Stieren des Weltdesigners - Timothy Speed - E-Book

Stieren des Weltdesigners E-Book

Timothy Speed

4,9

Beschreibung

Eines Tages droht der arbeitslose Konsument Timothy Speed der Firma Red Bull, vor ihrer Weltzentrale in Fuschl einen Stier zu töten, um die Menschheit wach zu halten. Diese wahre Begebenheit tritt eine Geschichte los, die aktueller und fantastischer nicht sein könnte. Speed wollte sich stellvertretend für das freie Individuum der Wirtschaft bemächtigen und zu einem neuen Arbeiter und Mitgestalter werden. In einem Europa der Vielfalt. Entstanden ist daraus ein Roman über Menschen, die sich den einfachen Lösungen verweigern und für das Leben entscheiden. Ein politisches und hoch brisantes Buch über die stille Ahnung, dass etwas mit unserer Welt nicht stimmt. Über die Macht des Individuums, die Bedrohung durch neue Formen des Faschismus, die unausgesprochenen Kriege und eine ganz neue Form der Kapitalismuskritik.

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Inhaltsverzeichnis

Episode 1: Die verlorene Ordnung

Episode 2: Ich bin Jane

Episode 3: Die Serie, die niemals funktionieren durfte

Episode 4: Auf Abwegen ins Ziel

Episode 5: Ein Red Bull für alle Fälle.

Episode 6: Sich erstmal näher kennenlernen

Episode 7: Zweifel im Selbstbild

Episode 8: Der Beklemmung entfliehen.

Episode 9: Bittere Wahrheiten

Nachwort über den Autor

Sehr geehrter Herr Speed,

wie bereits telefonisch angekündigt und nach nochmaliger reiflicher Überlegung, müssen wir Ihnen heute leider mitteilen, dass Ihr Titel „Stieren des Weltdesigners“ aufgrund seines Inhaltes den Grundsätzen unseres Unternehmens widerspricht und wir es deshalb nicht vertreten können, ihn unter unserem Namen zu vertreiben. Daher haben wir von unserem im Buchvertrag festgelegten fristlosen Kündigungsrecht (Punkt 7.5 und Punkt 7.7) Gebrauch gemacht und Ihre Buchdaten löschen lassen.

Selbstverständlich veroöffentlichen wir Ihren Titel, sofern der Name der Firma Red Bull nicht mehr genannt wird.

Wir bitten um Ihr Verständnis.

Mit freundlichen Grußen

Episode 1: Die verlorene Ordnung

1

»Als Timothy Speed tragen Sie einen gebürtigen Namen, der stets vermuten lässt, dass Sie nicht real, sondern eine Art Romanfigur, wie Robin Hood oder Batman sind. Offenbar hat dies Ihr Leben geprägt, Sie dazu verleitet zu glauben, Sie seien zu mehr in der Lage. Dabei ist jedem vernünftigen Menschen klar, dass Sie damit aufhören müssen, Lösungen für die Probleme dieser Gesellschaft zu suchen, wenn Sie sich das finanziell nicht leisten können! Haben Sie das verstanden?«

Ich verspürte eine dezente Verwirrung, die ich durch Höflichkeit zu überdecken versuchte. Dabei erinnerte ich mich an den Vorwurf älterer Herren, dass man nur als Pubertierender die bestehenden Verhältnisse kritisiert und wer dies wie ich nach 40 noch tue und aussehe wie ein Medienkreativer, habe schlicht nicht verstanden, wie die Welt funktioniert.

»Sie müssen Verantwortung übernehmen«, wiederholte er energisch, als spräche ich kein Deutsch. Etwas verursachte ein Gelächter im Saal. Ich war mir nicht sicher, was es war. Die Meisten sahen aus wie typische Berliner angesagter Viertel.

»Sie wollen damit also sagen, dass ich den Menschen zur Last falle, weil man mir keinen Job gibt, da ich die Verbesserung der Zustände im Kopf habe, sie erinnere an das, was getan werden muss, weshalb ich nicht zu ihnen passe«, fragte ich. »Statt bedingungslos in die gehorsame Produktion einzuwilligen?«

»Dies ist nur ihre subjektive Meinung. Sie können nicht belegen, dass Sie tatsächlich eine konkrete Lösung liefern werden. Bis zu diesem Zeitpunkt fallen Sie uns allen zur Last. Man muss sich mit Ihnen beschäftigen. Wir aber haben diese Lösung angeboten. Einen sicheren Arbeitsplatz. Dafür müssen Sie endlich aufhören mit ihrer Unordnung ...«

»Ordnung«, unterbrach ich lautstark.

