P.I.D. 1 - Im Visier der Vergangenheit - Andrea Bugla - E-Book

P.I.D. 1 - Im Visier der Vergangenheit E-Book

Andrea Bugla

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Beschreibung

Juliette Jennings steht ganz oben auf der Todesliste eines skrupellosen Killers. Plötzlich selbst des Mordes beschuldigt, will sie nur noch eins: die Hilfe ihres großen Bruders. Ein riesiger Fehler, wie sie bald erkennt. Wenn sie ihn retten will, muss sie von der Bildfläche verschwinden - und zwar sofort! Doch Nate Cooper, ehemaliger Army Sergeant und bester Freund ihres Bruders, macht all ihre Pläne zunichte. Er besteht darauf, sie in Sicherheit zu bringen. Trotz der Zweifel an ihm und seiner Organisation P.I.D. hat Juliette keine Wahl: Sie muss ihr Leben in die Hände eines Fremden legen! Denn ihre Verfolger sind mächtiger als vermutet - und das unerwartete Verlangen zwischen ihr und ihrem sexy Beschützer zieht sie immer stärker in seinen Bann... Der Auftakt der neuen PID-Serie von Andrea Bugla.

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Seitenzahl: 281

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IMPRESSUM

books2read ist ein Imprint der HarperCollins Germany GmbH, Valentinskamp 24, 20354 Hamburg, [email protected]

Geschäftsleitung:Thomas BeckmannRedaktionsleitung:Claudia Wuttke

Copyright © 2015 by books2read in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

Umschlagmotiv: "nensuria / Thinkstock, vichie81 / Thinkstock, Ksanawo / Shutterstock Umschlaggestaltung: Arne Reuter

Veröffentlicht im ePub Format im 06/2015

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733781583

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. books2read Publikationen dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

www.books2read.de

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PROLOG

Es war ein Fehler.

Ein Riesenfehler!

Und der könnte sowohl Naomi als auch sie das Leben kosten.

Aber hatte sie eine andere Wahl? Ihre Freundin war verletzt und brauchte dringend einen Arzt. So wie ihr Schädel pochte, könnte Juliette vermutlich selbst einen gebrauchen. Sie wusste nicht, ob sie mehr als eine Gehirnerschütterung hatte und wie lange es noch dauerte, bis sie in Ohnmacht fiel. Die Hitze, die sich zwischen den Kisten, Gerätschaften und Regalen staute, machte es auch nicht gerade besser.

Die Sorge um ihre Freundin überwog die Angst, dass ihre Kidnapper sie erwischten. Deshalb nutzte Juliette die erste Chance, die sich ihr bot.

Kaum war Carl für einen Moment hinter den großen Regalen verschwunden, um die Lage zu checken, sprang sie auf und huschte an Kurt vorbei. Dankbar dafür, dass Naomis Wimmern ihn ablenkte, tauchte sie in einem der Gänge unter. Natürlich blieb das nicht unbemerkt, doch fürs erste war sie frei.

So schnell und so leise wie möglich bewegte sie sich weiter durch die Regalschluchten – auch wenn alles in ihr danach drängte, sich sofort in der nächstbesten Lücke zu verstecken, als Kurt die Suche nach ihr aufnahm.

Keine vier Meter von der rettenden Tür entfernt kauerte sie sich kurz darauf zwischen zwei Kisten und lauschte den Schritten ihres Verfolgers. Er machte Lärm für drei, während er einen Gang nach dem anderen absuchte.

„Wenn ich das Hirn deiner Freundin nicht über den Boden verteilen soll, beweg deinen Arsch hierher, du blöde Schlampe!“, ertönte Carls eisige Stimme.

Juliette zweifelte keine Sekunde daran, wie ernst er es meinte. Für ihn zählte Geld – und nur das. Die Entscheidung über Leben und Tod eines Menschen war reine Formsache und beschäftigte ihn nicht weiter, nachdem er sie erst getroffen hatte. Seine Kaltblütigkeit machte ihn gefährlich – genau wie die extreme Nervosität seinen Kollegen in eine tickende Zeitbombe verwandelte, die jederzeit explodieren konnte. Kurt war es auch gewesen, der auf Naomi geschossen hatte. Und das nur, weil sie über eine Holzlatte gestolpert und ihm entgegen getaumelt war …

„Ich zähle bis drei!“, rief Carl.

„Juliette!“, hörte sie Naomi schreien. „Hau ab! Renn…“

Ein Klatschen – dem Geräusch nach eine Ohrfeige – unterbrach ihre Worte. Im nächsten Moment drang ein leises Wimmern an ihr Ohr.

Juliette schluckte und kämpfte die aufsteigenden Tränen zurück. Sie wusste, dass sie Naomi nur helfen konnte, wenn sie es hinaus schaffte. Immer wieder hatte sie Juliette leise dazu gedrängt, wenn möglich zu fliehen. Wäre sie erst mal frei, könne sie Hilfe holen.

Tja, liebe Freundin, wenn du mir da mal nicht zu viel zutraust, dachte Juliette unsicher. Es behagte ihr nach wie vor nicht, ihre Freundin zurückzulassen.

