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Das aktuelle Buch zur Weltlage!
Donald Trump in den USA, Kim Jong Un in Nordkorea, Jair Bolsonaro in Brasilien, weltweit scheint der Irrsinn zuzunehmen. Kann man etwas dagegen tun und sind die überhaupt wirklich verrückt? Was vor zehn Jahren noch eher Promis aus der zweiten Reihe betraf, hat es jetzt in die Chefsessel dieser Welt geschafft. Da war eine komplette Aktualisierung unvermeidlich. Der Irrsinn hat die Macht übernommen. Was sagt ein Psychiater dazu?
Aber auch Psychiatrie und Psychotherapie haben weitere Fortschritte gemacht. So bringt »Neue Irre!« den aktuellen Stand der Wissenschaft: Alle Psycho-Diagnosen, alle Psycho-Therapien und das in bewährt kurzweiliger und allgemeinverständlicher Form. Was ist Depression wirklich, was sind Angststörungen, was ist Schizophrenie, was tut man gegen Sucht, vor allem gegen die neuen Süchte und schließlich: Ist Burnout out? Der renommierte Psychiater und Bestseller-Autor Manfred Lütz bringt Licht ins Dunkel des allgemeinen Wahnsinns.
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Seitenzahl: 317
Donald Trump in den USA, Kim Jong Un in Nordkorea, Jair Bolsonaro in Brasilien, weltweit scheint der Irrsinn zuzunehmen. Kann man etwas dagegen tun und sind die überhaupt wirklich verrückt? Was vor zehn Jahren noch eher Promis aus der zweiten Reihe betraf, hat es jetzt in die Chefsessel dieser Welt geschafft. Da war eine komplette Aktualisierung unvermeidlich. Der Irrsinn hat die Macht übernommen. Was sagt ein Psychiater dazu?
Aber auch Psychiatrie und Psychotherapie haben weitere Fortschritte gemacht. So bringt »Neue Irre!« den aktuellen Stand der Wissenschaft: Alle Psycho-Diagnosen, alle Psycho-Therapien und das in bewährt kurzweiliger und allgemeinverständlicher Form. Was ist Depression wirklich, was sind Angststörungen, was ist Schizophrenie, was tut man gegen Sucht, vor allem gegen die neuen Süchte und schließlich: Ist Burnout out? Der renommierte Psychiater und Bestseller-Autor Manfred Lütz bringt Licht ins Dunkel des allgemeinen Wahnsinns.
Dr. med. Dipl. theol. Manfred Lütz ist Psychiater, Psychotherapeut, Kabarettist und Theologe. Geboren 1954 in Bonn studierte er Medizin, Philosophie und katholische Theologie in Bonn und Rom. Von 1997 bis 2019 war er Chefarzt des Alexianer-Krankenhauses in Köln. 2003 gründete er das Alexianer-Therapie-Forum mit renommieren internationalen Referenten, das er weiterhin organisiert. Bekannt wurde Lütz als Autor zahlreicher Bestseller, darunter »Wie Sie unvermeidlich glücklich werden. Eine Psychologie des Gelingens«. Soeben erscheint sein Buch »Was hilft Psychotherapie, Herr Kernberg. Erfahrungen eines berühmten Psychotherapeuten«. Lütz ist gerngesehener Gast von Talkshows und nimmt in Kolumnen und Artikeln immer wieder zu aktuellen Themen Stellung. Außerdem ist er ein gefragter Vortragsredner und tritt mitunter auch im Kabarett auf.
MANFRED LÜTZ
NEUE
IRRE!
WIR BEHANDELN DIE FALSCHEN
Kösel
In diesem Buch ist aus rein pragmatischen Gründen der Lesbarkeit stets die männliche Sprachform gewählt worden, wofür ich Leserinnen um Verständnis bitte. Der Paartherapeut Jürg Willi konstruierte den Satz:
»Wenn man/frau mit seiner/ihrer Partner/in zusammenleben will, so wird er/sie zu ihr/ihm in ihre/seine oder sie/er in seine/ihre Wohnung ziehen«, um deutlich zu machen, dass eine befriedigende Lösung des Sprachproblems nicht möglich ist. »Ich ziehe die einfache Sprache der zwar korrekten, aber unübersichtlicheren vor.«
Diese Auffassung teile ich.
Manfred Lütz
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Copyright © 2020 Kösel-Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Covermotiv: 2019 stock.adobe.com
Satz: dtp im Verlag
E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-26985-2V003
www.koesel.de
INHALt
VORWORT
VORSPIEL
EINFÜHRUNG
A UNSER PROBLEM SIND DIE NORMALEN
I WAHNSINN
1. Der ganz normale Wahnsinn – Donald Trump und die Hirnforschung
2. Der wahnsinnig Normale − Einfarbig strammstehen
II BLÖDSINN
1. Der ganz normale Blödsinn − Dieter Bohlen, Heidi Klum und das Wesen der Dinge
2. Der blödsinnig Normale − Über spülende Frauen und röhrende Hirsche
B WARUM BEHANDELN, UND WENN JA, WIE VIELE? – ÜBER UNSINN UND SINN VON PSYCHIATRIE UND PSYCHOTHERAPIE
I WARUM ÜBERHAUPT BEHANDELN?
1. Knapp vorbei ist auch daneben – Wenn Irrenärzte irren
2. Fantastisch anormal – Über Genie und Wahnsinn
3. Die Irren und ihre Ärzte – Wie die Psychiatrie erfunden wurde
4. Missverständnisse – Warum Diagnosen nie wahr sind
II WEN BEHANDELN?
1. Die kleine Welt der Psychiatrie – Mein Gehirn und ich
a) Was ist das Gute am Schlechten? – Über die Chancen der Krankheit
b) Ansichtssachen – Der Mensch, sein Gehirn und wie das Leben so spielt
2. Das große Reich der Freiheit – Ich und mein Gehirn
a) Freiheit und Krankheit – Diesseits von Gut und Böse
b) Menschenwürde und Wahlfreiheit – Unsere Herren, die Kranken
III WIE BEHANDELN?