»Das Andere können Sie nebenher tun.«

Einen Moment war es still, als erwarteten alle eine Aufklärung, einen Hinweis.

Ich stand auf: »Nichts Wesentliches kann nebenher erreicht werden. Das, was Ihrer Ansicht nach nebenher passieren soll, ist das, was das Leben ausmacht. Die Familie, die eigenen Visionen, das Unbehagen mit den Zuständen und Auswirkungen Ihrer Politik. Dies nebenher zu tun, bedeutet im Widerspruch zur eigenen Integrität und Würde zu leben. Eine Lüge zu leben. Ohne freien Willen.

Weil wir das, was wir wissen, in uns drinnen, das Recht eines Individuums auf sein eigenes Weltbild, ignorieren sollen, für äußere Ordnung, die nicht mehr stimmt, uns aber unserer eigenen Vorstellungen, Ideen und Entwicklungsprozesse berauben will, als seien diese überflüssig und nicht die Antworten von Morgen. Mitten in der größten Krise der Menschheit.«

Einige im Saal lachten.

»Unordnung«, brüllte er.

»Ordnung«, brüllte ich. »Nein, Mensch sein ist ein selbstbestimmter Fulltimejob, um den man sich ständig kümmern muss, während das Funktionieren die Ausnahme darstellt, von der Natur nur als Fluchtmechanismus gedacht, ausgelöst von Angst, angesichts echter Bedrohung.

Ihresgleichen aber haben die Bedrohung um ihrer selbst willen zum Naturgesetz erklärt. Weil sie das gedankenlose Funktionieren wollen. Sie somit bewusst eine Gesellschaft erschufen, die nach 2000 Jahren Anpassung an die Gefahr nur noch dysfunktional ist, ohne inneren, natürlichen Kompass, unmoralisch, panisch, um maximale Abhängigkeit von den Parasiten, wie Ihnen, zu erreichen. Bis wir vergessen, wer wir in Wahrheit sind.«

Der Richter, der sich nun tatsächlich mehr wie ein Insekt bewegte, sah mich stoisch an und ein innerer Konflikt ließ ihn den Raum sprachlos verlassen. Die anderen Organe schauten irritiert. Zwei Hirne in Gläsern, eine Leber und kein Herz.

2

»Wie lange willst du das durchhalten, Speed«, fragte Jane am Küchentisch, während sie Zwiebeln schälte und in kleine Stücke schnippelte. Es war kurz vor dem Abendbrot. »Diese andere Position. Sie ist doch sehr anstrengend. Wenn sich nun doch keine neue Ordnung zeigt? Es wäre umsonst, dass Du versuchst Dich zu verlieren, bis das Unbewusste hervor kommt.«

Ich sehnte mich nach einem Kindergeburtstag in den 80er Jahren. Vergilbte Neonfarben, Heimatfilm und ein Glas Milch mit Schokoladentorte. Später eine Folge der Augsburger Puppenkiste.

»Was meinst du«, fragte ich nichts Böses ahnend und fügte mit Superkleber die Zwiebelstücke wieder zusammen, bis es wie ein großer Würfel aussah.

»Dieses bedingungslose Ernstnehmen der Regeln«, erwiderte sie und schüttelte den Kopf.

»Der Mensch muss verdauen. Das wissen doch alle«, sagte ich und starrte mit ernster Miene die Zwiebeln an, während ich nachdenklich das Zwiebelgebilde drehte, welches nun entfernt an einen Zauberwürfel aus den 80er Jahren erinnerte.

»Aber doch nicht so«, meinte Jane schnippisch und schob einige der Stückchen beiseite, um sie anschließend in die Pfanne zu geben.

»Seit dem Gerichtsurteil halte ich mich strikt an die Regeln. Die Regeln sind die Wirklichkeit. Darum sind sie richtig. Wenn ich sie umsetze, kann mir nichts passieren.«

3

»Das Berlin, von dem Sie vermutlich gehört haben, ist das Berlin in dem Investoren leben, Ausländer und junge Kreative, zwischen Baulücken, in Wagenburgen oder teuren Loftwohnungen im Prenzlauer Berg«, trug ich anschließend einem jungen Journalisten aus Sachsen vor, der seit zwei Stunden in unserer Küche saß. Er hatte von unserer letzten Aktion gelesen, interessierte sich anders als viele seiner Altersgenossen für eine Gruppe von Kreativen und politischen Einzelgängern, die ein ungewöhnliches Selbstbewusstsein in sich trugen, trotz der prekären Lage.