Sie sah abwechselnd in die Richtung, aus der sie gekommen war, und zum Ausgang. Es waren nur noch wenige Meter bis zu der Tür, hinter der ihre Rettung wartete. Zahllose Polizisten und andere Einsatzkräfte hatten sich schon vor der Lagerhalle versammelt. Es musste eine ganze Armee sein, wie Juliette aus den unzähligen blau-rot flackernden Lichtern schloss, die hinter den viel zu hohen und viel zu schmalen Fenstern tanzten. Juliette fuhr sich über die Stirn und zuckte zusammen, als Schweiß in der Platzwunde brannte. Die beginnende Mittagshitze hatte die Halle schnell in einen Ofen verwandelt.

„Eins!“

„Werfen Sie die Waffen weg und kommen Sie mit erhobenen Händen heraus!“, rief eine weitere Stimme – diesmal von draußen und zweifellos durch ein Megafon verstärkt.

Nur einen Gang von Juliette entfernt schepperte etwas laut zu Boden. Vielleicht hatte sich einer der beiden von dem plötzlichen Polizeibefehl ablenken lassen und ist dabei gegen eine Kiste gelaufen? Juliette konnte ihren erschreckten Aufschrei gerade noch zurückhalten. Der Puls schlug ihr bis zum Hals und hämmerte erbarmungslos gegen ihre Schädeldecke.

Sie musste hier weg, ehe die Männer sie aufspürten!

„Zwei!“

Verdammt, was wenn er ernst machte? Sicher hatte er nicht den Auftrag, sie zu ermorden – sonst wären sie längst tot. Doch Carl machte nicht gerade den Eindruck, sich auf Biegen und Brechen ans Drehbuch zu halten.

„Das Lagerhaus ist umstellt. Sie haben keine Chance. Sie haben eine Minute, um sich zu ergeben!“

„Carl? Ich finde sie nicht! Ich glaube, sie ist weg!“

Kurt stand keine zwei Meter von ihr entfernt und spähte in die Richtung seines Komplizen, der offenbar noch Naomi bewachte. Panisch riss Juliette den Kopf rum, um auszumachen, wo sich Kurt genau befand, und schlug dabei hart gegen die Ecke eines Regalbretts. Neuer Schmerz jagte wie ein Speer durch ihr Gehirn, nahm ihr einen Augenblick lang Sicht und Luft. Es kostete sie alle Körperbeherrschung, stillzuhalten und sich nicht zu verraten.

„Die Minute ist fast rum. Treffen Sie die richtige Entscheidung und geben Sie auf!“, rief der Polizist eindringlich in das Megafon.

„Verdammt! Sie kann nicht weit gekommen sein, du dämlicher Trottel. Finde sie!“, fluchte Carl.

Plötzlich schrie Naomi auf, ein Stuhl kippte um und Carl forderte sie barsch auf, sich zu bewegen.

Juliette beobachtete, wie Kurt sich ein letztes Mal umschaute und sich dann überraschend entfernte.

Das war ihre Chance – vielleicht die letzte, die sie bekommen würde. Wenn das schiefgeht, Naomi, verzeih mir.

Juliette schlüpfte aus ihrer Nische und rannte zur Tür.

Weit kam sie nicht. Es war ein einfacher Riegel, der ihr den Weg in die Freiheit versagte. Verrostet und leicht verbogen wollte er sich einfach nicht bewegen lassen. Verzweiflung wallte in ihr auf. Das durfte einfach nicht wahr sein. Juliette zog und drückte, stemmte sich gegen die Tür, während sie weiter am Riegel rüttelte. Aber dieses blöde Ding wollte sich einfach nicht rühren. In einem Anfall von Wut und Frust trat sie heftig gegen die Tür – und wusste bereits in diesem Moment, dass das eine blöde Idee gewesen war. Der Knall hallte durch die ganze Halle.

Sich innerlich für diese hirnrissige Aktion maßregelnd, suchte sie die im Halbdunkeln liegenden Gänge ab. Gebannt horchte sie nach jeder noch so kleinen Regung, und ein leiser Schrei entfuhr ihrer Kehle, als Kurts Stimme die Stille zerriss.

„Du kannst dich nicht ewig verstecken, du Miststück! Ich weiß genau, wo du steckst. Wenn ich bei dir bin, dann Gnade dir Gott!“

Er klang alles andere als selbstsicher. Offenbar ließ ihn die Warnung der Polizisten doch nicht so kalt, wie er sie das glauben lassen wollte. Aber eben diese Unruhe machte ihn gleichzeitig unberechenbar. Und er würde sie finden. „Ich habe die Schnauze voll! Komm raus jetzt! Glaub mir, wenn ich dich erst holen muss …“

Seine Schritte hallten durch das Gebäude. Er gab sich keine Mühe mehr, leise zu sein – nicht, dass er damit bisher viel Erfolg gehabt hätte. Juliette konnte geradezu vor sich sehen, wie er mal rechts und mal links abbog, während er kontinuierlich näher kam.

Von draußen war wieder die fremde Stimme zu hören. Diesmal klang sie gedämpfter, wenn auch nicht mit weniger Nachdruck. Wieder wurde Carl aufgefordert, sich zu ergeben. Juliette hörte, wie er trocken auflachte. Kurz darauf vernahm sie einen dumpfen Schlag von Metall auf Metall – direkt hinter der Tür – und die Stimmen der Polizisten verstummten.

Der Krach hier in der Lagerhalle nahm indes immer weiter zu. Juliette tastete blindlings hinter sich. Wenn sie irgendwas fände, das sie werfen könnte, um ihren Verfolger wenigstens für einen Moment in eine andere Richtung zu lotsen …

Wenn sie nur mit irgendetwas Lärm veranstalten könnte … In Filmen klappte das doch auch immer.

