Nächte des Knurrhahns - Paul Gisi - E-Book

Nächte des Knurrhahns E-Book

Paul Gisi

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Beschreibung

Allgemeine Wahrheiten sind Täuschung, es zählt nur das Individuelle: deine Verwirrtheit, dein Lächeln, deine Zuneigung.

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Inhalt

Erster Teil

Nächte des Knurrhahns

Testament der Leidenschaft

Zweiter Teil

Fuss fassen im Bodenlosen

Träume gegen den Wirklichkeitswahn

Dritter Teil

Briefe an Simon

Ich gehöre nicht zum Fortschritt

,

mit mir ist nicht zu rechnen

Nächte des Knurrhahns

Testament der Leidenschaft

Ich träume am liebsten im hochwachen Zustand.

Die Farben der vorläufigen Wahrheiten machen das Genie aus.

Ich lebe in den Augenblicken der Jahrtausende.

Ein zu Stein zusammengestürzter Schmerz.

Ich liebe Nächte des Knurrhahns und der Zyklopen.

Nächte sind nicht da, um zu schlafen, sondern um den Orinoco zu befahren.

Marzipan hat zwischen den Buchdeckeln nichts zu suchen.

Du zappelst um meine Füsse – hab keine Angst, kleine Spinne, es geschieht dir nichts, ich liebe dich.

Auch wenn die ganze Welt zusammenstürzt – hörst du den fernen Klang?

Ich schaukle mit meinem Segelboot der Pfefferküste entlang, fahre bald in den Hafen von Timbo ein und reite mit meinem Lieblingskamel Morondo nach Toobli, dort werde ich in einem Prunkzelt von der Fürstin Sequeia und vom Fürsten Woroflum erwartet: Sag, was du willst, ich finde das Leben herrlich.

Ich sitze unter einem Dattelbaum und lese Gedichte des grossen makumbischen Lyrikers Kutu Balangala el Embolo.

Niemand kann einen Steppenwolf domestizieren.

Entfalte deine Neigungen und stürze ins Weltall in dir. Inmitten eines tödlichen Sturms muss ich herzhaft lachen.

Auch das allerkleinste Lebensdetail wird ernst, wenn man es mit der Ewigkeit misst.

Dass das Grosse klein und das Kleine gross ist, ist eine Banalität. Und wer kämpft, ist schwach. Doch wir leben alle nur mit schäbigem Vorbehalt.

Hoffnung ist meist nur eine Form der Feigheit.

Mein eigenes Leben ist mir zu kurz, um auf die Ratschläge anderer Menschen eingehen zu können.

Manchmal gibt es gottseidank keinen Halt mehr! Ein Code zu mir? Ich bin Trappist, Lustmolch, Zugvogel, Antennenwels, Hiob, Stein, Weintrinker, Liebesnarr, Weltallgaukler, Psalmensänger.

(Fast) die ganze deutschsprachige Literatur ist lächerliches Geschmonzes für frigide Schwachköpfe.

Der Verlag Zolyon and Brothers will zweihundert meiner Gedichte in Edelmarmor hauen und sie auf der sonnenbeschienenen Seite des Mondes ausstellen – man stelle sich vor, auf der sonnenbeschienenen Seite des Mondes, und erst noch zu Fusse eines Kraters, es ist fantastisch!

Ich habe Besuch vom dritten Dalai Lama (aus dem 16. Jahrhundert); wir disputieren über die Wolken der Verblendung – und soeben hat Padmasambhava (aus dem 8. Jahrhundert) an der Tür geläutet: Diese Nacht wird feierlich.

Ich hasse die Verbürgerlichung, die Ameisenexistenz der Menschen. Ich liebe das Individuum, offen angelegt auf die Totalität des gesamten Seins (das nur vom Nichts begrenzt ist).

Die Flammen der Lust.

Leben: Rausch, Lust, Liebe – alles andere ist überflüssig.

In der Verzweiflung bleibt dem Agnostiker zum Glück der Pantheismus.

Gott blitzt auf im Surrealen – in der Artenvielfalt der Kreaturen, in den tödlichen Spasmen des Kosmos.

Die grösste Lust in der Unvollendbarkeit des Menschen ist das formvollendete Gedicht, doch auch dieses fällt der Verwesung anheim.

Ich lecke deinen nackten Körper in den trunkenen Melodiefalten unserer Begierden.