»Sie haben von den Museen gehört, von den edleren Straßen und den heruntergekommenen Vierteln der Studierenden und Randgruppen. Sie wissen schon, wie ich das meine?«

Da war etwas Hastiges an mir. Er schien mir nicht folgen zu können und trotzdem erwiderte er ungeduldig: »Ja, natürlich, und?«

Ich fuhr etwas genervt fort. Vielleicht weil ich mir das nicht antun musste und es eine undankbare Rolle war. Einen Moment hielt ich inne: »Nur selten aber spricht jemand von dem, was da ist, noch bevor man die Gebäude am Potsdamer Platz betrachtet oder sich zwischen den Studenten am Checkpoint Charly fotografieren lässt, die sich als Soldaten einer vergangenen Epoche verkleidet haben, um eine Karikatur der Geschichte zu spielen, die in China oder den USA wie der Sieg der Freiheit aussieht.

Noch ehe Sie im jüdischen Museum waren oder in der Kuppel des Reichstags werden Sie es deutlich spüren! Diese allgegenwärtige Unruhe, diese Erosion, die Kreativität einer Abrissbirne, die nicht erschafft, sondern im Verbrauch, im Tanz der langen Nächte in den Berliner Clubs, im Zehren vom Image jener Überreste lebt, die Touristen und Gäste aus aller Welt hier hinterlassen haben. In Form von Erwartungen und Hoffnungen, die zu Zitaten geworden sind. Wer bin ich, wenn niemand mehr eine Utopie zu leben vermag, und alles schon da war und ich nur eine weitere Kopie davon bin? Ein Produkt.«

Er sah mich ungeduldig an und ich holte bewusst weiter aus, so als wäre es ein Vortrag und kein Gespräch.

»Berlin schafft vielleicht seit Jahrzehnten nichts Neues mehr aus sich selbst heraus, weil die Stadt sich selbst nicht zuhören, sich ihrer selbst nie bewusst werden kann. Wegen ihrer Größe und dem Fehlen eines inneren Kerns, ist sie verbannt, sich durch die Augen der Anderen zu sehen. Durch die Augen jener, die nichts selbst erfahren haben, sondern neu sind. Und wer neu ist, hält sich zunächst an die Regeln, bleibt an der Oberfläche, lebt wie ein unverbindlicher Nomade und vereinfacht die Dinge.«

»Es ist doch gut, wenn das Leben einfacher wird. Wo doch alle an der Krise leiden«, unterbrach der Journalist etwas erschöpft von meinem Monolog.

Er nahm mich noch immer nicht ernst, da ich vielleicht kindlich albern erschien, weil ich derart heroisch tat, mein Berlin ein symbolhaftes Berlin war, wie der Turm zu Babel und man sich im Prenzlauer Berg eher wissend reserviert gab. Nichts sollte einen Verdacht auslösen. Alle waren bemüht, die Dinge an ihrem richtigen Platz zu belassen.

Ich nahm die Plüschmütze mit dem Wildschweinkopf wieder ab und stöhnte: »Berlin ist entscheidend für jene, deren Schmerz es lindert, dass die Stadt der Freiheit in Mitten Europas tatsächlich existiert, wie ein Mahnmal, eine Versicherung, dass Europa die Dunkelheit besiegt hat. Eine Ausrede. Eine Identität. Keine Überraschung.«

Weil man doch in einer Spaßgesellschaft lebt, dachte ich. Darum vielleicht wollte ich ihn langweilen. Und als spreche ich durch ihn, als wäre er eine Marionette in meiner Welt. Das war nur konsequent, hatte ich mich doch entschieden, in diesem Experiment radikal die eigenen Verhältnisse darzustellen. Das Unbewusste zu leben. In der Absicht dadurch etwas Neues zu erfahren, mich zu befreien von der mörderischen Klarheit. Dies schien mir der einzige Weg, in einer scheinbar aufgeklärten Welt. Es ist das Jahr in dem Griechenland geopfert wird und die Investoren alles übernehmen. Der Drohnenkrieg tötet still und leise und der Westen ist in leicht konsumierbaren Erklärungen, Lösungen und Rechtfertigungen gefangen. Ein Automatismus der Verwaltungen säubert die Welt von irrationalen Auffälligkeiten.

