Pater Browns Einfalt - Gilbert K. Chesterton - E-Book

Pater Browns Einfalt E-Book

Gilbert K. Chesterton

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Beschreibung

Vater Brown ist ein englischer katholischer Pfarrer, der als Hobby Kriminalfälle löst. Dies gelingt ihm, indem er sich in den Täter hineinversetzt, dabei das Verbrechen selbst begeht, wie er sagt. Dabei ist er aber weniger daran interessiert, Verbrecher der irdischen Gerechtigkeit auszuliefern, sondern er will sie zu Gott führen; eine freiwillige Beichte des Täters genügt ihm. Dabei spielt es für ihn keine Rolle, welches Amt diese Person bekleidet. 12 Kurzgeschichten: - Das blaue Kreuz (The Blue Cross) - Der geheime Garten (The Secret Garden) - Die verdächtigen Tritte (The Queer Feet) - Die Sternschnuppen (The Flying Stars) - Der Unsichtbare (The Invisible Man) - Israel Gows Ehre (The Honour of Israel Gow) - Mißgestaltet (The Wrong Shape) - Die Sünden des Prinzen Saradin (The Sins of Prince Saradine) - Der Hammer Gottes (The Hammer of God) - Das Auge des Apoll (The Eye of Apollo) - Das Zeichen des zerbrochenen Schwertes (The Sign of the Broken Sword) - Die drei Todeswerkzeuge (The Three Tools of Death) Zwischen 1910 und 1935 erschienen neunundvierzig Erzählungen von Chesterton über Father Brown, zunächst in Zeitschriften und anschließend zusammengefasst in mehreren Bänden. Browns einziger Freund ist der ehemalige Trickdieb Hercule Flambeau, der, von Brown bekehrt, zum Privatdetektiv wird. Es gibt übrigens ein reales Vorbild für Father Brown: Father John O'Connor von St. Custherberts, Bradford. Er war der Pfarrer, der Chestertons Konversion zum katholischen Glauben leitete. Die Fälle des Vater Brown sind bereits mehrmals für Kino und TV verfilmt worden. In Deutschland ist besonders die Verkörperung durch Heinz Rühmann bekannt. Null Papier Verlag

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Gilbert Keith Chesterton

Pater Browns Einfalt

Gilbert Keith Chesterton

Pater Browns Einfalt

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019Übersetzung: Hedwig M. von Lama 2. Auflage, ISBN 978-3-954180-78-3

www.null-papier.de/brown

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Buch und Au­tor

Vor­wort

Das blaue Kreuz (The Blue Cross)

Der ge­hei­me Gar­ten (The Se­cret Gar­den)

Die ver­däch­ti­gen Trit­te (The Queer Feet)

Die Stern­schnup­pen (The Fly­ing Stars)

Der Un­sicht­ba­re (The In­vi­si­ble Man)

Is­rael Gows Ehre (The Ho­nour of Is­rael Gow)

Miss­ge­stal­tet (The Wrong Sha­pe)

Die Sün­den des Prin­zen Sa­ra­din (The Sins of Prin­ce Sa­ra­di­ne)

Der Ham­mer Got­tes (The Ham­mer of God)

Das Auge des Apoll (The Eye of Apol­lo)

Das Zei­chen des zer­bro­che­nen Schwer­tes (The Sign of the Bro­ken Sword)

Die drei To­des­werk­zeu­ge (The Three Tools of Death)

Dan­ke

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Buch und Autor

Gil­bert Keith Che­s­ter­ton (1874-1936) zählt ne­ben Her­bert Ge­or­ge Wells, Ar­thur Co­nan Doy­le und Ru­dyard Kip­ling zu den klas­si­schen Al­les­kön­ne­r­au­to­ren Eng­lands am Ende der Vik­to­ria­ni­schen Epo­che bis zum Ende des ers­ten Drit­tels des 20. Jahr­hun­derts. Wie die­se hat er Tex­te ver­schie­dens­ter Art hin­ter­las­sen, dar­un­ter äu­ßerst ori­gi­nel­le Bei­trä­ge zur Fan­tas­tik.

Ge­wöhn­lich trug er ein Cape und einen zer­drück­ten Hut, einen Stock­de­gen in der Hand und hat­te eine Zi­gar­re aus dem Mund hän­gen. Er ver­gaß oft, wo­hin er woll­te, und ver­pass­te den Zug, der ihn dort­hin brin­gen soll­te. Es wird be­rich­tet, dass er mehr­fach sei­ner Frau von ent­fern­ten Or­ten Te­le­gram­me schick­te, um wie­der nach Hau­se zu fin­den.

Che­s­ter­ton lieb­te zu de­bat­tie­ren und be­tei­lig­te sich oft an freund­schaft­li­chen öf­fent­li­chen Dis­pu­ten mit Män­nern wie Ge­or­ge Ber­nard Shaw, H. G. Wells, Ber­trand Rus­sell und Cla­rence Dar­row.

In sei­nen Ro­ma­nen, Essays und Kurz­ge­schich­ten setz­te er sich in­ten­siv mit mo­der­nen Phi­lo­so­phien und Den­krich­tun­gen aus­ein­an­der.

Che­s­ter­ton schrieb Ge­dich­te, Büh­nen­stücke, meist aber Pro­sa: Essays, zahl­rei­che Er­zäh­lun­gen und Ro­ma­ne. Von man­chen Kri­ti­kern hoch­ge­lobt wur­den die von ihm ver­fass­ten Bio­gra­fi­en, bei­spiels­wei­se über Tho­mas von Aquin, Franz von As­si­si, Charles Di­ckens, Ro­bert Louis Ste­ven­son und Ge­or­ge Ber­nard Shaw.

Va­ter Brown ist ein eng­li­scher ka­tho­li­scher Pfar­rer, der als Hob­by Kri­mi­nal­fäl­le löst. Dies ge­lingt ihm, in­dem er sich in den Tä­ter hin­ein­ver­setzt, da­bei das Ver­bre­chen selbst be­geht, wie er sagt. Da­bei ist er aber we­ni­ger dar­an in­ter­es­siert, Ver­bre­cher der ir­di­schen Ge­rech­tig­keit aus­zu­lie­fern, son­dern er will sie zu Gott füh­ren; eine frei­wil­li­ge Beich­te des Tä­ters ge­nügt ihm. Da­bei spielt es für ihn kei­ne Rol­le, wel­ches Amt die­se Per­son be­klei­det.

Zwi­schen 1910 und 1935 er­schie­nen neun­und­vier­zig Er­zäh­lun­gen von Che­s­ter­ton über Fa­ther Brown, zu­nächst in Zeit­schrif­ten und an­schlie­ßend zu­sam­men­ge­fasst in meh­re­ren Bän­den.

Browns ein­zi­ger Freund ist der ehe­ma­li­ge Trick­dieb Her­cu­le Flam­beau, der, von Brown be­kehrt, zum Pri­vat­de­tek­tiv wird.

Es gibt üb­ri­gens ein rea­les Vor­bild für Fa­ther Brown: Fa­ther John O’Con­nor von St. Custher­berts, Brad­ford. Er war der Pfar­rer, der Che­s­ter­tons Kon­ver­si­on zum ka­tho­li­schen Glau­ben lei­te­te.

Die Fäl­le des Va­ter Brown sind be­reits mehr­mals für Kino und TV ver­filmt wor­den. In Deutsch­land ist be­son­ders die Ver­kör­pe­rung durch Heinz Rüh­mann be­kannt.

Vorwort

Wie fast über­all, so war auch in Eng­land ei­ner der Haupt­grün­de für die Ein­füh­rung der sog. Re­for­ma­ti­on der Vor­wurf, die ka­tho­li­sche Kir­che sei rö­misch und da­her ein Fremd­kör­per, der sich mit dem ein­hei­mi­schen, na­tio­na­len Geis­te nicht ver­tra­ge oder die­sem zu we­nig Rück­sicht er­wei­se. Die­ses Be­wusst­sein steckt heu­te noch tief im gan­zen eng­li­schen Pro­tes­tan­tis­mus und ein Über­tritt zur ka­tho­li­schen Kir­che be­deu­tet da­her dort auch einen Bruch mit die­ser Tra­di­ti­on des gan­zen Lan­des. In Wirk­lich­keit wird je­doch dem na­tio­na­len Ge­dan­ken im Ka­tho­li­zis­mus nur sein rich­ti­ger, na­tür­li­cher Platz an­ge­wie­sen, wer­den die ir­di­schen In­ter­es­sen den ewi­gen hintan­ge­setzt ent­spre­chend dem Ver­hält­nis­se der un­s­terb­li­chen See­le zum sterb­li­chen Lei­be, wenn wir nun seit ei­nem hal­b­en Jahr­hun­dert tat­säch­lich so zahl­rei­che Per­so­nen je­nen ir­ri­gen Stand­punkt ver­las­sen se­hen, so ist doch un­gleich grö­ßer noch die Zahl der­je­ni­gen, die ent­we­der nicht die Kraft be­sit­zen, aus ein­mal an­ge­nom­me­nen Wahr­hei­ten die letz­ten Schluss­fol­ge­run­gen zu zie­hen, oder die nicht bis zur vol­len Wahr­heit sich durch­zu­rin­gen im­stan­de wa­ren.

