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Teil I Mit diesem dramatischen Epos um Liebe und Schuld, Tod und Sühne ist der norwegischen Nobelpreisträgerin Sigrid Undset ein großes poetisches Zeitgemälde gelungen, das dem Leser die ganze Welt des Mittelalters im hohen Norden lebendig macht. Viele Menschen, viele Sippen tauchen auf und verschwinden wieder aus dem Umkreis der Erzählung, im Mittelpunkt aber bleibt Olav Audunssohn. Wie schon in ihrer historischen Romantrilogie ›Kristin Lavranstochter‹ führt die Erzählerin den Leser auch in diesem zweiteiligen Schicksalsepos zurück in Norwegens Mittelalter, in das ausgehende 13. und beginnende 14. Jahrhundert. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)
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Seitenzahl: 1089
Sigrid Undset
Olav Audunssohn
Teil I
Aus dem Norwegischen von J. Sandmeier und S. Angermann
FISCHER E-Books
Die Steinfinnssöhne nannten die Leute ein Geschlecht, das in den Gemeinden rings um den Mjössee lebte zu der Zeit, da Harald Gilles Söhne in Norwegen herrschten. Damals saßen Männer dieses Geschlechtes auf großen Höfen in jedem Kirchspiel an den Ufern des Sees.
In den Unfriedensjahren, die später über das Land kamen, dachten die Steinfinnssöhne hauptsächlich daran, ihren Besitz unbeschnitten und ihre Höfe unzerstört zu erhalten, und sie waren so stark, daß ihnen dies meistens glückte, ob nun die Birkebeiner oder einige der vielen gegnerischen Scharen im Oberland herrschten. Sie schienen sich nicht viel darum zu kümmern, wer schließlich in Norwegen König werden würde, immerhin aber waren doch einige Männer der Sippe zuerst dem König Magnus Erlingssohn und später Sigurd Markuspflegesohn treu und gut gefolgt, und Sverre und die Männer aus seinem Geschlecht unterstützten keinen von den Steinfinnssöhnen mehr, als sie gezwungen waren. Tore Steinfinnssohn der Alte auf Hov und seine Söhne schlossen sich König Skule an, als jedoch wieder Frieden ins Land kam, söhnten sie sich mit König Haakon aus.
Aber von dieser Zeit an ging das Ansehen der Sippe ein wenig zurück. Es wurde jetzt ruhiger in den Gemeinden, und Recht und Gesetz galten wieder mehr unter den Leuten; nun gewannen jene Männer die meiste Macht, die Beauftragte des Königs waren oder zum Königsgefolge gehört und das Vertrauen des Herrschers gewonnen hatten. Die Steinfinnssöhne aber blieben daheim auf ihren Höfen und begnügten sich damit, ihre eigenen Güter zu verwalten.
Noch war es ein Geschlecht von reichen Männern. Die Steinfinnssöhne waren die letzten Großen gewesen, die im Oberland Sklaven besessen hatten, und sie nahmen auch weiterhin die Nachkommen der Freigewordenen als Dienstleute und Pachtbauern für ihre Güter an. Die Leute in den Gemeinden sagten untereinander, die Steinfinnssöhne seien ein herrschsüchtiger Menschenschlag; sie waren jedoch vernünftig genug, ihre Untergebenen so zu wählen, daß sie leicht über sie herrschen konnten. Die Männer ihrer Sippe galten nicht für die Klügsten, aber dumm konnten sie trotzdem nicht genannt werden, hatten sie doch genügend Verstand gezeigt, als es galt, ihre Güter zu bewahren. Und sie waren keine übergestrengen Herren gegen Geringere, sofern nur keiner es wagte, sich aufzulehnen.
Aber zwei Jahre, ehe König Haakon der Alte starb, sandte Tore, der jüngere Toressohn auf Hov, seinen jüngsten Sohn, Steinfinn, zum Königsgefolge. Dieser war damals achtzehn Jahre alt, ein gutgewachsener und schöner Mann, aber es war mit ihm wie mit seinen Verwandten: die Leute kannten sie an ihren Pferden und ihren Kleidern und Waffen und Schmuckstücken. Hätte man jedoch Jung-Steinfinn in einen groben Bauernkittel gesteckt, so wäre es manchem, der ihn den Abend zuvor bei den Bierschalen seinen Kumpan und lieben Freund genannt hatte, schwergefallen, ihn wiederzuerkennen. Die Steinfinnssöhne waren meist schöne Männer, sie glichen jedoch der ganzen Kirchengemeinde, so hieß es, und von diesem Steinfinn sagten seine Genossen, sein Verstand sei zwar nicht gering, aber doch viel kleiner als sein Hochmut.
Nun war Steinfinn in Björgvin, und dort begegnete er einer Jungfrau, Ingebjörg Jonstochter, die am Königshof bei der Königin Ingebjörg lebte. Sie und Steinfinn faßten Zuneigung zueinander, und er ließ bei ihrem Vater um sie werben. Jon antwortete, die Tochter sei bereits Mattias Haraldsson, dem Getreuen und lieben Freund des jungen Königs Magnus, anverlobt. Steinfinn jedoch vermochte nicht zu begreifen, daß er eine ernstliche Absage erhalten könnte, wenn er warb: er kam mehrere Male wieder, gewann sogar Männer des Rates und schließlich Königin Ingebjörg selber dazu, für ihn zu sprechen. Es nützte nichts, denn Jon Paalssohn wollte sein Mattias gegebenes Wort nicht brechen.
Steinfinn begleitete König Haakon auf seinem letzten Zug westlich über das Meer. Im Kampf bei Largs erwarb er sich großen Ruhm um seiner Tapferkeit willen. Während der König in Kirkevaag krank lag, hatte Steinfinn oft die Nachtwache bei ihm, und er selber meinte zum mindesten, daß König Haakon ihm in diesen Stunden große Gunst bezeigt habe.
Den Sommer darauf war Steinfinn wieder in Björgvin. Und eines schönen Morgens gleich nach der Jonsmesse, als einige der Jungfrauen der Königin von Nonneseter kamen und zum Königshof hinausgingen, begegneten sie Steinfinn und seinem Knappen, die durch die Straße geritten kamen. Sie führten ein schönes Pferd am Zügel, und Steinfinn sagte, er habe es an diesem Morgen gekauft, so, wie sie es hier sähen, mit Frauensattel und Zaumzeug. Er begrüßte die Jungfrauen höfisch und mit sanftem Scherz und wollte sie dazu überreden, sein Pferd zu erproben. So gingen sie allesamt auf eine Wiese und vergnügten sich eine Weile lang. Als aber Ingebjörg Jonstochter im Sattel saß, sagte Steinfinn, sie solle im Sattel bleiben und zum Königshof heimreiten, er würde sie begleiten. – Das nächste, was man von diesen beiden erfuhr, war, daß sie über Vors gekommen und ins Gebirge hinaufgeritten waren. Schließlich langten sie auf Hov an. Tore schien anfangs entrüstet über die Untat seines Sohnes, später jedoch gab er ihm einen Hof, Frettastein, der abseits in der Waldgemeinde oben lag. Dort lebte Steinfinn mit Ingebjörg Jonstochter, als wären sie rechtlich verheiratete Eheleute, und er lud die vornehmsten Gäste zum Kindsbier ein, als Ingebjörg ihm im darauffolgenden Frühjahr eine Tochter gebar.
Keiner fügte ihm etwas zu, weder wegen des Frauenraubes noch wegen seiner Flucht aus dem Königsgefolge. Die Leute sagten, dies habe er der Königin Ingebjörg zu verdanken. Und schließlich gelang es der Königin, die beiden jungen Menschen mit Jon Paalssohn auszusöhnen; er gab Steinfinn seine Tochter zur Ehe und richtete deren Hochzeit auf dem Königshof in Oslo aus, wo er zur selben Zeit Burghauptmann war.
Ingebjörg erwartete damals das dritte Kind, aber weder sie noch Steinfinn erwiesen Jon die geziemende Demut oder dankten ihm für sein väterliches Erbarmen so, wie es sich gehört hätte. Steinfinn gab seinem Schwiegervater und den Verwandten seiner Frau kostbare Geschenke, im übrigen aber waren sowohl er wie seine Frau sehr hochmütig und taten, als hätten sie auch vorher schon gut gelebt und die gleichen Ehren genossen, und als hätten sie es nie nötig gehabt, sich klein und gering zu machen, um ihre Lebensumstände zu verbessern. Sie hatten ihre älteste Tochter, Ingunn, mit auf die Hochzeit gebracht, und Steinfinn tanzte mit ihr auf dem Arm und zeigte sie allen Leuten. Sie war drei Jahre alt, und die Eltern waren über alle Maßen stolz auf dieses schöne Kind.
