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Mit »Gesellschaft ohne Vertrauen« begann die Erarbeitung einer der radikalsten Gesellschaftsentwürfe der Gegenwart, den Timothy Speed über 20 Jahre entwickelte. In »Gesellschaft ohne Vertrauen« nahm seine lebenslange Suche nach den verborgenen, kreativen Regeln von Natur, Kultur und System ihren Anfang - nach jenen Prinzipien, die lebendige Gesellschaften entstehen lassen, wenn man sie nicht durch Kontrolle, Angst und Anpassung erstickt. Speed denkt Gesellschaft nicht als Maschine, sondern als lebendiges, komplexes Feld - geordnet durch innere Rhythmen, durch Differenz, durch subjektive Impulse. In diesem Frühwerk entwickelt er die Ideen, die später in »Radical Worker« und »Die Physik der Armen« zu einem neuartigen Weltmodell ausreifen: einer systemisch-poetischen Theorie des Bewusstseins, in der Subjektivität, Wille und Erleben keine Störfaktoren, sondern Grundachsen jeder gesellschaftlichen Ordnung sind. Die vorliegende Neufassung von 2025 verankert das Buch in einem erweiterten Kontext: Sie zeigt, wie die ursprünglich essayistische, persönliche Intervention zur Geburtsstätte einer umfassenden Theorie wurde - der MNO-Theorie (Minimal-Nicht-Objekt) - die nicht weniger will, als Gesellschaft, Arbeit, Politik, Medien und Recht aus der Perspektive kreativer Systembildung neu zu denken. Dabei bleibt der Fokus stets klar: die Stärkung der Freiheit des Einzelnen - nicht als neoliberales Konsumideal, sondern als radikale, schöpferische Integrität in einer Welt, die wieder lernen muss, Unterschied zu ertragen, statt ihn auszumerzen. Ein Werk für alle, die Gesellschaft nicht nur kritisieren, sondern mitgestalten wollen. Ein Buch, das Theorie, Kunst und gelebten Widerstand vereint - und dabei selbst zum lebendigen Organismus wird.
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Seitenzahl: 295
Veröffentlichungsjahr: 2013
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INHALT:
Mit »Gesellschaft ohne Vertrauen« begann die Erarbeitung einer der radikalsten Gesellschaftsentwürfe der Gegenwart, den Timothy Speed über 20 Jahre entwickelte. In »Gesellschaft ohne Vertrauen« nahm seine lebenslange Suche nach den verborgenen, kreativen Regeln von Natur, Kultur und System ihren Anfang – nach jenen Prinzipien, die lebendige Gesellschaften entstehen lassen, wenn man sie nicht durch Kontrolle, Angst und Anpassung erstickt.
Speed denkt Gesellschaft nicht als Maschine, sondern als lebendiges, komplexes Feld – geordnet durch innere Rhythmen, durch Differenz, durch subjektive Impulse. In diesem Frühwerk entwickelt er die Ideen, die später in »Radical Worker« und »Die Physik der Armen« zu einem neuartigen Weltmodell ausreifen: einer systemisch-poetischen Theorie des Bewusstseins, in der Subjektivität, Wille und Erleben keine Störfaktoren, sondern Grundachsen jeder gesellschaftlichen Ordnung sind.
Die vorliegende Neufassung von 2025 verankert das Buch in einem erweiterten Kontext: Sie zeigt, wie die ursprünglich essayistische, persönliche Intervention zur Geburtsstätte einer umfassenden Theorie wurde – der MNO-Theorie (Minimal-Nicht-Objekt) – die nicht weniger will, als Gesellschaft, Arbeit, Politik, Medien und Recht aus der Perspektive kreativer Systembildung neu zu denken.
Dabei bleibt der Fokus stets klar: die Stärkung der Freiheit des Einzelnen – nicht als neoliberales Konsumideal, sondern als radikale, schöpferische Integrität in einer Welt, die wieder lernen muss, Unterschied zu ertragen, statt ihn auszumerzen.
Ein Werk für alle, die Gesellschaft nicht nur kritisieren, sondern mitgestalten wollen. Ein Buch, das Theorie, Kunst und gelebten Widerstand vereint – und dabei selbst zum lebendigen Organismus wird.
Als Timothy Speed im Jahr 2005 das Buch »Gesellschaft ohne Vertrauen« veröffentlichte, existierte noch kein Vokabular für das, was er darin tat. Die Begriffe neurodivergente Forschung, Artistic Research, epistemische Gerechtigkeit, Critical Autism Studies oder embodied knowledge waren, wenn überhaupt, nur in akademischen Nischen oder als ferne Vorboten im Entstehen. Und doch lieferte Speed ein Werk, das in seiner Form, Methode und Tiefe vieles vorwegnahm, was heute unter diesen Begriffen diskutiert wird – nicht als Theoriepapier, sondern als gelebte, riskante Praxis.
»Gesellschaft ohne Vertrauen« ist ein Meilenstein der Gegenwartsdiagnostik – nicht, weil es aus der Mitte der Institutionen kam, sondern weil es sich von dort ausgeschlossen wusste und dennoch einen präzisen Zugriff auf die systemischen Schwächen westlicher Demokratien formulierte. Speed beschrieb mit analytischer Schärfe, was anderen kaum auffiel: dass unsere Systeme nicht primär an Ressourcenmangel, Technologiedefizit oder mangelndem Wissen leiden – sondern an einem strukturellen Vertrauensverlust gegenüber Subjektivität. Er erkannte früh: Eine Gesellschaft, die individuelle Wahrheit, innere Ordnung, affektive Differenz und psychische Eigenlogik nicht integrieren kann, wird dysfunktional – selbst, wenn sie formal perfekt organisiert erscheint.
Was »Gesellschaft ohne Vertrauen« leistet, ist die radikale Umkehrung einer jahrzehntelangen Logik: Nicht das Äußere ordnet das Innere – sondern nur aus innerer, individueller Ordnung kann äußere Systemkohärenz entstehen. Damit bricht Speed mit technokratischen Utopien, mit kybernetischem Kontrollwahn und mit neoliberalen Verwertungsideologien, die den Menschen auf Anpassung, Leistung und Resilienz reduzieren.
