Organic Television - Timothy Speed - E-Book

Organic Television E-Book

Timothy Speed

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Beschreibung

In einem offenen Brief an eine der einflussreichsten Medienpersönlichkeiten des Planeten, entwickelt der Künstler Timothy Speed ein völlig neuartiges Fernsehen. Speed wagt es nicht nur, den Journalismus wieder an dessen Wurzeln zu führen, sondern will die Medien im Sinne des Menschen umbauen. Er macht einen veränderten Umgang mit der medialen Information zur Grundvoraussetzung, für die Lösung der Konflikte und Problemfragen unserer Zeit. Dieser literarische Essay wirft wichtige Fragen auf, in einer Welt, in der sich immer weniger Menschen durch die Medien vertreten fühlen. Eine große Inspiration, für JournalistInnen und MedienmacherInnen, die mehr wollen.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Juristische Klarstellung

Das Wesen der Information und die Hoheit der Deutung.

Spaltung und Integration. Die Zwänge der Übertragbarkeit.

Die Schaffung eines neuen Fernsehens

Ein neues Verständnis von Informationsverarbeitung

Radikale Anti-News. Ein verändertes Haltungsexperiment

Die neuen Eigenschaften der Information

Die gesamtgesellschaftliche TV-Serie

Die Bildung neuer Informationscluster

Und wieder ein anderes Fernsehen versuchen

Vorwort

Der 1973 geborene, britisch-österreichische Künstler und Schriftsteller Timothy Speed beschäftigt sich in seinen Essays, Performances, sozialen Projekten und literarischen Arbeiten mit der Rolle von selbstbestimmten, unangepassten und kreativen Menschen in wirtschaftlichen und staatlichen Strukturen. In seiner Kapitalismuskritik werden die Grundlagen einer kreativeren und humaneren Gesellschaft erforscht. Er setzt sich mit Veränderungs- und Entwicklungsprozessen auseinander, löst diese mit ungewöhnlichen Ansätzen selbst aus oder begleitet sie. Gerade in Zeiten, in denen Individualismus von Angst verdrängt wird und ein übertriebenes Sicherheitsbedürfnis die kreativen Potenziale und notwendigen, krisenhaften Bewusstwerdungsprozesse verhindert, bekommt seine Arbeit hohe Relevanz und Bedeutung.

Viele Jahre hat er die inneren Mechanismen von kreativen und freien Gesellschaftsordnungen untersucht und entwickelte 2003 in dem Buch »Gesellschaft ohne Vertrauen« eine eigene Theorie dazu, wie die Teilhabe vielfältiger, kritischer, unangepasster Menschen in einem System gefördert werden kann und weshalb dies für die Realitätskompetenz und Entwicklungsfähigkeit einer Gesellschaft entscheidend ist. Er zählt zu den Pionieren im Bereich der »systemkreativen« Gesellschaftsgestaltung und eines authentischen »Diversity-Managements«. In seinen Ansätzen wird die Gesellschaft nicht mehr aus von Eliten gesteuerten, halb bewussten, politischen Ritualen gestaltet, sondern in individuellen Prozessen ergründet und umfangreich diskutiert. Die Bedeutung kreativer und systemischer Intelligenz wird erlebbar.

Dafür braucht es laut Speed IndividualistInnen und Menschen, die sich subjektiven und inneren Impulsen hingeben, welche die Strukturen auf der Werte-, Wissens- oder Identitätsebene, durch neue Perspektiven oder Irritation ausreichend destabilisieren, um Entwicklung und echte, demokratische Prozesse zu fördern. Darum spricht er von einem Recht auf Krise und fordert ein positives Verständnis von abweichendem Verhalten, um komplexere Ordnungen entstehen zu lassen. Wirtschaftswachstum tauscht er gegen Gestaltungskraft, weil die Frage, was Menschen individuell im Leben gestalten können, mehr über den realen Wohlstand in einer Gesellschaft aussagt und negative Erfahrungen nicht entwertet, sondern integriert.

Bereits im Jahr 2000 analysierte er in »Verdammt Sexy« die Probleme für Wirtschaft und Gesellschaft, die aus zu viel Konformismus und Zwang zum Harmlosen und Glücklich-Machenden resultieren. Mit dem amerikanischen Medienforscher Neil Postman diskutierte er die Frage, mit welchem Recht die Medienmacher die Realität gestalteten. Schon hier zeigte sich seine Suche nach der authentischen Gestaltung einer Gesellschaft und nach neuen Strukturen, welche diese begünstigten.