1. Eine künstliche Beziehung auf Zeit für Geld – Kleine Einführung in die Psychotherapie
a) Die Psychoanalyse – Sie lächeln so, was verdrängen Sie?
b) Die Verhaltenstherapie – Quadratisch, praktisch, gut
c) Systemische Revolutionen – Wie man Probleme liquidiert
d) Lösungen ohne Probleme – Das Geheimnis der Zahnlücke
2. Zu guter Letzt – Körperlich behandeln, um die Seele zu heilen?
a) Kontroversen – Glanz und Elend der Psychochemie
b) Schockierende Erkenntnisse – Das Ultimatum einer selbstbewussten Patientin
C EINE HEITERE SEELENKUNDE – ALLE DIAGNOSEN, ALLE THERAPIEN
I WENN ES DAS GEHIRN ERWISCHT – KLEINE SCHLÄGE AUF DEN HINTERKOPF ERHÖHEN NICHT DAS DENKVERMÖGEN
1. Wie man ein Chamäleon ertappt – Detektivarbeit
2. Akuter Zoff – Was das Gehirn so alles übel nimmt
3. Chronischer Ärger – Die postmortalen Eroberungen des Herrn Alzheimer
4. Demenzkranke und Normale – Eine Annäherung
II WER SORGEN HAT, HAT AUCH LIKÖR – SUCHT, DIE PEINLICHE KRANKHEIT
1. Firma, Frau und Führerschein – Die sensiblen drei F
2. Das Männchen mit dem Glaskopf – Was die Psychiatrie mit der Mafia verbindet
3. Therapie – Was tun, statt süchtig sein?
4. Süchtige und Normale – Vom Sinn der Sucht
III IRREN IST MENSCHLICH – DIESCHIZOPHRENIE
1. Schizophrenie im Selbstversuch – Was eine Psychiatrie mit einem Ministerium gemein hat
2. Gute Nachrichten – Eine unheimliche Krankheit verliert ihren Schrecken
3. Die Contergankatastrophe der Psychologie – Über Ursachen und Wirkungen
4. Schizophrene und Normale – Eine irritierende Beziehung
IV HIMMELHOCH JAUCHZEND, ZU TODE BETRÜBT – DEPRESSIVE UND MANIKER
1. Die Depression – Was ist das Gute am Schlechten?
2. Vernichtende Gedanken – Robert Enke und der Germanwings-Absturz
3. Stimmung im Hörsaal – Stress für die Bundeswehr
4. Die Maniker und die Normalen – Eine Erbfeindschaft
V WARUM WIR UNS AUFS PARADIES NOCH FREUEN KÖNNEN – MENSCHLICHE VARIATIONEN
1. Trauma, Angst und Zwang – Gestörte Reaktionen
2. Essen, Trinken, Sexualität – Wenn Bedürfnisse entgleiten
3. Dr. Jekyll und Mister Hyde – Psychiatrische Dramen
4. Extreme Menschen und der letzte Mensch – Wie die Normalen »das Glück« erfanden
DAS ENDE VOM LIED
NACHWORT
SACHVERZEICHNIS
»Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes –
aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel.«
Friedrich Nietzsche
VORWORT
Wie oft ich gefragt worden bin, ob Donald Trump eigentlich verrückt ist, kann ich nicht mehr zählen. Und in Lateinamerika ist Brasiliens Präsident Bolsonaro offensichtlich stolz darauf, der »Trump Brasiliens« genannt zu werden. Dass schließlich das Verhalten des nordkoreanischen Diktators Kim Jong-un völlig abgedreht ist, darüber besteht bei uns weitgehende Einigkeit. Die These meines Buches »Irre! Wir behandeln die Falschen, unser Problem sind die Normalen«, die ich vor 10 Jahren aufgestellt hatte, bestätigt sich also inzwischen fast täglich. Damals spielte Donald Trump noch vor allem Golf und haute ab und zu einen menschenverachtenden Spruch raus, den aber niemand ernst nahm, Jair Bolsonaro startete gerade erst seine Karriere als Frauenheld und Supermacho und niemand ahnte, dass jemand, der kaum das Wort Politik schreiben konnte, irgendwann einmal der Präsident des bevölkerungsreichsten Landes Lateinamerikas werden würde. Und der kleine Kim Jong-un spielte noch mit seinen Förmchen, wobei er damals schon zu viel Pudding aß. Es ist ja ohnehin schwierig, sich vorstellen zu müssen, dass sogar Hitler und Stalin mal allerliebste kleine Babys waren. Aber wenn heute gewisse Leute einfach nie erwachsen werden und Weltpolitik wie im Sandkasten betreiben, dann kann es schon mal unheimlich werden. Donald Trump hat das psychologische Potenzial des frühpubertären Anführers einer Jugendgang in der New Yorker Westside zu den besten Zeiten dieses legendären Stadtviertels, Jair Bolsonaro ist stets selber erstaunt über seine überraschenden Testosteronschübe und Kim Jong-un sieht immer noch so aus wie ein Elefantenbaby, dem man eigentlich nicht böse sein könnte, wenn er nicht immer wieder garstig würde und dann müssen halt ein paar Leute, bevorzugt Familienangehörige, mal eben über die Klinge springen. Die Normalisierung des allgemeinen Wahnsinns kann Angst machen. Überall laufen immer mehr Irre herum, Massenmörder, Kriegshetzer, Lügner, Betrüger, rücksichtslose Egomanen, aber das Dilemma bleibt: All diese Typen kann man leider nicht behandeln, denn sie sind normal, jedenfalls nicht krank, und gerade deswegen brandgefährlich.
Während vor zehn Jahren bei den gefährlichen Irren vor allem historische Beispiele herangezogen werden mussten, Hitler, Stalin, Mao Tse Tung, tummeln sich heute so viele neue Irre in der Öffentlichkeit, dass schon allein deswegen eine Neuauflage des Buches unumgänglich war. In den vergangenen zehn Jahren hat aber auch die Wissenschaft weitere Fortschritte gemacht und auch ich habe natürlich meine Auffassungen, zum Beispiel zu Medikamenten, weiterentwickelt. Es war das Anliegen des damaligen Buches, endlich eine breitere Öffentlichkeit allgemein verständlich und unterhaltsam auf unter 200 Seiten über alle Psycho-Diagnosen und alle Psycho-Therapien aufzuklären. »Irre« wurde ein Bestseller, im Kabarett, im Fernsehen, bei vielen »Bündnissen gegen Depression«, in Firmen, deren leitende Mitarbeiter kompetenter mit psychischen Problemen bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern umgehen wollten, und bei großen Kongressen habe ich das Buch vorgestellt und über psychische Krankheiten aufgeklärt.