Sie fand eine Latte, die jedoch unter dem Regal eingeklemmt war. Juliette sah sich unruhig um. Schließlich fand sie einen Backstein, der zu klobig war, um ihn hoch und weit genug werfen zu können, und ein armlanges, zeitungsdickes Metallrohr. Während Juliette noch überlegte, wie sie nun die Aufmerksamkeit ihres Verfolgers von sich ablenken könnte, entdeckte sie auf dem Boden einige verstreute Schrauben. Schnell sammelte sie sie auf und sog heftig Luft ein, als sich die Spitzen in ihre Handflächen bohrten. Juliette kniff einige Sekunden lang die Augen zu.

Der Schmerz, für sich allein harmlos, verbündete sich mit den stechenden Kopfschmerzen zu einem rot glühenden Schürhaken. Eine quälende Welle breitete sich in ihr aus, bis sich ihr der Magen drehte und sie sich fast übergeben musste. Nur mühsam konnte sie dagegen ankämpfen.

Juliette nahm einen letzten Atemzug und schleuderte die kleinen Behelfsgeschosse so hoch wie möglich – doch das war wohl zu viel des Guten, denn die Nägel prallten an der Kante des vorletzten Regalbrettes ab und prasselten ihr wieder direkt vor die Füße. Mit dem Wurf würde sie sicher auf Lebzeiten aus der MLB ausgeschlossen werden – nicht dass sie sich je groß für Baseball interessiert hatte.

Kurt lachte irre auf, schließlich kamen die Geräusche genau aus der Richtung, in die er ohnehin unterwegs war. Juliettes Hände zitterten, als sie nach dem Metallrohr griff und es über den Kopf hob.

Sie wollte das hier nicht. Das war nicht richtig.

Sie arbeitete als einfache Verkäuferin in einem Spielwarenladen. Ihr Job war es, Modellautos und Stofftiere in die Regale zu räumen, über die aktuellen Trends der Sammelkarten und – figuren Bescheid zu wissen und stets das passende Geschenk für einen Kindergeburtstag zu finden. Es war nicht ihr Job, sich irgendwelchen Verbrechern in den Weg zu stellen. Schon gar nicht, wenn die eine geladene Waffe und einen nervösen Abzugsfinger hatten.

Zum millionsten Mal in den letzten drei Tagen – drei Tage, die ihr wie Monate vorkamen – fragte sich Juliette, wie das alles hatte passieren können. Die Recherche ihrer Freundin Naomi war der Stein gewesen, der alles ins Rollen gebracht hatte. Sie hatte an einem Enthüllungsbericht gearbeitet und war einem Großindustriellen gefolgt, der im Verdacht stand, in illegale Geschäfte verwickelt zu sein. Als ihr Aufnahmegerät genau im entscheidenden Moment den Geist aufgab, hatte sie kurzerhand das Gespräch mit dem Handy aufgenommen und die Datei an ihren Laptop schicken wollen. Das Video war dann jedoch bei Juliette gelandet. Danach hatte eins zum anderen geführt.

Ein kleiner Tastendruck und eine falsche Email-Adresse, mehr hatte es nicht bedurft, um ihr Leben in diese Katastrophe zu verwandeln.

Und doch konnte sie Naomi deswegen irgendwie nicht böse sein. Auch wenn die das anders sah. Immer wieder hatte sie sich entschuldigt. Sie hatte geweint und gefleht – ja, Juliette sogar angeschrien, doch endlich mit ihrem beschissenen Verständnis aufzuhören.

„Hab ich dich endlich!“

Völlig erstarrt blickte Juliette in den Lauf eines Revolvers. Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus, ehe sie die Situation begriff und die blanke Angst sie erfasste. Kurt hatte seine Waffe direkt auf sie gerichtet, sein Gesicht war zu einer grinsenden Fratze verzogen.

Juliette handelte instinktiv, als sie den Arm hochriss und ihm das Rohr gegen den Arm schmetterte. Wie von einer fremden Macht getrieben wechselte sie die Schlagrichtung und schwang ihm ihre Waffe vor den Kopf.

Es hörte sich an, als würde man versuchen, mit einer Melone einen Homerun zu schlagen. Verdammt, was hatte sie denn heute nur immer mit Baseball. Ihr Bruder Jings wäre begeistert – nur, dass er nie etwas davon erfahren würde …

Mit glasigen Augen und perplexem Gesichtsausdruck ging Kurt in die Knie und kippte zur Seite weg.

Sie brauchte kurz, um das Entsetzen über ihre Tat abzuschütteln. Sie war nicht gewalttätig. Sie schlug nicht mal Fliegen tot. Und jetzt knüppelte sie einen Mann bewusstlos.

Juliette versuchte sich zu konzentrieren. Gab es vielleicht noch einen anderen Ausgang? Oder sollte sie es weiter an dieser Tür versuchen?

Sie entschied sich für letzteres. Wer wusste schon, wie lange der Typ bewusstlos war. Sie wollte keine Zeit verlieren. Und schon gar nicht wollte sie über ihn steigen.

