eros.
Lebendige Erotik braucht offensichtlich auch die archetypisch-männliche Kraft des Mars. Diese ist heute unter dem Druck des Zeitgeistes jedoch ausgesprochen unpopulär. Dabei könnte der zeitlose Mythos uns vieles erklären und helfen, aus der entstandenen Schieflage in ein Daseinsgefühl zu kommen, bei dem Lebensund Liebeslust uns bereichern, statt als ständige Bedrohung empfunden zu werden.
Unterdessen bringen die – an sich wünschenswerten und längst überfälligen – enormen Rollenverschiebungen der Geschlechter im Alltag zunehmend ihren Schatten hervor. Frauen haben sich mittlerweile in »männlichen« Rollen im Berufsleben eingerichtet und zunehmend Gefallen daran gefunden – eine Entwicklung, die Männer sehr oft auf dem falschen Fuß erwischt, sie verunsichert und vielfach resignieren lässt. So mag es einerseits Frauen schwerer fallen, im Bett die archetypisch-männliche, aktiv-bestimmende Rolle abzulegen und sie stattdessen vom Partner einzufordern oder auch nur sie bei ihm zu akzeptieren. Andererseits können auch immer weniger Männer ihren Frauen diese Qualität des L(i)ebens bieten, denn Resignation ist dabei extrem hinderlich, wenn nicht verhindernd.
Viele moderne Frauen wenden sich nicht zufällig nicht mehr nur im Berufs-, sondern auch im Geschlechtsleben dem männlichen Pol zu. Die Frage ist, ob sie damit wirklich glücklich werden können oder ob sie nicht doch von sich selbst mehr fordern, als sie im Grunde geben können und wollen. So stellt sich ganz unpopulär die Frage, inwieweit die Veränderung der Geschlechterrollen in der Gesellschaft nicht bereits zu einer deutlich spürbaren Frustration in den Schlafzimmern führt. Dieser Tendenz des Verschwindens von Liebreiz und Verlockung, von Muße und absichtslosem Spiel beim Sex entgegenzuwirken und damit Eros wieder ins rechte Licht zu rücken, ist Ziel dieses Buches. Es geht darum, seine belebende Energie in ihren Auswirkungen sowohl auf beide Hirnhälften als auch beide Geschlechter anzuregen. Wer oder was auch immer uns wieder in Verbindung mit Eros, dem Gott der sinnlichen und Verbunden- und Bezogenheit herstellenden Liebe, bringen kann, ist eingeladen.
Sinnlicher Genuss war zu allen Zeiten mit den Namen von Göttinnen verbunden, in der abendländischen Kultur mit dem von Aphrodite (in der griechischen Antike) beziehungsweise Venus (im alten Rom). In unserer Kultur scheint es jedoch kaum etwas zu geben, das diesen Göttinnen würdig wäre, vielmehr ist der moderne Alltag mit kruden Äußerungen des Lustprinzips durchsetzt: von der Lust auf süße Verführungen in Form von Eiscreme, über den Karibikurlaub mit braun gebrannten, knackigen, aufreizenden Gefährten, bis hin zur Lust auf Karriere oder auf kuschelige Kaschmirpullis.
Lust war und ist ein Schlüsselthema menschlichen Lebens. Nicht von ungefähr bemüht sich heute eine rasch expandierende Freizeitindustrie nach Kräften, der Lebenslust immer neue Erlebnislandschaften zu erschließen und ihre Anhänger von morgens bis abends zu bespaßen. Wenn wir uns das in moderner Zeit endlich alle leisten können – also bitte, warum auch nicht!
Unter der Knute der Kirche war Lust verpönt, sogar verboten. Menschen, die ihr frönten, galten als verwerflich – jedenfalls aus der Sicht der alten Herren, die Kirche und Herrschaft repräsentier(t)en und darüber das Lebensgefühl der Menschen bestimmten. Aber die Lust hat sich emanzipiert und zu einem legitimen, ja zentralen Lebensthema gewandelt, allerdings stets in Begleitung ihres Schattens. Als Schatten ihrer selbst ist die Lust käuflich geworden. Und im Zeichen gnadenloser Durchsexualisierung der Gesellschaft preist die Werbung schamlos alles Mögliche – von prallen Hühnchenschenkeln bis zur längsten Praline der Welt – mit Bildern ausladender Dekolletés an.