Ich fuhr fort und ignorierte sein Bedürfnis nach einem Punkt, nach einer klaren Relevanz, mit der man Geld machen konnte, oder einer simplen Erklärung, die witzig, kurzweilig und leicht zu verdauen wäre.

»Dabei ist es, als lebten wir in einem Reiseführer. Wir wissen, dass Berlin, dass der viel bessere Westen ein Fake ist, aber sind bereit alles zu akzeptieren, wenn wir nur ein normales Leben innerhalb einer Marke leben dürfen, durch die wir wissen, wer wir sind. Das will ich nicht mehr. Das kann ich nicht«, sagte ich mit Nachdruck und stand, um meinen Protest zu unterstreichen, wieder auf.

»Setz dich doch«, forderte Jane, die fand, dass ich wieder übertrieb und es nicht höflich gegenüber unserem Gast war, diese vielen Fragen aufzuwerfen, ohne darauf eine plausible Antwort zu geben.

Warum sagte ich es in den leeren Raum hinein und sah dabei niemandem in die Augen? Ohne Dialog. Ohne eine Antwort zu erwarten. Als wäre es mir selbst unangenehm, als müsse ich es wegdrücken, fort von mir. Das hätte dann ein Anderer mit meinem Körper gesagt und es hätte keine Konsequenzen. Nichts darf mehr Konsequenzen haben, wo das Reale durch die Erklärungen der Experten ersetzt wurde. Nähe suche ich. Nähe will ich erfahren, aber das bedeutet Bruch mit mir selbst, mit dem Fremdbild, mit allem, was ich sein muss, um eine verwertbare Existenz haben zu dürfen.

Jane riss eine Kuchenpackung von Kaisers auf und machte überall reichlich Sprühsahne drauf. Ganz ordentlich und ein wenig traurig. Woher kommt nur die Traurigkeit? War doch niemand von uns im Krieg. Oder gerade darum. Etwas bleibt zurück, sieht man nicht mehr hin.

War es nicht das, was uns von den Maschinen unterschied, dass wir dem Unkonkreten, dem Unbewussten Bedeutung gaben? Dass wir uns entscheiden konnten, nicht zu funktionieren und stattdessen in Beziehungen zu existieren. Beziehung ist Reibung. Ein Prozess, der im Unwissen beginnt. Die Sahne, der Journalist, ein Stück Kuchen, die Welt und ich. Ein anderer Weg die Griechen zu befreien. Da ich es nicht besser weiß. Weil ich es zunächst überhaupt nicht weiß, sondern versuche die Verhältnisse zu leben. Weil es eine Sprache ist. Meine Sprache.

Selbst an der materiellen Gegenständlichkeit unserer Küche musste ich zweifeln und mich fragen, ob es nicht psychologische Symbole waren, wie in einem Traum.

Amerika hat uns verraten. Europa hat uns verraten. Das Fernsehen hat uns verraten. Was nicht harmlos und unschuldig tut, erzeugt Angst vor der Bedeutungs- und Sinnlosigkeit des Einzelnen. Der Ruf nach den Rattenfängern ist stark und es gibt keinen Beweis mehr dafür, dass das, was ich tue, das Richtige ist. Nachdem wir die Kriege nicht verhinderten, weil es bequemer war, die Produkte der Mörder, der Globalplayer mit den lächelnden Fratzen zu kaufen. Let´s be happy, happy, happy! Alles klar?

Alles was wirklich ganz sicher erscheint, ist der allseits drohende Ausschluss aus der Herde der unpolitischen Massen.

»Meine Wahrheit lautet: Es gibt keine Wahrheit mehr, die sich formulieren ließe. Alles was mir bleibt, ist das Schöne und das Klare, die Sprache des Marketings abzulehnen und den sperrigen Gedanken zu leben, der erstmal frustriert, schmerzt, einen ohne Linderung belässt, wie in einem kalten Entzug. Das Unwohl-sein bleibt und ich lasse es bleiben. Nur dadurch kann ich dem Griechen in mir begegnen.

Kein Wort hat den Anspruch die Wahrheit zu verkünden. Aber zumindest verkünde ich auch keine Lügen mehr.

Das Unbehagen, verbunden mit dem Gefühl, man sei ihm eine Antwort schuldig, ein Produkt, ein Ergebnis, ließ den Journalisten an uns kleben, wie Fliegen an faulendem Fleisch. Die Nützlichkeit meiner Ausführung würde sicherlich gleich kommen, um dann von ihm abgelehnt und widersprochen zu werden.