So fest sie konnte schlug sie mit dem Backstein auf den kleinen Griff des Riegels ein. Immer wieder und wieder hieb sie darauf ein, wobei ihr jeder Aufprall durch und durch ging. Etliche blutende Schrammen und endlose Minuten später schien sich das Metall endlich zu bewegen. Nur noch ein kleines Stück und es wäre geschafft. Den Schmerz in ihren Schläfen und in ihren Fingern ignorierend, legte sie all ihre Kraft in einen letzten Schlag.

Gerade als der Riegel die Tür freigab, stöhnte Kurt auf. Juliette starrte ihn an, versuchte Bewegungen auszumachen, die von seinem Erwachen zeugten.

Hatte sie es sich nur eingebildet?

Verdammt, du blöde Kuh, mach lieber, dass du hier rauskommst.

Sie straffte die Schultern und schob mit zittrigen Händen die Tür auf.

Grelles Licht blendete sie und ließ in ihrem Kopf mehrere Splitterbomben explodieren. Sofort taumelte sie, bekam sich aber wieder gut genug in den Griff, um nicht zu stürzen.

„Hände hoch! Keine Bewegung! Werfen sie die Waffe weg!“, prasselten gebellte Befehle auf sie ein, kaum dass sie auf der Türschwelle stand. Was denn für eine Waffe?

Völlig durcheinander blickte sie an sich hinunter und bemerkte, dass sie den Backstein noch immer fest umklammerte. Betäubt ließ sie es fallen und hob die Hände über den Kopf.

Die gleißend helle Welt schwankte wie ein Kahn auf unruhiger See.

„Bitte, ich habe doch nichts getan“, flüsterte sie und trat zitternd einen Schritt vor. Heiße, schwüle Luft umhüllte sie sofort erbarmungslos und verstopfte ihre Lunge wie nasse Watte. Hier draußen war es nur unwesentlich kühler als in der Lagerhalle.

„Gehen sie von der Tür weg!“

Eine dunkle Silhouette kam näher. Da sich ihre Augen nach wie vor nicht an die Helligkeit gewöhnt hatten, konnte Juliette unmöglich erkennen, was die Gestalt dabei in den Händen hielt. Angst durchfuhr sie in neuen heftigen und alles verschlingenden Wellen.

„Miss, bitte treten sie von der Tür weg.“ Die tiefe Stimme klang nun mehr als angespannt.

Ich bin das Opfer, ich habe nichts getan, wollte Juliette schreien. Doch dazu kam sie nicht mehr.

Plötzlich lief alles in Zeitlupe und gleichzeitig rasend schnell ab. Schüsse fielen, Stimmen brüllten, und etwas traf sie so hart am Rücken, dass sie nach vorne geschleudert wurde. Unbändiger Schmerz – wie schnell man sich doch das bisschen Kopfweh zurückwünschen konnte – flammte in ihrem Rückgrat auf. Ihr Herz stolperte, und aus der Watte in ihrer Lunge wurde zähflüssiger Teer.

Hände packten sie, rissen sie zur Seite und ließen sie dann zu Boden sinken. Ein verschwommenes Gesicht tauchte in ihrem Blickfeld auf. Lippen bewegten sich, doch Juliette konnte kaum verstehen, was sie sagten.

„Jennings! Juliette! Sie sind in Sicherheit. Ein Arzt ist unterwegs.“

Diese Stimme … Juliette versuchte sich zu erinnern, aber sie war so müde.

Der Mann strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. „Bleiben Sie wach. Juliette, bleiben Sie wach“, beschwor er sie immer wieder. Doch sie war einfach zu müde.

1. KAPITEL

„Gute Nacht, Ms Wilder. Machen Sie nicht mehr so lange. Es ist doch Wochenende.“ Der blonde Student klopfte zweimal auf die Theke, lächelte sie an und ging mit langen Schritten davon. Er war der letzte Besucher, der die Bibliothek verließ. Jeden Freitag arbeitete er bis in den Abend hinein an einem Projekt, mit dem er mal ganz groß rauskommen wollte, bevor er sie ermahnte, auch bald nach Hause zu gehen, und sich in den wohlverdienten Feierabend aufmachte.

Juliette schloss hinter ihm ab und atmete tief durch. Sie liebte diese letzten Minuten, wenn sie die Bibliothek ganz für sich hatte. Es war die einzige Zeit, in der sie wenigstens ein bisschen Frieden fand. Sie räumte zurückgegebene und liegengelassene Bücher in die Regale, ging die bald endenden Leihfristen durch und rückte die Stühle zurecht. Sie ließ sich damit Zeit, schließlich hatte sie es nicht eilig, nach Hause zu kommen.

In wenigen Wochen, wenn es früher dunkel wurde, würde sie die Spätschicht abgeben. Sie ging schon bei Tageslicht ungern auf die Straße. Dies aber nach Einbruch der Dämmerung tun zu müssen, bereitete ihr schon bei der Vorstellung eine zentimeterhohe Gänsehaut.

Nachdem die Arbeit getan war, löschte sie das Licht und verließ die sicheren Wände der Bibliothek. Sofort kehrten die Unruhe und dieses Kribbeln im Nacken zurück, das sie wahnsinnig machte. Ein letztes Mal ließ sie den Blick über den großen Parkplatz streifen, ehe sie die breiten Stufen der Bibliothek hinabstieg und ihren kleinen alten Käfer ansteuerte. Nur mühsam hielt sie ihre Augen nach vorne gerichtet.