Vie­le un­ter ih­nen ha­ben aber den­noch der Er­kennt­nis des Wah­ren in je­nem Lan­de die Wege eb­nen ge­hol­fen, sie ha­ben Ber­ge von Schutt, Un­sum­men von Vor­ur­tei­len bei­sei­te ge­räumt und an­de­ren den Weg frei­ge­macht. Zu die­sen ge­hört G. K. Che­s­ter­ton. Er ist ei­ner von je­nen, die ver­ste­hen, die er­ken­nen, die be­grei­fen, bes­ser viel­leicht als vie­le Ka­tho­li­ken selbst, die aber den Glau­ben, das Ge­schenk der gött­li­chen Gna­de noch nicht be­sit­zen. So steht er auch heu­te noch drau­ßen, aber nie­mand hat so in den letz­ten Jah­ren sich für die ka­tho­li­sche Kir­che und al­les, was sie lehrt, ein­ge­setzt, wie er. Man braucht noch lan­ge nicht mit al­lem ein­ver­stan­den zu sein, was er in sei­nem be­kann­ten Bu­che »Or­tho­do­xie« schreibt, aber man wird doch zu­ge­ben müs­sen, dass von nicht­ka­tho­li­scher Sei­te für Nicht­ka­tho­li­ken sel­ten Bes­se­res über die ka­tho­li­sche Kir­che ge­schrie­ben wor­den ist. Wie er zu sei­nem ka­tho­li­schen Stand­punk­te kam, er­zählt er in »Ball und Kreuz«. Er war aus­ge­zo­gen, sich eine neue Re­li­gi­on, eine bes­se­re, als sei­ne an­gli­ka­ni­sche zu grün­den. Mit Hil­fe al­les des­sen, was sein Ver­stand ihm an Werk­zeu­gen dar­bot, mit Hil­fe vor al­lem von un­er­bitt­li­cher Lo­gik be­gann er sein an­gli­ka­ni­sches Kre­do zu rei­ni­gen und zu ver­bes­sern, und als er dann end­lich die Welt mit sei­nem na­gel­neu­en Sys­tem über­ra­schen woll­te, muss­te er se­hen, dass er Din­ge ent­deckt hat­te, in de­ren Be­sitz die ka­tho­li­sche Kir­che schon seit bald zwei­tau­send Jah­ren sich be­fin­det. Er war aus­ge­zo­gen, einen neu­en Erd­teil zu ent­de­cken, und was er ent­deckt, war die alte Hei­mat.

Eine der größ­ten Über­win­dun­gen für den­je­ni­gen, der der Kir­che sich nä­hern will, ist die Her­stel­lung ei­ner Ver­bin­dung mit dem Pries­ter. Fal­sche Vor­stel­lun­gen, an­er­zo­ge­ne Ab­nei­gung, Ver­ach­tung ge­gen den so oft aus dem nie­de­ren Vol­ke her­vor­ge­gan­ge­nen Geist­li­chen, die Furcht nicht ver­stan­den zu wer­den und sich wie­der in die un­er­träg­li­che Wirr­nis ge­trie­ben zu se­hen, hält vie­le Leu­te dem Pries­ter fern. Bi­zarr, wie in sei­ner Schreibart, wählt Che­s­ter­ton das Mit­tel des Kri­mi­nal­ro­ma­nes, an des­sen Hand er zeigt, wel­che Sum­me von Men­schen­kennt­nis der ka­tho­li­sche Pries­ter be­sitzt, die ihm sei­ne wis­sen­schaft­lich-theo­lo­gi­sche Vor­bil­dung, sein Wir­ken un­ter al­len Schich­ten des Vol­kes und sei­ne im Beicht­stuh­le ge­won­ne­ne Er­fah­rung ver­mit­teln. Fa­ther Brown ist die­ser Ty­pus ei­nes im Äu­ßern plum­pen, ein­fäl­ti­gen Pries­ters, der auch im schlimms­ten Fal­le nicht in Ver­le­gen­heit kommt und von dem auch der ge­rie­bens­te De­tek­tiv noch man­ches ler­nen kann. So bringt Che­s­ter­ton den Pries­ter sei­nen Lands­leu­ten nä­her, er wird ih­nen mensch­li­cher, sie ge­win­nen viel­leicht mehr Ver­trau­en zu ihm und las­sen sich die­se Din­ge, die über den Pries­ter zu Wis­sen gut sind, in die­ser Form und von ei­nem der Ih­ri­gen eher sa­gen, als von der schöns­ten ka­tho­li­schen Apo­lo­gie. Die Er­zäh­lung ist eine klei­ne Aner­ken­nung für un­se­ren Kle­rus, wo­bei je­doch auch die Un­ter­hal­tung (als die an­zie­hen­de Form) nicht zu kurz kommt. Wenn da­bei manch treff­li­ches Wort für die po­li­ti­schen Zu­stän­de des heu­ti­gen Eng­land ab­fällt, so neh­men wir das in die­sen Zei­ten ger­ne in Kauf.

Das blaue Kreuz (The Blue Cross)

Zwi­schen dem Sil­ber­ban­de des Mor­gens und dem grü­nen, glit­zern­den Ban­de der See leg­te das Dampf­boot in Har­wich an und ließ einen Schwarm Vol­kes ent­wei­chen, aus dem der Mann, dem wir fol­gen müs­sen, kei­nes­wegs her­vor­stach – noch es zu tun wünsch­te. Au­ßer ei­nem leich­ten Ge­gen­sat­ze zwi­schen der fei­er­täg­li­chen Leb­haf­tig­keit sei­ner Klei­dung und dem of­fi­zi­el­len Erns­te sei­nes Ge­sich­tes war nichts Be­mer­kens­wer­tes an ihm. Zu sei­ner Klei­dung ge­hör­te eine leich­te, hell­graue Ja­cke, eine wei­ße Wes­te und ein Sil­ber­stroh­hut mit blau­grau­em Ban­de. Sein ma­ge­res Ge­sicht, das der Ge­gen­satz dun­kel er­schei­nen ließ, en­de­te in einen kur­z­en, schwar­zen Spitz­bart, der spa­nisch aus­sah und eine Hals­krau­se, wie man sie un­ter Eli­sa­beth trug, zu ver­lan­gen schi­en. Mit dem Erns­te ei­nes Mü­ßig­gän­gers rauch­te er eine Zi­ga­ret­te. Nichts an ihm deu­te­te an, dass die graue Ja­cke einen ge­la­de­nen Re­vol­ver, die wei­ße Wes­te einen Po­li­zei­pass oder der Stroh­hut einen der scharf­sin­nigs­ten Köp­fe Eu­ro­pas be­deck­te. Denn es war Va­len­tin selbst, das Haupt der Pa­ri­ser Po­li­zei und die be­rühm­tes­te Spür­na­se der Welt, und er be­fand sich auf dem Wege von Brüs­sel nach Lon­don, um die be­deu­tends­te Ver­haf­tung des Jahr­hun­derts vor­zu­neh­men.

Flam­beau war in Eng­land. Die Po­li­zei drei­er Län­der hat­te end­lich die Spu­ren des großen Ver­bre­chers von Gent nach Brüs­sel und von Brüs­sel nach dem Hoek van Hol­land ver­folgt; man mut­maß­te, er wür­de die güns­ti­ge Ge­le­gen­heit des Durchein­an­ders und des Frem­den­an­dran­ges beim Eu­cha­ris­ti­schen Kon­gres­se, der da­mals in Lon­don tag­te, aus­nüt­zen. Wahr­schein­lich wür­de er als ir­gend­wel­cher nie­de­re Geist­li­che oder als eine Art von Kon­gress­se­kre­tär rei­sen, aber ge­wiss konn­te das na­tür­lich Va­len­tin nicht wis­sen; bei Flam­beau war nie­mand si­cher.