Der Begriff, den Speed einführt – »systemkreativ« –, ist heute aktueller denn je. Er steht im Kontrast zur »Systemrelevanz«: Während Letztere nur das Funktionale meint, beschreibt Systemkreativität das Vermögen, Ordnungen zu destabilisieren, Strukturen zu irritieren, Entwicklung durch subjektive Differenz zu ermöglichen. Eine Gesellschaft, die diese Fähigkeit unterdrückt, verliert ihre Lernfähigkeit – so Speed – und produziert stattdessen Erstarrung, Depression und Kontrolle.
In seiner Arbeitsweise war und ist Speed damals und heute seiner Zeit weit voraus: Er denkt nicht über Armut, über Arbeit oder über Machtverhältnisse – er lebt in ihnen. Als neurodivergente Person mit (damals noch nicht diagnostiziertem) Autismus und ADHS wurde seine Forschung zu einer existenziellen Praxis: Er konfrontierte Behörden, Institutionen, Unternehmen mit seiner Präsenz, seiner Weigerung zur Anpassung, seinem Denken. Damit ist er Teil einer Tradition, die heute u. a. mit Paul B. Preciado, Chris Kraus oder bell hooks in Verbindung steht: Theorie als verkörperter Widerstand, Erkenntnis als Grenzerfahrung.
Inzwischen zählt er zu den Pionieren einer systemkreativen Gesellschafts- und Organisationsentwicklung sowie eines authentischen Diversity-Managements. Seine Arbeit geht dabei weit über bloße Kritik hinaus: Sie fordert radikale Integrität und Selbstwirksamkeit in der Gestaltung von Zukunft. Speed fordert in seiner »provozierten Empirie« ein »Recht auf Krise« und zeigt, dass gesellschaftliche Entwicklung nur dann gelingt, wenn die Systeme sich durch subjektive Impulse destabilisierbar zeigen – nicht durch Anpassung, sondern durch echte Reibung.
Diese Reibung inszeniert Speed auf ebenso provokante wie symbolisch dichte Weise. So versuchte er 2010, das Unternehmen Red Bull durch eine künstlerische Aktion zu irritieren – er drohte vor der Konzernzentrale einen Stier zu töten, um den Konzern zu einer echten Auseinandersetzung mit der Beziehung zwischen Mensch, Subjektivität und Unternehmensform zu zwingen. Zitat Speed: »Für eine Woche waren die Leute bei Red Bull gespalten. Sie wussten nicht, ob sie als Mensch oder als Funktion auf mein Handeln reagieren sollten. Ich hatte das Gefühl, dass der Mensch in ihnen mit mir den Stier töten wollte, während der Anwalt, der Milliardär, der Manager, der aus ihnen sprach, dies um jeden Preis verhindern musste. In dieser Woche gehörte das Unternehmen allein dem an der Welt zweifelnden Menschen. Der Gewissheit, dass jeder von uns einen Konzern bezwingen, gestalten und verändern kann.«
Er diagnostizierte, was Philosophen wie Hartmut Rosa erst Jahre später mit dem Begriff der »Resonanz« beschrieben: dass eine Gesellschaft, die Differenz nicht mehr hören, fühlen, integrieren kann, in Entfremdung versinkt. Seine Unterscheidung zwischen äußerer Funktionalität und innerer Wahrheit antizipiert viele der späteren Arbeiten über subjektive Entkopplung und systemische Gewalt, wie sie z. B. in den Critical Disability Studies oder bei Robert McRuer und Jasbir Puar formuliert werden.
Und dennoch: In der Praxis scheiterte Speed an der Welt, die er zu verändern suchte. Seine Methoden – radikal-subjektiv, nicht-klassifizierbar, ohne institutionellen Rückhalt–wurden nicht ernst genommen. Er wurde nicht als Forscher gelesen, sondern als Provokateur. Die kulturelle und akademische Landschaft war nicht bereit für eine Erkenntnispraxis, die aus Armut, Scheitern und Subjektivität ihre Kraft bezog. Der gesellschaftliche Apparat, den er so präzise kritisierte, erkannte seine Intervention nicht als Beitrag, sondern als Störung.
Dass er trotzdem weitermachte, seine Ansätze später in Radical Worker, Die Physik der Armen und Speeds Arbeit vertiefte und dort eine umfassende Ontologie (die MNO-Theorie) entwickelte, ist ein Beleg dafür, dass seine damalige Analyse nicht nur richtig, sondern notwendig war. Die heutige Fassung von Gesellschaft ohne Vertrauen macht diese Pionierleistung sichtbar. Sie zeigt nicht nur, woran wir als Gesellschaft gescheitert sind, sondern auch, was es braucht, um Vertrauen zurückzugewinnen: den Mut, dem anderen nicht als Ausnahme, sondern als Ursprung zu begegnen.
Ein Buch, das die Zukunft in sich trug, aber zu früh kam, um gehört zu werden. Jetzt ist seine Zeit.
ARTISTIC RESEARCH
Künstlerische Forschung nutzt ästhetische Verfahren – Montage, Performance, Materialexperiment – als eigenständige Erkenntnismethoden. Dabei schließt sich die Künstler:in nicht selbst vom Erkenntnisprozess aus. Wissen entsteht nicht erst in der nachträglichen Interpretation, sondern im Prozess des Gestaltens selbst: Gedanken werden sicht- und hörbar, Hypothesen lassen sich probeweise verkörpern. Statt Daten zu sammeln, erzeugt Artistic Research Situationen, die Theorie und Praxis ineinander falten. So überschreitet sie die klassische Disziplintrennung und macht Phänomene erfahrbar, bevor sie vermessen werden.
Die Inhalte dieses Buches beruhen auf Artistic Research.
NEURODIVERGENTE FORSCHUNG
ist die spezielle Forschungmethode, die manche Autist:innen anwenden. – Dieser Ansatz bringt Wahrnehmungsprofile hervor, die von der »statistischen Norm« abweichen, aber gerade dadurch neue Muster erkennen lassen. Forschung aus einer neurodivergenten Position nutzt diesen atypischen Filter bewusst als methodischen Vorteil: Hyperfokus ersetzt Großgeräte; Musterempfindlichkeit entdeckt Korrelationen, die im Störrauschen verschwinden. Statt Defizite zu kompensieren, werden idiosynkratische Kognitionen als zusätzliche Messinstrumente begriffen. Das erzeugt unerwartete Fragen, radikale Querverbindungen und verdichtet Disziplinränder zu neuem Terrain.