Aber wenn man den Anspruch hat, den neuesten Stand der Forschung allgemein verständlich für eine breitere Öffentlichkeit darzustellen, muss man ein solches Buch natürlich nach zehn Jahren überarbeiten und in Teilen neu schreiben. Da »Irre!« auch von führenden deutschen Wissenschaftlern positiv aufgenommen wurde, ergab sich jetzt sogar die schöne Möglichkeit, in den verschiedenen Gebieten führende deutsche Forscher für »Neue Irre!« um Anregungen zu bitten. Deswegen danke ich u.a. den Professoren Frank Jessen (Demenz), Andreas Heinz (Schizophrenie), Ulrich Hegerl (Depression), Mathias Berger (bipolare Störungen), Katharina Domschke (Angststörungen), Ulrich Voderholzer (Essstörungen) und Martin Bohus (Persönlichkeitsstörungen) für wichtige Hinweise. Das Buch, das Sie jetzt in Händen halten, verspricht also nicht zu viel, wenn es behauptet, den neusten Forschungsstand zu präsentieren.
So sollten Sie, wenn Sie dieses Buch gelesen haben, für jede Quizshow gewappnet sein, wenn da irgendwelche Psycho-Fragen kommen. Vor allem aber wenn Sie selber mal psychisch erkranken sollten, können Sie hier Näheres erfahren. Angesichts der Tatsache, dass ein Drittel der Deutschen irgendwann im Leben psychisch erkrankt und die zwei Drittel anderen Deutschen Angehörige haben, die psychisch krank sind, ist es nach wie vor eine Schande, dass bei vielen Menschen immer noch mittelalterliche Vorstellungen über psychische Krankheiten herrschen. Die meisten psychischen Erkrankungen sind heilbar. Aber wer weiß das schon! Und weil die meisten das nicht wissen, schleppen sich viele Menschen monate- und jahrelang mit Depressionen und anderen schwer belastenden Erkrankungen herum, obwohl man da wirklich etwas tun könnte. Auch deswegen ist Aufklärung so wichtig. Nach meinem Buch »Irre« bin ich von zahllosen Journalisten interviewt worden und habe jedem auf den Kopf zugesagt: »Auch Sie haben einen psychisch kranken Angehörigen!« Und so gut wie alle haben das bestätigt, denn in jeder Familie gibt es den Onkel, der Alkoholiker war, die merkwürdige Tante, von der man nicht wusste, was genau die eigentlich hatte, den demenzkranken Großvater, die magersüchtige Nichte. Doch jeder denkt, er sei der Einzige, bei dem so etwas vorkomme. Und so spielen sich psychische Krankheiten nach wie vor im Schatten unserer Gesellschaft ab. Das ist deswegen misslich, weil auf diese Weise Gerüchte, Vorurteile und Fake-News das Feld beherrschen und Menschen, die Hilfe brauchen und erhalten könnten, keinen Weg zur rettenden Behandlung finden. Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, kann Ihnen das nicht mehr passieren. Es gibt inzwischen entsetzlich viel Wissensmüll, aber ich habe mich darum bemüht, dass das, was Sie hier lesen, Wissen ist, das wirklich hilft.
Doch auch ganz praktisch könnte Sie das Buch retten – vor der Psychiatrie nämlich. Als ich Paul Watzlawick, den berühmten und höchst unterhaltsamen österreichisch-amerikanischen Psychotherapeuten (»Anleitung zum Unglücklichsein«) zu einem Vortrag einlud, gab der dem Publikum einen wichtigen Hinweis: Wenn Sie einen Menschen auf einer geschlossenen psychiatrischen Station besuchen, sagen wir mal am späten Vormittag, und Sie wollen am frühen Nachmittag wieder raus, dann kann da ein kleines Problem auftreten. Zwischenzeitlich war »Übergabe«, der Frühdienst ist weg und Sie kennen keine Schwester mehr, das ist an sich noch nicht schlimm, aber vor allem kennt keine Schwester Sie. Wenn Sie dann die nächstbeste Schwester mit der lockeren Bemerkung beglücken: »Ich will jetzt hier raus!«, dann wird die im Zweifel cool antworten: »Das wollen hier viele!« Werden Sie dann laut und eskalieren: »Ich habe einen Termin, Sie müssen mich jetzt sofort rauslassen, das ist Freiheitsberaubung!«, hören Sie von der Schwester vielleicht nur noch seelenruhig: »Aggressiv wurden hier auch schon einige…« Sollten Sie jetzt im selben provozierenden Stil weitermachen, werden Sie wahrscheinlich nicht rauskommen, sondern im Gegenteil die Voraussetzungen dafür schaffen, zu Recht drinzubleiben. Was also tun? Der Rat von Watzlawick: Fügen Sie sich in Ihr Schicksal und entwickeln ein möglichst störendes Symptom, zum Beispiel schrille Schreie alle zwei Minuten. Wenden Sie sich an den jüngsten Assistenzarzt um therapeutische Hilfe und gehen mit der Symptomatik wieder schnell zurück. »Und dann wird dieser junge Assistenzarzt dafür kämpfen, dass sein therapeutischer Triumph durch Ihre Entlassung gefeiert wird.« Das, so beendete Watzlawick damals seine kabarettistische Einlage, sei die einzige Möglichkeit, da flott wieder rauszukommen! Ohnehin ist die wichtigste Frage in der Psychiatrie: Wie geht es hier raus? Und dafür arbeiten wir.
Damals hatte ich übrigens das Buch auch von Betroffenen- und Angehörigenvertretern lesen lassen, weil es natürlich immer eine Gratwanderung ist, ein unterhaltsames Buch über manchmal so bedrängende Erkrankungen zu schreiben, aber nur so erreicht man die Spaßgesellschaft und wenn die es nicht checkt, dann hilft alle Aufklärung nicht wirklich weiter. Dennoch soll der Witz niemandem im Halse stecken bleiben und deswegen war ich erleichtert, dass »Irre« und sein Stil auch von Betroffenen geschätzt wurde. Mein Freund Eckart von Hirschhausen hatte mit seinem launigen Vorwort ein Übriges getan, um für weitere Verbreitung zu sorgen und er war es auch, der mich ermutigte, das Thema im Kabarett und im Theater vor einem Publikum zu präsentieren, das sich eigentlich nur unterhalten wollte, aber dann gleichzeitig Wissen über ein wichtiges Thema von der Veranstaltung mit nach Hause nahm. Und das ist auch Ziel dieses Buches: dass etwa ein alerter Manager, der normalerweise nie ein »Psychobuch« in die Hand nehmen würde, das liest, weil er gehört hat, es sei ein unterhaltsamer Bestseller – und anschließend zum ersten Mal seinen schizophrenen Vetter anruft, weil er kapiert hat: Der ist gar nicht so verrückt, wie ich eigentlich dachte. Schließlich war es dann vor allem der Film im WDR-Fernsehen mit Jürgen Becker, der viele Zuschauer erreichte.