Obwohl wir auf so gut wie alles Lust haben können, von der Lust auf Macht bis hin zur Lust auf Schokoriegel, wird das Leben für die meisten dadurch eher hektischer und anstrengender, und beides hat nichts mit Lust zu tun. Lust als erfüllende Lebenspraxis ist untrennbar mit Aphrodite-Venus, der Göttin der Liebe und Schönheit, und mit ihrem Sohn Eros-Amor und seinen göttlichen Ressorts Lebensgenuss und Sinnlichkeit verbunden.
Erotik, die die Sinne betört und den Körper verwöhnt, führt zu genussvollem Leben, wenngleich auch nicht automatisch zu einer Tiefe im Dasein. Bei Casanova etwa lesen wir, dass er sich viel Zeit für jede seiner Geliebten nahm, um sie genussvoll aus kompliziert verschnürten Gewändern zu schälen, mit denen der weibliche Körper geheimnisvoll »verpackt« und dadurch erotisiert wurde. Diese Bewusstheit und Intensität des sexuellen Erlebens lagen im Geist seiner Zeit, die den Auftrag der Liebesgöttin noch kannte und die Muße pflegte. Als Mann tat er sich dabei vergleichsweise leicht und wurde ähnlich wie Don Juan zu einer positiven Legende.
Frauen, die ein Leben wählten, in dem die (erotische) Liebe im Mittelpunkt stand, gerieten selbst im letzten Jahrhundert noch in das Sperrfeuer der Kritik, etwa Alma Mahler, Ehefrau des Komponisten Gustav Mahler, des Architekten Walter Gropius und des Dichters Franz Werfel sowie Geliebte zahlreicher namhafter Künstler. Alma Mahler sah sich selbst als schöpferische Muse. Ein Biograf nannte sie »eine der exzentrischsten, weiblichsten, intelligentesten Frauen ihrer Zeit«, wobei er den erotischen Teil noch verschwieg. Im Übrigen waren die Kommentare vernichtend; man bezeichnete sie als herrschsüchtige, materialistische bis sexbesessene Femme fatale, die ihre prominenten Liebhaber ausnutzen würde. Ihre Offenheit für Eros war vielen suspekt.
Ein Jahrhundert zuvor war es der Schriftstellerin George Sand selbst in dem Eros gegenüber so viel offeneren Frankreich nicht viel besser ergangen, zumal bei ihr neben dem Kunstschaffen noch gesellschafts- und sozialkritische und sogar feministische Ambitionen hinzukamen. Vor allem aber war Stein des Anstoßes, dass sie neben zahlreichen männlichen auch weibliche Geliebte hatte. Eigentlich hieß sie Amandine Aurore Lucile Dupin de Francueil und hatte als Pseudonym nicht nur einen Männernamen gewählt, sondern trug auch häufig Männerkleidung und liebte es, Zigarren zu rauchen. Sie verkehrte mit dem Maler Eugène Delacroix, Schriftstellern wie Honoré de Balzac und Alexandre Dumas, Komponisten wie Franz Liszt und seiner Geliebten Gräfin Marie d’Agoult. Durch Liszt lernte sie Frédéric Chopin kennen, mit dem sie eine Liebesbeziehung begann; berühmt geworden ist ihre gemeinsame Reise nach Mallorca. Für ihre Zeit war George Sand eine einzige Provokation, und ihre wechselnden Liebesverhältnisse brachten sie in Verruf. Für André Maurois aber war sie »die Stimme der Frau in einer Zeit, da die Frau schwieg«.
Die Fülle der erotischen Beziehungen spricht natürlich noch nicht für Liebe, sondern nur für ein hingebungsvolles erotisches L(i)eben. Frauen wie Alma Mahler oder George Sand und viele andere Anhängerinnen von Eros hätten es heute sicher leichter. Aber fänden sie es auch erotischer? Heute erlebt Eros jedenfalls keine schroffe Ablehnung mehr. Die Probleme mit ihm sind aber nicht verschwunden, sondern subtiler geworden.