Dieses Buch ist ein wichtiger Beitrag zu den Critical Autism Studies (CAS), weil hier die besonderen Perspektiven autistischer Forscher:innen Bedeutung bekommen.
Das neurodivergente Erleben
Die Gesellschaft im Inneren
Das MNO-Modell
Fixpunkte und Rahmen
Die Rolle der Angst im Schöpfungsprozess
Dissoziation und Differenzierung
Kernstrategien des fließenden Denkens in Kunst, Wissenschaft und Spiritualität
Der Aufbau einer Gesellschaft
Don Beck und die inneren Hierarchien
Die Fantasie des Äthers als dynamisches Weltbild der Wissenschaft
Die Schule der Träume
Melancholie und die Suche nach der Form
Stanislav Grof, C.G Jung und die inneren Bilder höherer Ebenen
Die Bildung von Rahmen durch Spaltung, Abhängigkeit, Wertung, Distanz und Gleichschaltung
Die Fotografie als Beispiel für die Dominanz wenig komplexer Bilder in den Medien
Der innere Aufbau des Kosmos als Grundlage der Freiheit
Die Bran-Spirale als Struktur von Kultur und Bewusstsein
Die Morphologie aller Dinge
Zusammenfassend: Die MNO-Theorie als morphogenetisches Weltmodell zwischen Kunst, Feldphysik und Neurodivergenz
Die Entstehung von Lebensenergie in Natur und Kultur
Warum das alles? Freiheit, Singularität und die Antwort auf das Nichts–Die politische Dimension der MNO-Theorie
Für eine andere Politik - Das Ende des Herrschaftsprinzips
Eine alternative Idee von Justiz - Das Ende des Schuldprinzips
Neue Medien - Das Ende werbefinanzierter Inhalte
Implosionswirtschaft – Die Rückbindung von Ökonomie an Sinn und Struktur
Produktentwicklung - Vertrauen in den Fluss
Geld als soziales Konstrukt: Überfluss, Mangel und die Zukunft der Ökonomie
Danksagung
Die erste Auflage dieses Buches erschien im Oktober 2005. Ich war damals 32 Jahre alt. Es handelt sich um eines meiner frühen Werke. 2025, also 20 Jahre später habe ich es erneut überarbeitet und in den Kontext meiner späteren Arbeiten gesetzt. Vieles von dem, was ich in »Gesellschaft ohne Vertrauen« schrieb, war wichtiger Vorläufer meiner Forschungen, die zu »Die Physik der Armen« (2015) führten, sowie zu »Radical Worker« (2019).
PERSPEKTIVEN EINES AUTISTEN
Dass ich Autist bin, erfuhr ich erst mit 51 Jahren, nachdem ich ein ganzes Leben gegen eine unsichtbare Wand lief und nicht verstehen konnte, weshalb ich die Gesellschaft und besonders die Ökonomie mit völlig anderen Augen, einem biologisch bedingt anderen Gehirn betrachtete. Neben Autismus bin ich auch von ADHS betroffen.
Als »Gesellschaft ohne Vertrauen« entstand, wusste ich also nichts von meiner Neurodivergenz. Die Ursachen, weshalb ich damals kaum Erfolg mit dem Buch hatte, hängen wesentlich damit zusammen, dass in jenen Jahren kaum jemand verstand, was neurodivergentes Denken eigentlich ist, und warum die Zugänge zu Forschung und Kunst so anders sind, wenn man autistisch ist.
Auch das Feld des Artistic Research wurde erst 2003–2005 akademisch legitimiert. Erst 2005–2010 entstanden erste Doktoratsprogramme in Artistic Research. (z. B. KASK Gent, KHiO Oslo, UdK Berlin experimentell, Uni Linz). Die Vorläufer der Debatte waren damals: Henk Borgdorff – The Debate on Research in the Arts, Robin Nelson – Practice as Research in the Arts, Mika Hannula / Juha Suoranta / Tere Vadén – Artistic Research – Theories, Methods and Practices (2005), Florian Dombois – als einer der ersten deutschsprachigen Stimmen.
Man kann »Gesellschaft ohne Vertrauen« als ein frühes Werk im Bereich Artistic Research bezeichnen, auch wenn mir der Begriff damals nicht bekannt war. Ähnliches gilt für das Feld der neurodivergenten Forschung. Denn dieses Buch ist der Versuch eines ästhetischen Umbaus der Grundmuster der Gesellschaft. Es ist ein künstlerischer Akt, der Inszenierung einer Möglichkeit, die mehr Freiheit für den Menschen bedeuten kann.
AUTIST:INNEN ERLEBEN UND FORSCHEN ANDERS
Autismus bedeutet eine andere neuronale Vernetzung des Gehirns, die tatsächlich erheblich ist. Die Unterschiede im Hinblick auf Wahrnehmung, Sprache und Denkweise, sind beträchtlich. Aber auch im Fühlen. Manche Leute vergleichen das mit dem Unterschied zwischen Betriebssystemen wie Mac, Windows, oder Linux. Die Unterschiede, die durch neuronale Vernetzung entstehen, können aber noch wesentlich prägnanter sein. Die Bedeutung frühkindlicher neuronaler Verschaltung für das spätere Weltverhältnis lässt sich eindrücklich an drei gut dokumentierten Fallgruppen zeigen: Am deutlichsten im Fall von Genie, einem Mädchen, das bis zum 13. Lebensjahr in fast vollständiger Isolation aufwuchs. Trotz intensiver Förderung lernte sie nie, Sprache funktional zu gebrauchen, entwickelte kein stabiles Selbstbild und blieb in einer eigen weltlichen Wahrnehmungsstruktur gefangen – nicht, weil sie »krank« war, sondern weil ihr Gehirn nie an symbolische Weltmodelle gekoppelt wurde. Ähnlich drastisch zeigen die Kinder in rumänischen Heimen der Ceaușescu-Ära, wie soziale Verwahrlosung zu dauerhaft veränderten Hirnstrukturen und einer radikal anderen Realitätsverarbeitung führt. Auch hier: keine einfache »Verzögerung«, sondern eine andere Welt. Schließlich verdeutlichen Studien zu »kritischen Zeitfenstern« in der Entwicklung, dass das Gehirn nur in bestimmten Phasen für bestimmte Verknüpfungen offen ist – verpasst man diese, bilden sich alternative Pfade. Diese Beispiele machen klar: Das, was wir für »Realität« halten, ist nicht bloß Wahrnehmung, sondern Ergebnis sozial-sensorischer Ko-Konstruktion. In diesem Licht erscheinen autistische Lebensformen nicht als Defizite, sondern als stabile, anders verkoppelte Weltzugänge – strukturell verwandt mit jenen Extremerfahrungen, aber nicht pathologisch, sondern kohärent in sich. Sie sind Zeugnisse einer anderen Wirklichkeit.