Diese erfreuliche Entwicklung soll »Neue Irre« jetzt fortsetzen. Auch dieses neue Buch soll beweisen, dass Psychiatrie und Psychotherapie keineswegs nur bierernste Geschichten zu erzählen haben, sondern dass Menschen mindestens genauso interessant sind wie Bäume und Bienen, über deren Befindlichkeit manche heute besser informiert sind als über den Gesundheitszustand ihres psychisch kranken Nachbarn. Menschen sind – abgesehen von einigen ziemlich irren Exemplaren – meiner Erfahrung nach sogar erheblich interessanter und liebenswürdiger als Bäume und Bienen. Und einige von ihnen sind dabei sehr speziell, geradezu außergewöhnlich. Man nennt sie Patienten und hat abenteuerliche Vorstellungen davon. Wie sie wirklich sind, was sie erleben, was sie denken, worunter sie leiden und wie man ihnen heute helfen kann, darüber geht dieses Buch.
Bornheim, den 1. August 2020
Dr. med. Dipl. theol. Manfred Lütz
VORSPIEL
Wenn man als Psychiater und Psychotherapeut abends Nachrichten sieht, ist man regelmäßig irritiert. Da geht es um aggressive Nationalisten, um Terroristen, Wirtschaftskriminelle, eiskalte Buchhaltertypen und schamlose Politiker auf Ego-Trip – und niemand behandelt die. Ja, solche Figuren gelten sogar als völlig normal. Kommen mir dann die Menschen in den Sinn, mit denen ich mich den Tag über in der Psychiatrie beschäftigt habe, rührende Demenzkranke, dünnhäutige Süchtige, hochsensible Schizophrene, erschütternd Depressive und mitreißende Maniker, dann beschleicht mich mitunter ein schlimmer Verdacht: Wir behandeln die Falschen! Unser Problem sind nicht die Verrückten, unser Problem sind die Normalen!
Um diese kühne Behauptung zu belegen, reicht es aber nicht, sich mit den Merkwürdigkeiten der Normalen zu befassen, man muss die Verrückten kennenlernen. Das ist freilich für Normalbürger nicht so leicht möglich. Denn früher hat man psychisch kranke Menschen in Anstalten irgendwo auf die grüne Wiese verfrachtet in der treuherzigen Annahme, frische Luft könne ja nicht schaden. Als man dann merkte, dass das beherzte Herausoperieren merkwürdiger Mitbürger aus ihrer menschlichen Mitwelt die Betreffenden noch merkwürdiger machte, verlegte man sie zwar schleunigst wieder mitten in unsere Städte. Doch nun leben diese Menschen in so unglaublich professionell geleiteten Einrichtungen, dass Otto Normalbürger den Eindruck hat, man brauche mindestens eine Universitätsausbildung, um mal einen Schizophrenen nach dem Bahnhof zu fragen. Die allgemeine Wichtigtuerei gewisser Psychofachleute hat ein professionelles Getto geschaffen, das dem normalen Menschen psychisch Kranke oft so fremd erscheinen lässt, als kämen die von einem anderen Stern.
Was ist da zu tun? Aufklärung ist angesagt. Aufklärung über wahnsinnig Normale und ganz normale Wahnsinnige. In diesem Buch habe ich mir daher vorgenommen, allgemein verständlich alle psychischen Krankheiten und alle gängigen Therapien auf dem heutigen Stand der Wissenschaft darzustellen.
Die ganze Psychiatrie und Psychotherapie auf 200 Seiten? Hören Sie nicht auf Leute, die mit hochgezogenen Augenbrauen behaupten, über Psychiatrie und Psychotherapie könne man nur dicke humorlose Wälzer schreiben! Ich habe das Buch sicherheitshalber von führenden Experten lesen lassen, die selbst dicke Lehrbücher geschrieben haben – und die fanden, die vorliegenden 200 Seiten würden völlig reichen. Schließlich wurde das Buch auch noch von einem von mir sehr geschätzten Metzger gelesen, der streng auf Allgemeinverständlichkeit achtete. Eines ist also sicher: Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, dürfen Sie definitiv mit jedem Verrückten reden, schlimmstenfalls auch mit sich selbst.
Das Buch ist übrigens sogar für Chirurgen, die natürlichen Feinde der Psychiater, geeignet. Chirurgen befassen sich zwar in der Regel nicht mit Büchern, weil die nicht bluten. Doch lesen sie mit Begeisterung Gebrauchsanweisungen – und das hier ist eine Gebrauchsanweisung für außergewöhnliche Menschen und solche, die es werden wollen.
Aus haftungsrechtlichen Gründen muss ich noch eine Warnung vorausschicken. Ich habe mich, wie üblich, dem Thema humorvoll genähert. Das ist nicht jedermanns Sache. Da der Verlag sich weigerte, Scherze gesondert zu kennzeichnen, sind möglicherweise Menschen aus Ostwestfalen zum Verständnis des Buches auf Hinweise ihrer rheinischen Verwandtschaft angewiesen. Überhaupt Ost-West-Falen. Ostfalen ist ja noch in Ordnung, Westfalen ist für uns Rheinländer schon ein Problem, aber Ost-West-Falen – da weiß man ja überhaupt nicht, wo man hinfahren soll. Ein geradezu klassisches Double-bind, eine Doppelbotschaft, die aus Sicht der systemischen Therapie zu Schizophrenie, Borderline-Störung oder Schlimmerem führen kann. Dennoch wirken die Menschen in diesem entlegenen Landstrich erstaunlich normal – und laden mich trotz meiner üblen Beschimpfungen immer wieder zu Vorträgen ein. In Wirklichkeit haben Westfalen nämlich auch Humor – nur später!