Aber ihr erster Sohn, den Ingebjörg gleich nach der Hochzeit erhielt, starb, und nach ihm brachte sie totgeborene Zwillinge zur Welt, es waren Knaben gewesen. Da beugten die beiden ihr Knie vor Jon Paalssohn und baten ihn von Herzen um Verzeihung. Danach bekam Ingebjörg zwei Söhne, die lebten. Sie wurde immer schöner mit jedem Jahr, das verstrich; sie und Steinfinn lebten zärtlich miteinander, führten ein reiches Haus und waren froh und übermütig.
Einen Mann gab es, an den niemand zu denken schien: Mattias Haraldssohn, Ingebjörgs rechter Bräutigam, den sie verraten hatte. Er fuhr um die Zeit, da Steinfinns Hochzeit stattfand, ins Ausland und blieb mehrere Jahre fort. Mattias war ein kleiner und häßlicher Mann, aber mutig, harten Sinnes und sehr reich. Man wußte nicht, wie er über den Treubruch dachte.
Steinfinn und Ingebjörg waren etwa sieben Jahre verheiratet, und ihre Töchter Ingunn und Tora waren zehn und acht Winter alt, die Söhne jedoch noch ganz klein, da kam Mattias Haraldssohn eines Nachts mit einer Schar von Männern nach Frettastein. Es war zur Zeit der Heuernte, und ein großer Teil des Hausgesindes übernachtete bei den weiter entfernten Wiesen; die Leute, die auf dem Hof waren, wurden überrannt, während sie im Schlaf lagen. Steinfinn erwachte erst, als er aus dem Bett gerissen wurde, in dem er mit seinem Weibe schlief. Der Sommer war heiß in diesem Jahr, so daß die Leute nackt im Bett lagen; so bloß, wie seine Mutter ihn zur Welt gebracht hatte, war Steinfinn, als er gebunden dastand und von drei Männern an seinem eigenen Tischende festgehalten wurde.
Ingebjörg, die Hausfrau, wehrte sich wie ein wildes Tier, mit Nägeln und Zähnen, als Mattias die Decke um sie schlang, sie aus dem Bett hob und auf seine Knie setzte. Mattias sagte zu Steinfinn: »Jetzt könnte ich die Rache nehmen, die ihr beide verdient – und du Steinfinn, solltest dabeistehen, ein gefesselter Mann, der sein Weib nicht zu schützen vermag, wollte ich die nehmen, die für mich ausersehen war und niemals für dich. Aber ich scheue mich mehr, Gottes Gesetz zu verletzen, und achte mehr auf Ehre und Sitte, als du es tatest. Nun will ich dich also damit züchtigen, Steinfinn, daß du dein Weib ungekränkt zurückerhalten sollst, durch meine Gnade – und du, meine Ingebjörg, lebe weiterhin mit deinem Mann, und verbleibt in vollem Glück alle beide! Nach dieser Nacht, denke ich, werdet ihr mir immer danken, jedesmal, wenn ihr euch in Wonne und Freude umarmt«, sagte er und lachte laut.
Er küßte die Hausfrau und legte sie ins Bett zurück, sagte dann zu seinen Männern, nun wollten sie fortreiten. Dann wandte er sich an Steinfinn.
Steinfinn hatte kein Wort gesagt, und als er begriff, daß er sich nicht losreißen konnte, stand er still da, jedoch mit dunkelrotem Gesicht, und er verwandte keinen Blick von Mattias. Der andere trat dicht an ihn heran: »Hast du nicht so viel grace, Mann, daß du Verstand genug besitzest, mir für die Gnade zu danken; die ich dir heute nacht erwies?« fragte Mattias lachend.
»Sei sicher, daß ich dir danken werde«, erwiderte Steinfinn, »wenn Gott mir das Leben vergönnt.«
Mattias trug einen Kittel mit langen geschlitzten Ärmeln und mit Quasten an den Zipfeln der Ärmel. Jetzt nahm er einen solchen Zipfel in die Hand und schlug Steinfinn damit leicht ins Gesicht, während er noch lauter lachte. Plötzlich jedoch stieß er dem gebundenen Mann die geballte Faust ins Gesicht, so daß Steinfinn das Blut aus Mund und Nase drang.
Dann ging er mit seinen Männern hinaus. Olav Audunssohn, Steinfinns Pflegesohn, ein Knabe von elf Jahren, sprang hinzu und zerschnitt Steinfinns Fesseln. Den Knaben, Steinfinns Kinder und deren Kindsmägde hatten einige Männer in den Vorraum hinausgeschleppt und dort festgehalten, während Mattias mit seiner ungetreuen Verlobten und deren Mann in der Stube redete.
Steinfinn riß einen Speer an sich und nackt, wie er war, rannte er Mattias und seinen Männern nach, die den steilen Hang hinunterritten, quer durch den Acker, lachend und höhnend. Steinfinn schleuderte den Speer, traf jedoch nicht. Unterdessen lief der Knabe Olav zur Knechtestube und zum Stall hinüber, ließ das Gesinde heraus, das dort eingesperrt war, während Steinfinn ins Haus zurückkehrte, sich anzog und seine Waffen ergriff.
Doch wäre es vergeblich gewesen, Mattias nachzusetzen, denn auf Frettastein waren zur Zeit nur drei Pferde, die draußen auf der Weide gingen. Trotzdem ritt Steinfinn sogleich fort; er wollte seinen Vater und seine Brüder aufsuchen. Noch während er sich ankleidete, hatte er allein mit seiner Frau gesprochen. Sie begleitete ihn hinaus, als er zum Fortgehen bereit war. Und jetzt verkündete Steinfinn seinem Gesinde, daß er nicht mehr bei seinem Weib schlafen wolle, ehe er die Schande ausgelöscht habe und kein Mann mehr sagen könne, er besitze sein Weib durch Mattias Haraldssohns Gnade. Dann ritt er fort, die Hausfrau aber begab sich in eine alte Hütte, die auf dem Hof stand, und schloß sich dort ein.
Das Gesinde, Männer und Frauen, strömte nun in die Halle herein und begann zu fragen und zu forschen. Sie fragten Olav aus, er saß halb angezogen auf dem Rand des Bettes, in das Steinfinns weinende Töchter gekrochen waren; sie versuchten die beiden kleinen Mädchen auszuforschen und die Amme von Steinfinns jüngstem Sohn. Aber keines von diesen vermochte etwas zu erklären, und so gab das Gesinde das Fragen allmählich auf und ging hinaus.
Der Knabe saß in der dunklen Stube und lauschte Ingunns heftigem Schluchzen. Dann kroch er ins Bett und legte sich an ihre Seite: »Verlaß dich darauf, daß dein Vater sich schon rächen wird. Er wird es tun, das darfst du gewiß glauben. Und ich werde mit dabei sein, denke ich, und zeigen, daß Steinfinn wenigstens Verwandte hat, wenn auch seine Söhne noch nicht waffentüchtig sind!«
Es war das erstemal, daß Olav wagte, ganz offen von diesem Verlöbnis zu sprechen, das seinerzeit für ihn und Ingunn abgeschlossen worden war, als sie noch klein waren. In der ersten Zeit, in der er auf Frettastein lebte, war es vorgekommen, daß das Gesinde darüber redete und die Kinder um ihrer Verlobung willen neckte, da aber wurde Ingunn stets sehr zornig. Einmal lief sie zu ihrem Vater und beklagte sich, und er wurde böse und verbot seinen Leuten, solches zu reden – verbot es so heftig, daß dem einen oder anderen sogar der Gedanke kam, ob Steinfinn nicht vielleicht seinen Handel mit Olavs Vater bereue.
In dieser Nacht faßte Ingunn Olavs Worte, die sie an ihr Verhältnis zueinander erinnerten, so auf, daß sie sich dichter an den Knaben schmiegte und in seinen Arm weinte, bis Olavs Hemdsärmel vollkommen durchnäßt war.
Von dieser Nacht an wurde das Leben auf Frettastein sehr viel anders, als es vorher gewesen war. Der Vater und die Brüder Steinfinns rieten diesem, den Rechtsweg gegen Mattias Haraldssohn zu beschreiten, Steinfinn jedoch sagte, er wolle selbst darüber urteilen, wieviel seine Ehre wert sei.
Mattias aber war ohne Aufenthalt zu seinem Hof im Borgegau heimgezogen, auf dem er wohnte. Und im Frühjahr darauf begab er sich auf eine Pilgerfahrt ins Ausland. Als man jedoch dies erfuhr, und als bekannt wurde, wie Steinfinn Toressohn sich gräme, so daß er ganz menschenscheu wurde, und als man hörte, daß er nicht mehr mit seinem Weib zusammenleben wolle – wurde gar vielerlei gesagt über die Rache, die Mattias an seiner ungetreuen Verlobten genommen hatte. Obwohl Mattias und seine Leute die Tat nicht anders erzählten, als sie von Frettastein aus geschildert wurde, kam es doch so, daß man immer schlimmere Dinge darüber wissen wollte, wie Mattias mit Steinfinn umgegangen sei, je weiter die Gerüchte sich im Lande verbreiteten. Es wurde auch ein Lied auf diese Ereignisse gedichtet, das alles so schilderte, wie die Leute glaubten, daß es sich zugetragen habe.