Sie wusste, dass sie sich selbst verrückt machte, und ermahnte sich jeden Tag aufs Neue, sich endlich zusammenzureißen. Seit neun Monaten wohnte sie jetzt als Lori Wilder in Pasadena. Sie hatte sich hier ein Leben aufgebaut, auch wenn man wohl eine Menge Fantasie brauchte, um es so zu nennen. Morgens zur Arbeit, nachmittags schnell ein paar Erledigungen machen und dann noch schneller nach Hause, wo sie den Abend vor dem Fernseher oder dem Computer verbrachte. Hatte sie Spätschicht, lief alles einfach nur in veränderter Reihenfolge ab. Sie hatte kaum Kontakt zu den Kollegen und keine Freunde. Genaugenommen verließ sie ihre Wohnung so selten, dass sie wahrscheinlich immer noch nicht nach Hause finden würde, wenn man sie zwei Straßen entfernt aussetzte.

Juliette lief über den kleinen Rasenstreifen und sah sich hektisch zwischen den Bäumen um. Sie waren nicht hoch und die Stämme nicht allzu breit. Dennoch wäre es sicher möglich, hinter ihnen Deckung zu finden. Normalerweise parkte sie näher am Gebäude, doch heute Mittag waren sämtliche Plätze dort bereits besetzt gewesen.

Sie angelte in ihrer Handtasche nach dem Autoschlüssel, hielt aber kurz vor dem Wagen inne, denn sie konnte ihren Schlüsselbund nirgends finden.

Wo war er nur? Juliette verstaute ihn stets im vorderen Fach und nahm ihn nie heraus. Ein dicker roter Puschel hing am Schlüsselring. Der dürfte doch nicht zu übersehen sein.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie endlich fündig wurde. Erleichtert zog sie den Bund aus der Tasche – nur um ihn gleich darauf fallen zu lassen. Auf der anderen Seite des Parkplatzes, gleich neben der Ausfahrt, stand ein goldener Lincoln, der vor zwei Minuten noch nicht da gewesen war. Auch wenn sich die untergehende Sonne in den Scheiben spiegelte, glaubte Juliette zu erkennen, dass der Fahrer sie anstarrte. Schweiß trat auf ihre Stirn, ein Kribbeln zog ihr über die Haut. Hatten sie sie gefunden? Wie konnte das möglich sein?

Seit Juliette Jennings und Naomi Watson vor fünf Jahren bei den Lagerhallen starben, führten keine Spuren mehr zu ihr. Sie war jetzt Lori, weit weg von Zuhause und fernab von irgendwelchen alten Kontakten. Andererseits, war sie nicht erst vor einem knappen Jahr bereits schon mal gezwungen gewesen, umzuziehen? Und das nur, weil ihr zufällig eine alte Schulfreundin über den Weg gelaufen war, die es nach der Heirat nach Cincinnati gezogen hatte.

Würde das nun wieder nötig sein?

Sollte sie anrufen oder abwarten?

Würde sie hysterisch erscheinen, wenn sie wegen eines Autos anrief, das aus Millionen Gründen dort angehalten haben könnte?

Tausend derartiger Fragen schossen ihr durch den Sinn, lähmten sie fast. Hier auf dem Parkplatz gab sie ein offenes Ziel ab. Sie musste hier weg. Aber wohin? Natürlich wäre es das sinnigste, einfach zurück zu den Gebäuden zu rennen. Doch sie hatte gesehen, wie skrupellos die Männer waren, die sie damals verfolgt hatten. Wie konnte sie da das Risiko eingehen und noch mehr Menschen in die Schusslinie bringen? Zu Fuß flüchten war ebenfalls keine Option. Das Gelände war so offen, dass man – zumindest in der näheren Umgebung – überall mit dem Auto durchkam, wenn man nur wollte. Und wer wusste schon, ob der Typ in dem Lincoln allein war.

Juliette schnappte sich den Schlüssel vom Boden und spurtete los. Vielleicht wäre es cleverer gewesen, sich nichts anmerken zu lassen. Doch nachdem sie ohnehin schon viel zu lange zu dem Wagen gestarrt hatte, wusste der Fahrer vermutlich eh, dass er entdeckt worden war. Juliette sah ein letztes Mal hin und stoppte abrupt. Zweimal drehte sie sich um die eigene Achse, um sicher zu gehen, dass sie in die richtige Richtung schaute.

Der Lincoln war weg!

Juliette war zum Heulen zumute. Langsam aber sicher verwandelte sie sich in ein nervliches Wrack. Seit Tagen schon schlug sie sich mit Panikattacken herum, und sie konnte nur hoffen, dass es lediglich mit dem Jahrestag der Schießerei zu tun hatte.

„Probleme mit dem Auto?“

Juliette schrie auf und schlug noch im Umdrehen wild um sich. Erst, als jemand sie bei den Schultern packte und sie schüttelte, erkannte sie auch die dazugehörige Stimme. Sofort stellte sie ihre Verteidigung ein.

Herold, ihr Kollege, hatte einiges abbekommen. Eine Strieme zog sich über seine Wange und das Jochbein leuchtete in einem tiefen Rot. Spätestens morgen früh würde die Stelle ein eindrucksvolles Veilchen zieren. Doch aus seinem Blick schien weniger Vorsicht als Sorge zu sprechen, als er sie jetzt musterte.

„Oh Gott. Es tut mir leid. Es tut mir so leid!“ beteuerte Juliette schnell und den Tränen nahe. Sie wollte einen Schritt zurücktreten, doch Herold ließ das nicht zu.