Tod ist durch nichts begreiflich zu machen, er ist nicht zu verstehen – ich hasse ihn.

Oberflächliches Leben ist Verlogenheit des Herzens. Als ich dich kennen lernte, liebte ich dich; als ich dich zu hassen begann, liebte ich dich!

Du bist schön wie eine Capri-blaue Glasperle, du bist schön wie ein Himmelsgucker, du bist schön wie Vishnu, du bist schön wie die Fülle.

Es gibt kein Ganzes im Fragment; es gibt bloss Fragmente im Fragment.

Nach Albträumen bete ich dich an – Singvogel. Was Philosophie sei, sein könnte: Nach jahrzehntelangem Studium muss ich sagen: Ich weiss es nicht.

Ich erkenne dich, Gott, in den Gezeiten allen Seins – doch der Wurm nagt längst an Gott …

Liebe zieht immer nieder.

Im Verzicht werden Macht und Ohnmacht bedeutungslos.

Ich verwerfe JEDE Macht; auch die Macht eines Gottes ist des Teufels. Basta! Gott hat vor der bluttriefenden Grausamkeit des Menschen längst kapituliert.

Ich bete die Ohnmacht an. Gottes „Allmacht“ ist finsterste Dämonie, genauer: Sadismus.

Ohne Rückbesinnung auf das Grenzenlos-Offene, das als Strom im Menschen fliesst, wird das Leben lächerlich fantasielos, erbärmlich eng – ohne blendende Sicht aufs unendliche Weltall, das in deiner ruhenden liebenden Hand existiert, würde mein Leben eine Qual.

Der Aufstieg zur Wahrheit ist immer ein Absturz zur labyrinthischen Wahrheit; wir taumeln von Täuschung zur nächsten Täuschung.

„Er hat mehr Zungen als Gehirnkammern." (Jean Paul)

Als der Ziegenbock mich anschaute, wusste ich, dass er vor mir in den Himmel kommt (und deshalb liebte ich ihn sehr, sang ich ihm ein schönes Lied vor).

Das Leben ist so wenig „gerade" wie ein Korkenzieher. Es gilt, auf die eigene Vollendung (Vervollkommnung) hinzuschreiten, alles andere ist Zeit-, Lebensverschwendung.

Immer und immer wieder gesagt: Was gäbe es Schöneres als deinen nackten Körper? Ich tauche ein in deinen Bauchnabel.

Wolken und Flammen, Visionen und Illusionen, ich bin auf dem Weg zu dir, Gott.

Alles ist Schein, doch ich liebe diesen Schein masslos hemmungslos lusterigiert.

Das teuflische Spinnennetz der Nichtigkeiten zu zerreissen, es hiesse: ich erkenne mich selbst mit meinen eigenen Abgründen.

Nur in der Trance nähert man sich selbst, nähert man sich dem geliebten Menschen. Nur in der Liebesekstase ist Erkennen möglich.

Mit der Vernunft lässt sich nichts Schlaues, Gültiges, Wahres aussagen, mit dem Glauben noch weniger, also schweigen wir – oder singen!

Wie hell ist die Dunkelheit der Erkenntnis!

Ich will und kann das Universale nur im Individuum wahrnehmen.

Wenn ich total der Todesangst mich ausgeliefert fühle, singe ich die Sonne des Schmetterlings.

Die Dogmatik der katholischen Chefbeamten mit ihren Papstpopanzen ist nichts anderes als erbärmliche Kakerlakenkacke.

Vor einer Religion, die die Inquisition hervorgebracht hat, ekelt es mich bis zum letzten Atemzug!

„… und es bleibt nur noch die Freude einer langsamen Zerstörung.“ (Brigitte Kronauer)

Michelangelo, Shakespeare, Dostojewski, Balzac, Donizetti, Hölderlin, Strindberg, Rodin, van Gogh: Leben zwischen Inferno und Ekstase.

Im Vergleich zu Heinrich Mann, Alfred Döblin, Jakob Wassermann und Lion Feuchtwanger sind die heutigen zeitgenössischen schweizerischen Romanschriftsteller lebensschwache Milchbuben: infantil, präsenil, impotent, dilettantisch, bedeutungslos.

In einer grossen Buchhandlung befällt mich die Depression: so viel Müll!

Auch Engel müssen oftmals in Katakomben hineinflüchten.

