Nachtsendung - Kathrin Röggla - E-Book

Nachtsendung E-Book

Kathrin Röggla

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Beschreibung

Kathrin Röggla erzählt von unserer Gegenwart. Unheimliche Szenen ereignen sich. Und wir sehen zu. Die täglichen Bilder unserer Wirklichkeit gleichen Horrorszenen. Jemand ist dabei. Jemand sieht zu. Sind das wirklich wir? Kathrin Röggla schaut genau hin. Sie erzählt unheimliche Geschichten und entdeckt Risse, tote Winkel und das Unheimliche unserer Gegenwart. Gefahrenzonen breiten sich aus, es herrscht Desorientierung, Kommunikation bricht zusammen. Das betrifft das politische Reden, den wutbürgerlichen Aktivismus, den Absturz des Mittelstandes ebenso wie das Familientreffen in der deutschen Provinz. Sie entwirft politische, soziale und private Szenarien, die sich zu einem Nachtbild unserer gespenstischen Gegenwart zusammensetzen.

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Seitenzahl: 305

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Kathrin Röggla

Nachtsendung

Unheimliche Geschichten

FISCHER E-Books

Inhalt

StarterDie FortsetzungFrühjahrstagung, HerbsttagungTangenteBürgerbeteiligungOff the recordG7Europäisches Forum AlpbachKlassentreffenDeutsche WälderDas abgekürzte LanzaroteBiopolitikDiagnosefrontKinderkreuzzugLiliMarlene und EnnoLinusAnnabell und MiraSofiaSybilles SohnMedea-AusbildungSex in TütenSex in Tüten, immer weiterSex in Tüten, immer weiter weggetragenSex in Tüten, immer weiter weggetragen von mirSex in Tüten, immer weiter weggetragen von mir, immer weiterSex in Tüten, immer weiter weggetragen von mir, immer weiter, immer weiterNormalverdienerErster TagZweiter TagDritter TagVierter TagFünfter TagSechster TagSiebter TagÜberflug (Marokko)Die AnrufeDer Wiedereintritt in die Geschichte IDer Wiedereintritt in die Geschichte IIDas GebäudePentagonumgebungDie Welt ist flachAbsolutionsgeschehenWochenplan oder Heilige Maria der Nonbook-EckeDas dritte KindStatusIndirekter StatusAktivbürger (weit entfernt)Im Bauch des Wals (Nuller Jahre)Kein Kontakt zu den TotenGeographie überall (Das verdoppelte Lanzarote)Kein KarnevalA9 mit A3 mit A7Heilige Maria der Nonbook-Ecke (in Flammen)Erste ZeichenEndlagerNächsten Montag (Preppers)DevotionalienJüngstes GerichtStarter

Starter

Nach der Durchsage herrscht erst einmal Stille. Alle Passagiere warten ab, was geschieht. Niemand scheint Auskunft geben zu können. Noch ist nichts gesichert, hat man aus dem Cockpit ein paarmal vernommen, doch was da nicht gesichert ist, erläuterten sie nicht oder nur in Andeutungen. Es kommt überhaupt wenig von vorne. Zuerst hieß es, man würde noch mal Getränke reichen, das war vor zehn Minuten. Jetzt sitzt eine der Stewardessen auf ihrem Sitz neben der Cockpittür und hat sich angeschnallt, was merkwürdig wirkt, weil man ja wieder stehen geblieben ist und sich in absehbarer Zeit keine Turbulenzen ergeben können. Nicht einmal die Maschinen laufen mehr. Eine andere Stewardess geht immer wieder durch die Reihen und kontrolliert, ob alles in Ordnung ist. Dabei bewegt sich kaum jemand von den Passagieren. Niemand dreht mehr an den Lüftungen wie zu Beginn, niemand zückt noch ein Handy, es ist ruhig. Um wie vieles lieber würde man jetzt im Terminal herumsitzen und warten, man würde dann zumindest hin und wieder aufstehen können, sich ein wenig bewegen, vielleicht zum Duty-free-Shop, falls der noch geöffnet hätte. Ja, vielleicht würde dieser extra für sie wieder aufgeschlossen werden, obwohl es schon viel zu spät ist. Mit ewig Wartenden lässt sich doch das meiste Geld verdienen, das wissen alle. Sie würden zum Zeitungskiosk gehen und noch einmal die restlichen internationalen Zeitungen durchstöbern, die bereits von gestern sind und vermutlich gerade für den Grossisten verpackt werden. Sie würden in der wunderbaren Welt des Shoppings Parfüms und Spielsachen kaufen, Whisky, Wodka, jede Menge Schnaps. Sie würden sich Schals durch die Finger laufen lassen und kleine Schlüsselanhänger, die wirklich niemand braucht. Sie würden Kühlschrankmagnete betasten und sich einem lustigen Tassendesign gegenüberfinden, das als hiesige Botschaft an die vorbeireisende Welt gedacht war, die niemals ankommen kann. Knallbunte Kuscheltiere mit riesigen Augen würden ihnen dabei zusehen, kleine Martial-Arts-Figuren und diese seltsamen Gummienten, die jetzt überall an den Kassen auftauchen, als könnte man irgendetwas mit ihnen anfangen. Es wäre alles besser, als hier drinnen in der Maschine weiter zu warten. Doch schon verblasst die Vorstellung mitsamt den aufgrund der Uhrzeit langsam gewordenen Verkäuferinnen, von denen einzig ein Lächeln übrig bleibt, das ewig über der Theke schwebt, ohne jeden menschlichen Zusammenhang. Allenfalls ein paar aufwendig manikürte Fingernägel gleiten noch über die Tasten der Kasse. Im Grunde können um diese Uhrzeit auch nur noch Plastikstühle im Terminal auftauchen, Plastikstühle am Gate, im langen Gang, in der Rotunde, vor den großen Fenstern. Man müsste in ihnen mehrfach Platz nehmen, bis man es sich dort endlich bequem gemacht hätte. Dann könnte auch der Augenblick entstanden sein, in dem man anfangen würde, miteinander zu reden. Ja, man würde aus den riesigen Fensterfronten auf die dunkel werdende Stadtlandschaft da draußen schauen und sich Dinge fragen. Wann das erste Haus zu brennen beginnt beispielsweise, ob die Explosionen überhaupt zu vernehmen sein werden, ob der Rauch im Nachthimmel verschwinden wird, oder ob es sich um ein lautloses Zurücksinken der Gebäude in die Schwärze der Nacht handeln wird, ja, ganz ohne Geräusche! Man wird sich fragen, ob diese ganze Stadt zurückgesaugt wird in eine Landschaftssituation aus der Welt ohne Menschen, nivelliert der Zivilisationsrahmen, auf den man bisher immer noch gesetzt hat. Man würde anfangen, miteinander zu reden, und ganz automatisch bei den Geschichten ankommen, die man sich eben erwartet von solchen Situationen. Geschichten, die einem noch übrig bleiben und die man sich etwas fahrig zu erzählen beginnt, als wäre das ein Ritus. Etwas, das einem Aufschub gewähren könnte, ein Vorgang, der allerdings hier drinnen in der Maschine mit ihren Sitzreihen und ihren Fensterwaben unmöglich scheint. Eine Erzählung nach der anderen würde man auspacken.