Die Vorboten komplexerer Verhältnisse finden sich charakteristischerweise in jener Zeit, als sich die Rollenmuster erstmals auch äußerlich sichtbar zu ändern begannen.1 Aus dem Ersten Weltkrieg waren viele Männer nicht oder nach grausamem Stellungskrieg seelisch gebrochen heimgekehrt. Wohl nicht zufällig bildete sich in der urbanen Boheme der Zwanzigerjahre ein neues Ideal von Weiblichkeit heraus: die Garçonniere, eine resolute Frau, die mangels richtiger Männer diese Rolle selbst übernahm. Mit einem eng sitzenden Unterhemdchen, bisweilen sogar mit einem speziellen Band drückte sie sich ihren Busen flach. Die langen Haare – das Signum vitaler Weiblichkeit schlechthin – fielen der Schere zum Opfer. Zurück blieb der Bubikopf, der die Verniedlichung der Männlichkeit schon im Namen trägt. Das berühmte Bild der Zylinder tragenden, Zigarre rauchenden Marlene Dietrich wurde zur Ikone jener Zeit und zum ersten globalen Sexsymbol, wie sie sich da im dunklen Hosenanzug räkelt, den nachlässig gebundenen Schlips um den Hals, eine klassische Schönheit mit dem provozierenden Lächeln einer Art gefallener Mona Lisa. Es war dies auch die Zeit, in der Coco Chanel das kleine Schwarze erfand, das seine Trägerinnen aus der – allerdings die Männer erotisierenden, weil die weibliche Figur betonenden – Enge von Korsagen und Miedern befreite.
Die bis dato unangefochtenen Herren der Schöpfung reagierten auf den Rollenwechsel ambivalent. In dem Schlüsselroman des 20. Jahrhunderts, Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, spiegelt dies die Hauptfigur Ulrich wider. Er verbirgt seine Verunsicherung nur schlecht hinter anklagender Frustration: »Gegenwärtig, wo die Erscheinung der Frau an die eines gut abgesengten Huhns erinnert, das nicht viel Umstände bereitet, fällt es schwer, sich ihre frühere Erscheinung in allem Reiz des lange hinausgeschobenen Appetits vorzustellen, der inzwischen der Lächerlichkeit verfallen ist …«
Aus dem literarisch verbrämten Machismo spricht hier auch eine wichtige Wahrheit über das Wirken von Eros: Ist es nicht dieser »Reiz des lang hinausgeschobenen Appetits«, der das Erotische ausmacht und der heute wiederum fehlt? Alles ist käuflich in unserer Welt, alles ist sofort und unbegrenzt verfügbar, und wer es sich nur »leisten« kann, darf unverzüglich »zur Sache kommen« – jedenfalls wird dies den Menschen tagtäglich eingehämmert. Heute fallen die Hüllen viel rascher; die moderne Angleichung weiblicher Garderobe an die funktionalere männliche ist natürlich praktischer, aber keineswegs erotischer. Doch angesichts des allenthalben vorgelegten atemberaubenden Tempos scheint Eros vollends die Puste auszugehen. Er ist kein Sprinter, sondern braucht Zeit und Muße, um jenen besonderen Appetit des Erotischen zu erzeugen und möglichst lange am Leben zu halten.
Die sexuelle Revolution von 1968, die wie die Emanzipationsbewegung im Kern etwas sehr Fortschrittliches war, präsentiert nun ihren Schatten. Nach dem Bestseller Sexfront von Günther Amendt glaubte man Anfang der Siebzigerjahre, dass nun alles klar und bekannt sei. Aber wie wenig änderte sich tatsächlich! In Beratung und Psychotherapie erscheint es nicht selten so, als habe es die sexuelle Befreiung nie gegeben, Oswalt Kolle nie über den Orgasmus geschrieben und Beate Uhse nichts Spaßiges verkauft. Die Beziehungen bleiben schwierig und verlieren allzu oft und bald den Draht zu Eros. Auch noch im 21. Jahrhundert werden die Menschen rot beim Gedanken an Sinnlichkeit und quälen sich mit Themen, die längst erlöst schienen. Das müssen wir uns heute eingestehen. Es bleibt also einiges zu tun beziehungsweise zu leben und zu lieben, um es wieder positiv zu fassen. Und wir können es anpacken oder, besser noch, zart anfassen.