Eines Abends, als Steinfinn mit seinen Männern beim Trinken saß – es war drei Jahre später –, fragte er, ob einer unter ihnen sei, der ihm das Lied über ihn vortragen könne. Zuerst taten alle Knechte so, als wüßten sie nichts von einem Lied. Als jedoch Steinfinn dem ein großes Geschenk versprach, der ihm seinen Tanz vorsingen könne, zeigte es sich, daß das ganze Gesinde ihn kannte. Steinfinn hörte bis zum Ende zu; von Zeit zu Zeit bleckte er die Zähne in einer Art von Lächeln. Gleich darauf ging er zu Bett, zusammen mit seinem Halbbruder Kolbein Toressohn, und die Leute hörten, daß die beiden noch fast bis Mitternacht in dem Wandbett lagen und über diese Sache sprachen.
Dieser Kolbein war ein Sohn Tores auf Hov mit einer Buhlerin, mit der Tore gelebt hatte, ehe er sich verheiratete, und Tore auf Hov hatte stets mehr von seinen Kindern mit ihr gehalten als von seinen ehelichen Kindern. Er hatte Kolbein eine gute Heirat verschafft und einen großen Hof weiter oben bei Mjös. Kolbein brachte jedoch wenig Glück mit sich; er war hochmütig, aufbrausend und ungerecht und hatte stets Streit sowohl mit seinen Untergebenen als auch mit seinesgleichen. Er war infolgedessen wenig gewinnend, und die Zuneigung zwischen ihm und seinen ehelichen Halbbrüdern war stets gering gewesen, bis Steinfinn sich nach seinem Unglück an Kolbein anschloß. Seitdem waren diese beiden Brüder ständig beisammen, und Kolbein nahm sich Steinfinns und aller seiner Angelegenheiten vollkommen an. Er handhabte sie aber so, wie er seine eigenen handhabte, und trug Unfrieden hinein, auch wenn er im Namen seines Bruders handelte.
Gewiß verhielt es sich nicht so, daß Kolbein seinem jüngeren Bruder schaden wollte; als Steinfinn sich in seiner Ratlosigkeit dem Halbbruder ganz in die Hand gab, gewann dieser ihn auf seine Art lieb. Achtlos und faul war Steinfinn in den Tagen seines Wohlstandes gewesen; er hatte mehr daran gedacht, auf großer Herren Art zu leben, als auf seinen Wohlstand zu achten. Nach der Überfallsnacht blieb er lange Zeit ganz menschenscheu; später aber nahm er, auf Kolbeins Rat hin, eine ganze Schar von Knechten in seinen Dienst – junge, waffentüchtige Männer, und hauptsächlich solche, die schon früher im Dienst von Herrenleuten gestanden hatten. Steinfinn schlief mit seinen Männern in der großen Halle, und sie folgten ihrem Herrn, wo er auch hinfuhr, aber sie konnten nicht viel auf dem Hof arbeiten, wollten dies auch nicht, so daß ihm der Unterhalt dieser Leute große Unkosten verursachte und wenig Nutzen brachte.
Auf Frettastein wurde der Hof trotz allem weiterbetrieben, denn der alte Großknecht Grim und Dalla, seine Schwester, waren Kinder eines Sklaven von Steinfinns Vatermutter, und sie kannten nichts anderes als das Wohlergehen ihres jungen Herrn. Jetzt aber, da Steinfinn so notwendig die Einnahmen der Güter hätte brauchen können, die er in den umliegenden Gemeinden besaß, mochte er seine eigenen Pächter und Verwalter weder sehen noch sprechen – und mit Kolbein, der sich an seiner Stelle aller dieser Dinge annahm, folgte nur Unfrieden ohne Ende.
Ingebjörg Jonstochter war eine tüchtige Hausfrau gewesen, und dies hatte früher die Verschwendungssucht des Mannes und seine lässige Art, großzutun, ziemlich ausgeglichen. Jetzt aber verbarg sie sich mit ihren Mägden in ihrem kleinen alten Haus, und das übrige Gesinde sah sie kaum. Sie grübelte und sie grämte sich, fragte niemals danach, wie es auf dem Hof und im Haus ging, sondern schien eher zornig zu werden, wenn jemand sie aus ihren Gedanken aufstörte. Selbst gegen ihre Kinder, die mit der Mutter in dem Nebenhaus wohnten, war sie wortkarg, und sie achtete wenig darauf, wie es ihnen ging und was sie trieben. Trotzdem war sie früher, in den guten Zeiten, eine zärtliche Mutter gewesen und Steinfinn Toressohn ein froher und und liebevoller Vater, stolz auf seine schönen und kräftigen Kinder.
Solange ihre Söhne, Hallvard und Jon, noch klein waren, nahm sie diese zwar oft auf ihren Schoß, saß da und schaukelte sie, das Kinn auf ihre hellen Köpfe gestützt, aber sie starrte traurig und nachdenklich vor sich hin. Doch kaum waren die Knaben älter geworden, so ermüdete es sie, mit der unfrohen Mutter und den Frauen in dem Nebenhaus zu sein.
Tora, die jüngste Tochter, war ein freundliches und schönes Kind. Sie erfaßte sehr wohl, daß die Eltern großes Unrecht erlitten hatten und nun voll Kummer und Sorge dahinlebten. Darum bemühte sie sich, ihnen alles recht zu machen, freundlich und liebevoll zu sein. Es ist begreiflich, daß sie beider Liebling wurde. Oft huschte ein heller Schein über Steinfinns Antlitz, wenn er diese Tochter betrachtete. Tora Steinfinnstochter war rund und von feinem Wuchs und zarten Gliedmaßen, sie wurde schon frühzeitig reif und frauenhaft. Sie hatte ein längliches und volles Gesicht, helles Haar und blaue Augen, und über ihre Brust hing das glatte korngelbe Haar in dicken Zöpfen herab. Der Vater fuhr ihr über die Wange: »Du bist ein gutes Kind, meine Tora – Gott segne dich. Geh zur Mutter, Tora, setz dich zu ihr und tröste sie.«
Tora ging hin, setzte sich mit ihrer Spindel oder ihrer Näharbeit zu ihrer traurigen Mutter. Und sie fand sich mehr als belohnt, wenn Ingebjörg schließlich sagte: »Du bist gut, meine Tora – Gott bewahre dich vor allem Bösen, mein Kind.« Dann fingen Toras Tränen an zu rinnen – sie dachte an das schwere Schicksal ihrer Eltern, und voll eines gerechten Zornes sah sie ihre Schwester an, die niemals Stetigkeit genug besaß, um still bei ihrer Mutter zu sitzen, und die niemals in der Hütte war, ohne die Mutter mit ihrer ewigen Unruhe ungeduldig zu machen – bis Ingebjörg sie bat, wieder hinauszugehen. Und reuelos und sorglos lief Ingunn zur Tür und gesellte sich dem Spiel und dem Treiben der anderen Kinder auf dem Hof zu – es waren Olav und ein paar andere Buben, die einigen Dienstleuten auf Frettastein gehörten.
Ingunn war die älteste von allen Kindern Steinfinns und Ingebjörgs. Als kleines Mädchen war sie so schön gewesen, ein wahres Wunder. Jetzt aber war sie nicht halb so schön wie die Schwester, fanden die Leute. Und sie war nicht so klug und auch nicht besonders flink im Reden; sie war weder besser noch schlechter als die meisten Kinder. Aber in einer Art hatten die Leute sie ebenso gern wie die jüngere stille und schöne Schwester. Steinfinns Männer sahen Tora mit einer Art Ehrfurcht an, aber es gefiel ihnen besser, wenn Ingunn zu ihnen in die Halle kam.
Es gab keine kleinen Mädchen im gleichen Alter mit ihr, weder auf Frettastein noch auf sonst einem der Höfe und Heime in der Nähe. So kam es, daß Ingunn sich an die Knaben hielt. Sie tat bei allen ihren Spielen mit und bei allen ihren Unternehmungen, übte sich in den gleichen Leibesübungen wie jene, sie warf den Speer und schleuderte Steine, schoß mit dem Bogen nach dem Ziel, schlug den Ball, legte Fallen im Wald und fischte im Weiher. Aber sie war zu allem ungeschickt, weder flink noch mutig, sondern weich, schnell bereit, aufzugeben und zu weinen, wenn die Spiele zu gewaltsam wurden oder die anderen ihr zu sehr zusetzten. Trotzdem fanden sich die Buben darein, sie bei allem dabeizuhaben. Immerhin war sie doch Steinfinns Tochter, und außerdem wollte es Olav Audunssohn so. Und stets war es Olav, der die Spiele anführte.
Olav Audunssohn mochten alle auf dem Hof sehr gerne, Große wie Kleine, dennoch würde niemand ihn ein freundliches Kind genannt haben. Es war, als könne keiner in diesen Knaben eindringen, obgleich er niemals unfreundlich gegen irgend jemand war – viel eher mußte man sagen, daß er sich auf seine wortkarge und geistesabwesende Art als gutgelaunt und dienstbereit erwies.