Die Fortsetzung

Die Leute reagierten wieder, hatte es auch in Peter Herrfurths Büro geheißen. Sie atmeten ein, sie atmeten aus und sagten dann etwas. Sie hörten einem beispielsweise am Telefon zu, und danach komme auch gleich etwas. So etwas wie eine Antwort. Herrfurth bekam aber keine Antwort. Er kriegte seit dem Aussetzer einfach nichts zu hören. Er saß da und sah zu, wie die anderen um ihn herum redeten, nur er redete nicht. Er habe das alles satt, probierte er langsam eine der in diesem Versicherungsunternehmen üblichen Formulierungen, so als müsste er sich selbst wieder in Gang bringen, aber es fiel ihm natürlich auf, dass keiner darauf reagierte, dass sie alle in der Spur blieben, einer Spur, die sich doch gerade eben erledigt hatte, oder etwa nicht? Nein, hatte der System-Admin zu verstehen gegeben, sie reagierten wieder, sie rappelten sich wieder auf. Neu hinzugekommen sei allerdings keiner, hatte er noch hinzugefügt, aber alle Alten seien wieder da. Auch diese Frauen gab es wieder, entdeckte Herrfurth, die aus dem Nichts auftauchten und die Aufräumarbeiten machten, diese Putzkolonne, die eigentlich erst für spätabends angekündigt war. Er erkannte sie, wie sie plötzlich am Ende des Flurs erschienen, die Tische sauberwischten und den Inhalt der Papiermülleimer in Säcke schütteten, erstaunlich viele Säcke, erstaunlich viele Tische. Stetig, als wäre daran nichts Ungewöhnliches. Und vielleicht war daran auch jetzt nichts Ungewöhnliches. Vielleicht war Herrfurth das einzig Ungewöhnliche hier, denn strenggenommen sollte er gar nicht mehr vor Ort sein, also so prinzipiell nicht, aber das fiel komischerweise nicht auf. Vielleicht hat die ganze Sache ja eine Generalamnestie in Gang gesetzt, eine Art abrupte Resozialisierung für gefallene Mitarbeiter, deren Technik sich nur für einen Moment lang aufgehängt hatte, wie es sicherlich später heißen würde. Die Putzkolonne würde jedenfalls auch durch seinen Teil kommen, ganz bestimmt, stand in der Mail, als müssten sie jede Menge Schutt wegräumen, doch da war kein Schutt wegzuräumen, da waren nur Fortsetzungsversuche, wohin er sah. Jedenfalls war es das auch schon, was als Auskunft vonseiten der Geschäftsführung kam. Fast schon beruhigend, denn auch das war ein Zeichen der Wiederkehr alltäglicher Prozesse, die üblichen Nichtinformationen, Fehlinformationen, zu knappen Informationen, dachte Peter Herrfurth, um wie viel erschreckender wäre jetzt eine ausführliche Bekanntgabe gewisser Details. Auch wieder da: das Telefonklingeln, die Meldungen von den Märkten, die Liveticker und Tweets, da brauchte er gar nicht auf seine Bildschirme zu sehen, auf seine übliche Bildschirmlandschaft, die man auf seinem Schreibtisch wie auf allen anderen aufgebaut hatte. Es habe alles wieder eingesetzt, würde er da lesen können, nur einen kurzen Augenblick lang sei alles weg gewesen, jetzt habe man ganz allgemein den Faden aufgenommen, Gott sei Dank zeichne sich das Geschehen nicht an den Börsen ab, was an und für sich erstaunlich war, denn an den Börsen zeichnete sich ja ansonsten immer alles ab, jeder Pups in China, wie sein Kollege das ausdrückte. Aber hier: eine kleine Kursschwankung, das war alles. Es habe sich von selbst wieder repariert, das System laufe wieder stabil. Er sei einen Moment unterbrochen worden, so hatte es sein Kollege am Telefon gerade formuliert, »können Sie das wiederholen, was Sie eben gesagt haben?«. Seine Kollegin zur Linken hatte den Faden anscheinend ebenfalls wiederaufgenommen, indem sie nervös gegen den Tisch trat, eine Art körperliche Überschussreaktion, eine Abfuhr überschüssiger oder fehllaufender Energien, während sie telefonierte. Er kannte das von ihr, und es nervte ihn plötzlich maßlos. »Denken Sie doch an die Kreditunfälle: Arbeitslosigkeit, Scheidung, Krankheit!« Diesen Kinderreim seiner Versicherung hatte er selbst oft genug potentiellen Kunden gegenüber aufgesagt, jetzt aber sträubten sich ihm die Nackenhaare. Ihm war klar, wie wichtig diese Kontinuität für das Überleben des Unternehmens war, er sollte vermutlich auch weitermachen, nur fiel ihm schlicht nichts mehr dazu ein. Er fand den Einstieg nicht mehr, so sehr er es auch versuchte. Dabei verlor sich sein Blick nach draußen, wo selbst die Verkehrsleitsysteme und Bushaltestellen ihre Arbeit wiederaufgenommen hatten, die Gewerbegebiete und Einkaufscenter, die man irgendwann ins Weichbild der Stadt geknallt hatte. Herrfurth verspürte das Bedürfnis nachzusehen, ob auch in den Gängen alles weitermachte und vor dem Aufzug. Vor dem Aufzug konnte unmöglich alles weitermachen, da musste ein Loch klaffen, der Riss noch zu sehen sein, der alles durchzogen hatte. Er stand auf, um das zu überprüfen.