Darf man aber überhaupt über psychisch Kranke humorvoll reden? Ich finde ja. Denn Humor ist eine Form, Dinge und Menschen liebevoll ins Leben einzubeziehen. Jeder Mensch hat ein Recht auf Humor. Ich habe das bei der Gruppe »Brücke-Krücke« gelernt, die mir vor 35 Jahren in Bonn zugelaufen ist und in der behinderte und nichtbehinderte Jugendliche ihre Freizeit verbringen. Wenn da einer meiner behinderten Freunde hinreißend witzig ist, hat er auch ein Recht, dass man über ihn lacht. Wer jedenfalls glaubt, über »unsere armen psychisch kranken Menschen« nur mit ernster Miene voller Betroffenheit in Feierstunden reden zu dürfen, der grenzt diese Mitmenschen aus als Objekte unserer affektierten Soziallaunen. Vor allem aber kann man über uns Normale eigentlich nur humorvoll reden. Denn, Hand aufs Herz, Menschen, die so normal sind, dass es wehtut, also die sogenannten Normopathen, sind zumeist hinreißend witzig.
EINFÜHRUNG
Die Leber wächst mit ihren Aufgaben, behauptete Eckart von Hirschhausen. Gilt das nicht auch für das Gehirn? Der Kabarettist Jürgen Becker ist da anderer Auffassung. Er hält Bandwürmer evolutionär für fortgeschrittener, weil sie das Gehirn wieder abgeschafft hätten. Sie lebten als Schmarotzer im Darm, seien bestens ernährt und fühlten sich auch sonst sauwohl. Ein Gehirn sei da völlig überflüssig. Wir Menschen dagegen steckten voller Probleme. Wir hätten größte Schwierigkeiten, uns reibungslos zu ernähren, effektiv fortzupflanzen und auch sonst Spaß am Leben zu haben. Daher müssten wir ein Gehirn mit uns rumschleppen, das aber im Ergebnis nur Probleme löst, die wir ohne dieses überflüssige Luxusorgan gar nicht hätten.
Sei’s drum. Gegenüber den Tieren sind wir jedenfalls »Mängelwesen«, wie uns der Philosoph Arnold Gehlen ins Stammbuch schrieb. Daher, meinte er, brauchten wir Menschen Institutionen, die uns über unsere Mängel hinweghelfen. Schließlich sind wir am Anfang unseres Lebens ziemlich pflegebedürftig und am Ende schon wieder. In der kurzen Zwischenzeit organisieren wir die Pflege – der kommenden und der scheidenden Generation. Im Grunde sind wir normalerweise behindert und haben uns eine ganze Menschheitsgeschichte lang unter schweißtreibendem Einsatz unserer Gehirne damit herumgeplagt, Ferngläser zur Unterstützung der Augen zu erfinden, Hörgeräte zur Unterstützung der Ohren, Autos zur Unterstützung der Fortbewegung und Kleider zur Bedeckung unserer lächerlich unbehaarten Haut.
Diese Bemühungen müssen uns nicht gut bekommen sein. Denn gegenüber Tieren neigen wir zu merkwürdigen Verhaltensweisen. Der Biologe Midas Dekkers weist darauf hin, dass zum Beispiel Sport etwas völlig Unnatürliches sei: »Kein Tier treibt Sport. So dumm ist es nämlich nicht.« Es gibt wohl auch keine Säugetierart, die sich so ausdauernd gegenseitig umbringt. Und das liegt keineswegs an eher schlichten, muskelbepackten Gemütern. Der Psychiater Thomas Fuchs sagt, dass bei steigender Kultivierung die Neigung sogar noch zunimmt, sich gegenseitig abzumurksen. Mittlerweile scheinen sich ganz normale Menschen aller Nationen dazu verschworen zu haben, der Menschheit in naher Zukunft ganz unblutig den Garaus zu machen, nämlich durch nachhaltigen Ruin des Klimas. Und wenn junge Leute lauthals erklären, sie würden doch noch gerne genau in dieser nahen Zukunft ein bisschen weiterleben, erklären die üblichen Normalen, diese jungen Leute seien inkompetent, weil sie eben jung seien, am besten würden doch die Leute, die das Klima erfolgreich ruiniert hätten, mit denselben Methoden jetzt alles wieder gutmachen. Wahnsinn? Nein, Klimapolitik! Die Lage ist brisant. Vor einem wirklichen Weltgerichtshof sähe es verdammt schlecht für uns aus. Man müsste befürchten, dass die ganze Menschheit wegen nachweislich verrücktem Verhalten und akuter Fremdgefährdung der gesamten Schöpfung in die Psychiatrie eingewiesen würde.
Muss bei solcher Lage der Dinge dann nicht damit gerechnet werden, dass angesichts dieser total verrückten Menschheit diejenigen, die von den Menschen selbst sogar ausdrücklich als verrückt bezeichnet werden, ein Ausmaß an Verrücktheit erreichen, das alle Grenzen sprengt? Doch das ist eigenartigerweise nicht der Fall. Wenn spektakuläre Straftaten psychisch Kranker passieren, werde ich manchmal von Fernsehsendern interviewt. Nach angemessener Würdigung des Einzelfalles weise ich dann stets darauf hin, dass, statistisch gesehen, psychisch Kranke weniger Straftaten verüben als Normale. Mein Fazit: »Hüten Sie sich vor Normalen!«
Woran liegt dieser merkwürdige Befund? Menschen mit einer psychischen Störung machen oft den ganz normalen Wahnsinn unserer Gesellschaft einfach nicht mit. Demgegenüber fällt dann mitunter ihr jeweils höchst individueller Wahnsinn gar nicht mehr so sehr ins Gewicht. Ja, die psychische Störung kann sich sogar als besondere Fähigkeit herausstellen. Psychisch kranke Menschen sind, wertfrei beschrieben, zunächst einmal einfach nur außergewöhnlich, viele sind zum Beispiel aufgrund ihrer psychischen Störung außergewöhnlich friedfertig.