Es sind jetzt vie­le Jah­re her, seit die­ses Un­ge­tüm ei­nes Ver­bre­chers, das die Welt in Angst hielt, plötz­lich ver­schwand, und als es ver­schwand, war, wie man dies nach dem Tode Ro­lands sag­te, eine große Ruhe auf Er­den ent­stan­den. Doch in sei­nen bes­ten Ta­gen (ich mei­ne na­tür­lich sei­ne schlimms­ten) war Flam­beau eine eben­so über­ra­gen­de und in­ter­na­tio­na­le Ge­stalt wie der Kai­ser. Na­he­zu je­den Mor­gen be­rich­te­ten die Blät­ter, dass er sich den Fol­gen ei­nes au­ßer­ge­wöhn­li­chen Ver­bre­chens da­durch ent­zo­gen habe, dass er ein neu­es be­ging. Flam­beau war ein Gas­ko­gne von rie­si­gem Wuch­se und wah­rer Toll­kühn­heit, und die wil­des­ten Din­ge er­zähl­te man sich von den Aus­brü­chen sei­nes ath­le­ti­schen Tem­pe­ra­men­tes, z. B. wie er den Un­ter­su­chungs­rich­ter auf den Kopf stell­te, um ihm den Ver­stand zu klä­ren, oder wie er mit je ei­nem Po­li­zis­ten un­term Arme die Rue de Ri­vo­li hin­a­b­rann­te. Um auf­rich­tig ge­gen ihn zu sein, muss je­doch ge­sagt wer­den, dass er sei­ne un­ge­wöhn­li­che Kör­per­kraft im All­ge­mei­nen sel­ten in solch un­blu­ti­gen, wenn auch sei­ner Wür­de we­nig för­der­li­chen Auf­trit­ten zur An­wen­dung brach­te; sei­ne ei­gent­li­chen Ver­bre­chen be­stan­den haupt­säch­lich in geist­vol­len, er­fin­dungs­rei­chen Räu­be­rei­en im großen Sti­le. Doch je­der sei­ner Dieb­stäh­le bil­de­te na­he­zu eine neue Art von Ver­ge­hen und wür­de für sich schon eine be­son­de­re Ge­schich­te aus­ma­chen. Er war es, der die große Ti­ro­ler Mol­ke­rei-Ge­sell­schaft in Lon­don ins Le­ben rief, ohne Mol­ke­rei, ohne Kühe, ohne Kar­ren, ohne Milch, je­doch mit ei­ni­gen tau­send Ab­neh­mern. Die­se be­dien­te er ein­fach da­durch, dass er die klei­nen Milch­kan­nen vor an­de­rer Leu­te Tü­ren vor die sei­ner ei­ge­nen Kun­den schob. Er war es ge­we­sen, der einen un­er­klär­li­chen und ge­hei­men Brief­wech­sel mit ei­ner jun­gen Dame un­ter­hielt, der auf­ge­fan­gen wur­de, und wo­bei er sich des au­ßer­or­dent­li­chen Tricks be­dient hat­te, sei­ne Mit­tei­lun­gen in un­end­li­cher Ver­klei­ne­rung auf Mi­kro­skops zu fo­to­gra­fie­ren. Eine große Ein­fach­heit kenn­zeich­ne­te je­doch vie­le sei­ner Ver­su­che. Ein­mal soll er in der To­ten­stil­le der Nacht alle Haus­num­mern ei­ner Stra­ße über­malt ha­ben, nur um einen Rei­sen­den in eine Fal­le zu lo­cken. Es ist voll­kom­men rich­tig, dass er einen trag­ba­ren Brief­kas­ten er­fun­den hat­te, den er in ru­hi­gen Vor­städ­ten an den Ecken an­brach­te, um et­wai­ge Post­an­wei­sun­gen ab­zu­fan­gen. Kürz­lich noch lern­te man ihn auch als ge­schick­ten Akro­ba­ten ken­nen; trotz sei­ner mäch­ti­gen Ge­stalt wuss­te er wie eine Heuschre­cke zu sprin­gen und wie ein Affe in den Baum­kro­nen zu ver­schwin­den. Da­her war sich der große Va­len­tin, als er Flam­beau zu fin­den sich an­schick­te, voll­kom­men be­wusst, dass, wenn er ihn auch ge­fun­den ha­ben wür­de, da­mit sei­ne Aben­teu­er nicht be­en­det wä­ren.

Doch wie soll­te er ihn fin­den?

Dar­über wa­ren Va­len­tins Ge­dan­ken noch zu kei­nem Schlus­se ge­kom­men.

Ein Ding gab es, das Flam­beau bei all sei­ner Ge­schick­lich­keit im Ver­klei­den nicht ver­ber­gen konn­te, und das war sei­ne aus­neh­men­de Grö­ße. Wenn Va­len­tins flin­kes Auge ein hoch­ge­wach­se­nes Ap­fel­weib, einen großen Gre­na­dier oder selbst eine er­träg­lich große Her­zo­gin ent­deckt hät­te, er wür­de sie auf der Stel­le ver­haf­tet ha­ben. Doch wäh­rend der gan­zen Fahrt war ihm nie­mand un­ter­ge­kom­men, der ein ver­kapp­ter Flam­beau hät­te sein kön­nen. Be­züg­lich der Leu­te auf dem Dampf­boo­te hat­te er sich be­reits ver­ge­wis­sert, und die­je­ni­gen, wel­che in Har­wich vom Zuge auf­ge­le­sen wor­den wa­ren, be­schränk­ten sich mit Si­cher­heit nur auf sechs. Da war ein kur­z­er Ei­sen­bahn­be­am­ter, der bis Lon­don mit­fuhr, dann drei ziem­lich kur­ze Grün­zeughänd­ler, wel­che zwei Sta­tio­nen spä­ter hin­zu­ge­kom­men wa­ren, eine sehr kur­ze Wit­we aus gu­tem Hau­se aus ei­ner klei­nen Stadt in Es­sex und ein sehr kur­z­er rö­misch-ka­tho­li­scher Pries­ter, der von ei­nem klei­nen Dor­fe in Es­sex her­ein­kam. Beim letz­ten Fal­le an­ge­langt, gab es Va­len­tin auf; er muss­te bei­na­he la­chen. Der klei­ne Pries­ter war so sehr das Mus­ter ei­nes Sim­pels aus dem Os­ten, er hat­te ein Ge­sicht so rund und nichts­sa­gend wie ein Nor­folk­pud­ding, er hat­te Au­gen so leer wie die Nord­see, und er trug ei­ni­ge brau­ne Pa­pier­pa­ke­te, die bei­sam­men­zu­hal­ten er ganz au­ßer­stan­de war. Der Eu­cha­ris­ti­sche Kon­gress hat­te an­schei­nend vie­le der­ar­ti­ge Ge­schöp­fe, blind und hilf­los wie aus­ge­ho­be­ne Maul­wür­fe, aus ih­rer ört­li­chen Träg­heit auf­ge­scheucht. Va­len­tin war ein Skep­ti­ker vom stren­gen fran­zö­si­schen Sti­le und kann­te da­her kei­ne Vor­lie­be für Pries­ter. Aber Mit­leid konn­te er für sie auf­brin­gen, und die­ser eine wür­de bei je­der­mann sol­ches er­weckt ha­ben. Er trug einen großen, schä­bi­gen Re­gen­schirm, der ihm fort­wäh­rend zu Bo­den fiel. Er schi­en nicht zu wis­sen, wel­ches das rich­ti­ge Ende sei­ner Rück­fahrt­kar­te war. Er er­klär­te mit der Ein­falt ei­nes Mond­kal­bes je­der­mann im Wa­gen, er müs­se vor­sich­tig sein, denn er tra­ge in ei­nem sei­ner brau­nen Pa­pier­pa­ke­te et­was aus wirk­li­chem Sil­ber Ver­fer­tig­tes »mit blau­en Stei­nen«. Sei­ne wun­der­li­che Mi­schung von Es­sex-Platt­heit und from­mer Ein­fach­heit be­lus­tig­te an­dau­ernd den Fran­zo­sen, bis der Pries­ter mit all sei­nen Pa­ke­ten in Strat­ford an­lang­te und um sei­nen Re­gen­schirm zu­rück­kehr­te. Als er letz­te­res tat, be­saß Va­len­tin so­gar die Zu­vor­kom­men­heit, ihn zu war­nen, nicht das Sil­ber da­durch zu be­hü­ten, dass er je­der­mann da­von er­zäh­le. Doch mit wem im­mer auch Va­len­tin sprach, stets hielt er sein Auge of­fen nach je­mand an­derm. Be­stän­dig blick­te er nach je­man­den aus, reich oder arm, männ­lich oder weib­lich, der gut an sechs Fuß hoch wäre, denn Flam­beau war noch um vier Zoll grö­ßer.