 

Nein, auch der Fahrstuhlschacht hatte den Faden wiederaufgenommen, bemerkte er beim Eintreten in den Aufzug, als ihm durch die Ritzen der ihm allzu bekannte Luftzug entgegenströmte. Der Geruch des alten Gebäudes hatte genauso wenig aufgehört wie die ruckartigen Bewegungen, mit denen sich der Aufzug in Gang setzte, so viel war klar. Die Kante des Fahrstuhlbodens bot immer noch genauso Anlass zum Stolpern wie vorher. »Der Fahrstuhl stoppt immer noch falsch«, hörte er sich zu jemandem sagen und entdeckte, dass seine Stimme ebenso weitermachte wie die Unsinnigkeit seiner Kommunikationsversuche, denn sein Gegenüber reagierte darauf nicht. Es war einer aus der Abteilung Schadensaufnahme, das sah Herrfurth sofort, nur erinnerte er sich nicht an dessen Namen.

 

Dass unten das Foyer den Aussetzer genauso gut verdaut hatte wie die Glastüren, die ins Freie führten, wie es hieß, wäre eigentlich zu erwarten gewesen. Nichts sah man ihnen an, kein Flimmern in der Optik im ganzen Vorraum, kein fransiges Gefühl beim Hinaustreten, und die hereinströmenden Menschen glichen denen, die gestern um diese Uhrzeit hereingekommen waren, beinahe aufs Haar. Nur er gab nicht wirklich die Kopie ab, die man ganz allgemein von ihm wünschte, das Reset-Gesicht war ihm nicht nachgewachsen, er war es, der ausfranste und fadenscheinig wurde. Und so wunderte es ihn nicht, dass er nicht einmal von dem Portier gegrüßt wurde, als er das Gebäude verließ.

Draußen sah Herrfurth in Richtung Parkplatz, auf dem die Autos genauso weitermachten wie das ewige Rinnsal an der Parkplatzkante, das er bisher noch keiner Ursache hatte zuordnen können. Die Autodächer hingegen wollten wie immer kein Rätsel aufgeben, ebenso die vormittägliche Menschenleere da draußen, die wie eine Ergänzung der immer gleichen Autofarben wirkte. Keine Kursänderung auch um die Autos herum. Der Luftraum schien in der Sommerhitze zu stehen, und zugleich war es, als würde die hohe Temperatur die Geräusche strengstens miteinander verbinden. Nah- und Fernwirkung waren sozusagen hochsommerlich vernetzt. Geräusche, Stimmen, Fetzen einer belanglosen Unterhaltung von Menschen, vermutlich von der Bushaltestelle, durchdrangen immer wieder unvermittelt die Parkplatzstille.

 

Oben würde die Putzkolonne inzwischen näher gekommen sein, Herrfurth ärgerte sich, dass er sich nicht die Zeit genommen hatte, seinen persönlichen Kram zu packen, er war sicher, sie würden ihn mitnehmen. Oder noch schlimmer: Sein persönlicher Kram würde nun wie der Kram aller anderen zum Weitermachen verdammt, wenn auch erst mal in den Schubladen, nur er stand da unten auf dem Parkplatz und konnte einen Wechsel einläuten, indem er ging.

Seine Kollegin oben würde mittlerweile nervös irgendwelche Notizzettel zerkleinern oder Krakeleien auf ihnen veranstalten und jetzt erst bemerken, dass Herrfurth längst den Raum verlassen hatte. Sie würde denken, er sei schon zum Mittagessen, und sich ebenfalls aufmachen. Bei ihrer zufälligen Begegnung mit Burri – so hieß der Typ, fiel ihm jäh ein – im Aufzug würde sie sicher kommunikativ weit besser abschneiden als er, sie würde ein Gespräch beginnen, das lachend weitergeführt werden konnte, bis in die Kantine hinein. Sie würde auch nicht aufgeschreckt auf die Geräusche aus dem Nebenraum hören und sich fragen, was diese Putzkolonne eigentlich machte. Sie räumen auf, das, was von der Sache übrig ist, würde sie sich einfach längst versichert haben, und dieses Wissen würde sich bei ihr auch automatisch verlängern. Vielleicht aber, spekulierte jetzt Herrfurth, hatte es Verdopplungen gegeben, und vielleicht war er eine dieser Verdoppelungen und saß noch in einer zweiten Version oben im Büro?

 

Endlich stand er vor seinem Auto. Ihm war nicht klar, wie das passiert war, aber er musste jetzt einfach wissen, ob die Straßen da draußen wirklich weitermachten, die Flughäfen, zu denen man ganz einfach gelangen konnte, und die Bahnhöfe. Ja, die Züge würden vermutlich losfahren, die Flüge würden stattfinden, als wäre nichts. Am Ende würde es so aussehen, als hätte der Aussetzer nur ihn betroffen, weil er nicht in der Lage war, so was einzustecken, wie es hieß. Er habe seine Kündigungsreife dadurch nur unterstrichen, würde man sagen. Er musste etwas finden, das auch sie nicht fortsetzte, er musste einen finden, der ebenfalls im Riss steckte.