Die meisten leiden allerdings unter ihrer Außergewöhnlichkeit. Deswegen haben sich Ärzte ihrer angenommen und die Psychiatrie erfunden. Dabei wurden Therapien entwickelt, mit denen man Leiden vermindern und aus außergewöhnlichen Menschen wieder gewöhnliche Menschen machen konnte. Doch ob Gewöhnlichsein immer von Vorteil ist? Jedenfalls haben moderne Therapeuten neuerdings entdeckt, dass es ganz unsinnig ist, die psychische Störung nur wie irgendeine Macke zu behandeln, die man möglichst schnell weghobeln muss. Denn nicht selten kann man das Problem sogar mit einigen genialen Kunstgriffen zur Lösung umarbeiten. »Was ist das Gute am Schlechten?«, fragte schon Paul Watzlawick. Er begründete damit eine »ressourcenorientierte« Sicht von Psychotherapie, die sich bemühte, Licht auf die Fähigkeiten eines Menschen zu werfen, der sich selbst bisher eigentlich nur als Bündel von Problemen sah. »Die Lösung hat mit dem Problem nichts zu tun«, ergänzte der große Therapieerfinder Steve de Shazer und plädierte dafür, den Scheinwerfer der Aufmerksamkeit radikal und ausschließlich auf die verborgenen oder vergessenen Kräfte des Patienten zu richten. Wird der Patient wieder auf seine Fähigkeiten aufmerksam, dann können die auch wieder wirken und das reiche allemal, um gute wirksame Lösungen zu finden.
Normale dagegen müssen gar nichts neu beleuchten. Wegen eines allzu dicken Fells oder wegen eines öden Gutwetterlebens haben sie nie die Chance, an wirklich herausfordernde Grenzen zu gelangen. Normalsein kann ein tragisches Schicksal bedeuten. Kein Wunder, dass sich die Normalen daher rächen, Kriege anzetteln, sich aufs Rauben, Morden und Betrügen verlegen, um dem Leben eine Spannung zu verleihen, die es sonst nicht hätte. Manchmal spielen sie auch einfach nur verrückt. »Es ist ganz nützlich, wenn man überall für verrückt gehalten wird«, sagt Audrey Hepburn in »Frühstück bei Tiffany«.
A UNSER PROBLEM SIND DIE NORMALEN
I WAHNSINN
Wahnsinn finden Psychiater bei bestimmten Krankheiten. Die Öffentlichkeit spricht aber viel häufiger vom »ganz normalen Wahnsinn« und meint damit keine Krankheiten, sondern die flächendeckenden Merkwürdigkeiten, von denen die Massenmedien landauf, landab berichten. Die Folgen dieses ganz normalen Wahnsinns sind erheblich desaströser als die harmlosen Spinnereien eines Schizophrenen aus dem Nachbarhaus. Dieser offen zutage liegende ganz normale Wahnsinn beweist mit letzter Evidenz die beunruhigende These dieses Buches: Unser Problem sind die Normalen!
1. DER GANZ NORMALE WAHNSINN – DONALD TRUMP UNDDIEHIRNFORSCHUNG
Donald Trump sei natürlich ein krankhafter Narzisst. Mit dieser Diagnose warteten eine Reihe amerikanischer Psychotherapeuten auf, die ihn alle nicht untersucht und ganz sicher auch nicht gewählt hatten. Hier wurde eine Diagnose als Waffe gegen einen Menschen benutzt, den man aus vielen Gründen nicht mag. Doch dazu sind Diagnosen nicht da. Ein pathologischer Narzisst ist in der Regel jemand, der über so wenig gesundes Selbstbewusstsein verfügt, dass er den permanenten Beifall seiner Umgebung braucht – ein Beifall, der ihm aber nie wirklich reicht. Irgendwann machen das die Freunde nicht mehr mit, der Patient vereinsamt oder der Erfolg bleibt aus. Dann fällt dieser bemitleidenswerte Mensch in ein Loch, leidet schwer – und muss zum Psychotherapeuten. In manchmal jahrelangem Bemühen kann es durch die Behandlung gelingen, dass dieser Mensch sein unglaublich nerviges Verhalten ändert, wieder Kontakt findet und auf diese Weise endlich ein zufriedenstellendes Leben führt.
Doch all das trifft auf Donald Trump nicht zu. Donald Trump leidet nicht. Dass er erfolglos sei, kann man im Ernst nicht behaupten. Und Freunde hat er mehr als genug, auch wenn man selber nicht gerne dazugehören würde. Jedenfalls sind Millionen Amerikaner seine Anhänger, er wurde legal zum Präsidenten des mächtigsten Landes der Erde gewählt und gestandene amerikanische Senatoren sind sich nicht zu schade, seine Eskapaden öffentlich und feierlich für völlig normal zu erklären. Donald Trump ist mithin alles andere als krank. Vielmehr ist Donald Trump ein zutiefst unmoralischer Mensch und das ist viel schlimmer. Denn so etwas kann man nicht therapieren. Wie kann man nur so werden? Es ist nämlich nicht ganz einfach, einem Menschen die Moral gründlich auszutreiben. Doch leider ist das immer wieder gelungen – mit zum Teil fürchterlichen Folgen. Das Erschütternde an den Massenverbrechen der Diktaturen des 20. Jahrhunderts ist ja vor allem die Tatsache, dass man immer genügend Menschen fand, die ihr Gewissen so weit zum Schweigen bringen konnten, dass sie zu jedem Verbrechen bereit waren. Gewissenlosigkeit kann man lernen. Donald Trump hat schon ganz früh von seinem Vater gelernt, das Wichtigste im Leben sei: Erfolg, viel Geld und Der-Größte-Sein. Und um das zu erreichen, dürfe man buchstäblich alles tun – Gewissenlosigkeit als Lebensprinzip. Schon als Jugendlicher für seine Brutalität bekannt, startete Donald Trump sofort nach dem Studium, ausgestattet mit den Millionen seines Vaters, eine Karriere in der Immobilienbranche, die ihm schon bald eine Klage wegen Rassismus einbrachte. Mit zum Teil mafiösen Methoden verschaffte er sich ein Vermögen, manövrierte sich aber dann sehr schnell mit spektakulären Fehlentscheidungen in die Pleite, die am Ende nur verhindert wurde, weil seine Geldgeber einen Totalverlust befürchteten. So war es letztlich seine maßlose Selbstinszenierung, der er damals seine Rettung verdankte. Dieses offensichtlich höchst erfolgreiche Instrument perfektionierte er in Fernsehshows, aber dann auch in der Politik, in der er unter Beweis stellte, dass nicht die Wahrheit einer Aussage, sondern ihre Inszenierung für den politischen Erfolg entscheidend ist. Kein Politiker hat jemals nachweislich so oft gelogen wie Donald Trump. Aber auch das ist keine psychische Störung, sondern eine zwar widerwärtige, aber