Schön war er, obgleich ganz hell von Haut und Haar, beinahe wie ein Weißling, aber er hatte nicht den lichtscheuen Blick oder den vornübergeneigten Nacken der Weißlinge. Olavs blaugrüne Augen waren von blasser Farbe, doch blickten sie offen in die Welt, und er trug den Kopf aufrecht auf dem starken milchweißen Hals. Es war, als könnten Sonne und Wetter seine Haut nicht weiter angreifen – sie schien seltsam dicht und gleichmäßig und weiß –, nur im Sommer entstanden über der Nasenwurzel, die niedrig und breit war, ein paar kleine Sommersprossen. Diese gesunde Bleichheit ließ Olavs Gesicht schon in seinen Kinderjahren etwas kalt und unbeweglich erscheinen. Auch waren seine Züge ein wenig kurz und breit, aber wohlgebildet. Die Augen lagen ziemlich weit voneinander, sie waren jedoch groß, schön und offen, Brauen und Wimpern so hell, daß sie in der Sonne nur wie ein goldener Schatten wirkten. Er hatte eine breite und gerade, aber ein wenig zu kurze Nase; der Mund war eher groß, seine Lippen jedoch waren so schön und fest geschwungen, daß man den Mund hätte schön nennen müssen, wären sie nicht so bleich in diesem farblosen Gesicht gewesen, das die Sonne nicht zu bräunen vermochte. Aber sein Haar war unvergleichlich schön – so hell, daß es mehr wie Silber schimmerte denn wie Gold, dicht und weich und ein wenig gelockt. Er trug es rund geschnitten, so daß es seine breite weiße Stirn bedeckte, im Nacken jedoch die Grube zwischen den beiden starken Sehnen sehen ließ.
Olav war nie groß gewesen für sein Alter, aber er wirkte größer, als er war, wunderschön gewachsen, dicht gebaut und muskelfest, mit sehr kleinen Händen und Füßen, die außerordentlich stark schienen, denn Handgelenk und Fußgelenk waren so rund und kräftig. Er war auch sehr stark und geschmeidig; jede Art von Leibesübungen und jedes Spiel mit Waffen fielen ihm außerordentlich leicht – es gab jedoch keinen einzigen, der ihn lehrte, diese Fertigkeiten auf die richtige Art zu üben. So wie die Dinge zur Zeit seines Heranwachsens auf Frettastein lagen, mußte Olav mit sich selber zurechtkommen. Steinfinn, der versprach, dem Knaben den Vater zu ersetzen, als er ihn zu sich nahm, tat nichts, um dem Kind eine Erziehung zu verschaffen, wie sie sich für einen jungen Mann von guter Geburt, den Erben eines Vermögens und zukünftigen Gemahl von Ingunn Steinfinnstochter geschickt hätte.
Daß Steinfinn Toressohn Olavs Pflegevater geworden war, hatte sich folgendermaßen zugetragen:
Eines Sommers, während Steinfinn noch glücklich und unbesorgt dahinlebte, hatte er auf dem Eidsivathing etwas zu erledigen. Er reiste mit einem Gefolge von Freunden und Verwandten und hatte seine Frau mit sich und die Tochter Ingunn, die damals sechs Jahre alt war. Die Eltern liebten dieses schöne Kind so sehr, daß sie es überall mit dabeihaben mußten.
Hier auf dem Thing traf Steinfinn einen Mann, Audun Ingolfssohn von Hestviken. Audun und Steinfinn waren seinerzeit beim Königsgefolge Bettgenossen gewesen, und sie waren gute Freunde geworden, obgleich Audun älter war als der andere und die beiden ein sehr verschiedenes Wesen hatten, denn damals war Steinfinn lustig und redselig und redete am liebsten von sich selber, Audun aber verhielt sich meistens schweigsam und sprach nie von seinen eigenen Sachen.
Im Frühjahr desselben Jahres, da König Haakon sich zum Heereszug nach Schottland anschickte, wurde Audun verheiratet. Er bekam eine dänische Frau, Cecilia Björnstochter, eine Spielschwester der Königin Ingebjörg, die mit ihr im Kloster Rind aufgewachsen war. Als der Bischof von Oslo die Braut des jungen Königs Magnus mit Gewalt entführte und nach Norwegen brachte, weil der Dänenkönig die Verabredung brach und sich weigerte, seine Verwandte hierherzusenden, kam Cecilia mit. Zuerst wollte die junge Königin die Jungfrau stets um sich haben. Nach einem Jahr jedoch schien Frau Ingebjörg bereits anderen Sinnes geworden zu sein und war nun eifrig darauf bedacht, Cecilia zu verheiraten. Die einen sagten, weil König Magnus selber sich mehr geneigt zeigte, mit der dänischen Jungfrau zu sprechen, als es seiner Frau angenehm war; andere wollten wissen, daß der junge Alf Erlingssohn von Tornberg ihr seine Neigung zugewandt habe, sein Vater jedoch, der Lehensmann Alf Erlingssohn, es nicht dulden wollte, daß sein Sohn sich mit einer ausländischen Frau verheiratete, die weder Land noch Verwandte in Norwegen besaß. Der junge Alf war gewalttätigen Sinnes und pflegte seinen Willen in allen Stücken erzwingen zu wollen, und er liebte Cecilia heftig. Da griff die Königin zu dem Ausweg, das Mädchen zu verheiraten, damit es nicht in irgendein Unglück gerate.
Gleichviel, ob sich dies nun so oder so verhielt – das Mädchen selber war sittsam und anmutig, und als Audun, der sich anfangs ein wenig unwillig gezeigt hatte, zwei- oder dreimal mit Cecilia gesprochen hatte, lag ihm selber viel daran, sie zu bekommen. Ihre Hochzeit fand im Königshof zu Björgvin statt. Der alte König Haakon gab der Braut das Heiratsgut. Audun führte seine Frau nach Hestviken, dort war sie gut aufgehoben, gleichviel, ob nun vor König Magnus oder vor Alf Erlingssohn.
Im Lauf des Sommers stieß Audun mit seinem Schiff in Herdluvaag zum König und folgte ihm auf seinem Zug über das Westmeer. Und als der König vor Weihnachten auf den Orkney-Inseln starb – dies war im Winter 1263 –, führte Audun das Schiff, das die Todesnachricht nach Norwegen brachte. Dann zog er weiter nach Osten, heim auf seinen Hof. Im Sommer kehrte er zum Gefolge des Königs Magnus zurück. Da war seine Frau im Kindbett gestorben und hatte einen Sohn hinterlassen. Audun war noch stiller geworden als früher, jetzt aber sprach er doch immerhin mit Steinfinn über die eine oder andere seiner Angelegenheiten. In Hestviken saß sein Großvater; der war alt und ein wenig eigensinnig. Ihm war es nicht recht gewesen, daß der Sohnessohn eine fremde und verwandtenlose Frau heiratete. Außer ihm lebte ein alter Oheim Auduns auf dem Hof; er war närrisch. Den größten Teil ihres Lebens auf Hestviken verbrachte Cecilia zwischen diesen beiden alten Männern: »Ich fürchte, sie fühlte sich nicht wohl dort im Osten«, sagte Audun. Um den Urgroßvater zu ehren, hatte Cecilia das Kind nach ihm genannt – dies war dänischer Brauch –, aber Olav Olavssohn hatte sich sehr darüber erzürnt: »In Norwegen gibt man einem Kind nicht den Namen eines lebenden Mannes, außer man wünscht diesem den Tod«, sagte er. Es fügte sich so, daß Audun der einzige Erbe dieser beiden alten Männer wurde, aber er sagte, er wolle zunächst noch nicht heim nach Hestviken; er gedachte jetzt hier in Björgvin bei König Magnus zu bleiben.
Kurze Zeit darauf geschah es, daß Steinfinn Ingebjörg entführte, und seitdem hatte er von Audun Ingolfssohn weder etwas gehört noch gesehen, bis er den Mann nun auf dem Thing traf. Audun hatte einen siebenjährigen Knaben bei sich und fragte nach einigen Männern von Soleyar, die er hier treffen sollte. Er sah sehr krank aus – Audun war ein großer Mann und war stets sehr schlank und schmächtig gewesen, mit schmalem Gesicht, dünner und scharfer Hakennase, weißlich hell von Haut und Haar. Jetzt ging er mit gebeugtem Rücken, und er war mager wie ein Beingerippe, welk im Gesicht und bläulich rings um den Mund. Aber der Knabe war ein schönes, kräftiges Kind, mit breiten Schultern und wohlgebaut; er war ebenso hell wie der Vater, doch im übrigen glich er ihm nicht sehr viel.
Steinfinn empfing den Freund mit stürmischer Freude, wurde jedoch sehr traurig, als er sah, daß Audun so krank war. Er wollte von nichts anderem hören, als daß Audun mit ihm auf jenen Hof kommen müsse, wo Steinfinn während des Things mit seinem Gefolge wohnte.