 

Sofia war das nicht, ahnte er. »Da war doch nichts«, würde sie sagen, wenn er sie jetzt anriefe. »Da ist doch nichts wirklich passiert. Du regst dich wieder einmal künstlich auf.« – »Sicher, wir haben noch einmal Glück gehabt«, würde sie nach einer Weile hinzufügen. Dabei wussten sie gar nicht, ob sie wirklich Glück gehabt hatten, sie könnten es einfach nicht wissen, würde er antworten. Er ahnte aber, dass auch die Kontaktabbrüche aufrechterhalten blieben. Sofia war sicher noch immer beleidigt und hatte ihre Nicht-Erreichbarkeit einfach weiterlaufen lassen. »Ich meine, wir hätten alle tot sein können«, sagte er sich, »das sollte doch Grund genug sein, dass man zumindest einmal anruft oder das Telefon abhebt.« Man sollte doch verstehen, dass es wichtig war, jetzt zusammen zu sein, doch sie verstand es anscheinend nicht. Er wusste es schon im Voraus: Selbst dieser einfachste anthropologische Grundreflex blieb bei ihr aus. Da sollten wir jetzt beieinanderstehen und uns die entscheidenden Informationen besorgen, schoss ihm durch den Kopf, überlegen, welche Schritte die nächsten sein könnten, was überhaupt noch zu machen wäre in so einer Situation – und sie? Was tat sie? Immerhin machte auch der Autoschlüssel weiter, er fühlte sich in Herrfurths Manteltasche genauso an, wie sich ein Autoschlüssel anfühlen sollte, wenn man die Automatik betätigt. Im Auto setzten sich wie erwartet die Kontaktabbrüche fort, wie ihm sein Privathandy verriet, das er wie immer erst hier drinnen anschaltete. Er atmete durch. Warum sollte er überhaupt noch losfahren? Und wohin? Das Weitermachen der Welt hatte ihn nicht dauerhaft mitgerissen, sondern nur bis zum Parkplatz geschwemmt, auf dem er jetzt in seinem Auto saß, ein Treibgut der Zeitläufte, die sich nur kurz aufgehängt hatten.

 

Er sah dem Rinnsal zu, das sich seit ewigen Zeiten am Rande des Parkplatzes befand, und niemand wusste warum. Es dauerte einen ganzen Moment, bis er sich wieder darauf konzentrierte, in Aktion zu treten, d.h. die Dinge zu suchen, die nicht weitermachten. Er kannte schon einen Ort des Nichtweitermachens, und so startete er den Motor und fuhr auf die Ausfallstraße, hinein in die Stadt, in die Richtung, die sich ebenso wiederhergestellt hatte wie das Krankenhaus, das sich genau an derselben Stelle befand wie vor einer Woche, als er zum letzten Mal da gewesen war. Oder war es einige Millimeter weggerückt? Standen gar gewisse Zentimeter über? Hatte sich wenigstens hier ein Fehlerteufel eingeschlichen? Ja, ganz bestimmt, war er sich sicher. Kopiervorgänge gingen selten zu 100 % gut.

Das ganze Krankenhaus habe sich auf einen Schlag wieder zurückgemeldet, gab man ihm an der Pforte zu verstehen, zweifelsohne, es sei wieder voll da, leider auch mit seinen üblichen Problemen, seufzte der Pförtner. Ob damit die resistenten Keime, die blutigen Entlassungen, der ökonomische Druck gemeint war, darüber ließ man ihn im Dunkeln, aber er musste auch weiter, er wollte ja hinein. Das Wiedererscheinen betraf leider auch sämtliche Leiden an Herzkranzgefäßen, Schlaganfälle, Krebszellen, konnte er sich ausmalen, genauso wie die Schmerzen und Erschöpfungszustände, die postoperativen Zustände und Chemonachwirkungen, der ganze Diagnoselärm. Er konnte das unmöglich alles persönlich überprüfen, aber er rechnete es hoch. Ja, längst hatte die Hochrechnung des erneut Bestehenden in ihm begonnen, und in dieser Hochrechnung waren Probleme der Finanzierbarkeit der Massendiabetes genauso vorhanden wie die Restpatienten aus dem Zimmer 207, das er nun aufsuchte. Er musste jetzt unbedingt überprüfen, ob sein Bett noch leer war oder schon wieder belegt. Doch im Zimmer überlegte er keine Sekunde mehr, ob die Pharmafirmen etwa auch eine Pause gemacht hätten und wie sie wieder zurückgekommen waren auf diesen Planeten, den Gesundheitsplaneten. Er sah sofort, dass jemand nicht mehr weitergemacht hatte. Der Patient sei nicht mehr da, habe man ihn nicht informiert? »Hat Sie denn niemand angerufen?«, raunzte nach Herrfurths Eintreten sofort ein neuer Nachbar in Zimmer 207, als müsste er sich mit einer Deutlichkeit wieder anwesend machen, die Herrfurth an der Schwester im Gang eben vermisst hatte. Er sei kein Verwandter, insofern, wollte er zurückgeben, starrte aber nur auf das leere Bett, eine Leerstelle, die hier einen sehr kurzen Moment wieder auftauchen durfte, bevor sie ausgefüllt wurde von anderen Fortsetzungen.

Er habe nur kurz ausgesetzt, sein Atem, informierte ihn ungerührt der Zimmernachbar, jetzt sei er wieder da. Peter Herrfurth wusste nicht, ob der sich selbst meinte oder seinen ehemaligen Nachbarn, ein Nichtwissen, in das eine ganze Weile das Gefühl einer sich ankündigenden Panik hineinlief. Zumindest kam Herrfurth keinen Augenblick weiter mit der Überlegung, ob er einfach nur rauslaufen sollte oder sich aufs Bett legen.

 

Es gab keine Allianz zwischen denen, die am Verschwinden arbeiteten, zog er plötzlich einen gedanklichen Schlussstrich, einzig die derer, die alles fortsetzten. Es schien ihm, als wäre er in einer Art Kälteraum angekommen, oder dort, wo sie die Toten aufbewahren. Zumindest befand sich in diesem Raum, wo er jetzt war, kein Rest Leben. Wie er dorthin gelangt war, würde er später nicht mehr sagen können. Es war ihm jedenfalls so, als hätte er erst dort einen wüsten Trick durchschaut. »Ich meine, wir hätten ja alle tot sein können«, sagte er jetzt ein letztes Mal leise zu sich selbst, dann ließ er es ein für alle Mal sein. Auch nicht, dass es zu einem Schlagabtausch mit der Wirklichkeit gekommen war oder die Welt für einen Augenblick den Atem angehalten hatte, würde man von ihm noch hören. Nichts zeigte den Riss an, hatte er verstanden, in dem sie alle tatsächlich verschwunden waren, und so würde es auch für alle Zeiten bleiben.