„Ist schon gut. Ich habe dich erschreckt.“ Sie konnte in seinen Augen sehen, dass einiges ungesagt blieb.

Juliette zitterte, und ihr Puls jagte immer noch. „Ich habe … ich kann … ich kann mich nur noch mal entschuldigen.“ Sie warf einen Blick über die Schulter. Der Wagen war immer noch verschwunden. „Ich bin zurzeit etwas nervös. Ich werde jetzt nach Hause fahren, mir einen Tee machen und dann ins Bett gehen.“ Diesmal konnte Herold nicht verhindern, dass sie sich von ihm entfernte. Doch als sie den Schlüssel in das Türschloss ihres Käfers stecken wollte, nahm ihr Kollege ihn ihr einfach ab.

„Du fährst nirgendwo hin. Nicht, wenn du so durcheinander bist! Komm, ich fahre dich.“ erklärte er ruhig.

„Das ist nicht nötig.“ Sie würde nie zugeben, wie dankbar sie dafür wäre, sich in ihrer Verfassung nicht auch noch auf den Verkehr konzentrieren zu müssen. „Ich schaffe das schon.“

„Keine Widerrede.“ Noch ehe sie etwas sagen konnte, hatte er ihr schon den Arm um die Schulter gelegt und sie mit sich gezogen. Juliette ließ es widerstandslos geschehen. Sie wusste, wann sie verloren hatte. Und schließlich war es doch nur Herold. Er und seine Frau arbeiteten seit einigen Monaten in der Bibliothek. Sie waren noch relativ jung und fielen überall auf, wo sie gemeinsam auftauchten. Herold sah aus wie eine Mischung aus Goth und Hippie. Heather erinnerte an eine ehemalige Cheerleader-Abschlussballkönigin, nur ohne die arroganten Züge, die man an solchen Mädchen und Frauen nur zu oft beobachten konnte. Teilte man sich mit ihnen eine Schicht, kam nie Langeweile auf. Sie brachten selbst Juliette dazu, ab und an mal zu schmunzeln. Nicht selten hatte sie gedacht, dass sie zu einem anderen Zeitpunkt – in einem anderen Leben – sicher Freunde geworden wären. Einmal waren sie abends weg gewesen, doch es hatte in einem Fiasko geendet, als ein Mann auf Juliette zugekommen war und sie gefragt hatte, ob sie sich aus einem anderen Leben kennen würden. Ein Teil von ihr hatte gewusst, dass es einfach nur ein äußerst flacher Anmachspruch gewesen war. Einer Panikattacke hatte sie damit aber nicht entgegenwirken können.

„Es tut mir leid“, wiederholte sie ihre Worte von damals.

Herold bog auf die Straße und sah sie kurz an. „Du musst dich für nichts entschuldigen. Nach allem, was du …“

„Nach allem was?“ Was meinte er? Er konnte unmöglich etwas von ihrer Vergangenheit wissen. Oder?

Adrenalin rauschte durch ihre Blutbahnen. Nein, niemand hier wusste etwas von ihrer Vergangenheit!

„Nach allem, was ich von Heather gehört und auch selbst beobachtet habe, bin ich sicher, dass es einen triftigen Grund gibt, warum du bist wie du bist. Das ist alles.“

„Wie bin ich denn?“ Juliette konnte nichts gegen die Schärfe in ihrer Stimme tun. Sie war viel zu beschäftigt damit, ihr Herz am Stehenbleiben zu hindern.

„Du bist jetzt seit – einem Jahr? – in Pasadena und würdest dich sicher auch jetzt noch verlaufen, so zurückgezogen lebst du.“ Er ignorierte ihren Tonfall und setzte seine Ausführungen fort. „Du blickst dich ständig um und musterst jeden in deiner Nähe, als würdest du jeden Moment damit rechnen, dass einer eine Knarre zieht. Du traust keinem und zuckst zusammen, sobald man dich anspricht. Nur selten habe ich dich mal lächeln gesehen.“ Mit jedem Wort zog sich mehr in ihr zusammen. Hatte sie sich wirklich so auffällig verhalten? Dabei hatte sie doch genau das vermeiden sollen.

Verhalte dich unauffällig. Verhalte dich normal. Lebe ein unauffälliges, normales Leben. Genau das hatte man ihr vor ihrem ersten Umzug eindringlich ans Herz gelegt. Nur war das einfacher gesagt als getan.

Herold setzte den Blinker und bog auf den Foothill Freeway. „Keine Ahnung, was dich so hat werden lassen. Aber es muss etwas Heftiges gewesen sein. Du hast also keinen Grund, dich zu entschuldigen.“ Er warf ihr einen schnellen mitfühlenden Blick zu. „Und sollte irgendetwas sein oder du einfach nur mal reden wollen, kannst du jederzeit zu mir kommen. Oder zu Heather.“

Juliette schluckte den dicken Kloss runter, der ihr die Luft zum Atmen nahm. „Danke.“ Das meinte sie wirklich, auch wenn es dazu niemals kommen würde.

„Nichts zu da… Scheiße!“ Herold ging voll in die Eisen und riss das Lenkrad rum. Nur einen Wimpernschlag später schoss ein brauner Wagen quer über die Fahrbahnen. Hätte Herold nur eine Sekunde später reagiert, wären sie kollidiert. „So ein Penner! Bist du in Ordnung?“, erkundigte er sich, als er sich auf der rechten Spur eingeordnet und den Schrecken einigermaßen überwunden hatte.