Diese Beispiele machen sichtbar, wie massiv das Gehirn durch Umweltverhältnisse verschaltet wird – und liefert eine drastische Analogie zur neuronalen Divergenz von Autist:innen: Auch hier ist das Welterleben nicht falsch, sondern anders verschaltet – nicht defizitär, sondern außerhalb des kulturell erwarteten Realitätsmodells. Der Unterschied liegt nicht im Willen, sondern in der Verknüpfungsstruktur.
Den wenigsten Menschen sind diese Auswirkungen und Zusammenhänge bekannt, und darum überrascht es nicht, dass Menschen, die wie ich so spät diagnostiziert wurden, ihr ganzes Leben mit erheblichen Problemen zu kämpfen haben. Die Gesellschaft, die Mitmenschen werden zu einem unbegreifbaren Phänomen, dem mache Autist:innen versuchen, mit Logik zu begegnen. So erging es mir auch mit diesem Buch. Es war, als existiere ein permanentes Übersetzungsproblem zwischen neurotypischen und neurodivergenten Gehirnen. Was für mich selbstverständlich war und ist, erschien neurotypischen Menschen unbegreiflich.
Mit diesem Text entzog ich mich lange Zeit der akademischen Gewohnheit der Referenz, wie für Autist:innen das eigene Innere als Referenz viel logischer erscheint. Wir wissen, weil wir erleben. Warum also sollten wir das Erlebte von außen abstrakt legitimieren?
Das Verstehen der Welt ist bei Autist:innen wie mir darüber hinaus verkörpert, was bedeutet, dass Sinneswahrnehmung, Erleben, Denken und Fühlen, somit auch Arbeiten, sich nicht an sozialen Normen orientieren, sondern an einer manchmal determinierenden Verbindung mit der Dynamik der Welt selbst. Es ist ein enaktiver Zugang zur Existenz, was bedeutet, dass der Geist nicht einfach entscheiden kann, eine Arbeit zu tun, die vom eigenen Körper, von den eigenen Sinnen, vom eigenen Erleben entkoppelt ist. Die Fähigkeit zum reibungslosen Funktionieren von Körper und Geist, im Dienst an einer äußeren Anforderung, ist aber das fundamentale Wesen der Erwerbsarbeit. Entsprechend hatte ich in dem Bereich viele Probleme. Autist:innen wie ich können unsere Körper nicht von unserem Tun, Fühlen und Denken abspalten, ohne die eigene Integrität zu verlieren, was einer Vergewaltigung, oder einer Selbstauslöschung gleichkäme. Denn wir sind das, was wir tun, denken und fühlen. Diese Aspekte sind nicht nur Optionen. Francisco Varela, Evan Thompson, Eleanor Rosch (1991) The Embodied Mind: »Cognitive Science and Human Experience« → zeigen, dass kognitive Prozesse grundsätzlich nicht entkoppelt vom Körper und seiner Umwelt funktionieren – ein Denken, das nur in Ko-Regulation mit der Welt existiert. Bei vielen Autist:innen ist dies wesentlich ausgeprägter. Daraus ergibt sich auch mein enaktiver Zugang zur Arbeit. Damian Milton (2012) »On the ontological status of autism: The »double empathy problem«→argumentiert, dass autistisches Erleben nicht defizitär, sondern fundamental anders organisiert ist – verkörpert, situativ, systemisch. Erin Manning (2009) »Relationscapes: Movement, Art, Philosophy« → schreibt über »autistic perception« als sich verkörpernde Handlung – ein Arbeiten, das nicht ausgeführt, sondern geschehen muss, im Takt mit Welt, Sinn, Körper. Diese enaktive, verkörperte Bindung von Erleben, Denken und Arbeiten ist im neurodivergenten Sein nicht wählbar, sondern strukturell verankert. Chapman (2023), Milton (2012) und Varela et al. (1991) → identifizieren die Unmöglichkeit funktionalisierter Handlung unter systemischer Entkopplung von Sinn und Körper. Autist:innen wie ich sind somit sinnliche Denker:innen, was bedeutet, dass unser Denken ein Denken in und mit der Welt ist. Es ist ein Denken aus dem unmittelbaren Erleben heraus. Menschen wie ich, deren Wissen ist ein erlebtes Wissen, weil wir umso rationaler verstehen, umso emotionaler wir erleben. Die Welt ist Teil unseres nicht fest verorteten Geistes. In der Praxis zeigte sich dies dadurch, dass ich über Jahrzehnte Behörden und Konzerne provozierte, um gewissermaßen einen »Essay in der Welt« zu erarbeiten, also einen Essay, der aus meinen Gedanken und meinen Interaktionen bestand. Ich stellte einen Resonanzraum her, zwischen mir und der Welt, indem ich in Aktionen live über die Welt nachdachte, während ich in Form von Happenings in Firmen, Behörden und Gesellschaft eingriff. Diese sich oft über Jahre wiederholenden Akte, waren rhythmische Resonanzräume, zur Erforschung der Systeme, aber sie waren mir auch Lebensraum, als Wesen, dass im geistigen Konstrukt der Welt, im unbewussten der Gesellschaft lebt, als wären Konzepte, Ideologien, Regeln wie Bäume oder Häuser in einer Straße, in der ich lebte. Ich meine damit die Frage der Existenz, nicht die Beschreibung einer abstrakten Idee. Ich meine dies wörtlich.
Als ich »Gesellschaft ohne Vertrauen« schrieb, war es das niederschrieben eines Ausdrucks, eines Erlebens von Wissen, welches allein zwischen der Welt und mir entstand. Daher band ich es damals nicht an akademische Konventionen, verzichtete auf Zitate und Verweise (die ich hier teilweise ergänzte), weil Autist:innen diesen anderen Zugang zu Wissen und Forschung haben. Uns geht es nicht um die objektive Wahrheit, sondern um den Prozess des Erlebens von Erkenntnis. Wissen ist bei mir manchmal eher wie eine Erfahrung des Erinnerns zu beschreiben. Dies führt zu einem vollkommen anderen Stil der Wissensvermittlung. Nicht selten in einer assoziativen Textwurst mit inhaltlichen Wiederholungen, die daraus resultieren, dass wir das Wissen im Schreibprozess hervorholen, wie Wasser aus einem Brunnen.