Später entwickelte er mit dem Managerberater Markus Maderner eine der ersten Managementmethoden, welche bewusst die Komplexität nicht reduziert, um das Management scheinbar zu erleichtern, sondern die Vielfalt sucht und integriert, also lernt, damit zu arbeiten. Dadurch kann näher an der Realität, näher am Menschen gestaltet werden und automatisierte Strukturen, die zu gigantischen Nebeneffekten, wie Umweltzerstörungen, Ignoranz oder sozialen Problemen führen, werden von den in dem Buch »Inner Flow Management« entwickelten Haltungen, wie einer bewussteren Form der Unternehmensführung, abgelöst.

Speed zeigt auch auf, wie erst durch das Amateurhafte, Persönliche, Angreifbare und Subjektive echte Innovations- und Entwicklungsfähigkeit möglich wird, da die überprofessionalisierte Wirtschaft sich in ihrem Zwang zur Simplifizierung und zum normierten Verhalten selbst von der Quelle neuer und unmittelbar realistischer Einsichten abschneidet. Für Bewegung notwendige Entwicklungsenergie geht in zu viel Ordnung verloren.

Aus diesen Überlegungen heraus versuchte Speed 2010 selbstbeauftragt, als Künstler das Unternehmen Red Bull umzugestalten. Er drohte vor der Zentrale in Fuschl einen Stier zu töten, um einen subjektiven Prozess auszulösen, in dem die Beziehung zwischen Unternehmen und Mensch neu verhandelt werden sollte. Er wollte sehen was passiert, wenn ein Individuum sich mit allen Aspekten der eigenen Persönlichkeit in die Wirtschaft einbringt, diese komplizierter, komplexer, vielfältiger macht und sich zugleich im Dienst der Innovations- und Realitätskompetenz weigert, ein geschmeidiges, ein einordenbares Produkt zu werden. Weil er in der subjektiven Differenz, im Nicht- oder Missverstehen, im unangepassten Verhalten, die Chance der Erweiterung der Existenz und der Lebenswirklichkeiten sieht.

Zitat Speed: »Für eine Woche waren die Leute bei Red Bull gespalten. Sie wussten nicht, ob sie als Mensch oder als Funktion auf mein Handeln reagieren sollten. Ich hatte das Gefühl, dass der Mensch in ihnen mit mir den Stier töten wollte, während der Anwalt, der Milliardär, der Manager, der aus ihnen sprach, dies um jeden Preis verhindern musste. In dieser Woche gehörte das Unternehmen allein dem an der Welt zweifelnden Menschen. Der Gewissheit, dass jeder von uns einen Konzern bezwingen, gestalten und verändern kann.«

In einer Welt, in der sich Firmen durch einseitige Kommunikation in der Werbung und hierarchischen Machtstrukturen dem Bewusstwerden jener Verstrickungen verweigern, jener verborgenen Zusammenhänge, jener Auswirkungen, an denen immer mehr Menschen leiden, kann Arbeit, Staat und Gesellschaft vom Persönlichen nicht mehr getrennt werden, ist alles mit allem in Beziehung. Hier lebt Speed eine Form radikaler Beziehungsfähigkeit mit der Gesellschaft und den Unternehmen und stellt sich sensiblen Wahrnehmungen und persönlichem Schmerz. Dabei entstehen neue Lebensräume aus subjektiver Kommunikation in Welten kommerzieller Gleichschaltung. Für ihn ist dies die Grundlage innovativer Wertschöpfung, Authentizität und Menschlichkeit. Somit wird durch die eigene Sperrigkeit mehr Entwicklungspotenzial in der Wirtschaft vorgelebt und dient so als Grundlage neuer Märkte. Speed forderte den Konzern heraus, sich durch den Menschen hindurch komplexeren und freieren Ordnungen, Weltbildern, Möglichkeiten zu stellen.

Um seine Arbeit an Red Bull zu vertiefen, auf der Suche nach einer neuen Haltung zur Wirtschaft, kündigte er seine Wohnung in Berlin, zog für drei Jahre in ein Zelt und schrieb den Roman »Stieren des Weltdesigners«, in dem eine Gruppe von Individualisten in einem Bus zu Red Bull fährt, um selbst zur Krise zu werden. Damit sie wieder selbstbestimmt ihr Leben gestalten können, sich durch sie hindurch eine komplexere, vielfältigere Ordnung ausdrücken kann, in der auch Probleme sichtbar und Beziehungen gestaltbar werden.