Juliette nickte. Sagen konnte sie nichts. Ihr Herz raste, sprengte geradezu ihren Brustkorb. Unvermittelt grub sie ihre Fingernägel in die Armlehne.

Als sich das Fenster mit einem Surren öffnete, schrie sie auf.

„Verdammt! Ich bin wohl wirklich reif für die Klapse.“ Sie versuchte, belustigt zu klingen, versagte aber auf ganzer Linie. Herold hätte schon taub und blind sein müssen, um es ihr abzukaufen.

Juliette hatte den Wagen nur eine Sekunde lang gesehen, aber sie war sich fast sicher, dass es ein goldener Lincoln gewesen war. Okay, sie konnte sich auch geirrt haben, und selbst wenn nicht, gab es hunderte davon. Aber dennoch …

„Soll ich rechts ran fahren?“ Herold klang besorgt. „Lori?“

„Ähm, was? – Nein, ich will einfach nur nach Hause.“

Herold nickte und beschleunigte das Tempo wieder.

Die weitere Fahrt über schwiegen sie. Sicher spielte Herold diverse Szenarien durch, die Juliette in ihre Situation gebracht haben könnten. Oder er wartete darauf, dass sie vollends durchknallte. Juliette war ebenfalls mit verschiedenen Szenarien beschäftigt. Nur wusste sie nicht, ob es einfach nur ihre Paranoia war. Aber sie wollte einfach nicht glauben, dass es sich um reinen Zufall handelte, dass sie es innerhalb einer halben Stunde gleich zweimal mit einem goldenen Lincoln zu tun bekam.

Was, wenn es wirklich derselbe war? Was, wenn er nur verschwunden war, weil Herold auf dem Parkplatz aufgetaucht war? Was, wenn er jetzt zu Ende bringen wollte, wozu er zuvor nicht gekommen war? Wie konnte sie Herold schützen, wenn dem Mann Kollateralschäden egal waren?

Je mehr Fragen sich aneinander reihten, desto schummriger wurde es ihr. Dabei handelte es sich möglicherweise einfach nur um einen Autofahrer, der sein Navi neu eingestellt hatte. Oder vielleicht auch nur um jemanden, der auf ein anderes Fahrzeug gewartet hatte, das ihm folgte, weil sie ein gemeinsames Ziel hatten? Was, wenn sie gerade einfach nur ein rücksichtloser Rowdy geschnitten hatte? Die möglichen Erklärungen – beängstigende sowie beruhigende – häuften sich.

Nachdem Herold den Freeway verlassen hatte und nun durch die Innenstadt von Pasadena fuhr, konnte Juliette gar nicht anders als sich ständig nach allen Seiten umzusehen. Herold hatte inzwischen mit Heather gesprochen und ihr Bescheid gesagt, dass er Juliette getroffen hatte und sie nach Hause fuhr. Juliette beneidete Heather ein wenig, wenn sie der liebevollen Art und Weise lauschte, in der er mit ihr sprach. Wann sie das letzte Mal einen festen Freund gehabt hatte, konnte sie nicht mal mehr sagen. In ihrem Leben war kein Platz für die Liebe. Sie traute den Menschen nicht mal mehr so weit, wie sie gegen den Wind spuken konnte. Wie sollte sie dann eine Beziehung eingehen? Mal abgesehen davon, dass sie ihrem Partner wahrscheinlich nie die Wahrheit sagen könnte. Der Mann, der sie damals verfolgt hatte, war untergetaucht und seitdem wie vom Erdboden verschluckt. Doch das musste ja nicht so bleiben. Und was dann?

Herold hielt an und wartete, dass die Ampel auf Grün sprang. Er hatte versucht ein Gespräch in Gang zu bringen, es dann aber aufgegeben. Juliette hatte nur halb zugehört und dann auch nur einsilbig geantwortet. Er schien es ihr nicht zu verübeln. Um der Situation das Unbehagen zu nehmen, schaltete er einfach das Radio an und sang leise mit. Es war irgendein schwachsinniges Lied über Sommer, Blaubeeren und einen alten Kranfahrer – okay, vielleicht hatte sie auch einfach nicht auf den Text geachtet. Bei der zweiten Strophe gab sie sich etwas mehr Mühe und stimmte schließlich vorsichtig mit ein. Als der Refrain kam, lachte sie kopfschüttelnd auf. Es ging wirklich um Sommer, Blaubeeren und einen alten Kranfahrer. Mann, womit manche ihr Geld verdienten …

Der Wagen hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. Noch drei Straßen und sie wäre endlich Zuhause. Mittlerweile warfen die umliegenden Häuser lange Schatten auf die Straße. Die Rushhour lag hinter ihnen, sodass die Straßen langsam wieder leerer wurden.

Juliette atmete die kühle Luft ein und schimpfte sich innerlich eine Memme. Sie war inzwischen überzeugt davon, dass sie einfach nur überspannt war und deshalb überall den Feind gesehen hatte.

Das war alles. Man hatte sie nicht entdeckt, und dass sie den goldenen Lincoln an jeder Ecke sah, war einzig und allein ihrer sprudelnden Fantasie und übergroßen Paranoia zu verdanken.