Ich sitze eng umarmt mit meinem geliebten jungen Freund Tim zuvorderst auf der Hafenmole von Staad, der Wind stürmt, die Wellen sinfonieren, die Cepheiden singen, ich rezitiere Tim mein Gedicht: „Ich bin eine Maus / in mir lebt die Katze / verstehst du meine Todesangst?“ – Wir schauen uns an und müssen schallend lachen. Tim ist wundervoll!

In der Kunst ist das Allerkleinste Transzendenz, auch das scheinbar Unwichtigste Mythologie.

Abstraktes bleibt Symbol.

Je sinnlicher, traumverwucherter ein Kunstwerk ist, desto überzeugender ist es.

Sein: Abermilliarden von Details – und da eine evolutive Finalität, eine Konvergenz (als Zerstreuung der Divergenz) sehen zu wollen, mutet mich reichlich an den Haaren herbeigezogen an.

Nach einer Liebesnacht: der Riss des Herzens hält!

Moden verschwinden, modische Kunst verschwindet – echte (leidenschaftliche) Kunst bleibt.

Anton Bruckners sinfonisches Weltall.

Zwei der kultiviertesten Schriftsteller: Werner Bergengruen und Peter Bamm.

Die Manieren der Politiker und Manager werden hinter ihrem widerlichen maskenhaften Lächeln immer pöbelhafter.

Damit die Menschheit gesunde, muss das Politikerpack weggefegt, wegamputiert werden!

Was die heutigen Denker uns liefern, ist fade kalte Sauce.

„Vieles, ganz nahe der Wahrheit, ist ungeheuer fern von der Wahrheit.“ (Ludwig Hohl)

Die Staffelei des Lebens kennt unendlich viele Farbmischungen. Ich weigere mich, verbittert zu werden!

Heute musste ich dröhnend lachen, da ich restlos verzweifelt war.

Man sagt mir immer wieder nach, dass ich Leben für zwei hätte, ha, warum auch nicht? Doch zutiefst in meinem Innern ist es des Öftern ganz anders: Ich befürchte, ich lebe kaum mehr mein eigenes Leben, sondern nur noch alles in Bruchstücken von Stunde zu Stunde.

Die überschäumende Lust zu leben, die ich zeitweilig immer noch habe, habe ich nur, weil ich auch die schrecklichsten Verdunkelungen des Lebens, den tödlichen Leim der Depressionen kennen gelernt habe.

Ich lernte die höchsten Ekstasen des Lebens kennen – und bezahle dafür mit meinem Leben, im Sog des Abgrunds. Ich suche mehr und mehr, da in mir altes brodelt und kocht und wütet, die Harmonie – IM HASCHEN NACH WIND – im gebenedeiten Schweisz der Luszt, ein „alleines“ Gefühl im Werden und Vergehen, eine intensive, leidenschaftliche Innigkeit mit dem Kosmos! So ist das halt.

Ich leiste mir den (etwas versoffenen) splendiden (spleenigen) Luxus der Individualität (vor dem Abscheu des Allgemeinen).

Ich jongliere virtuos vor dem Abgrund.

Ich liebe die Kunst, das Rodinsche Höllentor, Opern, Gedichte, kleine straffe Mädchenbrüste, apfelrunde Ärsche, leuchtturmschlanke Phallen, wuchernde Schamhaarwäldchen, dorisch schöne langschäftige Beinschenkel, nackte Rückensinfonien, Wasser-und- Dampf-Fontänen der Erektionen, Flusslandschaften der Geilheiten, die Sonnenkorona der Lust, die Hügellandschaften der zwetschgenrunden Hoden, den gotischen Glockenturm des steifen Schwanzes, die Schirmquallenhöhlen der Mösen, die Kerbtäler des nackten Körpers (immerzu), die Elegien des Orgasmus, die Berauschungen des Luststöhnens, die Anbetungen der Seelilien, der Braunalgentange und der Goldschnecken, die Testamente der Mehlmotten und der Grillenschaben, den grossen niederländischen Philosophen Spinoza, Diogenes und Sartre, ach, mein Schwärmen findet niemals ein Ende!

Ich bin polyexistenziellsexuell.

Mein neunzehnjähriger Sohn Ives ertrank in der Nähe von Montpellier im Meer, mein chinesischer Freund Shi Zuzhao wurde ermordet.

Ich lebe mit Rippenquallen, Afterasseln, Gelbbauchunken, Engeln und Teufeln, wie es auch sei, ich messe niemals spiessbürgerlich …

Es geht mir nicht darum, ob ich in der menschlichen Gesellschaft verstanden werde oder nicht, ha, darauf hohnlache ich genüsslich.