Auf dem Wege dorthin erzählte Audun, daß die Leute, die er hätte treffen sollen, Söhne des Bruders seines Großvaters seien: »Und nähere Verwandte habe ich nicht; sie müssen sich einmal Olavs annehmen, wenn ich tot bin.« Die beiden Alten in Hestviken lebten noch, waren aber ganz hinfällig, und er selbst hatte ein inneres Leiden, so daß er weder essen noch trinken konnte, er hatte wohl nicht mehr viele Wochen zu leben. Er war in allen diesen Jahren bis nun kurz vor Weihnachten bei König Magnus gewesen; jetzt war er seines kranken Zustandes wegen nach Hestviken heimgezogen. Dorthin war er seit dem Tode seiner Frau nur noch ein einziges Mal gekommen, so daß er erst in diesem Winter seinen Sohn kennengelernt hatte. Jetzt aber lag ihm die Zukunft des Kindes schwer auf der Seele – und nun waren diese Verwandten von Soleyar nicht gekommen, und zu ihnen hinaufzureiten vermochte er kaum – er bekam solche Schmerzen, wenn er ritt – und es war auch schon der vorletzte Thingtag. »Die Väter auf der Hauptinsel würden sich seiner ja wohl annehmen – aber sollte dem Jungen in der Zeit, in der er dort aufwächst, die Lust kommen, dort zu bleiben und Mönch zu werden, so erlischt unser Geschlecht mit ihm.«
Als Ingebjörg das schöne Kind sah, das nicht nur ohne Mutter, sondern bald auch ohne Vater sein sollte, wollte sie den Knaben küssen. Aber Olav entwand sich ihr, floh zum Vater zurück, während er die Frau mit seinen großen blauen Augen anstarrte, unwillig und erstaunt.
»Willst du mein Weib nicht küssen, Olav?« fragte Steinfinn und lachte laut.
»Nein«, antwortete der kleine Bursche. »Denn Aslaug küßt Koll – «
Audun lächelte ein wenig verlegen – dies seien zwei alte Leute, die in Hestviken dienten, sagte er, und da lachten alle Erwachsenen sehr, Olav aber wurde rot und sah zu Boden. Nun wies der Vater ihn zurecht und befahl ihm, Ingebjörg höfisch und schön zu begrüßen. Da mußte er denn vortreten und sich von ihr küssen lassen, und als dann die kleine Ingunn, die herausgekommen war, sagte, daß auch sie den Knaben küssen wolle, ging Olav gehorsam hin und beugte sich vor, so daß die Kleine seinen Mund erreichen konnte. Aber er war feuerrot im Gesicht und seine Augen standen voller Tränen, und die Männer lachten und hatten ihren Spaß daran, daß Olav sich aus der Huld schöner Frauen so wenig machte.
Gegen Abend, als alle gegessen hatten und nun beim Trinken saßen, schien Olav doch ein wenig aufzutauen. Ingunn lief an den Bänken entlang, und wo sich ein leerer Platz fand, kletterte sie hinauf, saß eine Weile da und schlenkerte mit den Beinen, dann ließ sie sich wieder hinuntergleiten, lief weiter zu einem anderen Platz und kroch dort hinauf. Darüber lachten die Erwachsenen, sie riefen ihr zu und haschten nach ihr; die Kleine wurde dadurch immer wilder und ausgelassener. Da schien Olav einen großen Entschluß gefaßt zu haben – er stand von dem Platz neben seinem Vater auf, rückte seinen Messergurt zurecht, ging durch die Stube und setzte sich an Ingunns Seite. Und als sie von der Bank herunterrutschte und zu einem anderen Platz lief, folgte ihr der Knabe ein wenig zögernd und setzte sich wieder neben die Kleine hin. So trieben es die Kinder und liefen an den Bänken entlang, Ingunn lachend und schreiend – Olav folgte ruhig und ernsthaft, dann und wann jedoch sah er zum Vater hinüber, und dann zog ein unsicheres Lächeln über das schöne, verdrossene Knabengseicht.
Die Kinder saßen in einem Winkel und schlummerten, als Steinfinn und Audun kamen, um sie bei der Hand zu nehmen und durch die Stube zur Feuerstätte hinzuführen. Die Gäste bildeten einen Kreis um sie; sie waren ziemlich betrunken. Steinfinn selbst stand nicht sicher auf den Füßen, als er die Hand seiner Tochter nahm und sie in die Olavs legte. Dann bekräftigten Steinfinn und Audun die Verabredung über die Verlobung der Kinder mit Handschlag, und Audun gab Olav einen goldenen Ring, half ihm, diesen an Ingunns Finger zu streifen, und hielt die Hand des Kindes in die Höhe, so daß alle den schweren Ring sehen konnten, der lose am Finger hing. Ingebjörg Jonstochter und die Frauen lachten und weinten zu gleicher Zeit, denn etwas Schöneres als diese beiden kleinen Brautleute hatte wohl noch niemand gesehen.
Dann füllte sie der Tochter ein Horn und hieß sie ihrem Verlobten zutrinken, und die Kinder tranken und verschütteten dabei auf ihre Kleider. Steinfinn stand da, den Arm um den Hals seines Freundes gelegt: mit weinender Stimme schwor er hoch und teuer, daß Audun sich um dieses Kindes willen, das er hinterlasse, weder Sorgen noch Kummer zu machen brauche; er wolle Olav aufziehen und ihm Vater sein, bis der Knabe ein Mann würde und seine Braut heimführen könne, sagte Steinfinn und küßte Audun auf beide Wangen, während Ingebjörg die Kinder auf den Schoß nahm und versprach, gegen Olav wie eine Mutter zu sein, um Cecilia Björnstochters willen, die sie wie eine eigene Schwester geliebt hatte.
Dann sagte sie zu Olav, er solle seine Verlobte küssen. Und nun trat der Knabe vor, ganz kühn, legte die Arme um Ingunns Hals und küßte sie, so innig er konnte, während die Zeugen lachten und auf das Wohl der Verlobten tranken.
Aber es schien, als habe Olav nun Geschmack an diesem Spiel gewonnen – plötzlich sprang er auf seine junge Braut zu, umarmte sie wiederum und gab ihr drei, vier laute Küsse. Da brüllten die Männer vor Lachen, riefen ihm zu und forderten ihn auf, nur so weiter zu machen.
Ob es nun das Gelächter war, das die Kleine mit Scham erfüllte, oder ob es eine Laune von ihr war – Ingunn wollte sich den Armen des Knaben entwinden, und als er sie noch fester an sich drückte, biß sie ihn mit aller Gewalt in die Wange.
Olav stand eine Weile da und starrte vor sich hin, ganz verdutzt. Dann rieb er sich die Wange, auf der nun die Blutstropfen allmählich hervortraten. Eine Weile lang betrachtete er seine blutigen Finger – dann wollte er auf Ingunn losfahren und sie schlagen. Doch sein Vater hob ihn auf seine Arme und trug ihn zu dem Bett hin, wo die Kinder schlafen sollten. Und so wurden Bräutigam und Braut ausgezogen und zu Bett gelegt und vergaßen bald das ganze Gastgelage und schliefen ein.
Am nächsten Tag, als Steinfinn nüchtern geworden war, hätte er am liebsten die ganze Geschichte rückgängig gemacht. Er redete davon, daß sie doch nur Spaß getrieben hätten – wenn sie irgendeine Verabredung über ihre Kinder treffen wollten, so müßten sie sich doch erst näher darüber besprechen. Audun jedoch, der um seiner Krankheit willen nicht hatte trinken können, wehrte sich dagegen. Er bat Steinfinn, zu bedenken, daß er sein Versprechen einem sterbenden Mann gegeben habe und Gott es sicher rächen würde, wenn er nun einem vaterlosen, verlassenen Kind sein gegebenes Wort brechen wollte.
Steinfinn überlegte. Audun Ingolfssohn stammte aus einem guten und alten Geschlecht, obgleich es nun wenig Glieder zählte und gering an Macht war. Aber Olav war das einzige Kind, und selbst wenn er außer dem Stammsitz in Hestviken kein anderes Erbe zu erwarten hatte, so war dies doch ein großer Hof. Er selbst konnte noch viele Kinder mit Ingebjörg bekommen – Olav war doch schließlich eine ebenbürtige Heirat für Ingunn, die ja doch nur ein Tochtererbteil von ihm zu erwarten hatte. So wiederholte denn Steinfinn in nüchternem Zustand, was er im Rausch gesagt hatte, versprach, Olav aufzuziehen und ihm seine Tochter zur Ehe zu geben, wenn die beiden Kinder im richtigen Alter wären. Und als er vom Thing heimwärts fuhr, nahm er Olav Audunssohn mit sich nach Norden hinauf.
Im gleichen Herbst gelangte nach Frettastein die Nachricht, daß Olavs Vater gestorben sei, kurze Zeit nach dem Tod des Großvaters und des verrückten Oheims. Die Boten brachten einen Teil des beweglichen väterlichen und mütterlichen Erbes mit – Kleider, Waffen und ein Kästchen mit Schmuck. Den Hof in Hestviken sollte ein alter Verwandter des Knaben verwalten, ein Mann, der Olav Halbpriester genannt wurde.