Frühjahrstagung, Herbsttagung

Fangen sie wieder mit ihrem Schweigeminutenmurks an! Man kann ja gar nichts mehr machen, sagte sich Kurt Felsch ein paar hundert Kilometer entfernt, ohne von dieser Musik unterbrochen zu werden, die die nächste Schweigeminute ankündigt. Alle hielten inne, stellten sich auf und richteten sich nach vorne aus, oder was sie für vorne hielten, und ließen ihre Blicke nach innen fallen. Während der Schweigeminute passierte dann erst einmal nichts, doch, so war ihm klar, das stimmte gar nicht, weil jede Menge passierte, allerdings um die Schweigeminute außen herum. Er wusste: »Die Zeit steht nicht still, nur wir verlieren wertvolle Sekunden. Die Ökonomie arbeitet gegen einen in solchen Momenten«, was aber keinen zu interessieren schien. Sie waren ja auch mit anderem beschäftigt, denn wie immer brauchte es einen enormen Aufwand, um öffentliche Stille zu inszenieren. Man fuhrwerkte schon eine ganze Weile an dieser Schweigeminute herum, arbeitete angestrengt am Innehalten für einen Moment. »Dabei gibt es sie ja zuhauf, die Inseln der Nichtkommunikation inmitten der Extremkommunikation, inmitten des politischen Dauergesprächs auf allen Kanälen. Es wäre weitaus ökonomischer«, dachte Kurt Felsch, »dieses ganze Mikroschweigen zusammenzukehren zu einem einzigen Großschweigen, sie hätten plötzlich einen Sinn, die Kommunikationslöcher, die geistlosen Momente, das Abdriften, das uns alle hin und wieder befällt«, aber darauf kam natürlich niemand, sie verschwendeten wertvolle Redezeit in ihrer konzertierten Großaktion, um ein Zeichen zu setzen, ein wirkliches Zeichen, sozusagen ein unverwechselbares Schweigen, das nichts zu tun hatte mit einem Stolpern oder einem medialen Aussetzer, der berühmten Radiostille, die ganze Nationen in Angst und Schrecken versetzen konnte – dachte Kurt Felsch, während er, wie alle anderen, seinen Blick nach vorne hin richtete, auf die leere Bühne hin, als könnte man das nicht machen: schweigen und sich ansehen. Sie standen still, ein jeder für sich und doch alle zusammen. Man würde der Opfer von F. genau 60 Sekunden lang gedenken, dann würde wieder weitergemacht – schließlich musste ein Ergebnis erzielt werden hier im Hotel P. in Berlin. Auch wenn niemandem klar war, worin es genau bestehen konnte, eine schwierige Sache für Menschen dieses Schlags, die gewöhnt waren, ausnahmslos ergebnisorientiert zu arbeiten. Und doch seien alle gekommen, hatte es in der Begrüßung geheißen: »Auch wir sind nichts als Teilnehmer dieser Tagung und sind hocherfreut, dass es diesmal wieder geklappt hat«, hatte der Moderator launig ins Mikro gesagt, »obwohl es weiß Gott mehr als drei Gründe gegeben hätte, die ganze Sache abzublasen.« Felsch wusste nicht, woher sich der Übermut des Moderators speiste, aber er sortierte auch gerade das Publikum in jene, denen das Wasser bis zum Hals stand, und jene, die dabei waren, sich neu zu orientieren, wie es der Moderator nennen würde. »Auch dürfen wir eine Reihe von Politikern in unserer Runde begrüßen, die wir bisher noch nie begrüßen durften«, schloss dieser gerade etwas unvermittelt, als schon der Grüßaugust vom Ministerium aufs Podium schoss und seinen Minister und seinen Staatssekretär entschuldigte. Politiker hatte Felsch ansonsten keine gesehen. Kaum verwunderlich, schließlich hatten sie im Moment auch anderes zu tun, es herrschte ja quasi Ausnahmezustand – »ja, der herrscht«, gab ein Herr neben ihm zu, »und dieser Typ wäre gut beraten, uns jetzt nicht im Weg zu stehen«. Felsch war sich nicht sicher, ob das als Scherz gemeint war, oder ob dieser Typ zu jenen gehörte, die davon ausgingen, es könnte gar kein Ausnahmezustand herrschen, es gäbe so etwas in seinem politischen Leben nicht, aber noch bevor er das zu Ende überlegt hatte, verschwand auch der Vertreter des Staatssekretärs wieder, und man begann mit der Schweigeminutenstartmusik.

 

Immerhin, so dachte er jetzt, meinte hier niemand, man würde von der Krise nichts fühlen. Die Fühlgespräche fanden ja auch woanders statt, im Raum Schinkel möglicherweise, der im anderen Trakt des Konferenzhotels lag, aus dem er geflohen war in Richtung Tatsachen. Denn hier, so hatte es geheißen, fand eine Tatsachenkonferenz statt, Unwirklichkeitsgefühle hatten hier keinen Zentimeter Raum, und es gab einige, die mächtig stolz waren, es in diese Tatsachenkonferenz geschafft zu haben, quasi per Eintritt in diesen Konferenzsaal nur noch unter Tatsachenmenschen zu stehen und die Fühlkonferenz hinter sich gelassen zu haben, all die Geistesmenschen, die über Alarmismus und Bilder des Untergangs debattierten und sich insgeheim andauernd fragten, inwieweit die Medien die Wirklichkeit noch erfassen konnten, obwohl sie nichts anderes als eben diese Medien zur Verfügung hatten.