bedauerlicherweise erfolgreiche Strategie. Ein wahnkranker Patient lügt nicht, er ist vielmehr selber von seinem Wahn felsenfest überzeugt, was ihn daran hindert, ein erfolgreiches Leben zu führen. Donald Trump weiß, dass er lügt, aber er hat sich inzwischen so sehr an den unglaublichen Erfolg seiner Lügen gewöhnt, dass er Leute, die das stört, für lächerliche Schwächlinge hält, die zu Recht keine Milliarden verdienen und nicht Präsident des »großartigsten Landes der Welt« werden. Für schwach hält er auch Frauen, jedenfalls glaubt er, dass alle schönen Frauen eine Schwäche für ihn hätten. Er könne jede Frau, die ihm gefalle, einfach so küssen und hinfassen, wo er wolle, schwärmte er über sich selbst. Aber auch solche frauenverachtenden Sprüche, die andere komplett um ihre Reputation gebracht hätten, perlen bei seinen Anhängern wirkungslos ab. Es ist die Gewöhnung an die völlig hemmungslose Verspottung jeder moralischen Grenze durch diesen Mann, die dieses unsägliche Verhalten sozusagen normalisiert hat. Und weil seine Anhänger sich sein rücksichtsloses Gebaren zum Vorbild nehmen, steigt wegen eines einzigen Menschen der Aggressionspegel einer ganzen Gesellschaft. Neulich erklärte ein 10-jähriger Knirps keck, er sehe gar nicht ein, warum er nicht lügen dürfe, wenn das ja sogar der amerikanische Präsident dauernd tue. »The Donald« verwüstet also mittlerweile moralisch weltweit sogar die Kinderzimmer. Inzwischen wundert sich niemand mehr über das Skandalöse, das von Donald Trump tagtäglich in alle Welt hinausposaunt wird. Schon sein Vater, so heißt es, habe ihm erklärt, ein Trump wie er sei ein »König« und müsse ein »Killer« werden. Kein Wunder, dass er dann im Wahlkampf behauptete, er könnte ohne Weiteres auf der Fifth Avenue in New York jemanden erschießen und würde trotzdem gewählt. Auf so eine Idee kommt man nur, wenn man so etwas wenigstens schon einmal gedacht hat. Nach dem schrecklichen Attentat auf den Journalisten Jamal Khashoggi im saudi-arabischen Konsulat in Istanbul war eine der ersten Reaktionen Trumps, dass das Ganze höchst unprofessionell vertuscht worden sei. Gewiss, er verurteilte dann auch das Attentat, aber er dachte keinen Moment daran, den kumpelhaften Kontakt mit dem offensichtlich verantwortlichen Täter abzubrechen. Das alles ist nicht krank, sondern normal, ganz furchtbar normal.
Genauso furchtbar normal wie Donald Trump ist Jair Bolsonaro, der gewählte Präsident Brasiliens. Man hat ihn den »Tropen-Trump« genannt und gemeint, gegen ihn erscheine Donald Trump geradezu »als Verkörperung von Weisheit, Ausgeglichenheit und Zurückhaltung«. Es ist also alles noch steigerbar. Auch bei ihm spricht nichts dafür, dass man ihn erfolgreich behandeln könnte. Der Mann sagte zum Beispiel über die Abgeordnete einer anderen Partei, sie sei es nicht wert, von ihm vergewaltigt zu werden. Es gibt keine psychische Krankheit, bei der jemand so etwas sagt. Zweimal wechselte er die Ehefrau, achtmal die Partei, im Wahlkampf plädierte er für Folter und Exekution von Kriminellen. Als Präsident setzte er sich aktiv für die Ausplünderung des Regenwalds ein und erklärte die Corona-Krise für reine Hysterie. Verrückter geht es eigentlich nicht. Aber auch bei Herrn Bolsonaro gibt es leider keine Chance auf Besserung, es gibt kein Medikament, das einem solchen Menschen Anstand beibringen, keine Psychotherapie, die ihm seine frauenfeindlichen und rassistischen Sprüche abgewöhnen könnte, der Mann ist nämlich leider normal, widerwärtig normal.
Und dann gibt es da noch den nordkoreanischen Diktator Kim Jong-un. Der sieht aus wie ein knuddeliger Teddybär und wirkt eher drollig, wenn er irgendwo breitbeinig vor sich hinwatschelt. Er lächelt fast immer, vor allem, wenn er bei Raketenabschüssen zusieht, ein etwas teures Hobby, das er genauso leidenschaftlich betreibt, wie andere Leute das Spielen mit ihrer Modelleisenbahn. Er mag große, etwas kitschige Shows, am liebsten solche, bei denen er selber die Hauptrolle spielt, und die Bilder scheinen zu bestätigen, wie unwiderstehlich der gute Kim Jong-un ist: Seine Untertanen sind ganz aus dem Häuschen, wenn er auch nur irgendwo auftaucht. Es gibt da allerdings ein paar irritierende Vorfälle, die es einem selber doch etwas schwer machen, in diese Begeisterung einzustimmen: Er soll zum Beispiel einen Onkel, den er irgendwie nicht mehr so nett fand, Tieren zum Fraß vorgeworfen haben, seinen Bruder ließ er öffentlich vergiften und sein Volk lässt er darben, während er aus tiefster sozialistischer Überzeugung heraus hemmungslos in Saus und Braus lebt. Das ist natürlich alles gar nicht nett. Auch hier die Frage: Kann man da etwas machen? Könnten Medikamente helfen, Psychotherapie, autogenes Training, katathymes Bilderleben oder Elektrokrampftherapie? Könnte man es mit Erziehung versuchen, Nacherziehung sozusagen? Die Antwort ist ernüchternd kurz: Nein! Denn Kim Jong-un ist nicht psychisch krank, er ist nicht gestört und für Nacherziehungsmaßnahmen ist es definitiv zu spät. Wer wie er einmal gelernt hat, dass das Gewissen eine konterrevolutionäre Erfindung der Feinde der Kim-Familie ist, dass moralische Bedenken demnach Zeichen der Schwäche sind und rücksichtslose Gewalt die Macht sichert, bei dem ist Hopfen und Malz verloren. Ein solcher Mensch ist nicht ein armer Kranker, sondern ein zutiefst böser Normaler. Auch Kim Jong-un hat gewiss ganz tief im Innern eine Ahnung davon, dass das böse ist, was er tut, aber die Gewöhnung an das Böse hat ihn offensichtlich unempfindlich gemacht für das Leid, das er tagtäglich anrichtet. Er hat übrigens eine ganz sympathisch aussehende Frau, die auch immer lächelt, wenn man sie sieht. Er scheint sie offensichtlich nicht dauernd zu prügeln und es ist nicht auszuschließen, dass er sogar ganz nett zu ihr ist. Das ist ja gerade das Schlimme an solchen Leuten, dass sie gut sein könnten, sich aber frei dafür entschieden haben, böse zu sein.