Steinfinn nahm den Besitz seines Pflegesohnes in Verwahrung, und er raffte sich auch zweimal dazu auf, durch Männer, die in Oslo zu tun hatten, Olav Halbpriester Nachricht wegen einer Zusammenkunft zu geben. Aber es kam nicht gleich zu einem Zusammentreffen, und später tat sich Steinfinn nicht mehr weiter in der Sache um. Schließlich war ja Steinfinn in seinen eigenen Angelegenheiten auch nicht rühriger. Sowohl er als auch Ingebjörg waren freundlich gegen Olav, und er wurde wie ihre eigenen Kinder gehalten, bis das Unglück über sie kam. Und danach vernachlässigten sie ihren Pflegesohn wohl auch nicht mehr als ihren eigenen Nachwuchs.
Olav hatte sich in einer Art ziemlich rasch auf Frettastein eingewöhnt. Er konnte Steinfinn und Ingebjörg gut leiden, aber er war von stillem Wesen und ein etwas verschlossenes Kind, so daß er ihnen auch weiterhin ein wenig fremd blieb. Ein richtiges Gefühl, zu ihnen zu gehören, gewann er nie, obgleich er sich hier wohler fühlte als dort, wo er hergekommen war. Er vermied es, so gut er konnte, an sein erstes Heim, Hestviken, zu denken. Aber doch tauchten die Erinnerungen an jene Zeit dann und wann in ihm auf. Es erfaßte ihn jedesmal ein beklemmender Mißmut, wenn er an alle die alten Leute dort dachte. – Das Gesinde war uralt, und der Urgroßvater ging umher und hütete seinen närrischen alten Sohn, den die Leute Trensbart nannten – man mußte ihn füttern wie ein Kind und von Feuer und Wasser und Messern fernhalten, Olav hatte sich meist für sich selber herumtreiben dürfen, er hatte nie gewußt, daß es anders sein könnte. Der schmutzige Anblick und der schlechte Geruch von Trensbart hatten, so weit der Knabe sich zurückerinnern konnte, einen Teil des Lebens auf dem Hof ausgemacht, und auch die Anfälle des Närrischen, in denen dieser heulte und schrie, waren ihm so gewohnt gewesen, daß er sich gar nicht so sehr davor fürchtete. Aber er scheute die Erinnerung. – Ein paarmal in den letzten Jahren hatte der Urgroßvater ihn in die Kirche mitgenommen, und dort hatte er fremde Menschen gesehen, auch Frauen und Kinder, aber er dachte niemals an die Möglichkeit, mit ihnen zusammenzukommen oder gar mit ihnen zu sprechen; sie waren nur gleichsam ein Teil der Messe. Und noch viele Jahre, nachdem Olav nach Frettastein gekommen war, konnte es ihm widerfahren, daß er sich plötzlich so einsam fühlte – als sei das Leben hier zwischen diesen Menschen unwirklich oder so wenig alltäglich wie ein Kirchensonntag, und er wartete nur darauf, von hier fort zu müssen, zurück zu jenem Leben, von dem er gekommen war. Dies war nie mehr als ein flüchtiger Gedanke, der ihm nur so durch den Kopf schoß und gleich wieder verschwand – aber ganz wurzelfest fühlte er sich nie auf Frettastein, obgleich er kein anderes Heim hatte, nach dem er sich sehnte.
Manchmal jedoch tauchten andersgeartete Erinnerungen an Hestviken auf, und diese fuhren ihm wie ein Stich der Sehnsucht durchs Herz. Er erinnerte sich an vieles wie an etwas, das er einmal geträumt hatte – ein kahler Fels hatte sich mitten auf dem Hofplatz in Hestviken erhoben; es waren Sprünge in dem heißen Stein, und Olav hatte dagelegen und mit einem Knochensplitter das Moos herausgekratzt. Bilder schwebten ihm vor von Orten, wo er allein gegangen und sich mit sich selber beschäftigt hatte – und Erinnerungen kamen mit einem Nachgeschmack voll unsagbarer Süße. Hinter den Ställen auf dem Hof war eine hohe Felswand aus glänzendem dunklen Stein gewesen, an der das Wasser herunterrieselte, und auf dem feuchten Streifen Land zwischen dem Felsen und den Scheunenwänden war es stets dunkel und schattig, und hier wuchs hohes grünes Gestrüpp. – Es gab auch einen Ebbestrand, wo er durch Tang und über raschelnde Steine gehen konnte, Schneckenhäuser fand und schleimig grüne rundgeschliffene Stücke faulen Holzes. Draußen lag das Wasser und glitzerte weit hinaus, und der alte Knecht, Koll, öffnete die Muscheln und gab sie ihm – Olav lief das Wasser im Mund zusammen, wenn er sich an den feinen Geschmack nach Seewasser und die fette rotgelbliche Masse erinnerte, die er aus den geöffneten blauweißen Muscheln eingeschlürft hatte.
Wenn solche Erinnerungen in ihm aufschossen, wurde er schweigsam und beantwortete Ingunns Anreden gedankenlos. Aber er verfiel nie darauf, von ihr wegzugehen. Nie dachte er daran, sie stehen zu lassen, wenn sie kam und bei ihm sein wollte, so wenig wie er dachte, daß er von sich selbst weggehen könnte. Es hatte sich für Olav Audunssohn so gefügt, es war sein Schicksal, stets mit Ingunn zusammen zu sein. Es war das einzig Gewisse in seinem Leben, daß er und Ingunn unlöslich aneinander gebunden waren. Er dachte selten an jenen Abend, da er und sie miteinander verlobt worden waren – und es waren viele Jahre verstrichen, seitdem jemand dieses Versprechens zwischen den beiden Kindern Erwähnung getan hatte. Aber unter allem, was er fühlte und dachte, war es wie der feste Grund, den er unter den Füßen hatte – er sollte stets mit Ingunn zusammen leben. Der Knabe hatte keine Verwandten, an die er sich halten konnte; er wußte wohl, daß Hestviken jetzt sein Eigentum war, aber mit jedem weiteren Jahr wurden ihm die Bilder vom Hof immer undeutlicher und undeutlicher – sie waren fast nur noch wie Bruchstücke eines Traumes, dessen er sich entsann. Wenn er daran dachte, daß er später einmal dahin reisen sollte, um dort zu wohnen, war das allein Sichere und Wirkliche dabei, daß er Ingunn mit dorthin nehmen würde – sie würden zu zweit sein, um der ungewissen Zukunft zu begegnen.
Er dachte nicht darüber nach, ob sie schön sei oder nicht. Tora war schön, das sah er, vielleicht weil er es so oft gehört hatte. Ingunn war nur Ingunn, nahe und alltäglich und stets an seiner Seite; er dachte nie darüber nach, wie sie war, nicht anders jedenfalls, als wie man über das Wetter nachdenkt; das mußte man nehmen, wie es kam. Er wurde böse und schalt sie, wenn sie widerspenstig war oder Mühe bereitete – er hatte sie auch sogar geschlagen, als sie noch kleiner waren. Zeigte sie sich freundlich und umgänglich gegen ihn und gegen die anderen Knaben im Spiel, so war er glücklich wie bei schönem Wetter. Und meist waren sie gute Freunde, wie Geschwister, die sich gut vertragen – manchmal waren sie auch böse aufeinander und stritten, aber keines von ihnen dachte daran, daß das andere anders sein könnte, als es nun einmal war.
Und in der Kinderschar auf Frettastein, die keiner hütete, schlossen sich diese beiden, die Ältesten, aneinander an, denn sie wußten, das eine sei jedenfalls sicher, daß sie beieinander bleiben sollten. Dies war das einzige Gewisse, und es war gut, etwas Gewisses zu haben. Der Knabe, der allein im Heim einer fremden Sippe aufwuchs, schlug, ohne es zu wissen, Wurzeln in ihr, die ihm bestimmt war, und seine Liebe zu dem einzigen, das er von all seinem Besitz und Schicksal wirklich kannte, wuchs, wie er selber wuchs – ohne daß er viel von dessen Wachstum merkte. Er hatte sie wie aus Gewohnheit gern, noch ehe seine Liebe Glanz und Farbe erhielt und er selber gewahr werden konnte, daß sie ihn ganz erfüllt hatte.
So ging es bis zu dem Sommer, da Olav Audunssohn im Frühling sein sechzehntes Jahr vollendet hatte. Ingunn war nun fünfzehn Winter alt.
Olav hatte von seinem Vater eine große Axt geerbt – eine Streitaxt mit Stahl in der Schneide und eingelegten Goldzeichen auf den Axtwangen, der Schaft war mit Bändern aus vergoldetem Kupfer beschlagen. Sie hatte einen Namen und hieß Aettarfylgja[1].