 

Man nannte es Frühjahrstagung als Pendant zur Herbsttagung, wohl um dem Ganzen einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben oder um ihm jede Dringlichkeit zu nehmen, den Entscheidungsdruck zu mindern, der sich langsam bemerkbar machte. Letztendlich wussten alle, dass diese Konferenz einen Erdrutsch auszulösen in der Lage war, darüber konnten auch die Keynote Speeches und die drei vagen Panels nicht hinwegtäuschen, die ohnehin nur von ein paar Wissenschaftlern, Betriebswirte und Juristen allesamt, wahrgenommen wurden.

Hier sei er von Insidern umgeben, hatte man ihm versichert, nichts als Insider, was ihn enorm stutzig machte. Es hatte ihn nicht gewundert, dass er erst mal auf keine Insider getroffen war, nur auf irgendwelche Stiftungsleute, die ständig auf ihn zugesteuert kamen und ihn gleich volllaberten, vielleicht, weil sie auch nicht recht wussten, wie sie ihn einordnen sollten. Als ahnten sie, man dürfte ihn keinen Moment alleine lassen, womit sie ja nicht ganz unrecht hatten. Eine Frau Efferdingen hatte sich regelrecht an ihn geklammert. Sie war an der Konferenzorganisation nicht unwesentlich beteiligt gewesen und witterte einen verwandten Funktionsträger in ihm, den man zuschwallen konnte mit den Visualisierungen, die sie habe ans Bundespresseamt schicken müssen. Das Problem mit der ministerialen Schirmherrschaft etc. und wie das Stiftungsrot ganz schnell vom Bundespresseblau verdrängt werde. Das Stiftungsrot und das Bundespresseblau hatten ihr ganzes Gespräch beherrscht, und er wusste bis jetzt nicht, von welcher Stiftung sie sprach, genervt und aufgeregt gleichermaßen. Man hatte hier ja keine Dreifarbenkennung wie bei einem dieser B2B-Specials Ende der 90er, als man grüne Geldsuchende roten Geldgebern gegenüberstellte und ihnen gelbe Berater an die Seite empfahl. Heute bräuchte man eine Dreifarbenkennung, damit sich deren Träger erinnerten, was sie eigentlich darstellen sollten. Z.B. dieser Herr Berger, der vollkommen im Ludwigerhardadenauerbewunderungsstau zu stecken schien, verquere Wirtschaftswunderbilder im Kopf, ein hochroter Kopf, ungesund.

 

Felsch ermahnte sich, während der Schweigeminute lieber die Liste der Personen durchzugehen, mit denen er eigentlich sprechen sollte, und sortierte die Gespräche schon mal durch: Das Gesicht der Börse, Mister Dax, würde nicht dabei sein, der Katastrophenexperte aus dem Hessischen mit seinen weltweit 6000 Ingenieuren schon eher, bloß nicht dieser Chefökonom aus Genf, den er ein paar Meter weiter entdeckte. Der zog auch nur kurz die Augenbraue hoch, als er seiner gewahr wurde. Vielleicht irgend so ein BDI-Sekretär, von denen es angeblich bei solchen Gelegenheiten nur so wimmelte, Typen vom Auswärtigen Amt, die er erst einmal herausfinden musste. Sein fundamental schlechtes Namensgedächtnis hatte ihm schon so manches Window of Opportunity, wie man hier sagen würde, wieder verschlossen und das Fehlen jeglicher Bereitschaft, die Society-Nachrichten in den Klatschzeitungen zu lesen, schon so manche Peinlichkeit eingebracht. Wen man alles kennen musste, das hatte sich ja ausgeweitet. Es waren längst keine Funktionen mehr, sondern Namen, die eine Rolle spielten. Man hatte kleine Fürstentümer aufgemacht, von denen man geglaubt hatte, man habe sie vor knapp 200 Jahren verabschiedet.

 

Sie hatten im Raum Bismarck das Licht nicht extra heruntergedimmt wie bei anderen Schweigeminuten, Konkurrenzschweigeminuten in Konkurrenzräumen, es war von Anfang an relativ dunkel. Vielleicht, um es gemütlicher wirken zu lassen. Irgendein Lichtdesign spukte da in den Köpfen herum, das er noch nicht ganz verstand, ein Lichtdesign des Undramatischen, sanft, aber doch abwechslungsreich, den Raum gestaltend, Nischen bietend, und doch die Gesichter verdunkelnd. Dazu passten die schwarzbraunen Holzpaneele phantastisch, die sattblauen Teppiche, die schweren Türen, die jegliches Geräusch schluckten – klopfende, pöbelnde und schreiende Menschen waren hier einfach nicht vorstellbar. Auch hatte man anscheinend darauf verzichtet, irgendein Schweigeminutenbegleitgeräusch erklingen zu lassen, ja, ihm fiel erst jetzt auf, dass es nicht einmal die Musik, die ewige Schweigeminutenmusik gab, die das Ganze normalerweise untermalte. Immerhin nicht die Nationalhymne, wie es im Raum Potsdam der Fall gewesen wäre. In diesem Raum schien die kleine Startmusik zu reichen. Aber man hatte wohl auch nicht zu viele Gedanken auf die Beendigung der Aktion verschwendet, denn niemand machte Anstalten, ein Ende anzudeuten, obwohl seines Erachtens eine Minute nur 60 Sekunden hatte. Mittlerweile war schon eine kleine Unruhe, eine Schweigeminutenunruhe entstanden, d.h. der Mann mit der rosa Krawatte bewegte sich vorsichtig aus dem Raum, als müsste er eine dringende Angelegenheit klären. Er versuchte, dies so leise und unauffällig wie möglich zu machen, und erregte natürlich auf diese Weise die größte Aufmerksamkeit.