»Mich macht es auch wahnsinnig«, entschuldigte mich Jane, lächelte kurz und gab dem Gast noch Sprühsahne: »Weil er dieses Unbehagen in einem erzeugt. Man möchte ihn erwürgen. Finden Sie nicht auch?«

Ich trat ihr unterm Tisch gegen das Schienbein. Sie schrie »Aua« und der Journalist wirkte beunruhigt. Er wollte gehen. »Ich weiß nicht genau«, sagte ich und er nahm Platz und fühlte sich besser. Jane schenkte ihm nach.

Ich ging um den Tisch und verschob bedeutend Dinge. Geschirr. Den Stuhl. Schließlich drehte ich Janes Kopf ein wenig. Die Angst, ein eigenständiger Mensch zu sein, der nicht in fünf Sekunden bereits verstanden werden kann. Der es Wert ist, dass man sie oder ihn nicht als Sonderling abtut, sondern sich mit dem Menschen beschäftigt. Ein Gedanke. Ich hatte mich entschieden für etwas zu stehen und gleichzeitig zweifelte ich. Am Anfang war es Fake und Inszenierung. Das musste es sein, weil es ein bewusster Akt war, unbewusst zu agieren. Natürlich konnte es nur mit der Zeit werden.

»Er ist sich schon im Klaren, dass er hier in meiner Küche steht. Er hat keinen Schaden, oder so was«, erklärte Jane dem Journalisten und gab ihm noch Kakao mit einem Mickey Mouse Löffel. Alles wirkte nett und liebevoll. Auf diese Weise vergingen einige Minuten, in denen wir nur da saßen und mit dem Kopf wippten, als würden wir alle zustimmen, ohne darauf eingehen zu wollen.

In die Stille hinein sagte ich gefasst: »Unsere Regierungen töten Unschuldige am anderen Ende der Welt und nichts passiert. Die Verhältnisse sind geklärt. Welche Bedeutung hat es, ein Wort darüber zu verlieren, welches das Grauen in intelligente oder schöne Begriffe kleidet, wenn diese Worte nichts mehr verändern? Weil es dazu keine persönliche Emotion, keine persönliche Erfahrung gibt. Sondern nur ein Nachplappern von Meinungen, mit denen man nichts falsch macht und kundenfreundlich bleibt. Muss ich da nicht Irritation leben, mich als westlich geprägten Geist zerstören, damit ich konfrontiert werde, ich die Verunsicherung zulassen kann, die mich erst menschlich macht? Ich will nicht mehr der bornierte Vertreter einer besseren Welt sein, die den ganzen Planeten quält, weil alle besser werden sollen.

Ich kenne mich selbst nicht genug, um zu wissen, was ich denke. Denn ich sehe mich nur mit Euren Augen - und wenn ich auch nur einen Moment von Eurer Vorstellung abweiche, wollt Ihr mich loswerden, weil uns neu kennenzulernen ein Risiko ist. Hier werde ich von keiner Bombe erschlagen, sondern krepiere durch den Umstand nicht ausreichend austauschbar und banal zu sein.«

Das Zimmer wirkte jetzt noch kleiner. Als kämen die grauen Wände näher. Jane und der Journalist starrten auf den Tisch, wo eine Comicfigur von dem Teller grinste.

»Nun gut«, unterbrach der Journalist plötzlich.

»Warten Sie«, sagte Jane und hielt ihn am Arm fest: »Wir sind noch nicht fertig. Wir müssen Ihnen noch mehr sagen.«

»Das, was wir nicht wissen, ist eine Erfahrung, die uns die Freiheit geben kann. Das ist meine Absicht«, ergänzte ich und lächelte ihn zum ersten Mal an. Später gestand er mir, dass es ihm in diesem Moment vorkam, als sei er an einer Verschwörung beteiligt. An etwas Verbotenem.

»Wenn es mir nicht möglich ist, einen Globalplayer an der Zerstörung der Umwelt zu hindern, kann ich wenigstens mein eigenes Image vernichten. Damit wir nicht alle gleich sind.«

»Man kann es in der Zeitung nicht lesen, wa? Was wirklich los ist«, ergänzte Jane leicht verunsichert und hielt sich an der Tasse fest.

»Meine Wut. Meine Wut ist los«, rief ich und lief rot an, vor Scham und Unsicherheit.

»Ja, ja«, beendete Jane meine Ausführungen. Mit einem leicht abwertenden Ton, wie sie es immer tat, wenn ich plötzlich einen intellektuellen Vortrag hielt, während alle Anderen sich mit profanen Problemen des Alltags beschäftigen mussten.