Es war eine hervorragende Waffe, und der Knabe, dem sie gehörte, glaubte begreiflicherweise, daß es in Norwegen wohl keine zweite solche Kostbarkeit gäbe. Darüber aber hatte er mit niemand außer mit Ingunn gesprochen, und sie glaubte dies ebenfalls und war ebenso stolz auf die Axt wie er. Olav hatte sie meist über seiner Schlafstätte in der Halle an der Wand hängen. Morgens fiel sein erster Blick auf sie.
Aber eines Tages nun, in diesem Frühjahr, entdeckte Olav, daß die Schneide eine Scharte bekommen hatte, und als er die Axt herunternahm, sah er, daß die Stahlschneide sich von dem Eisenblatt abgelöst hatte und nur noch locker in der Rille lag. Olav begriff, daß es ein vergebliches Beginnen wäre, wenn er nachforschen wollte, wer seine Axt benutzt und beschädigt hatte. Darum sprach er mit niemand darüber, nur mit Ingunn. Sie berieten sich, was zu tun sei, und einigten sich darauf, daß Olav, wenn Steinfinn wieder einmal von daheim wegzöge, nach Hamar reiten sollte; dort wohnte ein berühmter Waffenschmied; konnte er den Schaden nicht beheben, so konnte es keiner. Und eines Morgens in der Woche vor der Jonsmesse kam Ingunn zu Olav und sagte ihm, daß der Vater an diesem Tag nach Norden zu Kolbein zu reiten gedenke; nun könnte es wohl passen, daß sie morgen in die Stadt zögen.
Olav hatte nicht gedacht, daß sie mitkommen sollte. Es war viele Jahre her, seit eines der Kinder in der Stadt gewesen war, und Olav wußte nicht genau, wie lang der Weg dorthin sein würde, aber er hatte geglaubt, bis zum Abend wieder daheim sein zu können, wenn er schon frühzeitig am Morgen aufbrach. Ingunn jedoch besaß kein eigenes Pferd, und es war zur Zeit keines auf dem Hof, das er für sie hätte nehmen können. Sollten sie aber einander ablösen und wechselweise auf seinem ›Elch‹ reiten, so konnten sie erst spät in der Nacht wieder daheim sein – und außerdem würde dann doch nur sie reiten, während er die ganze Zeit gehen müßte, das wußte er zu genau, von all den früheren Malen her, da sie miteinander die Messe in der Hauptkirche unten in der Großgemeinde besucht hatten. Und Steinfinn und Ingebjörg würden wohl auch sehr erzürnt sein, erführen sie, daß er Ingunn mit nach Hamar genommen hatte. Doch antwortete er dem Mädchen nur, sie müßten eben zum Strand hinuntergehen und zur Stadt rudern – und sie müßten schon ganz frühzeitig aufbrechen.
Es war eine gute Weile vor Sonnenaufgang, als er sich am nächsten Morgen aus der Halle stahl, draußen aber war es schon taghell, still und kühl. Die Luft war kalt vom Tau – wohltuend wie ein Bad, nach dem herben Geruch der Männer und der Hunde drinnen. Der Knabe sog sie ein, während er auf der Türschwelle stand und nach dem Wetter Ausschau hielt.
Vogelkirschbäume standen grünweiß mit Blüten übersät zwischen den Äckern – es war Frühling, sogar hier oben. Tief unten lag der See und glänzte mattgrau mit dunklen Streifen: dies sagte Regenschauer für den Lauf des Tages voraus. Der Himmel war gleichsam ein wenig welk, und tief unter dem Gewölbe trieben ein paar dunkle Wolkenfetzen dahin – es hatte schon nachts ein paarmal geregnet. Als Olav den Fuß in das Gras des Hofplatzes setzte, wurden seine hohen gelben Stiefel aus ungefärbtem Leder dunkel vor Nässe – kleine rotbraune Spritzer zeigten sich an den Schäften. Da setzte er sich auf die Türschwelle und zog die Stiefel aus, knüpfte die Riemen zusammen und warf sich die Schuhe über die Achsel, um sie so mit dem zusammengelegten Umhang und der Axt zu tragen.
Barfuß ging er über den nassen Hofplatz zu dem Haus hinüber, in dem Ingunn diese Nacht mit zweien der Mägde schlafen gegangen war, um sich vom Hof fortstehlen zu können, ohne daß jemand es merkte. Olav hatte zu seiner Fahrt in die Stadt die besten Kleider angezogen – einen langen Kittel aus hellblauem englischen Tuch und lange Strümpfe aus dem gleichen Stoff. Aber er war ein wenig herausgewachsen aus seinen Kleidern – der Kittel war eng über der Brust und kurz an den Handgelenken und reichte ihm kaum bis an die Mitte der Waden. Auch die Strümpfe saßen sehr straff, und die Füße daran hatte Ingebjörg bereits im Herbst abgeschnitten; jetzt hörten sie über den Knöcheln auf. Aber der Kittel war am Halsausschnitt mit einer schönen Spange aus Gold zusammengehalten, und um die Mitte trug Olav einen Gürtel, mit silbernen Rosen besetzt und mit dem Bildnis des heiligen Olav auf der Schnalle; der Dolch hatte sowohl auf dem Heft als auch auf der Scheide vergoldete Beschläge.
Olav stieg auf den Altan hinauf, schlug dreimal leicht an die Tür. Dann stand er da und wartete.
Ein Vogel wachte auf, trillerte und pfiff – wie Quellwasser sprang es zwischen dem leisen, schläfrigen Gezwitscher aus den Gehölzen ringsum auf. Olav sah den Vogel wie einen Punkt gegen die Luft – er saß auf dem Zweig einer Fichte gegen den goldenen Nordhimmel. Er konnte sehen, wie das kleine Tier sich zusammenduckte und wieder ausdehnte, so wie ein kleines Herz pocht. Die Wolkenfetzen hoch oben begannen sich zu röten, der ganze Hang jenseits wurde rot, spiegelte sich rot im Wasser. – Olav schlug wiederum an die Tür, viel härter – es dröhnte in der Morgenstille, so daß der Knabe den Atem anhielt und lauschte, ob es im Haus unruhig werde.
Bald darauf ging die Tür einen Spalt weit auf – das junge Mädchen erschien darin. Wirr und glanzlos hing ihr das Haar um den Kopf; es war hellbraun und stark gelockt. Sie hatte nur ein Hemd an: der obere Teil aus weißem Leinen war mit grünen und blauen Blumen bestickt, der untere Teil aber bestand aus grober grauer Leinwand, und das ganze Kleidungsstück war ihr zu groß und schlotterte um die schmalen und rosenroten Füße. Sie trug ihre Kleider über dem Arm und hatte einen Vorratsranzen in der Hand. Den reichte sie Olav hin, ließ ihr Kleiderbündel fallen, schüttelte ihr Haar aus dem Gesicht zurück, das noch rot war vom Schlaf – die eine Wange röter als die andere. Sie nahm einen Gürtel und band damit das Hemd hinauf.
Sie war hoch und zart mit schmächtigen Gliedern und einem langen schlanken Hals und kleinem Kopf. Das Gesicht war dreieckig, mit niedriger und breiter Stirn, die aber schimmerte schneeweiß und wölbte sich bei den Schläfen schön in den üppigen Schatten des Haares hinein; die dünnen Wangen wurden zu rasch schmal, so daß der untere Teil des Gesichts ein zu langes und spitzes Kinn bekam; die kleine, gerade Nase war niedrig und kurz. Und dennoch lag ein eigener unruhiger Reiz über diesem kleinen Gesicht; die Augen waren sehr groß und dunkelgrau, aber das Weiße darin war noch so bläulich wie bei einem kleinen Kind, und sie lagen im dunklen Schatten unter den geradezu schwarzen Strichen der Brauen und den vollen weißen Augenlidern; der Mund war schmal, die Lippen jedoch rot wie Beeren – und mit der leuchtend weißen und rosenroten Haut, die sie hatte, war Ingunn Steinfinnstochter schön in ihrer puren Jugend.
»Beeile dich«, sagte Olav, denn sie saß auf der Treppe und band ihre Leinenstrümpfe immer wieder stramm an den Beinen herauf; damit ließ sie sich reichlich Zeit. »Es ist besser, du trägst alles in der Hand, bis das Gras trocken ist.«
»Ich will aber bei dieser Kälte nicht barfuß über den nassen Hang gehen –« Das Mädchen zitterte ein wenig.
»Wärmer wirst du rasch, wenn du endlich einmal dein Kleid angezogen hast – du darfst dir nicht so viel Zeit lassen – der Morgen ist schon rot, das siehst du doch.«
Ingunn antwortete nicht, löste die Bänder und fing noch einmal an, die Leinenstrümpfe zu umwickeln. Olav hängte ihre übrigen Kleider über das Geländer: »Einen Umhang mußt du mitnehmen – du siehst doch, daß wir heute unsicheres Wetter haben.«
»Mein Umhang ist unten bei der Mutter – ich vergaß ihn gestern abend mitzunehmen. Es sieht doch viel eher nach gutem Wetter aus – kommt aber doch ein Regenschauer, so finden wir wohl eine Stelle, wo wir unterschlüpfen können.«
»Wenn uns der Regen aber im Boot überrascht, dann – Du kannst ja auch nicht so ohne Umhang in die Stadt kommen. Aber dann willst du wohl meinen Umhang haben, wie gewöhnlich –.«
Ingunn sah über die Schulter zu ihm auf: »Warum bist du nun so unfreundlich, Olav?« – Sie machte sich wieder mit ihrem Schuhwerk zu schaffen.