Die ersten Vögel pfeifen draussen bereits, ich liebe es, von der Nacht in den Tag hinein zu vögeln.

Viele Menschen sehen die Schöpfung und das Chaos als Gegensätze; diese Ansicht darf ruhig über Bord geworfen werden, denn ich bin dafür, die Schöpfung als Chaos, das Chaos als Schöpfung zu sehen – in einer unteilbaren Einheit.

Je intimer, desto lebenswerter.

Wir leben alle in Zwängen der Familie, des Berufs, der Gesellschaft, der Kirche, der Politik, der Gewohnheiten, der Termine. Diese Fremdbestimmungen sind dazu angetan, unsere individuelle Freiheit zu morden, uns zu Popanzen, zu Marionetten, zu Vogelscheuchen des tristen Alltags (mit seinem ewigen Gelderwerb) verkümmern zu lassen.

Vielleicht sind wir kaum mehr fähig, uns einzugestehen, wie sehr Mächte der Erziehung, des so genannten Anstands, uns tyrannisieren.

Fest umrissene Lehren, Dogmen einer jeglichen Richtung sind mir suspekt, lehne ich ab.

Mein Versuch, Alternativen zu den Versteinerungen der Konventionen, der Institutionen aufzuzeigen, begründet sich in nichts ausser in meinen Leidenschaften.

Ich glaube, man verzeiht sich in der Lebensmitte (und im Alter) alles – ausser nicht richtig (intensiv, leidenschaftlich) gelebt zu haben!

Gewiss ist es einfacher, zum Leben, wie es sich nun mal darbietet, Ja und Amen zu sagen. (Doch diese billige „Einfachheit“ lehne ich ab.)

Kuschen wir vor dem Arbeitgeber, respektieren wir ein paar letzte lächerliche, hohle, verlogene Konventionen der Kirche, denken wir blöde vom Militär als Friedensstifter, akzeptieren wir die Moralvorstellungen der gängigen Gerichte und wir haben keine Probleme. Doch so verpassen wir unser eigenes Leben, vergewaltigen wir (ohne es zu ahnen) unsere eigenen Ansichten, die wir eigentlich hätten, wüssten wir nur (endlich) davon.

Wir leben auf keiner Insel, wir müssen uns anpassen. Doch selbst in der Anpassung gibt es Bereiche, Bezirke der individuellen Freiheit.

Wir alle haben Beziehungen, Termine, Verpflichtungen, doch ich liebe es, von den befreienden Zuständen des Chaos zu reden, vom Milieu des Unbehausten, Nicht-Urbanisierten, von den Seelenwüsten des Eros, von den Grenzen und Grenzenlosigkeiten des Ichs, so als ob es keine Zeiterfordernisse, keine Zeitdominanten gäbe. Mit diesen Ansichten wurde ich eigentlich von keinem Menschen ermutigt; man schalt mich einen Narren und Ignoranten. Ich überlegte viele Jahre lang und kam zum Schluss, dass ich trotz allem das Chaos, das Glück liebe. Seien wir keine Sklaven der vorgegebenen Ordnungen, bleiben wir nicht versteinert in den Gesetzmässigkeiten der eindimensionalen Ansichten der Nachbarn – lösen wir uns auf das hin auf, was uns ausmacht: ein unverwechselbares Individuum zu sein im korrumpierten Brei der prostituierten Gesellschaft, im tödlichen Dschungel der Fremdbestimmungen.

Das Chaos ist eine offene Grösse. Das Chaos ist fast wie ein Mythos. Wir leben in Kosmogonien. Beim Sonnenaufgang ist alles neu. Die Beklemmungen der Nacht weichen dem Optimismus des Lichts.

Sind meine Gedanken auf das Leben übertragbar?

Hören wir endlich auf, unser Wissen auf das auszurichten, was andere sagen. Tief im Innern wissen wir – spüren wir –, dass wir urunverwechselbare Menschen sind. Was die Eltern, was ein Pfarrer in den versteinerten Kirchen, was die undurchsichtigen, schlangenaalwendigen Gesetze in den Windrichtungen der jeweiligen Macht sagen: Was geht das mich an? Richtlinien sind horizontlose Befehle von Feldweibeln (Achtung: still gestanden!) – sie gehen am eigentlichen Leben vorbei.