Jane schob ihm ein Butterbrot hin und der junge Mann, der wie wir alle ein wenig danach aussah, als wäre er aus einem Musikvideo gefallen, lächelte. Das machte sich gut vor der grünen Retrotapete mit den orangenen Punkten. Eine Weile starrte ich die bunten Fliesen an. Der Wind wehte von der offenen Balkontüre herein.

»Was erwarten Sie? Sollen wir alle Psychotherapie machen«, fragte er plötzlich lachend und durchbrach die drückende Stille. Dann sah er Jane an, deren Gesicht nun wieder versteinert war. Für einen Moment zweifelte ich, ob ich ihm diesen persönlichen Gedanken, der sich noch zerbrechlich anfühlte, angreifbar, wirklich würde näher bringen können, ohne dass es nach einem eindeutigen, politischen Lager klang. Nach einer Feststellung, nach der man aber weitermacht wie bisher.

Ich tat, als fühlte ich mich gedemütigt und setzte mir die Mütze wieder auf. Zur Unterhaltung. Jane hielt meine Hand. Er versuchte es zu rationalisieren. Fragte sich, in was er hier hinein geriet. Eine bedrückende Situation, die ihn zugleich faszinierte. Was hatte ich nur vor?

Ich kicherte. Er bekam es mit der Angst. Seine Gesichtszüge wechselten zwischen kritischem Ernst, höflichem Lächeln und der Verzweiflung nicht gehen zu können. So, als habe ein dämonischer Clown ihn gefangen genommen. Zwei Menschen, die er zuvor für politische Aktivisten gehalten hatte, deren Thesen er mit wenigen Sätzen als linke Spinnerei abtun wollte.

»Sie sind ein Idealist«, unterbrach er und wusste selbst, dass es nicht stimmte. Abwartend starrten wir einander an. Einen Moment lang war es kalt und klar, wie an einem Novembermorgen. Er hatte dies gesagt, als könne er nun gehen. Als habe er seine Schuldigkeit getan. Allein seine Nutellastulle und das Gefühl, dass Jane ihn vielleicht verstand, ihm Sicherheit geben könnte, hielten ihn fest. Er nahm sich vor, sie später im Treppenhaus zu fragen, was das Ganze sollte. Es wäre ein Scherz. Er und Jane würden über den komischen Speed lachen. Künstler halt. Exzentrisch aber harmlos.

»Es mag sein, dass mein Bestreben etwas Lächerliches hat, weil der Spott nach all dieser Zeit zu einem Teil von mir selbst geworden ist und ich zittere, dass mir die Achtung und Liebe nur zu Teil wird, wenn ich mich selbst lächerlich und harmlos gebe, um auf Facebook geliked zu werden«, erklärte ich ihm, als er mit Jane an der Küchentüre stand. Mit dem Rücken zur Wand: »Nur weil ich mich angreifbar mache, hören Sie mir noch zu. Ich will nicht, dass Sie mich ernst nehmen, weil Sie sich sonst abwenden, von der Gefahr, vor der ich Sie warnen will.

Ich stelle mich dem und sage wieder, dass niemand wissen kann wie ein freieres, neues Europa aussieht, ohne erneut Ungerechtigkeit und neue Katastrophen aus Vereinfachung und Standardisierung zu gebären.«

Nun blickte auch Jane entsetzt, als würde ich zu weit gehen und unseren Gast endgültig vertreiben.

Er schüttelte den Kopf, stöhnte: »Ja, ja...«, und tippte weiter Notizen in seinen iPad.

Das Unbehagen verfolgte ihn, hatte sich wie ein Virus an seinen Körper geheftet.

Rückblickend kam es dem Journalisten vor, als habe er mehrmals den Raum verlassen und sei wie in einem Labyrinth jedes Mal erneut in Janes Küche gelandet. Am Abend besorgte er sich eine Frau zum Ficken. Er nahm Drogen, betrank sich und hatte schlechte Laune. Sein Leben kam ihm wie Verschwendung vor. Die Kleine lachte die ganze Zeit und kicherte. Er nahm sie ganz fest und zog sie mehrmals kräftig an sich heran, als wolle er ihre Körperhaftigkeit begreifen, ihre Schwere, ihre Banalität. Alle paar Minuten sagte er Sätze wie:

»Das ist geil«, oder: »Es ist wirklich aufregend mit dir.«

»Sag es nicht, wenn du es nicht meinst«, erwiderte sie. Es war Morgen, sein Schädel dröhnte und noch immer war der Artikel nicht fertig. Verkatert versuchte er die Begegnung runterzuschreiben, warf den Stift wütend auf den Boden, zog sich an und kehrte zu Janes Wohnung zurück. Er wurde das Gefühl nicht los, dass wir in seinem Unbehagen überlebten. Als hätten wir uns wie Parasiten in ihm eingenistet. Der einzige Weg das Unbehagen loszuwerden, wäre zu verstehen, warum wir derart sperrig waren und was das mit der Welt zu tun hatte.