Olav wollte gerade antworten. Doch während sie sich über ihre Schuhe beugte, glitt das Hemd von ihren Schultern herab, entblößte die Brust, die Achseln und die Oberarme. Und in einem Augenblick schlug es wie eine Welle von neuen Gefühlen über dem Knaben zusammen – scheu und verwirrt stand er da und konnte den Blick nicht von diesem Schimmer ihres nackten Körpers abwenden. Es war, als hätte er dies nie vorher gesehen, das Altbekannte kam in ein neues Licht – in seinem Gemüt löste sich eine Laue, und seine Gefühle für die Pflegeschwester gerieten in neue Bahnen. Heftigst empfand er eine Zärtlichkeit, die zugleich mitleidig und ein wenig hochmütig war; ihre Schultern sanken so schwach und schräg zu der zarten Rundung der Achsel herab; die schmächtigen weißen Oberarme sahen so weich aus, als lägen keine Muskeln unter der seidenglatten Haut – vor den Sinnen des Knaben gaukelte eine Erinnerung an Korn, das, ehe es richtig ausgereift ist, noch nichts weiter als Milch enthält. Es erfaßte ihn eine Lust, die Hand auszustrecken und sie zu streicheln und zu trösten – so sehr fühlte er plötzlich den Unterschied zwischen ihrer zarten Weichheit und seinem eigenen kräftigen, muskelfesten Körper. Wohl hatte er sie vorher schon gesehen, in der Badestube, und hatte sich selbst betrachtet, seinen harten und trockenen hochgewölbten Brustkorb, die Muskeln, die sich flach und fest über dem Leib verflochten, anschwollen und sich ballten, wenn er den Arm bog. Kindisch stolz hatte er sich darüber gefreut, ein Knabe zu sein.
Jetzt wurde dieses selbstfrohe Gefühl der eigenen Stärke und Wohlgeschaffenheit seltsam durchstrahlt von Zärtlichkeit, weil sie so schwach war – er würde sie wohl schützen! Gerne hätte er diesen schmalen Rücken umfaßt, ihre kleinen Mädchenbrüste in seiner Hand verborgen. Er entsann sich jenes Tages, in diesem Frühjahr, da er selbst mit der Brust gegen einen herausstehenden Balken fiel – es war drüben auf dem Neubau bei Gunleik –, er hatte sich Kleider und Haut dabei aufgerissen. Mit einem Schauder, gemischt aus Grauen und Süßigkeit, dachte er, daß Ingunn nie wieder mit ihnen auf das Dach der Gunleik-Stube klettern dürfte.
Er wurde rot, als sie zu ihm aufsah: »Was – schaust du so? Die Mutter merkt nicht, daß ich ihr dieses Hemd genommen habe; sie selber trägt es niemals.«
»Frierst du nicht?« fragte er, und Ingunn wunderte sich noch mehr, denn er sprach so leise und behutsam, wie er es nur manchmal tat, wenn sie ihr beim Spiel wirklich zu hart zugesetzt hatten.
»Ach, es werden mir davon nicht gleich die Nägel springen«, sagte sie lachend.
»Aber kannst du denn nicht bald in deine Kleider schlüpfen«, meinte er besorgt. »Du hast schon eine Gänsehaut auf deinen Armen.«
»Wenn ich bloß schon das Hemd zugesteckt hätte.« Die Kanten längs des Ausschnittes waren steif von Stickerei; sie mühte sich ab, konnte jedoch den Stoff nicht in den winzigen Ring ihrer Spange einziehen.
Olav legte wiederum die ganze Last weg, die er soeben auf den Arm genommen hatte: »Du kannst meine Spange nehmen – sie hat einen größeren Ring.« Er zog die goldene Spange aus seinem Hemd und reichte sie ihr. Ingunn sah ihn an, baß erstaunt. Sie hatte ihn schon früher ein paarmal so lange geplagt, bis er ihr diese Spange geliehen hatte, daß er sie ihr aber von selbst anbot, war neu, denn es war ein kostbarer Schmuck, aus purem Gold und ziemlich groß. Auf ihrem äußeren Rand standen die ersten Worte des Englischen Grußes geschrieben und der Spruch: Amor vincit omnia! Ihr Verwandter Arnvid Finnssohn sagte, dies bedeute in ihrer Sprache: Liebe besiegt alles, weil Frau Sancta Maria alle Bosheit des Feindes mit ihrer liebevollen Fürbitte besiege.
Ingunn war nun in ihr rotes Feiertagsgewand geschlüpft und schlang sich den seidenen Gürtel um die Mitte – kämmte mit den Fingern durch ihr wirres Haar.
»Du mußt mir wohl auch deinen Kamm leihen, Olav!«
Obgleich er soeben alle seine Sachen wieder aufgelesen hatte, legte er sie abermals hin, holte einen Kamm aus seinem Beutel heraus und reichte ihn ihr ohne Ungeduld.
Als sie den Weg zwischen den Zäunen in der Großgemeinde unten dahintrabten, fiel die seltsame Gehobenheit nach und nach von Olav ab. Es war inzwischen klares Wetter geworden, und die Sonne brannte heiß herab – und auf die Dauer wurde es eine wahre Last: der Ranzen, die Axt, der Umhang, die Stiefel. Ingunn hatte sich wohl einmal erboten, etwas zu tragen – da aber waren sie noch durch den großen Wald gegangen, und es war kühl unter den Bäumen gewesen; es roch dort so herrlich frisch nach Nadeln und Bärenmoos und jungem Laub. Die Sonne streifte die Baumwipfel, und die Vögel sangen aus vollem Hals – da steckte auch noch die eben aufgeblühte Gemütserregung in dem Knaben. Sie bat ihn stehenzubleiben, denn sie mußte ihr Haar noch einmal flechten, da sie das Band vergessen hatte – ja, dies sah ihr wieder ähnlich. Aber als sie die Zöpfe löste, wogte die hellbraune Mähne so schön über ihre Schläfen; es entstanden nun gleichsam schattige Höhlen bei den Schläfen darunter, wo die kurzen kleinen Haare sich am Haaransatz kräuselten. Ihm wurde zärtlich zumute bei diesem Anblick. Als sie dann davon sprach, daß sie ihm tragen helfen wolle, schüttelte er nur den Kopf, und später sagte sie nichts mehr davon.
Hier unten am Fjord war voller Sommer. Die Kinder kletterten über einen Zaun und schlugen den Richtweg durch eine eingezäunte Weide ein – die Wiese dort war wie eine Laue von Blumen, bleichrote Wolken von Kümmel, goldgelbe Trollblumen. Rings um die Steine, wo die Erde mager war, blühten blaue Veilchen dicht wie ein Teppich, und drinnen im Schatten des Erlengebüsches leuchteten brennend rote Lichtnelken in dem üppigen Grün. Ingunn hielt alle Augenblicke inne, um die Blumen zu pflücken, und Olav wurde immer ungeduldiger, denn er trachtete sehnlich danach, zum Boot zu kommen und seine Last ablegen zu können. Hungrig war er auch – noch hatte keines von ihnen einen Bissen genossen. Als sie aber meinte, sie könnten sich doch hier in dem Schatten beim Bach hinsetzen und essen, antwortete er kurz, es sollte so gehalten werden, wie er gesagt hätte. Wenn es ihnen geglückt sei, ein Boot zu bekommen, könnten sie ihre Mahlzeit einnehmen, ehe sie fortruderten, aber nicht früher.
»Alles muß nach deinem Kopf gehen«, jammerte Ingunn.
»Ja, ließe ich dich tun, wie du möchtest, kämen wir wohl erst morgen früh in die Stadt. Wenn du aber auf mich hören willst, so können wir vielleicht morgen um diese Zeit schon wieder auf Frettastein daheim sein.«
Da lachte sie, warf ihre Blumen weg und lief ihm nach.
Den ganzen Weg über hatten die Kinder von Zeit zu Zeit den Bach, der nördlich von Frettastein lief, an ihrer Seite gehabt. Draußen in der Gemeinde wurde er zu einem kleinen Fluß – auf der Ebene, ehe er in den Fjord einmündete, weitete er sich aus und floß breit und seicht dahin, über ein Bett aus großen, rundgeschliffenen Steinen. Der See bildete hier eine große halbrunde Bucht; der ganze Uferstreifen in dieser Bucht war mit scharfen grauen Steinen vom Felsabhang übersät. Nur längs dem Flusse wuchsen große alte Erlen, bis an den See hin.