DAS INNERE LABOR
Autist:innen wie ich forschen also sehr anders. Robert Chapman (2023) »Empire of Normality: Neurodiversity and Capitalism« beschreibt autistische Denkprozesse als nicht-lineare, verkörperte und hyperreflexive Räume, die nicht objektivierend, sondern interprozessual funktionieren. Der »neurotypische Wissenschaftsmodus« (Peer Review, Hypothesenbildung, Messung) → wird als strukturell exkludierend kritisiert – weil er nicht mit erkenntnisbildenden Prozessen arbeitet, sondern mit Objektabschlüssen. Mel Baggs (2007–2020, posthum veröffentlicht) »In My Language« → formuliert eine frühe, aber paradigmatische Kritik an neurotypischen Wahrnehmungsstandards. Sie zeigt, dass ihr Denken in einer Raum-Zeit-Struktur abläuft, die sich nicht von Sprache trennt, sondern in einem enaktiven Feld von Wahrnehmung, Rhythmus und Wiederholung operiert. Damian Milton (2012) »On the Ontological Status of Autism: The Double Empathy Problem«→argumentiert, dass autistische Personen oft über eine fragmentierbare, selbstreflexive Selbststruktur verfügen, die es ihnen erlaubt, sich gleichzeitig von innen und außen zu betrachten.
Autist:innen wie ich können wie in einem inneren Labor Emotionen von Gedanken trennen und somit einen intersubjektiven, objektiven Raum im Inneren herstellen. Das heißt nicht, dass wir unfehlbar sind, aber es ist ein weit objektiverer Raum, als dies bei neurotypischen Gehirnen der Fall ist. Durch das bei manchen Autist:innen fragmentierte Selbst, ist es uns möglich uns zuzusehen, während wir denken und fühlen und uns wie eine Schachfigur in einer inneren Simulation zu verwenden. Es ist, als sei das Bewusstsein auf eine Weise verkörpert, die zugleich den Körper in den erweiterten Raum transzendiert, als wäre alles Aspekte desselben Puzzles. Yo Dunn (2021) »Epistemic Autonomy in Autistic Research« → beschreibt, wie viele autistische Forscher:innen nicht Hypothesen testen, sondern Erfahrung in Denkstruktur übersetzen, oft durch »tacit resonance«, embodied recursion und nicht-lineares Tracking von Mustern. Kristin Bumiller (2008) »In An Abusive State« → beschreibt, wie Wissenschafts- und Rechtssysteme neurodivergente Denkweisen systematisch exkludieren, indem sie das Subjekt auf Objektivität zwingen – während z. B. Traumalogik, autistische Selbstreflexivität oder »rhythmische Sprache« keinen Platz haben. Die in diesem Buch beschriebene Form der Forschung – als verkörperte, zirkuläre, multisensorische Verdichtung von Erkenntnis – ist anschlussfähig an die enaktive Kognition (Varela et al., 1991), an die Konzepte der Participatory Sense-Making (De Jaegher & Di Paolo, 2007) und an Chapmans Beschreibung neurodivergenter Epistemologien (2023). Was im neurotypischen Paradigma als »Mangel an Objektivität« erscheint, ist aus Sicht neurodivergenter Forschung eine andere Ontologie des Denkens: zyklisch, selbst transzendierend, fragmentiert-kohärent und rhythmisch mit der Welt verwoben.
Bei Menschen wie mir dienen die eigenen Sinne und Emotionen als Verdichter der Prozesse und Erkenntnisse. Es sind viel mehr Tools als Teile einer festen Identität. Umso emotionaler, umso rationaler. Umso persönlicher, umso analytischer. Daher muss man bei der Forschung, die ich als Autist und Künstler betreibe, von einem eigenen Forschungszweig sprechen, nämlich von neurodivergenter Forschung, die das Ich des Untersuchenden bewusst nicht ausschließt. Denn unsere Gehirne erfordern ein Denken im realen Raum, zwischen dem Erleben, Erfahren, dem Riechen oder dem Bewegen. Autistische Forscher:innen pflegen wie zuvor besprochen eine eigene Sprache, die ein Prozess ist, die Wiederholung und Verdichtung braucht, welche kein Endergebnis erfordert, sondern sich in den unendlichen Fluss der Details einhängen will, um der Welt zu lauschen, wie sie sich formt und tut. Man spricht hier in der Forschung von Embodied Cognition. Geist »sitzt« nicht im Gehirn, sondern entsteht im gelebten Organismus-Welt-Kreislauf. Der Begriff wurde Anfang der 1990er Jahre durch Varela, Thompson & Rosch (The Embodied Mind, 1991) → popularisiert und zugleich von Lakoff & Johnson, Barsalou u. a. in der Kognitionswissenschaft verankert. Neuere philosophische Synthesen beschreiben Embodiment als dynamische Kopplung von Gehirn, Körper und Umwelt, ohne klare Trennung von »innen« und »außen«. Unser Ich ist wie gesagt keine abgeschlossene Kugel, keine feste Form, sondern in den Begrenzungen sehr viel offener, für das Außen, dessen Lärm, dessen Helligkeit, dessen Gewalt und Inhalt, sowie dessen Form. Studien zeigen, dass viele autistische Menschen atypische Sensorik-, Motor- und Interozeptionsprofile haben und dadurch andere Wege der Welt-Erschließung ausbilden. Viele autistische Menschen berichten von einem Erleben, in dem die kartesianische Trennung zwischen Körper und Geist weniger ausgeprägt ist. Dies entspricht Maturanas und Varelas Kritik am Dualismus und ihrer Betonung der Einheit des lebenden Systems. Das Unvermögen, beliebig zu handeln oder sich von bestimmten Wahrnehmungen zu distanzieren, könnte als intensiveres Erleben der autopoietischen Geschlossenheit des Systems verstanden werden. Viele autistische Menschen haben eine besondere Fähigkeit, Muster und Komplexität in Systemen zu erkennen und zu bewahren, was mit Maturanas und Varelas Betonung der Erhaltung der Organisation des lebenden Systems korrespondiert. Dadurch kollidieren wir mit der klassischen Arbeitswelt, in dem Versuch uns aus uns selbst heraus zu erhalten.