In Li­ver­pool Street stieg er je­doch ab, sich mit voll­kom­me­ner Si­cher­heit be­wusst, dass er den Ver­bre­cher bis­lang nicht über­se­hen habe. Dann be­gab er sich nach Scot­land Yard, sei­ne Pa­pie­re in Ord­nung zu brin­gen und für den Be­darfs­fall Hil­fe zu ver­ein­ba­ren. Schließ­lich zün­de­te er sich eine neue Zi­ga­ret­te an und mach­te sich zu ei­nem lan­gen Bum­mel in den Stra­ßen Lon­d­ons auf. Als er in dem Vier­tel jen­seits Vic­to­ria um­her­wan­der­te, hielt er plötz­lich an und blieb ste­hen. Der Platz war alt­mo­disch und ru­hig, sehr ty­pisch für Lon­don, voll von zu­fäl­li­ger Stil­le. Die großen fla­chen Häu­ser sa­hen auf ein­mal wohl­ha­bend und un­be­wohnt und das Sträu­cher­vier­eck in der Mit­te so ein­sam wie ein grü­nes In­sel­chen im Stil­len Ozean aus. Eine der vier Sei­ten rag­te wie eine Estra­de über die an­de­ren em­por und die Li­nie die­ser Sei­te war un­ter­bro­chen von ei­ner von Lon­d­ons wun­der­ba­ren Zu­fäl­lig­kei­ten – ei­nem Re­stau­rant, das aus­sah, wie wenn es sich vom Soho hier­her ver­lau­fen hät­te. Es war ein un­ver­nünf­tig an­zie­hen­des Ding mit Zwerg­pflan­zen in Töp­fen und mit lan­gen, ge­streif­ten Stab­ja­lou­si­en in Zitro­nen­gelb und Weiß, lag ei­gen­tüm­lich hoch über der Stra­ße, und in der in Lon­don üb­li­chen Flick­werkart lief eine Flucht von Stu­fen von der Stra­ße aus zum Ein­gan­ge hin­auf, fast wie etwa eine Ret­tungs­lei­ter zu ei­nem Ers­ten-Stock-Fens­ter. Va­len­tin stand rau­chend ge­gen­über den gelb-wei­ßen Ja­lou­si­en und be­trach­te­te sie lan­ge.

Das un­glaub­lichs­te Ding bei den Wun­dern ist, dass sie ge­sche­hen. Ein paar Wol­ken am Him­mel bal­len sich zu­sam­men zu der auf­fal­len­den Form ei­nes mensch­li­chen Au­ges. Auf un­ge­wis­sem Wege ragt mit­ten in ei­ner Land­schaft ein Baum auf in der ge­nau­en und vollen­de­ten Form ei­nes Fra­ge­zei­chens. Ich habe selbst die­se bei­den Din­ge in den letz­ten paar Ta­gen ge­se­hen. Nel­son stirbt im Au­gen­bli­cke des Sie­ges, und ein Mann na­mens Wil­liams er­mor­det zu­fäl­lig einen Mann na­mens Wil­liam­son; es klingt wie eine Art Kinds­mord. Kurz, es ist im Le­ben ein Ele­ment geis­ter­haf­ten Zu­sam­men­tref­fens, wel­ches Leu­ten, die nur mit dem Pro­sa­i­schen rech­nen, ewig ent­ge­hen wird. Weis­heit soll­te, wie es in Poes Pa­ra­do­xen so gut heißt, sich auf das Un­vor­her­ge­se­he­ne ver­las­sen.

Aris­ti­de Va­len­tin war Fran­zo­se von reins­tem Was­ser und die fran­zö­si­sche In­tel­li­genz ist eine In­tel­li­genz ganz be­son­de­rer und ein­zi­ger Art. Er war nicht eine »den­ken­de Ma­schi­ne«, denn dies ist eine sinn­lo­se Re­dens­art des mo­der­nen Fa­ta­lis­mus und Ma­te­ria­lis­mus. Eine Ma­schi­ne ist nur des­halb eine Ma­schi­ne, weil sie eben nicht denkt. Er aber war ein den­ken­der Mensch und gleich­zei­tig ein schlich­ter Mensch. All sei­ne wun­der­ba­ren Er­fol­ge, die wie Zau­be­rei aus­sa­hen, hat­te er er­run­gen durch an­ge­streng­te Lo­gik, durch kla­res und haus­ba­cken fran­zö­si­sches Den­ken. Die Fran­zo­sen elek­tri­sie­ren die Welt nicht durch Auf­stel­lung von Wi­der­sin­nig­kei­ten, sie elek­tri­sie­ren sie durch Aus­füh­rung von Ge­mein­plät­zen. Und das trei­ben sie so­gar bis – zur fran­zö­si­schen Re­vo­lu­ti­on. Aber eben weil Va­len­tin die Ver­nunft kann­te, kann­te er auch die Gren­zen der Ver­nunft. Nur ein Mensch, der nichts von Mo­to­ren ver­steht, spricht von Mo­tor­fah­ren ohne Ben­zin; nur ein Mensch, der nichts von Ver­nunft ver­steht, spricht von Ver­nünf­tig­s­ein ohne star­ke un­be­streit­ba­re Ur­grund­sät­ze. Hier hat­te er kei­ne star­ken Ur­grund­sät­ze. Flam­beau war zu Har­wich ent­wischt, und wenn er über­haupt in Lon­don war, dann konn­te er ir­gend et­was sein, an­ge­fan­gen von ei­nem über­großen Va­ga­bun­den in Wim­ble­don Com­mon bis zu ei­nem über­großen Toast­meis­ter im Ho­tel Me­tro­po­le. In solch nack­tem Zu­stan­de des Nicht­wis­sens be­saß Va­len­tin sei­ne ei­ge­ne An­sicht und sei­ne ei­ge­ne Metho­de.

In der­lei Fäl­len rech­ne­te er auf das Un­vor­her­ge­se­he­ne. In Fäl­len, da er nicht den Weg des Ver­nünf­ti­gen ver­fol­gen konn­te, ver­folg­te er kalt und sorg­fäl­tig den Weg des Un­ver­nünf­ti­gen. An­statt die rich­ti­gen Orte auf­zu­su­chen – Ban­ken, Po­li­zei­wa­chen, Sam­mel­punk­te –, such­te er sys­te­ma­tisch die un­rich­ti­gen Plät­ze auf, klopf­te an je­des lee­re Haus, lief jede Sack­gas­se ent­lang, rann­te jede mit Schutt ver­sperr­te Gas­se hin­ab, bog er in jede Kur­ve ein, die ihn un­nütz vom Wege ab­brach­te. Er ver­tei­dig­te die­ses ver­rück­te Ver­fah­ren ganz lo­gisch. Er be­haup­te­te, wenn je­mand sich nach ei­nem be­stimm­ten Schlüs­sel rich­te, sei dies der schlimms­te Weg, wenn man je­doch je­den Schlüs­sel bei­sei­te ließ, sei dies das al­ler­bes­te, denn da­bei habe man eben den Vor­teil, dass ir­gend et­was Auf­fäl­li­ges, das das Auge des Ver­fol­gers auf sich lenkt, das­sel­be sein kann, was das Auge des Ver­folg­ten auf sich ge­lenkt ha­ben mag. Ir­gend­wo muss­te der Mensch an­fan­gen, und es sei bes­ser, es dort zu tun, wo ein an­de­rer auf­hö­ren wür­de. Et­was an die­ser Trep­pen­flucht hin­an zum Ein­gan­ge, et­was an der Ein­sam­keit und Selt­sam­keit des Re­stau­rants weck­te des Ge­heim­po­li­zis­ten gan­ze ihm ei­gen­tüm­li­che Vor­lie­be für das Ro­man­ti­sche und ließ ihn den Ent­schluss fas­sen, aufs Ge­ra­te­wohl los­zu­ge­hen. So stieg er die Trep­pe em­por, ließ sich an ei­nem Ti­sche ne­ben dem Fens­ter nie­der und ver­lang­te eine Tas­se schwar­zen Kaf­fees.

Der hal­be Mor­gen lag schon hin­ter ihm und er hat­te noch nicht ge­früh­stückt. Der Tisch wies die un­auf­fäl­li­gen Spu­ren an­de­rer Früh­stücke auf und ge­mahn­te ihn an sei­nen Hun­ger, und in­dem er sei­ner Be­stel­lung noch ein Spie­ge­lei hin­zu­füg­te, mach­te er sich nach­denk­lich dar­an, et­was wei­ßen Zu­cker in sei­nen Kaf­fee zu schüt­ten, wo­bei all sei­ne Ge­dan­ken sich mit Flam­beau be­schäf­tig­ten. Er hat­te nicht ver­ges­sen, wie die­ser ein­mal mit Hil­fe ei­ner Na­gel­sche­re ent­kom­men war und ein an­de­res Mal mit Hil­fe ei­nes bren­nen­den Hau­ses, ein­mal, weil er für einen un­fran­kier­ten Brief Straf­por­to zu be­zah­len hat­te und ein an­de­res Mal, in­dem er die Leu­te durch ein Te­le­skop nach ei­nem Ko­me­ten bli­cken ließ, der die Welt zer­stö­ren konn­te. Va­len­tin hielt sein De­tek­tiv­ge­hirn für eben­so gut wie das des Ver­bre­chers, und er hat­te recht, doch war er sich sei­nes Nach­tei­les voll­kom­men be­wusst. »Der schaf­fen­de Künst­ler ist der Ver­bre­cher, der De­tek­tiv ist nur der Kri­ti­ker«, sag­te er zu sich mit sau­rem Lä­cheln, wo­bei er lang­sam sei­ne Kaf­fee­tas­se zum Mun­de führ­te – und sie sehr schnell wie­der nie­der­stell­te. Er hat­te Salz hin­ein­ge­tan.

