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Wie entsteht Realität? Gerücht, Ironie und Irrtum sind Bestandteile unserer täglichen Konstruktion von Realität. Auch die Schriftstellerin nutzt diese Mittel, um unsere Gegenwart zu analysieren und über sie zu schreiben. Kathrin Röggla denkt über das Schreiben nach und über die Instrumente und Waffen, die ihr zur Verfügung stehen, um unsere komplizierten Gegenwart kritisch zu durchleuchten. Der Text entstammt dem Band ›besser wäre: keine‹, der Essays und Theaterstücke versammelt, die unsere Realität geistreich und spielerisch, lustvoll und konsequent analysieren, mit kritischer Phantasie und kluger Sprachkunst.
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Seitenzahl: 41
Kathrin Röggla
Reality bites.In der Gerüchteküche
Essay
Fischer e-books
Es gibt viele Gründe, warum man liest. Um ein Zimmer für sich alleine zu haben, um dem täglichen Leben zu entkommen, um sich selbst zu erfahren, ja, zu steigern, um Kummer auszuhalten, Krankheiten, Liebeskummer, Todesfälle oder, wenn man zu zweit oder zu dritt oder gar in einem Lesezirkel liest, um einen gemeinsamen Imaginations- und Diskussionsraum aufzubauen, etwas zusammen zu erleben, aber auch, um ein Fenster zur Welt zu öffnen. Dieses Fenster zur Welt, diese Erfahrungswut hat nichts mit journalistischer Neugier oder dem Konsum von Nachrichtenformaten zu tun, sondern mit der Lust, eine sinnliche Erfahrung zu machen.
Es gibt viele Gründe, warum man liest. Sie gegeneinander auszuspielen scheint mir immer sinnloser. Was auffällt, ist, dass die Leser selbst nicht in die gesellschaftliche Norm passen. Der normale Mensch ist gesund und berufstätig, erwachsen, meist männlich und nicht zu alt, verfügt über ein beachtliches Karrierestreben und einen glasklaren Kopf, betreibt Sport und wird sicher nicht lesen. Er hätte gar nicht die Zeit dazu. Die nicht Normalen, die Kranken und Alten, die Frauen, die Gebärenden und Kinder Hütenden, die Arbeitslosen, die mit dem nicht glas klaren Kopf, sie werden lesen, sofern sie über die entsprechenden Mittel verfügen, und doppelt arm ist der, dem es bloß an der Kulturtechnik mangelt. Die meisten anderen Kulturvergnügen erfordern mehr Geld, mehr Mobilität, kollektive Räume, Theatersäle, Kinos, Museen, zu denen man erst hin aufbrechen muss. Selbst mir als eifrig reisender Autorin ist zuweilen entfallen, dass wir die Hälfte unseres Lebens in Immobilitäten verbringen, wir können dann nicht einfach aufbrechen und irgendwohin gehen, entweder weil wir zu klein sind oder selbst Kinder zu hüten haben, einen Arbeitsplatz nicht verlassen dürfen oder krank oder alt sind, bzw. gerade wenn wir mobil sind, haben wir uns als flexible Arbeitnehmer zu bewähren und sind glücklich über ein Buch, das wir überallhin mitnehmen können. Dazu sind die Zustände, in denen wir lesen, meist nicht mit jenem hellwachen Bewusstsein zu vergleichen, das man als Schriftsteller sich vorzustellen geneigt ist. Wir sind Zwei-Uhr-nachts-Leser, Traurigkeitsleser, Endorphinleser, Ängstlichkeitsleser und Leserinnen, und es ist besser, uns nicht mit sogenannter Wohlfühlliteratur zu kommen.
Es gibt viele Gründe, warum man liest. Der vielleicht prominenteste, das Fenster zur Welt zu öffnen, hat Anlass für zahlreiche Missverständnisse gegeben. Obwohl diese einem gerne regelmäßig bei sogenannten Realismusdebatten entgegenstürzen, bin ich doch jedes Mal wieder überrascht, wie sie sich hartnäckig halten, als wären sie Wünsche, und vielleicht sind sie das auch. Kürzlich nahm ich an einer Radiodiskussion zum Thema »Wirklichkeitshunger in der Gegenwartsliteratur« teil, in der der deutschsprachigen Literatur eine neue Gier auf »wirkliche Verhältnisse« attestiert wurde, wohlgemerkt keine Wirklichkeitswut, sondern nur ein Hunger, als ob man bisher zu wenig Wirklichkeit abbekommen hätte und diese nun wild in sich hineinstopfen müsse, komme, was da wolle. Würde man von einer Wirklichkeitswut sprechen, müsste man den diskutierten Autoren, allesamt männlich, ja ein emotional aufgeladenes Verhältnis zu dieser Wirklichkeit unterstellen, was wir schon mal gar nicht wollen, denn damit wären wir schon über jenen Objektivismus hinaus, den man sich diesbezüglich so gerne vorstellen mag. Ja, auch in dieser Radiosendung ist der an der gesellschaftlichen Wirklichkeit interessierte Autor wieder einmal männlich und schreibt einen Schlüsselroman von einer manchmal journalistisch recherchierten, manchmal nur erlebten Geschichte, die er in einen narrativen Kontext stellt. Der Leser hat dann die dazugehörige Persönlichkeitsrechtsdebatte zur Verfügung, über das Wissen, worum oder um wen es in den Büchern von Maxim Biller oder Norbert Gstrein »eigentlich geht«, und wenn nicht, wird es ihm das Feuilleton verraten. Schriftsteller wie Rainald Goetz, der ja genauso wie Elfriede Jelinek die Leute beim Namen nennt, oder Max Goldt, sind da gar nicht so interessant, als bräuchte es dieses etwas plumpe Versteckspiel, das dem Kritiker den Ball zuspielt, Enthüllungen zu liefern und sich damit als Insider gerieren zu können. Das nenne ich die erste Kümmerform des Realismus.