Dabei neigen wir heute mehr denn je zu Lust und lustbetontem Leben. Sinnliches und Geschlechtliches, samt allen Begierden, angenehmen Empfindungen und Lust(barkeiten) jeder Art, sind längst im Mainstream angekommen. Im Lustgarten der Liebe zu wandeln ist das höchste der Gefühle allerorten – primitive Lüstlinge, Lustseuchen oder gar Lustmorde sind die Schattenseiten.
Wie sehr wir auf Lust stehen, sehen wir im Übrigen am Lustspiel, auch Komödie genannt, das der antiken Tragödie den Rang längst abgelaufen hat. In Komödien und Musicals geht es fast immer darum, sich schließlich vereint im Lustgarten von Venus und Eros zu finden. Die Liebe, oder was man dafür hält, hat sich bei diesen volkstümlichen Genres locker und leicht in den Vordergrund zu spielen. Lustspiele werden auf unzähligen Bühnen gegeben, der Schattenaspekt dagegen, dem sich das psychologisch inspirierte Schauspiel widmet, hat sich auf die Bühnen hoher Theaterkunst zurückgezogen und muss dort mangels öffentlichen Interesses hoch subventioniert werden. Von der klassischen Tragödie ganz zu schweigen, die sich der urmenschlichen Situation widmet, dass das Schicksal den Helden in jedem Fall schuldig werden lässt. Davon will unsere Welt überhaupt nichts mehr wissen. Die Kunstszene bemüht sich, solch schwierige Themen – allerdings mit deutlich weniger Verständnis für die Situation der unausweichlichen Schuld – in entsprechenden Schatten-Stücken auf Theaterbühnen und vor allem in Filmen unterzubringen.
Die Überbetonung der lustigen und lustvollen Seite des Lebens führt zwangsläufig – über die Schattenwirkung – dazu, dass das Leben erst recht tragische Züge bekommt. »Liebe« wird heute zu später Stunde im Privatfernsehen mit drastischem Stöhnen und falschen Versprechungen verramscht oder im Internet allzeit bloßgestellt.
Zudem frönen wir Venus nicht selten durch exzessiven Essensgenuss, was nichts anderes als eine unbewusste Verschiebung des von ihr vertretenen Urbedürfnisses ist. Es heißt, dass die Liebe auch durch den Magen gehe. So lässt sich an der Riesenmenge, die von der Mehrheit der Bevölkerung in Mund und Bauch gestopft wird, und dem daraus erwachsenden Wohlstandsspeck die frustrierte Sehnsucht nach Zuwendung ablesen. Doch mit noch so zahllosen und üppigen Fettpolstern ist tiefer Lebens- und Liebeshunger nicht zu befriedigen – schwer, träge und unansehnlich sind Eigenschaften, die den Liebesgöttern, Mutter wie Sohn, zuwider sind. Aber selbst das wäre noch kein gravierendes erotisches Hindernis, denn Männer stehen – wider den Zeitgeist – noch immer mehr auf runde als auf magere Frauen.
Auf dem Gegenpol finden sich zunehmend Magersüchtige, die so wenig Zugang zu ihrer angestammten Geschlechtsrolle finden, dass sie kaum noch Lust auf Körper und Sinnlichkeit verspüren. Mit sechzehn sind unter deutschen Großstadtmädchen nur noch sechs von hundert Jungfrau und drei davon äußerst unglücklich über diese Schmach. Die andere Seite kommt in der Statistik ebenfalls recht deutlich und bedauerlich zum Tragen. Von den sechzehnjährigen Mädchen leiden in Deutschland 63 Prozent unter Essstörungen, mit steigender Tendenz. Letzteres wird verschärft als Problem erkannt, denn es verabschiedet sich ein erschreckend hoher Anteil der Magersüchtigen vom Leben durch Essensverweigerung. Im Sinne der Krankheitsbilder-Deutung verdünnisieren sie sich, oft bis zur gänzlichen Selbstaufgabe. Makaber ist, dass die moderne Gesellschaft ein pubertätsmagersüchtiges Figurideal propagiert, das diesem schwerwiegenden Krankheitsbild auf so leichtsinnige Art Vorschub leistet. Der seelische Hintergrund von Magersucht ist die (Ver-)Weigerung, ins weibliche Reich hineinzuwachsen. Der unauflösliche Zusammenhang zwischen Essen und Liebe findet hier auf erschreckende Weise Bestätigung.