Weiter in Janes Küche. Erbarmungslos. Zweiter Tag, noch vor dem Frühstück. Eine Kamera lief mit und er fragte irritiert: »Das ist eine Inszenierung. Sie macht mir Angst. Warum wollen Sie das nicht verstehen«, fragte er mit brummendem Schädel am Küchentisch, den sinnlich zu beschreiben ich ihm verboten hatte. Keine Farben, nichts was ablenkte oder unterhielt. Nur das nackte Wort, welches man nicht sofort verstand.

»Ja«, antwortete ich schlicht, ohne eine klare Antwort zu geben.

»Wie wollen Sie das machen? Eine Ordnung sichtbar machen, die unser wahres Selbst spiegelt. Sollen wir alle Drogen nehmen«, fragte er nun wieder zynisch, während er von Janes Heinzelmännchengeschirr aß und aus der SpongeBob Tasse trank: »Wie können wir herausfinden, wer wir wirklich sind und uns gleichzeitig OK finden und erfolgreich«, erwiderte ich und wollte nie wieder leicht verdaulich sein.

In all der Zeit hatte er die Sonderbarkeiten in Janes Wohnung nicht bemerkt. Dass es kaum Möbel gab. Bretter standen bereit, um die Fenster zu vernageln. Ich stand vor der rosavioletten Tapete, aß ein Stück Fleisch auf der flachen Hand und sprach: »Ich kann mich selbst unbewusst geben, andere Haltungen leben, darin scheitern, sterben und neu geboren werden. Bis ich die Existenz aller Menschen in allen möglichen Variationen, bewusst und unbewusst durchlebt habe und somit selbst zu einer großzügigen und intelligenten Gesellschaft geworden bin.«

Doch warum wurde es dann niemals erklärt? Nie wurde einem ein Krieg erklärt.

Jane suchte noch immer nach dem Netzteil für ihr Handy, als ich das Fenster öffnete, weil die Luft bereits etwas stickig wurde. Ich machte die Kerze wieder an, was dem jungen Mann seltsam erschien, sah man die Flamme im einfallenden Sonnenlicht doch kaum. Feuer! Feuer! Was ginge nur in mir vor? Der viel zu junge Journalist konnte sich der Übermacht unseres neuen, inszenierten Lebensstils nicht erwehren, lehnte sich nachdenklich zurück und versuchte wie ein Gelehrter Argumente in seinem Kopf zu sortieren, weil ihm das zu passen schien und schon hatte er eine Schublade, die ihn beruhigte. Als triebe ihn eine Scham, in unserem Spiel nur schwer mithalten zu können: »Aber wie wollen Sie dieses Unsichtbare, die verborgene Welt sichtbar machen? Die Welt außerhalb des Marktes, in dem wir Ihrer Meinung nach alle Produkte sind. Stereotyp aber glücklich. Wir brauchen sie doch nicht. Diese andere Welt. Dieses authentische Ding. Es geht uns auch ohne gut. Das mag Ihr privater Weg sein, aber darauf kann man doch keine Gesellschaft gründen, die Standards benötigt und allgemeingültige Vorgaben? Wo ist die große Idee? Wenn Sie sich in das Chaos der eigenen Subjektivität stürzen, kapseln Sie sich doch von der Welt ab und wir müssen Sie dann durchfüttern, in Ihrer Fantasie von Beziehungen die überhaupt nicht existieren! Das bringt uns überhaupt nichts.«

Ich nahm eine Packung Mehl: »Man muss es mit Mehl bewerfen, wie alles, was unsichtbar ist. Das Unbewusste muss mit Mehl beworfen werden«, rief ich und warf eine Hand voll begeistert in die Luft: »Weil es daran haftet und einen Umriss bildet. Statt Mehl nehmen wir das eigene Leben. Dem Unkonkreten kann niemand den Krieg erklären. Damit töten geht auch nicht.