Berührt ist hier auch der Prozess der Autopoesis. Diese besagt, dass lebende Systeme sich selbst erschaffen, indem sie ihre eigenen Komponenten produzieren und organisieren. Leben ist durch Selbstorganisation gekennzeichnet. Lebewesen sind autopoietische Systeme. Erkenntnis ist nicht die Repräsentation einer vorgegebenen äußeren Welt, sondern ein aktiver Prozess, durch den ein Lebewesen seine Realität erschafft. Kognition und Leben sind untrennbar miteinander verbunden – »Leben ist Erkennen, Erkennen ist Leben«. Wahrnehmung ist nicht passive Informationsaufnahme, sondern aktive Konstruktion durch das wahrnehmende System selbst. In diesem Sinne könnte das autistische Erleben als eine Form des Lebens betrachtet werden, die in mancher Hinsicht näher an der unmittelbaren, nicht dualistischen Existenzweise liegt, die Maturana und Varela beschreiben – eine Existenzweise, die weniger durch soziale Konstrukte und kulturelle Filter vermittelt ist und stärker die fundamentale strukturelle Kopplung zwischen Organismus und Umwelt erlebt. Ja, ich lebe in einer eigenen Welt. Ich erschaffe sie aus mir selbst. So ist auch meine Forschung. Ich schöpfe aus mir, in Interaktion und Intervention mit der Welt, in der ich versuche, eine gemeinsame Form zu erschaffen, die sehr eng mit meiner Existenz verknüpft ist. Die Kunst dient dabei als erweitertes Mittel, Werkzeug und Medium.
Diese biologische Erkenntnistheorie führt zu einer radikalen Abkehr vom traditionellen Repräsentationalismus und hat weitreichende Konsequenzen für unser Verständnis von Bewusstsein, Wahrnehmung und dem Verhältnis zwischen Organismus und Umwelt. Somit auch von Arbeit und Forschung.
DIE BERUFUNG DES AUTISTEN
Der von mir geprägte Begriff der autistischen Berufung, also der biologisch bedingt angeborenen Arbeit, bezieht sich darauf, dass ich mein ganzes Leben als den Ausdruck einer geometrischen Form, einer Frequenz, eines Musters, eines Tanzes, einer speziellen Sphäre, im Sinne, der in späteren Kapiteln dargestellten Modelle und Theorien erlebe, die ich in Zyklen versuche durch mein Leben, in meiner Arbeit zu verwirklichen. Damit ist ein biologisch fundiertes, verkörpertes Lebensmuster gemeint, das nicht gewählt, sondern gelebt werden muss – als epistemisch zwingende Arbeit in Symbiose mit Weltstruktur. Das ist eine tiefgründige Form der autistischen Ontogenese, die sich nicht als Identität, sondern als Lebensrhythmus entfaltet.
Nick Walker (2014, 2021) »Neuroqueer Heresies« beschreibt Autismus als »ways of processing, being and becoming« – nicht als Eigenschaft, sondern als verkörperte Ontologie. Besonders wichtig ist Walkers Betonung, dass Autist:innen nicht anders denken, sondern anders existieren.
Genau dort setzt jene »Berufung« an: Die Welt ist nicht außen, sie entfaltet sich durch das Subjekt, das aber nicht als Ego agiert, sondern als Formresonanz. Mel Baggs (2007): »In My Language« → wiederum beschreibt auch, dass ihre Art, in der Welt zu sein, nicht metaphorisch ist. Sie kommuniziert mit der Welt durch Muster, Berührung, Bewegung, Echo. Damian Milton (2014): »Autistic Expertise: A Critical Reflection on the Production of Knowledge« → argumentiert, dass viele Autist:innen eine Form von »epistemischer Notwendigkeit« spüren: eine zwanghafte Bindung an ein Thema, eine Form, eine Ordnung. Yo Dunn (2021): Epistemic Autonomy and Autistic Methods → beschreibt, dass viele Autist:innen nicht forschend entscheiden, sondern verkörpernd forschen – als innere Notwendigkeit, durch Mustererfüllung.
Die hier beschriebene Forschung als »autistischen Berufung« ist kein metaphorisches Bild, sondern eine in der neurodivergenten Forschung beschriebene Lebensrealität. Walker (2021), Baggs (2007) und Dunn (2021) → zeigen, dass autistische Erkenntnisprozesse nicht optional oder rational strukturiert sind, sondern aus einer verkörperten, rhythmisch formierenden Ordnung heraus operieren. Die Person wird dabei nicht Träger von Wissen, sondern ein Aspekt der Struktur selbst, die sich durch das Subjekt verwirklicht.
Ich bin als Autist und Künstler von dieser Ordnung nicht getrennt, sondern wir existieren in Symbiose. Neurotypische Menschen tun dies nicht auf diese Art. Sie sind nicht derart eine Einheit mit der Welt. Sie können vergleichsweise wesentlich willkürlicher darin agieren. Diese Musterordnung kann ich als Autist weder ignorieren noch kann ich damit aufhören, sie zu erforschen, oder in meiner Existenz auszudrücken. Sie ist mir folglich zur natürlichen Arbeit geworden, die mir angeboren ist. Das Muster, die Form hat mir eine Aufgabe zugeteilt, nämlich eine Differenz zu beschreiben, zwischen ihr und der Zivilisation. Das mag für neurotypische Menschen schwer zu verstehen sein, deren Handeln von ihnen mehr oder weniger frei entschieden werden kann, die sozialen und gesellschaftlichen Normen oder Bedingungen folgt, um möglichst einen Platz, also einen Job in der Gruppe zu finden. Darin liegt ein gewisser, auf Anpassung beruhender Möglichkeitsraum und eine Offenheit und Flexibilität, die vielen Autist:innen fehlt. Das alles muss ich ignorieren, wenn es der Verwirklichung der in mir verkörperten Ordnung widerspricht. Das ist kein Zwang, in dem Sinne, dass ich darunter leiden würde, sondern eine Voraussetzung meines Seins. Ich muss diese selbstbestimmte Arbeit machen, weil alles andere meine Auslöschung als menschliches Wesen zur Folge hätte. Jobs, als fremdbestimmtes Handeln sind somit nicht die Grundlage meiner Existenz, sondern waren und sind schon immer eine Bedrohung dessen gewesen. Betrete ich ein Unternehmen, sehe ich überall abweichende Ordnung, die korrigiert werden muss. Da Jobstrukturen externalisiert über meinen Körper fremdbestimmt handeln sollen, verorten sie mich in Raum und Zeit und zerbrechen mich auf diese Weise. Weil ich mein Handeln als Autist nicht von der Notwendigkeit der Einhaltung jener Ordnungen und Muster trennen kann, die mich selbst zu einer Art personifizierten Skulptur meines Welterlebens gemacht haben. Ich bin in meiner ganzen Existenz ein Wesen, dass den freien Selbstausdruck benötigt, wie andere Luft zum Atmen. Meine neurologische Verschaltung erlaubt es mir nicht, getrennt von meinem Erleben, meiner Wahrnehmung zu handeln, als hätte das eine mit dem anderen nichts zu tun.