Wenn wir von Venus’ und Eros’ Höhen und Tiefen die Tiefen streichen, weil sie uns verdächtig sind und wir lieber auf der Oberfläche bleiben, laufen wir Gefahr, Opfer des Schattens zu werden. Die Tendenz ist unübersehbar, besonders eben bei den jungen Menschen. An der Oberfläche, in der Welt der Phänomene, lässt sich gut cool sein, um die heißen und oft brennenden und drängenden Gefühle der Liebe außen vor zu halten. Dates im Flackerlicht von Clubs ersetzen Rendezvous im Mondschein, cooler Sound verdrängt heiße Rhythmen, es geht ums Chillen. Chill-out-Musik will nicht an- und auf-, sondern abregen, was unsere überund aufgedrehte Gesellschaft wohl auch nötiger hat. Doch der Schatten hat ebenso seine Kehrseite, die sich wieder im Licht präsentiert. Denn Chillen ist natürlich zugleich der ideale Wiedereinstieg in die Hitze des Gefechts des zeitlosen Geschlechterkampfs und wird auch so genutzt.
Um Eros müssen wir uns letztlich weniger sorgen als um uns selbst, auch wenn heutzutage Flirt und Spiel mit dem Feuer – zentrale Anliegen von Eros – (scheinbar) abgeklärter Coolness gewichen sind. Und sogar wo der rein funktionale Aspekt der Sinnenlust, purer Sex, an Bedeutung gewinnt, wird sich Eros nie ganz unterkriegen lassen, denn ein Ur- oder Lebensprinzip kann nicht verschwinden. Im Übrigen gibt es den Aspekt direkter unerotischer Sexualität von jeher. Einst äußerte er sich sogar gesellschaftlich geduldet und auch bei uns in deutlich brutalerer Form, etwa wenn sich der Bauer über die Magd hermachte, der Hausherr über das Stubenmädchen und gar nicht so selten ältere Verwandte über die kleinen Mädchen, sogar Väter über ihre Töchter.
Wenn es heutzutage in den Massenmedien »zur Sache geht«, gehört die Oberflächlichkeit zum Geschäftsmodell. Die seelisch tiefen Bereiche der Liebesgötter Eros und Venus sind hier eher schlecht fürs Geschäft. Eine der auflagenfördernden Fragen in Illustrierten lautet: »Wie gut bist du im Bett?« Sicher keine unwichtige Frage, doch die Antworten beschränken sich auf physische Kunstfertigkeit, medialen Konsum und Kosmetik. Letzteres auch bei Problemen im Beziehungsleben, die zu übertünchen sind. Es geht um anspruchsvolle Stellungen, Ersatz für eigene Fantasie durch noch schärfere Filme, ein noch raffinierteres Styling, noch mehr, noch bessere Partner, am besten für jeden Aspekt der Lust einen.
Sex, der körperliche Aspekt erotischer Liebe, wird in den Medien auf seinen quantitativen Aspekt reduziert, und die Qualität muss weichen. Von Erotik keine Spur, denn sie ist auf die Seele angewiesen. Immerhin ist es ein erheblicher Gewinn gegenüber früheren Zeiten, dass zumindest offen über Sexualität gesprochen und geschrieben wird, wenn auch nicht in der Form und mit dem Inhalt, die echte Zufriedenheit und Erfüllung herstellen könnten.