Er blick­te auf das Ge­fäß, wor­aus er das sil­be­ri­ge Pul­ver ge­nom­men hat­te, es war zwei­fel­los eine Zucker­do­se, so un­ver­kenn­bar für Zu­cker be­stimmt, wie eine Cham­pa­gner­fla­sche für Cham­pa­gner. Er frag­te sich, wes­halb man Salz dar­in hielt. Dann blick­te er um sich, ob es noch wei­te­re recht­gläu­bi­ge Ge­fäße gäbe. Ja, es gab zwei voll­ge­füll­te Salz­ge­fäße. Vi­el­leicht war ir­gend et­was Be­son­de­res an dem In­halt der Salz­ge­fäße. Er kos­te­te, es war Zu­cker. Dann blick­te er mit ei­nem er­frisch­ten An­schein von In­ter­es­se im Re­stau­rant um­her, um zu se­hen, ob noch ir­gend­wel­che an­de­re Spu­ren die­ses son­der­ba­ren künst­le­ri­schen Ge­schmackes zu fin­den sei­en, der Zu­cker in Salz­ge­fäßen und Salz in Zucker­do­sen ver­wahr­te. Au­ßer ei­nem ei­gen­tüm­li­chen Fle­cken an ei­ner der weiß­ta­pe­zier­ten Wän­de, der von ir­gend­ei­ner dunklen Flüs­sig­keit her­rühr­te, schi­en der gan­ze Raum rein­lich, freund­lich und ge­wöhn­lich. Er klin­gel­te nach dem Kell­ner.

Als der Kell­ner, not­dürf­tig ge­kämmt und et­was trief­äu­gig zu so frü­her Stun­de, her­bei­ge­eilt kam, er­such­te ihn der De­tek­tiv, dem der Sinn für die ein­fa­che­ren For­men des Hu­mors nicht ab­ging, er möge den Zu­cker kos­ten und se­hen, ob der­sel­be dem ho­hen Rufe sei­nes Ho­tels ent­spre­che. Das Er­geb­nis war, dass der Kell­ner plötz­lich gähn­te und er­wach­te.

»Er­lau­ben Sie sich je­den Mor­gen die­sen fei­nen Scherz mit Ihren Gäs­ten?« frag­te Va­len­tin. »Und be­kom­men Sie den Spaß nie satt, Salz und Zu­cker ge­gen­ein­an­der zu ver­tau­schen?«

Als dem Kell­ner die­se Iro­nie ein­zu­leuch­ten be­gann, ver­si­cher­te er stam­melnd, dass sein Eta­blis­se­ment ge­wiss kei­ne der­ar­ti­gen Ab­sich­ten habe; es müs­se ein sehr ei­gen­tüm­li­cher Irr­tum vor­lie­gen. Er hob die Zucker­do­se em­por und blick­te sie an, und er hob das Salz­fass em­por und blick­te es an, wo­bei sein Ge­sicht im­mer ver­wirr­ter wur­de. Schließ­lich ent­schul­dig­te er sich in ab­ge­ris­se­nen Wor­ten und da­v­on­stür­zend kehr­te er nach ein paar Se­kun­den mit dem Be­sit­zer wie­der. Der Be­sit­zer un­ter­such­te eben­falls die Zucker­do­se und dann das Salz­fass und auch der Be­sit­zer blick­te ver­wirrt.

Plötz­lich schi­en dem Kell­ner die Spra­che ver­lo­ren zu ge­hen, so sehr über­stürz­ten sich sei­ne Wor­te.

»Ich mei­ne«, stot­ter­te er em­sig, »ich mei­ne, es wa­ren die zwei Geist­li­chen.«

»Was für zwei Geist­li­che?«

»Die zwei Geist­li­chen«, er­klär­te der Kell­ner, »die, wo die Sup­pe an die Wand schmis­sen.«

»Sup­pe an die Wand schmis­sen?« wie­der­hol­te Va­len­tin, der das si­che­re Ge­fühl hat­te, es müs­se sich wohl um ir­gend­ein ita­lie­ni­sches Sprach­bild han­deln.

»Ja, ja«, ver­si­cher­te der Auf­wär­ter er­regt und deu­te­te auf den dunklen Fle­cken auf der wei­ßen Ta­pe­te, »– dort hin­über an die Wand.«

Va­len­tin blick­te wie ein Fra­ge­zei­chen den Be­sit­zer an, der ihm nun mit ei­nem aus­führ­li­chen Be­rich­te zu Hil­fe kam.

»Ja, Sir.« sag­te er. »es ist ganz rich­tig, wenn ich auch nicht glau­be, dass es et­was mit dem Zu­cker und Salz zu tun hat. Zwei Geist­li­che ka­men her­ein und aßen sehr früh einen Tel­ler Sup­pe, kaum dass wir die Lä­den auf­ge­macht hat­ten. Sie wa­ren bei­de sehr ru­hi­ge, an­stän­di­ge Leu­te; der eine von ih­nen zahl­te die Rech­nung und ging hin­aus, der an­de­re, der über­haupt eine lang­sa­me­re Kut­sche zu fah­ren schi­en, brauch­te ei­ni­ge Mi­nu­ten län­ger, sei­ne Sa­chen zu­sam­men­zu­klau­ben. Aber schließ­lich ging er. Nur im Au­gen­blick, ehe er auf die Stra­ße hin­austrat, er­griff er be­däch­tig sei­ne Tas­se, die nur halb ge­leert war, und schwaps warf er die Sup­pe an die Wand. Ich selbst war im Hin­ter­zim­mer und auch der Kell­ner, und so konn­te ich nur noch hin­aus­sprin­gen, um den Fle­cken an der Wand und das Zim­mer leer zu fin­den. Es ist kein ar­ger Scha­den, aber es war nie­der­träch­tig, dreist von ihm, und ich such­te den Mann auf der Stra­ße ein­zu­ho­len. Aber sie wa­ren schon zu weit weg; ich be­merk­te nur, dass sie um die nächs­te Ecke und in Car­stairs Street ein­bo­gen.«

Der Ge­heim­po­li­zist war auf den Fü­ßen den Hut auf dem Kopf und den Stock in der Hand. Er hat­te be­reits ent­schie­den, dass er in dem all­ge­mei­nen Dun­kel sei­nes Über­le­gens nur dem ers­ten merk­wür­di­gen Fin­ger­zeig, der ir­gend­wo­hin wies, fol­gen konn­te; und die­ser Fin­ger­zeig war merk­wür­dig ge­nug. Sei­ne Rech­nung be­zah­lend und die Gla­stü­ren hin­ter sich zu­wer­fend bog er schon um die Ecke nach der an­de­ren Stra­ße zu. Es war ein Glück, dass selbst in so fie­ber­haf­ten Au­gen­bli­cken sein Auge kühl und flink blieb. Et­was in ei­nem ge­gen­über­lie­gen­den La­den zog an ihm vor­über wie ein Blitz; den­noch ging er zu­rück, um da­nach zu se­hen. Der La­den war der ei­nes ge­wöhn­li­chen Ge­mü­se- und Obst­händ­lers, und eine Rei­he von Wa­ren mit deut­li­chen Schil­dern da­bei mit Na­men und Prei­sen wa­ren im Frei­en auf­ge­stellt. In den bei­den am meis­ten in die Au­gen fal­len­den Ab­tei­lun­gen be­fan­den sich zwei Hau­fen, ei­ner von Oran­gen und der an­de­re von Nüs­sen. Auf dem Hau­fen Nüs­se lag ein Stück Pap­pe, wor­auf mit grel­lem Blau­stif­te ge­schrie­ben stand: »Bes­te Tan­ger Oran­gen, zwei 1 Pen­ny.« Auf den Oran­gen war die eben­so kla­re und ge­naue Be­schrei­bung: »Feins­te Bra­sil-Nüs­se, 4 Pence das Pfund.« Mon­sieur Va­len­tin blick­te auf die­se bei­den Pla­ka­te; es dünk­te ihm, die­se äu­ßerst fein­sin­ni­ge Art von Witz müs­se er schon ir­gend­wo an­ge­trof­fen ha­ben, und zwar erst vor kur­z­em. Er lenk­te die Auf­merk­sam­keit des krebs­ro­ten Obst­händ­lers, der ziem­lich ver­drieß­lich die Stra­ße auf und nie­der blick­te, auf die Un­ge­nau­ig­keit in sei­nen An­kün­di­gun­gen. Der Obst­händ­ler sag­te nichts, son­dern brach­te nur un­wirsch jede Ta­fel an den rich­ti­gen Platz. Ele­gant auf sei­nen Spa­zier­stock ge­stützt fuhr Va­len­tin fort, den La­den zu prü­fen. Schließ­lich sag­te er:

»Ent­schul­di­gen Sie, bit­te, mein gu­ter Mann, wenn ich mich an­schei­nend in frem­de Din­ge mi­sche, aber ich möch­te ger­ne eine Fra­ge in ex­pe­ri­men­tel­ler Psy­cho­lo­gie und Ide­en­as­so­zia­ti­on an Sie stel­len.«

Der krebs­ro­te Händ­ler be­trach­te­te ihn dro­hen­den Blickes, doch fuhr je­ner sei­nen Stock schwin­gend mun­ter fort:

»Wes­halb«, frag­te er. »sind in ei­nem Ge­mü­se­la­den zwei Ta­feln un­rich­tig auf­ge­stellt wie ein Schau­fel­hut, der auf einen Fei­er­tag nach Lon­don her­ein­ge­kom­men ist? Oder, falls ich mich nicht klar aus­drücken soll­te, wel­ches ist die ge­heim­nis­vol­le As­so­zia­ti­on, wel­che den Ge­dan­ken an als Oran­gen be­zeich­ne­te Nüs­se mit dem Ge­dan­ken an zwei Geist­li­che einen lan­gen und einen kur­z­en, in Ver­bin­dung bringt?«

Die Au­gen des Händ­lers tra­ten aus sei­nem Kop­fe her­vor wie bei ei­ner Schne­cke und es sah wirk­lich einen Au­gen­blick aus, als wol­le er sich auf den Frem­den stür­zen. End­lich stieß er zor­nig her­vor:

»Ich weiß nicht, was Sie das an­geht, aber wenn Sie ei­ner von ih­ren Freun­den sind, kön­nen Sie ih­nen in mei­nem Na­men sa­gen, dass ich ih­nen, ob Pfar­rer oder nicht Pfar­rer, ihre arm­se­li­gen Schä­del ein­schla­gen wer­de, wenn sie noch­mals Äp­fel über den Hau­fen wer­fen.«

»Wirk­lich?« frag­te der Ge­heim­po­li­zist mit großer An­teil­nah­me, »ha­ben sie Ih­nen die Äp­fel über den Hau­fen ge­wor­fen?«

»Ja, ei­ner von ih­nen«, er­wi­der­te der er­hitz­te Krä­mer. »hat sie über die gan­ze Stra­ße ver­streut. Ich hät­te den Hans­wurs­ten er­wi­scht, wenn ich nicht die Äp­fel auf­zu­le­sen ge­habt hät­te.«

»Wel­chen Weg ha­ben die Pfar­rer ein­ge­schla­gen?« frag­te Va­len­tin.

»Die zwei­te Stra­ße dort links und dann über den Platz«, er­wi­der­te der an­de­re prompt.

»Dan­ke«, emp­fahl sich Va­len­tin und ver­schwand wie ver­zau­bert. Auf der an­de­ren Sei­te des zwei­ten Häu­ser­vier­ecks fand er einen Po­li­zis­ten und sprach ihn an.

»Hier, drin­gend, Schutz­mann. Ha­ben Sie zwei Geist­li­che in Schau­fel­hü­ten ge­se­hen?«

Der Po­li­zist be­gann hef­tig zu ki­chern.

»Habe ich, Sir, und wenn Sie es wis­sen wol­len, ei­ner von ih­nen war be­trun­ken. Er stand mit­ten auf der Stra­ße –«

»Wel­chen Weg hat er ein­ge­schla­gen?« schnauz­te ihn Va­len­tin an.

»Sie nah­men einen von je­nen gel­ben Om­ni­bus­sen dort drü­ben«, ant­wor­te­te der Mann, »die nach Hamps­tead1 ge­hen.«

Va­len­tin wies sei­ne Er­ken­nungs­kar­te vor und sag­te has­tig:

»Ru­fen Sie zwei von Ihren Leu­ten, sie sol­len mit mir kom­men, eine Ver­fol­gung auf­neh­men«, und er quer­te die Stra­ße mit solch an­ste­cken­der Ener­gie, dass der schwer­fäl­li­ge Po­li­zist zu bei­na­he be­hän­dem Ge­hor­chen sich be­wo­gen sah. In an­dert­halb Mi­nu­ten war der fran­zö­si­sche De­tek­tiv auf dem ge­gen­über­lie­gen­den Gang­steig von ei­nem In­spek­tor und ei­nem Wach­mann in Zi­vil ein­ge­holt.

»Well, Sir«, be­gann ers­te­rer mit lä­cheln­der Wich­tig­tue­rei, »und wo­mit kann ich –«

Va­len­tin deu­te­te plötz­lich mit dem Knop­fe sei­nes Stockes. »Ich wer­de es Ih­nen auf dem Da­che je­nes Om­ni­bus sa­gen«, be­merk­te er und sprang und wand sich durch das Ge­wirr des Stra­ßen­ver­kehrs. Als alle drei keu­chend auf die Dach­sit­ze des gel­ben Fahr­zeu­ges nie­der­san­ken, mein­te der In­spek­tor:

»Mit ei­nem Taxi kämen wir vier­mal so rasch vor­an.«

»Ganz rich­tig«, ant­wor­te­te der An­füh­rer ru­hig, »wenn wir nur eine Ah­nung hät­ten, wo­hin wir ge­hen.«

»Well, aber wo­hin wol­len Sie denn?« frag­te je­ner ihn an­star­rend.

Va­len­tin, die Stir­ne run­zelnd, rauch­te schwei­gend ei­ni­ge Se­kun­den, dann nahm er sei­ne Zi­ga­ret­te in die Hand und sag­te:

»Wenn Sie wis­sen, was ein Mensch tut, lau­fen Sie vor ihm her; wenn Sie aber her­aus­brin­gen wol­len, was er tut, hal­ten Sie sich hin­ter ihm. Schlen­dern Sie, wenn er schlen­dert, blei­ben Sie ste­hen, wenn er ste­hen­bleibt, schrei­ten Sie vor­an so lang­sam, wie er es tut, dann kön­nen Sie se­hen, was er sah, und kön­nen han­deln, wie er ge­han­delt hat. Al­les, was wir tun kön­nen, ist, un­se­re Au­gen of­fen zu hal­ten nach ei­nem ver­däch­ti­gen Din­ge.«

»Wel­che Sor­te ver­däch­ti­gen Din­ges mei­nen Sie?« frag­te der In­spek­tor.

»Jede Sor­te ver­däch­ti­gen Din­ges«, ant­wor­te­te Va­len­tin und ver­fiel in hart­nä­cki­ges Schwei­gen.

Der gel­be Om­ni­bus kroch die nach Nor­den hin­aus füh­ren­den Stra­ßen ent­lang, hin durch et­was, was end­lo­se Stun­den schi­en; der große De­tek­tiv woll­te sich nicht wei­ter er­klä­ren und sei­ne Ge­hil­fen emp­fan­den mög­li­cher­wei­se einen stil­len und wach­sen­den Zwei­fel hin­sicht­lich sei­nes Un­ter­neh­mens. Vi­el­leicht auch fühl­ten sie ein stil­les und wach­sen­des Ver­lan­gen nach ih­rem Lunch, denn die Stun­den ver­gin­gen und lan­ge schon war die nor­ma­le Mit­tags­mahl­stun­de ver­stri­chen, doch die lan­gen Stra­ßen der Nord-Lon­do­ner Vor­städ­te schie­nen sich aus ei­ner Län­ge in die an­de­re zu schie­ben wie ein höl­li­sches Te­le­skop. Es war eine je­ner Fahr­ten, bei de­nen der Mensch un­auf­hör­lich fühlt, dass er jetzt end­lich am Ende des Uni­ver­sums an­ge­kom­men sein müs­se, um dann zu fin­den, dass er erst am An­fang von Tuf­nell Park sei. Lon­don ver­lor sich in schmut­zi­gen Schen­ken und ödem Ge­strüpp und war dann wie­der un­er­klär­lich zu glän­zen­den Haupt­stra­ßen und ge­räusch­vol­len Ho­tels ge­bo­ren. Es war, wie wenn man durch drei­zehn ein­zel­ne ge­wöhn­li­che Städ­te fuhr, von de­nen eine an die an­de­re stieß. Doch ob­wohl die Win­ter­däm­me­rung be­reits über die vor ih­nen lie­gen­de Stra­ße sich senk­te, saß der Pa­ri­ser De­tek­tiv im­mer noch schweig­sam und wach­sam und mus­ter­te die Stirn­sei­ten der Stra­ßen, die zu bei­den Sei­ten vor­über­g­lit­ten. Um die Zeit, da sie Cam­den Town hin­ter sich ge­las­sen hat­ten, wa­ren die Po­li­zis­ten na­he­zu ein­ge­schla­fen, we­nigs­tens mach­ten sie so et­was wie einen Satz, als Va­len­tin sich auf­rich­te­te, je­dem auf die Schul­ter klopf­te und dem Kut­scher zu­rief, an­zu­hal­ten.