In der neurotypischen Bias nennt man mein Problem mit der Welt auch »Pathological Demand Avoidance«. Also die Verweigerung äußeren Anweisungen zu folgen. Es ist kein krankhaftes Verhalten, sondern ein Mechanismus der Evolution, um Komplexität in Ökosystemen zu bewahren, die Neurotypische nur allzu gerne ignorieren, wenn es ihnen einen Vorteil in der Gruppe verschafft. Es muss also Menschen geben, die Abweichungen und Unterschiede in Strukturen erkennen, die Muster präzise sehen können, ohne subjektive Verzerrung, auch wenn es politisch und entlang sozialer Normen nicht erwünscht ist. Diese Menschen können dazu beitragen die innere Ordnung der Natur zu schützen und das, was Realität ist, fortlaufend zu erweitern.
Als Konsequenz dieses Buches, welches ich 2005 veröffentlichte, setzte ich eine Forschung von Jahrzehnten fort, ohne dafür bezahlt zu werden. In den meisten Jahren wurde ich als Folge diskriminiert und später staatlich verfolgt. Denn meine Arbeit, siehe das später erschienene Buch »Speeds Arbeit«, führte mich tief in das Unrecht einer Gesellschaft, die den Menschen nur noch als Objekt betrachten will. All das nahm seinen Anfang, bei einem Unglück, dass ich live über den Fernseher miterlebte.
DER 11. SEPTEMBER 2001
Das vorliegende Buch entstand vor dem Hintergrund der Anschläge in den USA, die am 11. September 2001 in New York City stattfanden und das World Trade Center zerstörten. 2977 Menschen wurden getötet und das Selbstverständnis der westlichen Welt erschüttert. Die Stadt war durchzogen von Ruß, Trauer und einer schwer greifbaren Mischung aus Angst, Patriotismus und Verunsicherung. In Lower Manhattan lag noch der rauchende »Ground Zero«, während ab diesem Zeitpunkt längst der Ausnahmezustand den Alltag der Menschen prägte: schwer bewaffnete Soldaten in der U-Bahn, spontane Mahnmale an Straßenecken, aggressive Rhetorik gegen das Fremde. Es war die Zeit, als der Boden unter den Füßen der Weltordnung wegzubrechen schien – in dem Vertrauen durch Überwachung ersetzt wurde, und auf das Trauma das Zeitalter des »War on Terror« folgte. Wer sich zu dieser Zeit in New York bewegte, spürte das Ende der 90er-Jahre-Illusion – und den Beginn einer tiefgreifenden globalen Paranoia.
WORUM GING ES MIR?
Mit dem vorliegenden Buch unternahm ich instinktiv eine Gegenbewegung. Ich machte mich auf die Suche nach einer hinter der kreativen Dynamik von Gesellschaft und Wirtschaft liegenden Ordnung. Nach Prinzipien und Grundsätzen, an denen man sich orientieren könnte, um mehr Freiheit und kreative Dynamik zu erreichen und um die Wirtschaft, Kultur und Demokratie zu stärken. Dabei ging es nie darum, diese Ordnung in ihrer Existenz zu beweisen, was einerseits größenwahnsinnig und zugleich sehr engstirnig wäre, käme dies doch einer Weltformel gleich. Sondern ich suchte nach pragmatischen Konsequenzen in unseren Haltungen zum Leben und unseren Gewohnheiten, bei der Suche nach Innovationen, dem Umgang mit Krisen und dem Schaffen von Neuerungen in Systemen. Zugleich sah ich 2003 in den Entwicklungen des Kampfes gegen den Terror eine Gefahr für das Entwicklungspotenzial der westlichen Gesellschaften. Es drohte eine Zunahme der Angst und sehr viel Unheil sollte daraus resultieren. Die Art wie wir systemisch mit Krisen umgehen wurde so zum Gegenpol der Suche nach kreativeren Strukturen.
DIE KREATIVITÄT IN SYSTEMEN
Den vom mir ersehnten neuen Umgang mit den Verhältnissen, nenne ich heute den »systemkreativen« Ansatz. Ich verstehe darunter eine befreiende Haltung, die Menschen aus dem Dilemma ein Stück löst, stets zwischen dem äußerlich Anerkannten in der Welt und dem eigenen ganz individuellen Erleben gefangen zu sein. Also in der Differenz zwischen dem inneren Fluss der Eindrücke, Kreativität, inneren Wahrheiten, Gefühle, Gedanken einerseits und den äußeren Festlegungen durch Gesellschaft, normierte Realitätsvorstellungen, anerkannte Weltbilder, Medien, Staat, Wirtschaft aber auch Natur andererseits fest zu hängen, ohne das Innere angemessen nach außen in etwas Gemeinsames integrieren zu können. Es ist die Sehnsucht nach dem gestaltbaren »Wir«, die mich und viele Leser hier antreibt. Die Suche nach einer qualitativen Verbesserung der Mitgestaltungsfähigkeit und Integration des Menschen in die Entstehung seiner Systeme.
Der moderne Mensch ist heute sehr wenig ein gestaltender und überwiegend ein sich an die Außenwelt anpassender Organismus. Aber tief in seinem Inneren besteht, wie bei einem ausgeschalteten Gen, die Möglichkeit plötzlich zum bewussten Mitgestalter zu werden. In der Geschichte hat der Mensch immer wieder bewiesen, dass er bestehende Ordnungen durch eigene Erfahrungen integrieren und erweitern kann. Dieses inaktive (geistige) Gen bezeichnete ich später als den inneren Fixpunkt, den es im Individuum zu aktivieren gilt. Als das, was uns antreibt, was wir als innere Kraft und Erkenntnis empfinden und bei jedem Menschen anders gelagert ist. Gewissermaßen das innere Geschenk, dass jeder Einzelne für die Gesellschaft mitbringt und je nach Situation immer wieder neue Formen annimmt, der Veränderung gerecht wird, ohne sich einfach nur anzupassen.