Als ich in einer Fernsehsendung zum Thema »Hitler und die Frauen« Stellung nehmen sollte, habe ich angeregt, doch lieber einen Historiker oder vielleicht einen Romancier zu interviewen, denn Hitler war ja nicht psychisch krank. Man wollte aber unbedingt einen Psycho-Fachmann dazu hören. Man schickte mir Liebesbriefe zu, die Hitler an Frauen geschrieben hatte – und diese Liebesbriefe unterschieden sich nicht von anderen Liebesbriefen aus der damaligen Zeit. Man vermisste alle Anzeichen von Perversion oder Gewalttätigkeit. Dass aber ein Mensch, der durchaus empathisch sein konnte, der, als seine Mutter im Sterben lag, sein Bett neben das ihre stellte und sie über Wochen rührend pflegte, dass ein solcher Mann den Tod von Millionen Menschen zu verantworten hatte, genau das ist das Entsetzliche. Adolf Hitler war eine monströse Erscheinung, maßlos in seinem Hass, in seiner Aggression, in seinem Vernichtungswillen, aber psychisch krank war er eben nicht. Zu behaupten, Adolf Hitler sei krank gewesen, banalisiert das Entsetzliche der historischen Katastrophe, die dieser Mensch zu verantworten hat. Es gibt für das Böse, das Hitler getan hat, aber auch für die, die mitgemacht haben, keine Entschuldigung. Kriege werden ohnehin nie von psychisch Kranken geführt, dazu bedarf es einer allzu ausdauernden Zielstrebigkeit. Wäre Hitler psychisch krank gewesen, hätte er seine Verbrechen nicht begehen können. Hitler war normal, schrecklich normal.
Für manche war auch Josef Stalin ein Kandidat für den Psychiater. Vor allem das »krankhafte« Misstrauen des alten Diktators, das unzählige Menschen das Leben kostete, wurde da genannt. Doch wer tatsächlich nur unter dem Eindruck realitätsfernen Verfolgungswahns irrational um sich schlagen würde, dem würde schon bald niemand mehr gehorchen. Dagegen ist ein gewisses Misstrauen für Diktatoren geradezu lebensnotwendig. Unter den Millionen Toten, die Stalins ganz normaler Wahnsinn kostete, waren sicher auch einige, die seiner Herrschaft wirklich hätten gefährlich werden können. Und seine nicht ermordeten Gegner überlegten es sich nach all den Massenmorden gewiss sehr gründlich, ob sie wirklich ihr Leben riskieren wollten. Es gibt keine Hinweise darauf, dass Josef Stalin psychisch krank gewesen sein könnte. Es war ganz im Gegenteil die robuste verbrecherische Effektivität Stalins, die ihm die Herrschaft sicherte. Wenn Alleinherrscher dagegen alt und krank werden, dann lassen sie nach in der systematischen Unterdrückung ihrer Gegner – und das kostet sie nicht selten die Macht. Der Schah von Persien, aber auch Erich Honecker und Robert Mugabe, der Diktator von Simbabwe, sind Beispiele dafür.
Neuerdings haben einige Hirnforscher versucht, uns ein bisschen von der Last der Verantwortung für solche peinlichen Schattenseiten der ganz normalen Menschheit zu befreien. Der Hirnforscher Gerhard Roth verkündete frohgemut, dass wir an all dem gar nicht schuld sind. Er plädierte für die Abschaffung des Strafrechts und die Einweisung von Gesetzesübertretern in Dressuranstalten. Tolle Idee! Wir sind es nicht, es ist unser Gehirn! Und dafür sind wir nachweislich nicht zuständig. Kann ich etwas dafür, wenn die Neurotransmitter in meinem Vorderhirn verrücktspielen und meine Moral durcheinanderbringen? Die Idee von Herrn Roth und seinen Hirnforscherfreunden ist nicht besonders neu. In unseren Tagen begehen wir ihren 300. Geburtstag. Ein gewisser Herr Toland hatte schon im Jahre 1720 erklärt, das Gehirn sei eine Maschine, die nach ihren eigenen Gesetzen unsere Gedanken produziert. Damals war man noch gebildet genug, den Irrtum rasch zu erkennen. Natürlich kann man ohne ein Klavier keine Klaviersonate spielen und tatsächlich gibt es keinen einzigen Ton ohne eine Tastenbewegung. Doch ohne die genialen Ideen von Leuten wie Ludwig van Beethoven und ohne Klavierspieler wie den Chinesen Lang Lang gäbe es in Wirklichkeit gar keine Klaviersonaten. Natürlich entsprechen allen unseren Gedanken irgendwelche materiellen Veränderungen im Gehirn, und auch bevor Gedanken ausdrücklich und klar werden, gibt es in der Erwartung eines Gedankens messbare Neurotransmitteraktionen. Doch wer das Klavier mit dem Komponisten oder dem Klavierspieler verwechselt, der würde einem ähnlichen Irrtum aufsitzen wie der Gast im Restaurant, der die Speisekarte mit dem wirklichen Essen verwechselt und herzhaft in den Karton beißt. Kategorienfehler nennt das die Philosophie. Früher konnte man damit Witze bestreiten. Heute trauen sich viele in den heiligen Hallen esoterisch dreinblickender Hirnforscher kaum mehr, laut zu reden oder gar zu lachen, geschweige denn allzu drastischem Unsinn freimütig zu widersprechen. Es braucht schon Philosophen wie Jürgen Habermas, die den Schwindel entlarven und davor warnen, mit solch leichtfertigem Gerede gehe unsere freiheitliche Gesellschaftsordnung vor die Hunde.