In den kommenden Wochen, Monaten, vielleicht Jahren werde ich vergessen, wer ich bin, also wofür Sie mich halten und wofür meine Eltern mich hielten und was im Lebenslauf steht. Mal werde ich böse sein, vielleicht, dann dumm, dann intelligent, dann unerwartet. Es muss mir egal sein, was die Leute über mich und die Anderen denken. Ich werde ein lebender Crashtestdummy werden. Es ist ein Spiel. Weil es ein Spiel ist, werden sie es zulassen. Es erregt den Verdacht, es könne Spaß machen. Und ich werde die wahre Geschichte Griechenlands erzählen, ohne das Problem damit lösen zu wollen. Es wird schlicht eine neue Antwort gelebt, denn niemals kam den Experten in den Sinn, dass es darum gehen könnte, den Kontrollverlust zuzulassen, weil nur das menschlich ist.«

»Man könnte Sie für verrückt halten.«

4

Wir hatten einen alten, roten Reisebus gekauft. Es muss September oder Oktober 2011 gewesen sein. Vielleicht sollte ich nachsehen, es genau nehmen, weil genau eben individuell bedeutet, aber auch kompliziert. Das stimmt schon.

Eigenwilligkeit ist immer eine One Man oder One Woman Revolte. Sie will die Massen nicht beherrschen, weshalb der eigenwillige, ja groteske Rebell wenig sexy ist, aber dafür bereits die Freiheit lebt, von der er spricht, während der Putschist Tyrannei lebt und Freiheit predigt. Die eigenwillige Rebellin stirbt nicht heroisch, sondern wird zur Außenseiterin, zum Underdog. Später wird sie nachgeahmt, ohne dass man je ihren Namen nennen wird. Denn sie hat sich nicht mit simplen Lösungen aufgezwungen.

An diesem Tag hatten wir es nicht eilig. Die Fahrt würde noch Tage dauern. Ich erinnere mich, dass die Sonne schien.

Nicht die ganze Zeit. Also man sagt das so. Weil das Leben dann unbedenklich ist, wie in der Werbung. Man kann so was ruhig wiederholen. Es beruhigt die Leute, wenn sich die Dinge wiederholen.

»Ein sonniger Tag. Ist doch ganz einfach«, unterbrach der Dicke von zwei Reihen hinter mir und ich verdrehte die Augen. Der Bus fuhr über ein Schlagloch und uns allen haute es die alkoholischen Getränke aus der Hand.

Als die Kiste Club Mate zu Ende ging, meinte Jane mit aufgerissenen Augen: »Ich halte das nicht mehr aus, Speed! Diese Ewigkeit, in der wir aufeinander hocken und uns mit uns selbst beschäftigen müssen. Einige haben schon abgestimmt, ob wir nicht anhalten und uns ein paar DVD´s kaufen und Schokolade. Damit wir zuordenbar werden.«

»Sei nicht so agro«, sagte ich zu ihr: »Wir müssen da durch!«

Von Hinten kam ein Raunzen. Doch niemand wagte den Aufstand.

An der Tankstelle luden wir zwei Kisten Club Mate und einige Säcke Red Bull in den Bus. Die Mädchen bekamen Magnum Mandel.

»Is wohl ein Spiel wo, was«, fragte der Tankwart lässig.

»Nee. Es ist ein Projekt. Wir suchen etwas. Denn wir kommen aus Berlin. Voll echt jetzt. Und dort fühlen wir uns nicht mehr frei. Es stimmt nicht mehr. Wie mit der Demokratie, dem fortschrittlichen und moralisch überlegenen Westen, der Europäischen Union. Alles Dinge, die wir nie als wir selbst erlebt haben, sondern nur gesehen, durch die Linse einer Kamera, aus der Distanz eines Touristen. Wir sind uns selbst fremd geworden«, sagte Jane betroffen und umarmte ihn. Dann kam es ihr vielleicht vor, als orientierte sie sich an mir. An der Art wie ich sprach: »Nur sind wir noch nicht konsequent genug, weil wir sensibel sind und darum ständig auf Rückfall. Das Zeug hier ist Scheiße«, seufzte sie und deutete auf den Sack voller Red Bull Dosen: »Das verstehe ich, dass du nicht anders kannst, als die Droge weiter zu verkaufen. Wir können auch nicht anders, aber wir müssen uns bemühen. Sonst wird das nie was. Die Sicherheit der gespielten Existenz loslassen, in dem wir sie bewusst spielen und fallen, bis wir den