Sie eben nicht in Kommerzwelten ihre Integrität verlieren und von einer vermeintlichen Krise vor sich selber hergetrieben werden.

Timothy Speed entspricht in seiner Arbeit nicht traditionellen Vorstellungen von Literatur. Er bricht mit den klassischen Formaten und Zuschreibungen, lebt Themen subjektiv aus, macht sich angreifbar, um den Blick für das Neue und Unmittelbare zu schärfen.

Da Speed mit seiner eigenen Existenz versuchte, eine neue ArbeiterIn vorzuleben, die sich der Simplifizierung und Effizienzsteigerung verweigert, um die Zerstörung der Vielfalt zu stoppen, war es nur logisch, dass er dabei in einer auf Effizienz ausgerichteten Welt pleite ging und somit auch für den Staat zu Sand im Getriebe wurde. Vom Arbeitsamt schikaniert und völlig verarmt, schrieb er 2014 den Essay »Stärke in der Armut«, in dem er die zweifelhaften Hartz IV Gesetze im Namen der Kunstfreiheit aushebelte und seinen fehlenden Gehorsam zu einem Wirtschaftsförderungsprogramm erklärte. Damit brachte er die amtierende Ministerin Andrea Nahles in Bedrängnis und gab den Armen eine Wirtschaftskompetenz zurück, die ihnen strukturell in der Armut genommen wird.

Der Vizepräsident des Europaparlaments und somit der ranghöchste Österreicher in Brüssel, Othmar Karas ließ über sein Büro ausrichten: »Herr Mag. Karas schätzt Ihren Text sehr, da Sie versuchen ein Verständnis bzw. ein Bewusstsein für Ihre Situation und die von vielen anderen, zu schaffen. Besonders den Aspekt – die volkswirtschaftliche Verantwortung und Wertschöpfung aus einem ganz anderen Gesichtspunkt heraus zu beobachten, ist ihm ins Auge gefallen…«

Die österreichische Armutskonferenz hingegen lehnte sein Buch ab und verweigerte dem Künstler den konstruktiven Dialog. Zu radikal anders wäre sein Verständnis von Armut. Die selbstbewusste Haltung eines Armen stellte sowohl die traditionelle Postion der Sozialorganisationen, wie auch die Armutsstrategien der Politik in Frage.

Der Theologe Eugen Drewermann schrieb kurz darauf in einem Brief an Speed: »Ja, warum stehen die Arbeiter nicht auf? Den Grund beschreiben Sie sehr zutreffend selbst. Weil sie froh sind, eine Arbeit zu haben, und sich zu deren Erhalt in jeder Form anpassungswillig bearbeiten lassen. Das tun Sie nicht, aber ich sehe die Gefahr, dass Sie dabei sind, sich in Aktionen zu ruinieren, deren Motive mehr als verständlich sind, doch deren Ergebnisse vorhersehbar gering sein werden....Es liest sich so gut, was Sie schreiben, und es sollte nicht verpuffen...«

Durch die Arbeit von Timothy Speed wird ein veränderter Verantwortungsbegriff definiert. Das Individuum steht nicht mehr nur in Verantwortung gegenüber den unmittelbaren Pflichten des Alltags, sondern muss auch die Welt, das Innen und das Außen, das Persönliche und das Allgemeingültige integrieren und in ein dynamisches Gleichgewicht bringen. Verantwortung wird somit erst über die Aufforderung zur unmittelbaren Beziehungsarbeit konkret, was Formen von »Scheinverantwortung«, wie der Gehorsam gegenüber unreflektierten Regeln oder Autoritäten aushebelt. Speed lebt vor, wie radikal das in der Praxis ist. Sowohl Institutionen, Unternehmen, aber auch der Staat wird bei der authentischen Verantwortung gepackt. Das Individuum kann die Struktur im Sinne von Menschlichkeit und Innovationsfähigkeit aufbrechen. In dem Versuch Verantwortung zu übernehmen, geriet Speed darum ständig in Konflikt mit Institutionen und Systemen.

Im September 2014 wurde der Roman »Stieren des Weltdesigners« vom Markt genommen. Der Verlag fürchtete die Klage des Konzerns Red Bull. Der Autor sollte sich dem Diktat der Wirtschaft fügen.