Wie immer haben wir die Wahl. Niemand zwingt uns, daraus eine Qual zu machen. Oberflächliche, rein quantitative sexuelle Befriedigung bringt Eros wenig – ihr fehlt die Brücke zur seelischen Liebe. Stattdessen wächst die Gier. Sichtbar wird dies an extremen sexuellen Gewohnheiten, die sich weiter verbreitet haben, als man vielleicht vermuten mag. Geschlechtsverkehr mit zwanzig Partnern an einem Tag in sogenannten Darkrooms von manchen Homosexuellen-Bars und -Saunas oder in einigen Swingerclubs befriedigt offenbar nicht, sondern steigert Lust nur zur Gier. Viel geläufiger ist uns dies beim Essverhalten: Mit jedem Stück Schokolade wächst die Lust auf mehr, von Befriedigung keine Spur. Süßigkeiten erhöhen die Lust auf Süßes und stillen weder den normalen Hunger noch den nach Liebe. Ersteres können wir wissenschaftlich über den Insulin-Mechanismus erklären, Letzteres ist die Erfahrung so vieler Naschkatzen. Im Hoheitsgebiet der Venus sind Süßigkeiten Ersatz, ein ungesunder obendrein.
Die Betonung von Quantität und die Suche nach Ersatz legen den Verdacht nahe, dass im Reich der Liebesgötter heute akute Not und gravierender Mangel herrschen. Das mag angesichts des Überangebots an Naschereien und einer bisher unbekannten Offenheit dem Sexuellen gegenüber zunächst verblüffen. Doch gerade die Tatsache, dass uns von jeder Litfaßsäule süße Mädchen in verführerischen Dessous zulächeln und sich Millionen Wohlstands(mit)bürger beachtliche Polster angenascht haben, ist ein Hinweis auf einen Mangel an echter Liebe und tief empfundener Lust im Sinnenreich der Erotik. Wir leben aus der Fülle, aber diese ist oberflächlich und wenig befriedigend. Kummerspeck ist eben Frust- und nicht Lustspeck. Und der sexuelle Vielfraß zeigt ganz unverschämt seinen unbefriedigten Hunger auf tiefe ekstatische Lust und echte Liebe. Nicht zuletzt verrät auch der orale Rauchertyp, der süchtig an seinem Glimmstengel saugt und diesen fast immer fest zwischen den Lippen (be-)hält, dem geschulten Blick ein Liebesproblem.2
»Therapie ist eine Sache der Liebe.«
BHAGWAN-OSHO
Heute ist es wohl tatsächlich nötig, Erotik gegen Sex(ualität) und (göttliche oder platonische) Liebe abzugrenzen, denn zu sehr ist das Lebensprinzip Eros unserer Erfahrungswelt entglitten.
Im Dreigespann mit Sexualität und (geistig-seelischer) Liebe ist Erotik jener Bereich, der als einziger an den beiden anderen Anteil haben muss, damit er überhaupt als eigene Erfahrungswelt erlebt werden kann. Sexualität und platonische Liebe sind auch jeweils für sich allein denkbar und praktizierbar – wenn auch kaum erfüllend. Erotik aber braucht sowohl Seele als auch Körper zum Lebendigsein und verbindet so beide miteinander.
Erotik könnte Sexualität und Liebe zu aller Vorteil zusammenschweißen, da keine für sich allein Vollständigkeit der Erfahrung bietet. Rein körperliche Sexualität kann wohl von Druck entlasten, aber nicht im tieferen Sinne befriedigen. Bei platonischer, also rein geistiger Liebe scheint dies wohl eher der Fall zu sein. Doch bleibt auch sie unbefriedigend; verzichtet sie doch auf die ganze Fülle kreatürlicher Erfahrung, die ohne Körper nicht möglich ist. Andernfalls hätten wohl kaum so viele katholische Priester dem Himmelreich Gottes so vielerlei Sexuelles vorgezogen. Selbst wenn die Mehrheit derer, die sexuell enthaltsam leben sollten, nicht auf Abwege gerät, bieten diese Menschen kaum ein überzeugendes Beispiel für erlösende geistig-seelische Liebe.