Doch gerade darin liegt eine Herausforderung. Denn wie soll man etwas in eine Gemeinschaft integrieren, was so schwer greifbar und so relativ erscheint, wie die inneren Motive, Werte, Ideen, Visionen und Impulse einzelner Individuen innerhalb von großen Menschenmassen, Völkern oder Kulturen?
FIXPUNKTE ALS SUBJEKTIVE SINGULARITÄTEN UND EMBRYONALE FALTUNGEN
Dieses Buch dreht sich um einen Zentralen Begriff, der Fixpunkte. Gemeint ist damit etwas wie der Funke einer Erkenntnis, die einen an eine höhere oder komplexere Ordnung anbindet. Der Begriff der Fixpunkte steht in diesem Text als frühe Chiffre für eine fundamentale Eigenschaft bewusster Systeme: die Fähigkeit, an einem bestimmten inneren Punkt eine irreduzible Orientierung auszubilden – eine Art subjektives alles, aus der heraus ein Mensch beginnt, Welt nicht nur wahrzunehmen, sondern zu strukturieren. In der späteren MNO-Theorie aus »Die Physik der Armen« beschreibe ich diesen Moment als Beginn der Faltung, als einen ontologischen Einschlag, an dem aus diffusem Erleben eine prägnante Wirklichkeitsordnung emergiert. Fixpunkte sind in diesem Sinne epistemische Verdichtungen, in denen ein Bewusstsein eine Information nicht nur aufnimmt, sondern in sich so verschaltet, dass sie zu einer neuen inneren Ordnung führt – sei es in Form einer Idee, einer Erkenntnis oder einer ethischen Entscheidung. Diese Fixpunkte sind nicht verallgemeinerbar, nicht algorithmisch herstellbar. Von außen betrachtet bleiben sie vage, subjektiv, idiosynkratisch. Doch in der konkreten Erfahrung – im Leben, in der Liebe, in der Forschung – sind sie entscheidend. Sie sind jene Momente, in denen eine Person etwas erkennt, das sich nicht mehr zurücknehmen lässt. Nicht durch lineare Argumentation, sondern durch das, was man als mikroskopischen Realitätsumbruch bezeichnen könnte: ein Einbruch von Sinn, von innerer Notwendigkeit, von Resonanz mit dem Eigenen. Ich kann nicht wissen, was in Ihnen gerade als dieser Fixpunkt wirkt – was Ihre innere Logik antreibt, was Sie der Welt geben könnten, was sich in Ihnen bereits in eine neue Ordnung faltet. Aber sobald ich Ihnen wirklich begegne, in Resonanz trete, entsteht ein Raum, in dem solche individuellen Singularitäten spürbar werden. Denken wir an den Mann, der sich in das unaussprechliche etwas in den Augen einer Frau verliebt; an die Wissenschaftlerin, die plötzlich eine Schwelle überschreitet und ein ganzes Paradigma kippt; an die Autistin, deren sensorische Verdichtung zu einer präzisen ethischen Unverhandelbarkeit führt. All das sind Fixpunkte: nicht wiederholbar, nicht planbar, aber wirkmächtig und strukturbildend. Im Kontext der MNO-Theorie lassen sie sich als die ersten Stellen der Selbstfaltung eines Systems beschreiben. Fixpunkte sind jene Orte, an denen ein Bewusstsein beginnt, sich selbst als Ort von Wirklichkeit zu setzen – als ein Realitätenauge, das nicht bloß abbildet, sondern aus der Spannung mit dem Umgebenden eine neue Welt heraushebt.
GRUNDLAGEN VON INNOVATIONSFÄHIGKEIT
Die Grundelemente auf denen unsere Kreativität, Innovationsfähigkeit, Integrität und unser Realitätsverständnis aufbaut, stehen außerhalb unserer systemischen Ordnungen. Sie sind ihnen vorgelagert, aber werden in den gesellschaftlichen Strukturen immer wieder auch blockiert.
Ein Beispiel: Ein Mensch wacht eines Morgens auf und erkennt einen Weg für die Entwicklung eines neuen Motors. In der daraus entstehenden Fabrik wird diese Qualität der Innovationsfähigkeit nie wieder bestehen. Sie ist nur in der Phase der Geburt einer neuen Struktur da, lässt sich aber selbst nicht strukturieren.
Ein anderer Mensch macht eine lange Krise durch, die ihn zur inneren Beweglichkeit und Veränderungsbereitschaft zwingt. Diese Kraft hilft ihm später erfolgreich zu werden. Im Zustand des Erfolges aber wird er satt, konservativ und unbeweglich.
Eine Bevölkerung entdeckt eines Tages für sich ein neues Lebensgefühl, dass mehr Freiheit gegenüber der Elterngeneration ermöglicht. Dieses neue Weltbild setzt sich durch, aber wird von der nächsten Generation als verklemmtes Dogma verflucht und in Revolten abgeschafft.
Zwar lassen sich von diesen Fixpunkten später neue Ordnungen, Ideen, Strukturen und Funktionsweisen ableiten, die eigentlichen Erkenntnismomente aber, also die Sekunden in denen das Bewusstsein sich erweiterte sind einmalig, hoch komplex und entziehen sich unserer direkten Kontrolle. Wir können das Erscheinen der Fixpunkte nur begünstigen, nicht aber erzwingen.
Niemals aber sollten wir vergessen, dass der Ursprung all unserer Ordnungen auf ihnen beruht und dass selbst jede noch so feste wissenschaftliche Theorie irgendwann von den Fixpunkten gestürzt wird, die sich durch einzelne Menschen ausdrücken werden.
Die Fixpunkte werden im Allgemeinen immer unkonkret/sehr individuell bleiben, aber in dem erlebten Moment, zählen sie zu den wichtigsten Erfahrungen, die ein Mensch in seinem Leben machen kann.
Sie sind ein Geheimnis, aber der eigentliche, wirkliche Garant für unsere Freiheit und die fortwährende Veränderung unserer Systeme.