Während dieser Tage der Zensur schrieb Speed den literarischen Essay »Intima«, indem er sich mit den unbewussten Kräften des Marktes befasst. Er versucht über seine Theorie der Sphären eine Sprache zu entwickeln, die ausdrückt, weshalb Menschen in Zeiten großer Veränderungsnotwendigkeit, angesichts der ökologischen, kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen Krisen, in Schwäche und Passivität erstarren und dabei jede Irritation, alles Neue und Fremde meiden, somit durch ihre Anpassung an den Markt Entwicklung blockieren. Damit zeigte er einen zentralen Betriebsfehler des Kapitalismus auf, der die Lähmung der kreativen Kräfte einer Kultur bewirkt, sowie Realitätskompetenz reduziert, der Kapitalismus darum am Ende immer zur schwachen Planwirtschaft der großen Strukturen führt und freie Eigeninitiative abbaut. Er entschlüsselt die durch Kapitalismus und Rationalismus entstehende Trägheit der Massen. Wie die im Markt verordnete, systematische Verhinderung des Authentischen, des freien Ausgleichs und der unmittelbaren, funktionslosen Begegnung zwischen Menschen. Was auch moralische und soziale Erosion bedeutet. Die Abspaltung vom unmittelbaren Geschehen, um produkthaft zu bleiben, weil sich scheinbar nur davon der eigene Wert ableiten lässt.

Er antwortet darauf mit einer neuen Physik des Individualismus, einem vom Bürgertum ausgehenden, neuen Gesellschaftsdesign, als Disziplin für jeden Menschen.

Wenig später forderte er in einem offenen Brief Liz Mohn, die Eigentümerin eines TV-Senders zum Totalumbau der Medien auf. In dieser einfachen Geste lebt er vor, wie der Mensch sich von den Zwängen des Kapitalismus löst. Nicht ohne Schmerz und ohne Scheitern. Durch das eigene Innere hindurch. Zerfallend, loslassend, bis teils unbewusst, teils bewusst, eine neue, freiere und komplexere Beziehung entsteht, als Grundlage eines neuartigen und radikal humanen Marktes.

Die NGO »Dropping Knowledge« lud Speed bereits 2006, gemeinsam mit bedeutenden Intellektuellen wie Wim Wenders, Hans-Peter Dürr, Jonathan Meese, Masuma Bibi Russel oderBianca Jagger, an den größten runden Tisch der Welt ein, um die 100 bedeutendsten Fragen der Menschheit zu beantworten.

Eine Zeit arbeitete er für die Organisation des amerikanischen Präsidentenberaters Don Edward Beck.

Als Speaker spricht er vor Top-Managern, hält Workshops, begleitet Prozesse, provoziert und regt zum Nachdenken an.

Juristische Klarstellung

Der folgende Brief ist Teil einer künstlerischen Performance und stellt somit eine bewusste Zuspitzung dar. Der Brief wurde 2015 im Rahmen der künstlerischen Aktion an Liz Mohn übergeben, die vermutlich mächtigste Medienfrauen des Planeten, um eine Reaktion auszulösen. In der Hoffnung, sie würde daraufhin das Fernsehen im Sinne des Menschen verändern. Dies ist leider bisher nicht geschehen.

Bei diesem Buch handelt sich nicht um ein Sachbuch, oder gar um einen Tatsachenbericht und keine der darin geäußerten Behauptungen beruhen auf belegbaren Fakten. Es sind bewusste Provokationen und subjektivierte Gedankenprozesse, die als Diskussionsgrundlage dienen. Die darin erzeugte Unschärfe zwischen dem, was ist und dem was sein könnte, ist notwendig, um das kreative Denken anzuregen und wichtige Perspektiven zu integrieren, die in der Behandlung des Themas bisher fehlten. Mit den vorliegenden Übertreibungen ist nicht beabsichtigt, die Adressatin zu beleidigen oder ihr gar üble Nachrede zuzumuten. Es ist viel mehr ein kreatives Spiel, um ihr eine menschliche Regung zu entlocken. Hier wird der Rahmen der Kunstfreiheit ausgeschöpft, um im Dialog mit einer Persönlichkeit des öffentlichen Lebens wichtige Fragen von allgemeinem Interesse zu beleuchten, die anders nicht in dieser Prägnanz darstellbar wären. Sollte die Adressatin dennoch aufgrund dieser Aktion einen emotionalen Schmerz verspüren, müssen wir über diesen reden, uns darüber austauschen, den Dialog suchen, den wir Kultur nennen. Die Konzerne stehen hier in der Verantwortung. Die Zeiten, in denen in den Unternehmen nicht über die verborgenen Auswirkungen des eigenen Handelns frei und offen gesprochen werden durfte, sind vorbei.