Sie tau­mel­ten die Trep­pe hin­ab auf die Stra­ße, ohne zu wis­sen, wes­halb sie aus­quar­tiert wur­den; als sie sich um Er­leuch­tung um­blick­ten, sa­hen sie Va­len­tin tri­um­phie­rend mit dem Fin­ger auf ein Fens­ter auf der lin­ken Sei­te der Stra­ße wei­sen. Es war ein großes Fens­ter und bil­de­te einen Teil der lan­gen Fassa­de ei­nes glän­zen­den und pa­last­ar­ti­gen Gast­hau­ses, ei­nes je­ner für das bes­se­re Pub­li­kum vor­ge­se­he­nen, über dem das Wort »Re­stau­rant« stand. Die­ses Fens­ter war, wie alle üb­ri­gen längs der Stirn­sei­te des Ho­tels, aus mit Mus­tern ver­se­he­nem Frost­gla­se; in sei­ner Mit­te je­doch be­fand sich ein großer schwar­zer Sprung wie ein Stern im Eise.

»End­lich un­se­re Spur«, schrie Va­len­tin, sei­nen Stock schwin­gend, »der Ort mit dem zer­bro­che­nen Fens­ter.«

»Wel­ches Fens­ter? Wel­che Spur?« frag­te der Haupt­ge­hil­fe, »Wie­so? Wo ist der Be­weis, dass dies ir­gend et­was mit ih­nen zu tun hat?«

Va­len­tin zer­brach bei­na­he sei­nen Bam­busstock vor Zorn.

»Be­weis!« schrie er. »Gu­ter Gott, der Mann sucht nach ei­nem Be­wei­se! Je nun, na­tür­lich, die Chan­cen sind zwan­zig ge­gen eins, dass es nichts mit ih­nen zu tun hat. Aber was kön­nen wir sonst tun? Se­hen Sie nicht, wir müs­sen ent­we­der ei­ner Mög­lich­keit fol­gen oder nach Hau­se ge­hen und uns zu Bett le­gen?«

Ge­folgt von sei­nen bei­den Ge­fähr­ten bahn­te er sich einen Weg in das Re­stau­rant und bald sa­ßen sie zu ei­nem ver­spä­te­ten Lunch an ei­nem klei­nen Ti­sche bei­sam­men und be­sa­hen sich den Stern im zer­trüm­mer­ten Gla­se von in­nen. Nicht etwa, dass er von hier aus be­son­ders be­leh­rend ge­we­sen wäre!

»Ha­ben Ihr Fens­ter zer­bro­chen, wie ich sehe«, be­gann Va­len­tin zum Kell­ner, als er sei­ne Rech­nung be­zahl­te.

»Ja, Sir«, ant­wor­te­te der Auf­wär­ter, in­dem er sich ge­schäf­tig über das Wech­sel­geld beug­te, wel­chem Va­len­tin schwei­gend ein er­kleck­li­ches Trink­geld hin­zu­ge­fügt hat­te. Der Kell­ner rich­te­te sich mit leich­ter, aber un­ver­kenn­ba­rer Leb­haf­tig­keit auf.

»Ah, ja, Sir«, sag­te er. »Sehr spa­ßi­ges Ding das, Sir.«

»Wirk­lich? Er­zäh­len Sie uns«, er­such­te der De­tek­tiv mit sorg­lo­ser Neu­gier­de.

»Well, zwei Gäs­te in Schwarz ka­men her­ein«, be­gann der Kell­ner, »zwei von je­nen frem­den Pfar­rern, wie sie jetzt her­um­lau­fen. Sie ha­ben in al­ler Ruhe eine bil­li­ge Mahl­zeit ge­nom­men und ei­ner von ih­nen be­zahl­te da­für und ging hin­aus. Der an­de­re war ge­ra­de da­bei, sich an­zu­schlie­ßen, als ich noch­mals auf mein Wech­sel­geld schau­te und sah, dass er mir mehr als zwei­mal zu viel be­zahlt hat­te. ›Hier‹, sage ich zu dem Bur­schen, der schon bei­na­he drau­ßen war, ›Sie ha­ben zu viel be­zahlt.‹ ›O‹, sagt er sehr kühl, ›ha­ben wir?‹ Ja, sage ich und grei­fe nach der Rech­nung, um sie ihm zu zei­gen. Well, ich war ent­waff­net.«

»Wie mei­nen Sie das?« frag­te der an­de­re.

»Well, ich hät­te einen Eid auf sie­ben Bi­beln ge­schwo­ren, dass ich vier Schil­lin­ge auf die Rech­nung ge­setzt hat­te. Aber jetzt sah ich, ich hat­te vier­zehn Schil­lin­ge ge­schrie­ben, so deut­lich wie ge­malt.«

»Nun?« schrie Va­len­tin, sich lang­sam, aber mit bren­nen­den Au­gen ent­fer­nend. »Und dann?«

»Der Pfar­rer an der Türe, der sag­te ganz hei­ter: ›Be­daue­re, wenn ich Ihre Rech­nung et­was durch­ein­an­der­brin­ge, aber ich will für das Fens­ter be­zah­len.‹ ›Wel­ches Fens­ter?‹ frag­te ich. ›Das, wel­ches ich ein­hau­en wer­de‹, sag­te er und zer­schlug die Schei­be dort mit sei­nem Re­gen­schirm.«

Alle drei Fra­ger stie­ßen einen Aus­ruf her­vor und der In­spek­tor mein­te mit sto­cken­dem Atem:

»Sind wir hin­ter aus­ge­bro­che­nen Irr­sin­ni­gen her?«

Der Kell­ner fuhr mit ei­nem ge­wis­sen Wohl­ge­fal­len an der lä­cher­li­chen Ge­schich­te fort:

»Ich war für einen Au­gen­blick so ver­dutzt, dass ich zu nichts fä­hig war. Der Mann ging zur Türe hin­aus und er­reich­te sei­nen Freund ge­ra­de an der Ecke. Dann gin­gen sie so rasch Bullock Street hin­auf, dass ich sie nicht ein­ho­len konn­te, ob­wohl ich durch die Schen­ke lief.«

»Bullock Street«, sag­te der De­tek­tiv und schoss die­se Stra­ße hin­ab, so schnell wie das son­der­ba­re Paar, das er ver­folg­te.

Ihre Fahrt führ­te sie jetzt zwi­schen kah­len Mau­ern hin wie durch Tun­nels, Stra­ßen mit we­ni­gen Lich­tern und selbst mit we­ni­gen Fens­tern. Stra­ßen, die über­all aus den kah­len Rück­wän­den ge­bil­det zu sein schie­nen. Die Däm­me­rung nahm zu und es war für die Lon­do­ner Po­li­zis­ten nicht leicht, fest­zu­hal­ten, nach wel­cher ge­nau­en Rich­tung sie schrit­ten. Der In­spek­tor je­doch war so viel wie si­cher, dass sie mög­li­cher­wei­se auf ir­gend­ei­nen Teil der Hamps­tead-Hei­de sto­ßen wür­den. Uner­war­tet un­ter­brach ein her­vor­tre­ten­des, gas­be­leuch­te­tes Fens­ter wie eine Blend­la­ter­ne das blaue Zwie­licht und Va­len­tin blieb einen Au­gen­blick vor ei­nem klei­nen zier­li­chen Zucker­bäcker­la­den ste­hen. Nach ei­ner Se­kun­de Zö­gerns trat er ein. In­mit­ten der bun­ten Far­ben der Kon­di­to­rei sei­nen vol­len Ernst be­wah­rend kauf­te er mit ei­ner ge­wis­sen Sorg­falt drei­zehn Scho­ko­la­de­zi­gar­ren. Of­fen­sicht­lich be­rei­te­te er eine An­re­de vor, doch be­durf­te es der­sel­ben nicht.

Eine stei­fe ält­li­che Jung­fer im La­den hat­te rein au­to­ma­tisch prü­fend sei­ne ele­gan­te Er­schei­nung be­trach­tet; als sie je­doch die Türe hin­ter ihm von der blau­en Uni­form des In­spek­tors ver­stellt sah, schie­nen ihre Au­gen auf­zu­wa­chen:

»O«, sag­te sie, »wenn Sie we­gen des Pa­ke­tes ge­kom­men sind, das habe ich schon weg­ge­schickt.«

»Pa­ket!« wie­der­hol­te Va­len­tin, und nun war es an ihm, fra­gend zu bli­cken.