„Könnten wir eventuell noch kurz bei dem Lebensmittelladen da drüben halten? Ich bräuchte ein paar Sachen fürs Wochenende.“ Sie hatte die Bitte noch nicht ganz ausgesprochen, da stand Herolds Toyota auch schon in einer – sicher nicht ganz offiziellen – Parklücke.

Weil er selbst einiges besorgen wollte, betraten sie gemeinsam das kleine Geschäft.

Mr Dišljenković, der nette ältere Serbe, der den Laden führte – und der so ziemlich der einzige Mensch Pasadenas außerhalb der Arbeit war, dessen Namen sie kannte –, begrüßte sie wie immer freundlich. Kaum dreihundert Meter von ihrer Wohnung entfernt, war dies Juliettes Lieblingsladen. Natürlich war hier alles ein wenig teurer als in den großen Supermärkten, aber die Differenz zahlte sie gerne, wenn sie dadurch die Menschenansammlungen meiden konnte. Mr Dišljenković erkundigte sich stets charmant nach ihrem Tag, versuchte jedoch nie, sie auszuquetschen. Ab und an spendierte er ihr einen Kaffee und einen Snack, wenn gerade nichts zu tun war. Was, wie er ihr einmal niedergeschlagen erzählt hatte, leider immer häufiger der Fall war. Dabei hatte er eigentlich vorgehabt, den Laden eines Tages seinem Sohn zu übergeben. Doch inzwischen bezweifelte er, dass er sein Geschäft bis dahin noch halten konnte. Die Zeiten seien schwer für den kleinen Mann, pflegte er immer zu sagen. Er war sogar erleichtert darüber, dass Kosta lieber Medienwissenschaften studieren wollte. So hatte sein Sohn wenigstens eine abgesicherte Zukunft.

Juliette hatte sich gerade nach Mr Dišljenković Befinden erkundigt, als ihr Blick an etwas hängenblieb, dass sich außerhalb des Geschäfts abspielte.

Ein Mann stieg aus seinem Wagen, betrachtete den Toyota und sah durch die Scheibe direkt zu Juliette. Ein kurzes Grinsen huschte über sein kantiges Gesicht. Er öffnete sein Sakko und schritt auf die Tür zu. Juliettes Blick wechselte zwischen dem Mann, dem Lincoln und dem Ladenbesitzer.

„Mr Dišljenković, gibt es hier noch einen anderen Ausgang?“ Sie versuchte, nicht aufgebracht zu klingen. Ob ihr das gelang, konnte sie bei dem Dröhnen in ihren Ohren nicht sagen. Der Ladenbesitzer folgte kurz ihrem Blick nach draußen, murmelte was auf Serbisch und deutete dann unauffällig zu einem dunklen Vorhang. Juliette nickte, dankbar darüber, dass er nicht lange fragte. Sie wollte schon losstürmen, als sie Herold zwischen den Regalen herumstromern sah.

„Sagen Sie meinem Freund bitte, er soll nach Hause fahren. Und er soll sich keine Sorgen machen.“ Wieder nickte der alte Mann. „Danke, Sie sind ein Schatz.“

Eilig und darauf bedacht, nicht den Eindruck einer Flüchtenden zu vermitteln, schritt sie zu dem Vorhang, warf einen letzten Blick zurück und schlüpfte dann hindurch.

Gerade als hinter ihr die Türglocke bimmelte.

Nun vor neugierigen Blicken geschützt, rannte Juliette durch den schmalen Gang, vorbei an der Küche, dem Lager und der Toilette, und sprang in die Gasse hinaus. Sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren, und schlug schließlich hoffentlich die richtige Richtung ein.

Glücklicherweise erwies sich der Verdacht, sie würde sich nach wie vor in der Nachbarschaft verlaufen, als falsch. Innerhalb weniger Minuten hatte sie den Hinterhof ihres Wohnhauses erreicht, hastete zu dem kleinen Schuppen, riss die Tür auf und trat hinein.

Unter der Werkbank, ganz hinten in der dunklen Ecke versteckt, lag eine kleine Reisetasche mit ein paar Kleidungsstücken, einem Handy und etwas Bargeld. Diese Vorbereitungsmaßnahme hatte man ihr bei ihrem ersten Umzug ans Herz gelegt, und wie auch beim letzten Mal sollte sich das nun rentieren.

Nur Minuten später trat sie wieder aus dem kleinen Hinterhof und eilte die Gasse hinunter. Tunlichst darauf achtend, mehr Abstand zu dem Laden und dem vermeintlichen Verfolger zu bringen, lief sie immer weiter, mied die größeren Straßen und schlängelte sich durch die kleinen Gassen. Eine Stunde lang lief sie so kreuz und quer durch Pasadena. Längst hatte sie die Orientierung verloren und sich nun doch hoffnungslos verirrt. Der einzige Vorteil daran war, dass auch ihr Verfolger sicher keine Ahnung haben würde, wo sie – oder er selbst – sich befand.

Ihre Lunge brannte. Schweiß hatte einen dünnen Film auf ihrer Haut hinterlassen, sodass das T-Shirt unangenehm klebte. Die Schwüle drückte sich zwischen die Häuserschluchten, obwohl die Sonne bereits untergegangen war. Sie hatte sich in einem kleinen Laden ein Sandwich und eine Cola geholt und hockte nun auf einer abseits gelegenen Bank. Unablässig ließ sie den Blick in alle Richtungen schweifen, während sie die nächsten Schritte überlegte.