Eine Frage, die ich im Jahr 2000, während eines Interviews, an den amerikanischen Medien- und Fernsehkritiker Neil Postman richtete.

Speed: »Herr Postman, stellen Sie sich einen wirren Traum vor. Wenn ein einzelner Mediengestalter oder Medienkünstler schließlich die Welt als gigantisches Medienprojekt wiedererschaffen würde. Und Sie wären die einzige Person, der es möglich wäre, diesen Gestalter zu treffen. Und Sie hätten nur eine Frage. Was würden Sie ihn oder sie fragen?«

Postman: »Mit welchem Recht und mit welcher Autorität beanspruchen Sie das Privileg, die Welt zu gestalten?«1

Einen Brief schreibe ich Ihnen, Frau Mohn! Weil ich der Ansicht bin, dass jede große Veränderung von Menschen abhängt und alle Theorie erst in der Verknüpfung mit der unmittelbaren Möglichkeit, mit denen die es betrifft, Lebendigkeit entfalten kann.

Das »organische Fernsehen« ist kein fertiges Konzept, sondern ein Prozess, der eine neue Denkrichtung, eine veränderte Haltung provoziert. Es dient dazu, Sie und Ihre KollegInnen unter Zugzwang zu setzen. Dies ist ein sehr persönlicher Brief. Ich bin darin nicht immer fair. Das aus gutem Grund. Denn wir haben uns zu sehr an die Zustände gewöhnt und ein klares Wort, eine klare Emotion hat Sie in dieser Sache vermutlich schon länger nicht, wenn überhaupt jemals erreicht. Wer schon knallt Ihnen die Mängel Ihres Fernsehens ins Gesicht? Wie auch, wenn professionelle Differenziertheit zur Distanz führt? Ein Thema aus der Distanz erscheint zwar in klaren Rubriken und Kategorien, während einem dabei jedoch unter Umständen jede Fähigkeit der unmittelbaren, spontanen und authentischen Handlung abhanden kommt und es weder einen kraftvollen Impuls gibt, der Veränderung los tritt, noch ein herausforderndes Feedback, welches diese als Notwendig offenbart.

Es geht um die Chance der selbstbestimmten Mitgestaltung, in der ganzen Breite des Menschseins, was im Ideal aus einem Zusammenspiel zwischen rationalen und irrationalen Anteilen entsteht. Wobei der Aspekt der Irritation das ist, was den Raum für Change öffnet, das Eigentliche erst ans Licht bringt. Nur das Individuum verspürt Schmerz. Die Grundvoraussetzung für Entwicklung und der wesentliche Unterschied zwischen reiner Analyse und dem tatsächlichen Übernehmen von Verantwortung. Es ist eine Sache das Fernsehen als mangelhaft zu erkennen, eine komplett andere, in einer Welt, die sich an dieses Fernsehen gewöhnt hat, die sich alle Argumente über Jahre zurecht gelegt hat, eine radikale Veränderung vorzunehmen. Das kann nur als Eruption, als Überfall passieren. Am Anfang ist mein Tun darum für Sie und manch andere vielleicht nur Verwirrung. Dann, allmählich, treten neue Strukturen aus dem Chaos hervor. Dahinter steckt eine wohl überlegte Strategie im Umgang mit einem sehr komplexen Thema. Ich habe mir das neue Fernsehen nicht einfach ausgedacht, sondern es entsteht in diesem Moment, da Sie diese Zeilen lesen und in den kommenden Tagen, wenn Sie darauf reagieren. Andere werden diese Impuls aufgreifen. Vielleicht erst Jahre später. Dies ist ein Anfang.

Obwohl das Fernsehen bereits seit mehr als 50 Jahren die Verblödung der Bevölkerung vorantreibt, hat Sie als Eigentümerin mehrerer TV-Sender erstaunlicher Weise noch niemand zur Rechenschaft gezogen, oder Ihnen ins Gesicht gesagt, dass Sie offenbar nicht in der Lage sind, ein Fernsehen zu gestalten, welches nicht die Kultur und Gesellschaft zu Grunde richtet. Eine unerhörte Behauptung. Und doch erfrischend, um Menschen aufzuwecken und für die nun folgenden, differenzierten Details des Themas zu öffnen.