 

»Es ist ja so gespenstisch«, wusste Felsch, würden sie im Raum Schinkel sagen, »wieder hat man den wirtschaftlichen Zusammenbruch einiger Länder, darunter quasi Nachbarländer, nicht mitgekriegt, und jetzt entfaltet sich dort eine politische Katastrophe, die uns demnächst erreichen wird. Wieder ist eine gewaltige Geldvernichtung an uns vorübergegangen, und wir haben sie nicht wirklich zuordnen können.« – Sie schlafen im Raum Schinkel, wurde außerhalb des Raumes Schinkel gesagt, was aber nicht stimmte. Er hatte sich selbst davon überzeugen können, dass sie hellwach waren. Dort wurde genauso wenig geschlafen wie hier. Sie waren wach und standen vermutlich jetzt ebenfalls da und schwiegen, nur eben schlechter bezahlt. Sie dealten genauso innerlich vor, was dann äußerlich nachgedealt werden musste: ihre Symbolpolitik, Medienhoheiten, was auch immer. Und insofern regten sie sich nur künstlich darüber auf, wenn sie sagten, ganze Unternehmenskäufe würden im Raum Bismarck schon innerlich durchgegangen, die dann nachher nur äußerlich ausgespuckt würden. Ganze Volkswirtschaften, so behaupteten sie, würden einkalkuliert und auskalkuliert, während dort eher heftig nachgedacht wurde über den Zustand des Schweigens als solchen oder über die Problematik der Komplexitätszuwächse. Aber man sollte nicht denken, überlegte Felsch, im Raum Schinkel werde gejammert. Man wurde hier im ganzen Gebäude ja ziemlich schnell verdächtigt, ein Jammerer zu sein, so viel hatte er schon rausgefunden, insofern war klar, dass auch auf dieser Tagung offiziell kein einziger Jammerer zu finden war, obwohl es weiß Gott genug Anlass dazu gäbe.

 

Die Opfer von F. machten den Opfern von W. Konkurrenz, so war das nun. Sie überlagerten sich quasi, die aus F. allerdings wirkten irgendwie lauter. Es war ein regelrechter Opferwettstreit entbrannt, aber die Angehörigen waren darüber nicht enttäuscht, nein, die einen Angehörigen drückten angeblich den anderen Angehörigen ihre Anteilnahme aus, sozusagen wechselseitig. Das eine Psychologenteam vermischte sich mit dem anderen aber nicht, das war mehrfach betont worden, wo war das noch? Egal, sagte sich Felsch. Im Raum Bismarck sprach ohnehin niemand davon. Opferkonkurrenzen waren auch eher Thema für den Saal Chamisso, soweit er sich erinnern konnte, ein kleiner Saal, mehr ein Sitzungszimmer für fünf Leute, so genau wusste er das nicht. Er hatte ihn noch nicht gefunden, aber er würde jetzt nicht wie Frau Efferdingen verkünden: Es war, als ob sich der Saal vor ihr versteckt hätte. Nur mit Handylotsung sei sie überhaupt hier angekommen, das Gewirr der Aufgänge im Parkhaus müsse das Ergebnis einer heillosen Fehlplanung sein. Es half natürlich nicht, dass dort alles voller schwarzer Mercedes stand.

 

Amokläufer habe es immer schon gegeben, hörte er sie murmeln, das sei nichts Neues. Schon während der ersten Schweigeminute war hauptsächlich die Rede von rein technischen Problemen gewesen, die man in Zukunft vermeiden müsse. Auch in Bezug auf die Opfer von S., flüsterten sie jetzt neben ihm, unsicher, ob man schon wieder reden durfte. Viel interessanter, fand er, war doch, wer wem in welcher Reihenfolge gleich wieder nicht zuhören würde. Dass die Kanzlerin ihrem Minister nicht zuhörte, war ein offenes Geheimnis, genauso wie sich dieser nicht auf unabhängige Politikberater einlassen würde, die wiederum ihren wissenschaftlichen Mitarbeitern kein Ohr liehen, den Zuträgern, dem Bodenpersonal. So was in der Art. »Und daneben«, hatte Frau Efferdingen hinzugefügt, »stehen Beamte, die alles einzig von den Endergebnissen her betrachten und von den Ausgangsproblematiken keine Ahnung haben.« Ja, wer alles mit wem nicht mehr sprach! Er stellte sich vor: Anfangs hatte Herr Berger nicht mit Herrn Schneider gesprochen, dann hatten sich Zeitz und Serner auf einen Nicht-Antwortpakt geeinigt, Frau Binswanger und Herr Letzi schwiegen aus Tradition, und Herr Mirl und Frau Hinterberger tauschten nur noch Höflichkeitsfloskeln aus. Felsch wusste, es hatten sich Hierarchien des Nicht-miteinander-Sprechens und der Kontaktabbrüche durchgesetzt. Natürlich redete man offiziell miteinander, offiziell redete man immer miteinander, »und das bei dauerndem Schneefall«, mischte sich Frau Efferdingen erneut ein, »von wegen Klimawandel. Es schneit seit zwei Wochen ohne Unterlass.« Der Schneefall war Alltag geworden, da gehörten die Totalausfälle der Bahn genauso zur Routine wie die Ausfälle des Stromnetzes. Handymasten seien auch schon manipuliert worden, hieß es, und dass Autos brannten, sei doch wirklich nichts Neues, es gehöre ja schon beinahe zum touristischen Inventar der Stadt.

FRAU EFFERDINGEN:

Man setzt nun auf den Ausbau eigener Netze, was die Handys angeht.

HERR BERGER:

Aber eigene Straßen haben die nicht im Sinn.

FRAU EFFERDINGEN:

Wie denn auch, das heißt, der eine oder andere Innenstadttunnel wird wohl daran glauben müssen.

HERR BERGER:

Aber ein eigenes medizinisches Versorgungssystem, das kann ich mir nicht vorstellen.

FRAU EFFERDINGEN:

Aber hallo. Die eigenen Restaurants, Schulen, Wohnbezirke gibt es ja schon längst.

HERR BERGER:

Bitte?

FRAU EFFERDINGEN:

Aber ja!

HERR BERGER:

Das ist was anderes.