Physisches und Psychisches zu trennen hat sich auf Dauer nie bewährt. Für Erotik aber sind beide Ebenen grundlegend und unverzichtbar. Folglich findet Erotik immer auch auf der Seelenebene statt, drängt jedoch auf den körperlichen Ausdruck. David Deida kleidet es in seinem empfehlenswerten Buch Erleuchteter Sex3 in die Worte, dass das Licht der Liebe durch unseren Körper zum Ausdruck kommen möchte. Wissenschaftliche Erkenntnisse unterstreichen dies auch: Wenn wir jemanden anschauen, den wir lieben, öffnet sich nicht nur im übertragenen Sinn unser Herz, sondern auch die Pupille geht auf – um bis zu 45 Prozent, wie durch Versuche mit 800 Studenten der Stanford University belegt.
Erotische Fantasien sind eine der liebsten inneren Beschäftigungen unserer Psyche; sie wollen ausgelebt und umgesetzt werden und neigen charakteristischerweise auch bei einsamen Fantasieübungen zu körperlichen Reaktionen. Gleichsam als leibseelischer Kleber verbindet, ja versöhnt Erotik den Körper mit der geistig-seelischen Welt und leistet einen Beitrag dazu, uns aus der immer einseitigeren Materiebesessenheit zu befreien.
Erotik lebt also von Sex und Liebe gleichermaßen, und wir verbinden sie mit Verführung, Zärtlichkeit, Intensität, Intimität, Anmache, Lust und Sinnlichkeit. Sinnlichkeit ist geradezu ein Synonym für Erotik, die im Bewusstsein beginnt und auf die Erregung der Sinne zielt. Die Sinnesorgane sind körperlich, die Verarbeitung ihrer Reize aber ist geistiger und seelischer Natur und verlangt Zeit und Besinnlichkeit. Das plötzliche Anspringen und der sich möglichst langsam steigernde Genuss der Sinne gehören unbedingt zur Erotik. Letztlich geht es um eine ästhetische, körperlich zärtliche und auch starke Anregung möglichst vieler Sinne, um sich in einen genussvollen Zustand wacher Spannung zu versetzen, die sich mit ihrer Entladung viel Zeit lässt. Erotik braucht – um mehr als Sex zu sein – zu ihrer Entfaltung Zuwendung, Muße und Achtsamkeit. Außerdem lebt sie vom Geheimnisvollen. Eros vermag aus seiner Verdrängung an den Rand der Gesellschaft und des geschäftigen Tages in Richtung Abenteuer, eben in den Übergangs- und Schwellenbereich, wo der Tag schon vorüber, aber die Nacht noch nicht begonnen hat, das Allerbeste zu machen.
Man kann sagen, dass Erotik auf Sinnlichkeit zielt, die dem Leben Sinn gibt und es fündig werden lässt – in der Liebe. Sprachbilder und Geschichten wären ihr angemessener als Aufzählungen. Erotik eignet sich wenig für Definitionen und lebt von der Erfahrung. So ist es nicht überraschend, dass ein angenehmes Ambiente, ein bequemes Lager und die passenden Reize für alle fünf Sinne ihrer Entfaltung förderlich sind. Je betörender für die Sinne und je berührender für die Seele, desto besser. Was immer die Sinne erregt und verwöhnt, bringt Eros ins Spiel. Entscheidend bleiben aber die geistige und seelische Anregung, eine unverkennbare und unvergessliche Spannung zwischen Menschen, die sich über die Sinne vermittelt und sich anschließend körperlich ausleben will. Somit ist gelebte und genossene Erotik ein den ganzen Menschen forderndes und förderndes Thema, dessen Fehlen sich negativ auf Stimmung und Entwicklung auswirkt.
Reiner Sex ist, wie gesagt, möglich, reine Liebe im Sinne platonischer Bande immerhin denkbar. Aber erst die Erotik schafft die Verbindung und lässt das Ganze zu weit mehr werden, als die Summe der Teile es vermuten lässt. Wenn Liebe über die Erotik in Sexualität einfließt, andererseits aber auch sexuelle Spannung die Liebe beeinflusst, belebt und vertieft, entfaltet sich erst der große geheimnisvolle Zauber der Liebe.