Provokation ist Teil des professionellen Prozesses, an dessen Ende komplexere Ordnung sichtbar werden kann, die auch ich nicht kontrollieren will oder soll. Denn viele Probleme des Fernsehens sind heute bekannt, ändern aber nichts. Auch weil das Thema nicht allein rational gelöst werden kann, sondern ebenfalls die Bereitschaft ein Risiko einzugehen erfordert. Etwas, was für viele Fragestellungen unserer Zeit gilt.

Betrachte ich heute die Medienlandschaft, suche ich nach einer Ansprechperson und finde keine. Da ist kein Mensch, der für all das Verantwortung trägt. Bis auf mich selbst, vielleicht, im Sinne jener Verantwortung, die wir alle tragen. Eine bisher nur allzu schwache Kraft. Die Medien sind ein Phänomen und niemand scheint sie zu besitzen. Bis auf Sie, Frau Mohn.

Lange habe ich mich gefragt, wie es möglich ist, dass die Menschen diesen Irrsinn hinnehmen. Es liegt vielleicht daran, dass sie dessen Ursprung nicht erkennen. Das Fernsehen ist eben so. Was in jedem anderen Kontext sofort zu Empörung führen würde, diese unwürdige Bevormundung beispielsweise, findet im Fernsehen unter eigenen, scheinbar abgespaltenen Regeln statt. Es sind unausgesprochene, undemokratische Regeln. Die Regeln des Fortschritts. Und der Fortschritt ist immer unschuldig. Denn er passiert einfach. Das ist, wie Sie sicherlich wissen, eine große Lüge.

Erst wenn wir den Fortschritt als einen Akt der bewussten Gestaltung betrachten, haben wir, habe ich als Individuum, haben Menschen die Macht und die Fähigkeit das eigene Leben frei und in empathischem Zusammenspiel mit Anderen zu gestalten. Der Fortschritt als abstrakte Übermacht erschafft nur unmündige Bürger.

Die Technologie kann zu einem Ausdruck meiner selbst, des Menschen werden. In dieser veränderten Haltung liegt der Unterschied zwischen dem Entwickler des Spieles, der selbst die Grenzen der Entwicklung bestimmt und den Spielern, die darin gefangen sind. Solange der Fortschritt als Zufall, als scheinbar positiver Unfall der Industrie betrachtet wird, bleiben wir unbewusst agierende Spieler, unter den Anwendungsregeln neuer Technologien, die unsere Realität, unsere Lebensweise, unsere Identität, ja unser ganzes Sein bestimmen. Wenn aber der Fortschritt ein bewusster Akt ist, dann sind die Eigentümer der Infrastruktur dieses Fortschritts für die Regeln des Spiels und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft verantwortlich, ja vielleicht sogar schuldig. Sie müssen sich dann vor der Bevölkerung rechtfertigen, oder werden ihrer Rolle enthoben, die mehr ist als ein bloßes Mitgestalten, welches jedem zustehen würde. Und es stellt sich die Frage, ob nicht auch ein anderer Fortschritt möglich gewesen wäre, ja möglich ist. Stellen Sie sich nur vor, die Menschen würden den Firmen die neuen Technologien zurück geben und Änderungen im Sinne größerer Zusammenhänge verlangen! Würden nicht unreflektiert die Paradigmen der Technologie akzeptieren, wie Beschleunigung der Lebensprozesse, Vereinfachung, Verkürzung des Raumes, Vereinheitlichung der Kultur.

Schon bald könnten die Kinder in der Schule lernen, sich stets die Frage nach dem Ursprung des Spiels zu stellen, statt nach dem nächsten Schachzug. Ihnen würde klar, dass sie mit letzterem Schritt nie gewinnen, nie zu ihren tieferen Motiven finden können, sich nur in Kämpfen mit der Gegenseite verstricken. Wodurch sie, für den Fall, dass sie dabei nicht zu Verlierern werden, lediglich eine Belohnung erhalten, die nur dazu dient ihre Wertestruktur auf eine Weise auszurichten, die ihren Wissensdurst sättigt und ihren Entwicklungsdrang auf niederem Niveau hält.

Auch die Medien sind ein Spielbrett und Sie Frau Mohn sind Eigentümerin, was Ihnen eine gewisse Macht gibt. Sie zu hinterfragen ist also der nächste logische Schritt.