Überhaupt, woher der Lärm kommt, hörte Felsch sich jetzt fragen. »Ach, irgendwo im Hotel verleihen sie wieder einen dieser Negativpreise.« Irgendein Goldener Humbug oder eine Goldene Kartellkarte oder eine Goldene Marktzwiebel. Felsch erinnerte sich, dass bei der Rezeption ein Schild mit den Namen der Preise gestanden hatte und wo die Verleihungen stattfänden, eine lange Liste, die einen zum Lachen brachte. »Es ist eben ihre Art, Kontakt mit unsereins aufzunehmen«, witzelte der Mann neben ihm. Er habe mal die Goldene Auster für Auskunftsverweigerer bekommen, fügte er lächelnd hinzu.

 

Auch die Nachricht von den Panikeinkäufen hatte Felsch nicht ganz verstanden. Fanden sie nun statt oder nicht? Niemand wusste das so genau. Panikeinkäufe waren im Raum Bismarck etwas Abstraktes. Waren sie gut, weil sie die Konjunktur ankurbelten, oder schlecht, weil sie keine Nachhaltigkeit aufweisen konnten? Mal ganz abgesehen von den logistischen Problemen, die sie nach sich zogen – man wusste es schlicht und einfach nicht. Vom Raum Schinkel hörte man jedenfalls nichts Gutes, gab Berger flüsternd bekannt. Es habe einen Hotelbrand gegeben. Oder Vergiftungserscheinungen, oder Heiligenerscheinungen mit drastischen Folgen. Die Meinungen gingen diesbezüglich auseinander.

Noch immer war kein offizielles Ende der Schweigeminute in Sicht, und doch löste sich alles langsam auf. An manchen Ecken wurde noch die letzte Ansprache der Kanzlerin auseinandergenommen. »Wie viele Neujahrsansprachen kann man eigentlich in einem Jahr halten?« – »Es ist, als wollte sie das Jahrhundert abkürzen!« Das Ergebnis der Tagung?, würde man sich nicht lange fragen. Immerhin hatten sie es beinahe geschafft, eine Schweigeminute weiterzukommen. »Die nächste werden wir wohl nicht überstehen«, lachte Frau Efferdingen. Bei der nächsten Schweigeminute, so viel wusste Felsch, würden es ja auch die Opfer von D. sein oder Z., da war er sich noch nicht ganz sicher, und sie würden ihnen noch viel mehr Kopfschmerzen bereiten als alle Opfer zuvor, das könne er mit Sicherheit sagen, sie hätten eine andere Opferqualität, würde es dann heißen, und man müsste nun eine andere Schweigeminutenqualität finden. Man würde diesbezüglich auf jeden Fall einen Schritt weitergekommen sein im Raum Attila, den er lange geplant hatte und jetzt endlich eröffnen könnte.

Tangente

Ein paar Flugstunden davon entfernt hörte Lavinia Prerow: »Keine Sorge, wir sind praktisch in der Nähe des Flughafens.« D.h. sie glaubte es zu hören, sie sah aber keinen Flughafen. Sie konnte sich auch beim besten Willen nicht vorstellen, dass diese Straße zum Flughafen führte. So sehen keine Straßen aus, dachte sie sich, die zu Flughäfen führen, allenfalls Landstraßen, nein, was sagte sie da, Pisten. Doch sie befanden sich ja nicht in irgendeiner Landschaft, sondern in einer Stadt, einer Millionenstadt, was sagte sie da, einem Schwergewicht an Metropole. Da gab es schon gewisse Erwartungen, vor allem, was Flughafenstraßen anging: Sie müssen Zubringer sein, sie müssen Autobahncharakter annehmen, irgendwann, sie dürfen nicht nach links noch nach rechts biegen, sondern müssen geradeaus auf das Hauptgebäude zusteuern. Flughafenstraßen, so wusste sie, dürfen nicht eng sein, eingekeilt zwischen Häusern, Hongkong mochte da eine Ausnahme bilden, aber sie war nicht in Hongkong, und so musste es ein Highway sein mit riesigen Verkehrsschildern und Werbetafeln am Straßenrand, die Kaufkraft suggerierten, saubere neuwertige Produkte zeigten. Das hier fühlte sich mehr nach verhutzelter Seitenstraße an, so ganz war das in der Dunkelheit nicht zu erkennen – ja, die Straßenbeleuchtung fehlte, dabei sollten Straßen, die zu Flughäfen führten, hell erleuchtet sein, weil Flughäfen selbst hell erleuchtet waren, und ein beleuchtungstechnischer Kontrast zur Umgebung nicht erwünscht war. Taschkent mochte da eine Ausnahme bilden, aber sie waren nicht in Taschkent, weiß Gott nicht, man durfte sich mehr erwarten, zumindest freie Marktwirtschaft mit Beleuchtung. Dazu kam, es war hier an der Straße plötzlich menschenleer. Wo sie bis eben noch reges Geschäftstreiben wahrgenommen hatte, Menschen, die in der Dunkelheit miteinander sprachen, Waren anboten, Versammlungen abhielten – »Waren das Sikhs, Ganesh? War das eine Wahlkampfveranstaltung?« –, herrschte jetzt völlige Totenstille. Nein, zu diesem Land passte keine Menschenleere, Menschenleeren waren etwas für Nordkasachstan, aber sie war nicht mehr in Nordkasachstan, erinnerte Prerow sich, sie hatte die Einladung angenommen, kurzfristig, hatte sich aus Nordkasachstan rausbewegt, hatte auch Südkasachstan hinter sich gelassen und war über Wien zurückgeflogen in diese Region.

Nur, um hier in dieser Düsternis zu landen. Vielleicht eine durchschnittliche Düsternis für den Großraum Mumbai, aber mit Sicherheit keine durchschnittliche Menschenleere für die Flughafenregion. Die Menschenleere schaute hier anders aus, sie schaute nach Geschiebe und Gedränge aus. Ein Gedränge voller Handyklingeltöne, was sie zugegebenermaßen anfangs erstaunt hatte. Sie hatte sich gesagt, »das ist doch nicht Westeuropa«, aber hatte sich erinnert, dass selbst im ansonsten mittelalterlichen Jemen