»Ich mei­ne das Pa­ket, das der Herr hier ge­las­sen hat – der Geist­li­che.«

»Ums Him­mels wil­len!« rief Va­len­tin und beug­te sich vor­wärts, zum ers­ten Male wirk­li­che Be­gier­de auf dem Ge­sich­te. »Ums Him­mels wil­len, sa­gen Sie uns ge­nau, was vor­ge­fal­len ist!«

»Nun«, er­zähl­te die Frau et­was un­si­cher, »die Geist­li­chen ka­men vor ei­ner hal­b­en Stun­de her­ein und kauf­ten et­was Pfef­fer­minz und plau­der­ten ein we­nig, und dann gin­gen sie weg, der Hei­de zu. Aber eine Se­kun­de dar­auf kommt der eine von ih­nen in den La­den zu­rück und sagt: ›Ha­be ich ein Pa­ket lie­gen ge­las­sen?‹ Well, ich sah über­all nach und konn­te kei­nes fin­den; so­mit sagt er: ›Es tut nichts, aber wenn es zum Vor­schein kommt, schi­cken Sie es, bit­te, an die­se Adres­se‹ und hin­ter­ließ mir die Adres­se und einen Schil­ling für mei­ne Mühe. Und wirk­lich, ob­wohl ich ge­glaubt hat­te, ich hät­te über­all nach­ge­se­hen, fand ich, dass er ein Pa­ket aus brau­nem Pa­pier lie­gen ge­las­sen hat­te, und so schick­te ich es dort­hin, wo er ge­sagt hat­te. Ich er­in­ne­re mich nicht mehr der Adres­se, es war ir­gend­wo in West­mins­ter. Aber nach­dem das Ding so wich­tig schi­en, dach­te ich, viel­leicht sei die Po­li­zei dar­um ge­kom­men.«

»Ist sie auch«, sag­te Va­len­tin kurz. »Ist die Hamps­tead-Hei­de weit von hier?«

»Gera­de­aus fünf­zehn Mi­nu­ten.« er­wi­der­te die Frau. »und Sie kom­men di­rekt hin­aus ins Freie.«

Va­len­tin sprang zum La­den hin­aus und be­gann zu lau­fen und die an­de­ren Po­li­zis­ten folg­ten ihm in wi­der­wil­li­gem Trapp.

Die Stra­ße, durch wel­che sie ka­men, war so enge und in Schat­ten gehüllt, dass, als sie un­er­war­tet un­ter den wei­ten Him­mel hin­aus ins Freie ka­men, es sie über­rasch­te, den Abend noch so hell und klar zu fin­den. Eine vollen­de­te Kup­pel von Pfau­en­grün senk­te sich in Gold zwi­schen den schwärz­li­chen Bäu­men und den dun­kel­vio­let­ten Far­nen her­nie­der. Die glü­hend­grü­ne Fär­bung war ge­ra­de tief ge­nug, wie Kris­tall­punk­te einen oder zwei Ster­ne her­vor­zu­he­ben. Al­les, was von Ta­ges­licht üb­rig­ge­blie­ben war, lag in ei­nem gol­de­nen Schim­mer über dem Ran­de von Hamps­tead und je­ner volks­tüm­li­chen Mul­de, die den Na­men Hei­de­tal trägt. Die Sonn­tags­aus­flüg­ler, wel­che in die­ser Ge­gend um­her­schwei­fen, hat­ten sich noch nicht ganz ver­lau­fen; un­förm­lich sa­ßen ei­ni­ge Paa­re auf Bän­ken und hier und da kreisch­te noch in der Fer­ne in ei­ner der Schau­keln ein Mäd­chen. Rings um die er­ha­be­ne Nied­rig­keit des Men­schen ver­tief­te und er­höh­te sich die Pracht des Him­mels und auf dem Ab­hang ste­hend und über das Tal hin­weg­bli­ckend er­späh­te Va­len­tin, was er such­te.

Un­ter den dunklen und sich ver­lie­ren­den Grup­pen die­ser Fer­ne war eine be­son­ders schwarz, die sich nicht ver­lor – eine Grup­pe von zwei Ge­stal­ten in geist­li­cher Klei­dung. Ob­wohl sie so klein schie­nen wie In­sek­ten, konn­te Va­len­tin doch se­hen, dass die eine viel klei­ner als die an­de­re war. Ob­wohl die an­de­re die Hal­tung ei­nes Stu­die­ren­den und ein un­auf­fal­len­des Be­neh­men zeig­te, konn­te er se­hen, dass der Mann gut sechs Fuß hoch war. Er press­te die Zäh­ne auf­ein­an­der und rann­te, un­ge­dul­dig sei­nen Stock schwin­gend, wei­ter, wäh­rend sich so die Ent­fer­nung er­heb­lich ver­rin­gert hat­te und die bei­den schwar­zen Ge­stal­ten wie in ei­nem um­fang­rei­chen Mi­kro­skop an Grö­ße zu­nah­men, hat­te er et­was ent­deckt, was ihn über­rasch­te und was er den­noch ir­gend­wie er­war­tet hat­te. Wer im­mer der lan­ge Pries­ter sein moch­te, be­züg­lich der Iden­ti­tät des kür­ze­ren konn­te kein Zwei­fel be­ste­hen. Es war sein Freund aus dem Har­wich­zu­ge, der un­ter­setz­te klei­ne Curé von Es­sex, den er we­gen sei­nes brau­nen Pa­pier­pa­ke­tes ge­warnt hat­te.

So­weit also füg­te sich schließ­lich al­les ganz ver­nünf­tig in­ein­an­der. Va­len­tin hat­te durch sei­ne Er­kun­di­gun­gen am Mor­gen er­fah­ren, dass ein Va­ter Brown von Es­sex ein sil­ber­nes Kreuz mit Sa­phi­ren, eine Re­li­quie von ho­hem Wer­te, mit sich ge­bracht hat­te, um es ei­ni­gen der frem­den Geist­li­chen auf dem Kon­gres­se zu zei­gen. Dies war un­zwei­fel­haft das »Sil­ber mit blau­en Stei­nen«; und Va­ter Brown war zwei­fel­los der klei­ne Grün­schna­bel vom Zuge. Nun lag nichts Wun­der­ba­res in der Tat­sa­che, dass, was Va­len­tin her­aus­ge­fun­den, hat­te, auch Flam­beau her­aus­fin­den konn­te. Es lag auch nichts Wun­der­ba­res in der Tat­sa­che, dass, wenn Flam­beau von ei­nem Sa­phir­kreu­ze hör­te, er es zu steh­len ver­su­chen wür­de; das war viel­mehr das na­tür­lichs­te von al­len na­tür­li­chen Din­gen. Und eben­so­we­nig lag et­was Wun­der­ba­res in der Tat­sa­che, dass Flam­beau mit so ei­nem ein­fäl­ti­gen Scha­fe, wie es der Mann mit sei­nem Re­gen­schirm und den Pa­ke­ten war, sei­ne ei­ge­nen Wege ging. Ge­hör­te die­ser doch zu je­ner Sor­te, dass ihn der Nächst­bes­te an ei­nem Bind­fa­den bis zum Nord­pol ge­schleppt hät­te; es lag also nichts Über­ra­schen­des dar­in, dass ein Schau­spie­ler wie Flam­beau in der Ver­klei­dung ei­nes Pries­ters ihn nach der Hamps­tead-Hei­de schlep­pen konn­te. So­weit schi­en das Ver­bre­chen klar ge­nug, und wäh­rend der De­tek­tiv den Pries­ter ob sei­ner Hilf­lo­sig­keit be­mit­lei­de­te, emp­fand er et­was wie Ver­ach­tung für Flam­beau, dass die­ser sich dazu her­gab, sich ein so leicht zu täu­schen­des Op­fer aus­zu­su­chen. Doch als Va­len­tin al­les über­dach­te, was sich in­zwi­schen er­eig­net hat­te, all das, was ihn zu sei­nem Tri­umph ge­führt hat­te, spann­te er sein Ge­hirn aufs äu­ßers­te an, um we­nigs­tens ein ganz klein we­nig Sinn oder Ver­stand her­aus­zu­fin­den. Was hat­te es, wenn je­mand ei­nem Pries­ter aus Es­sex ein Sil­ber­kreuz stahl, da­mit zu tun, dass man die Sup­pe auf die Pa­pier­ta­pe­te an der Wand schüt­te­te? Oder da­mit, dass man Nüs­se Oran­gen nann­te, oder Fens­ter zu­erst be­zahl­te und sie dann ein­warf? Ge­wiss, er war am Ende sei­ner Jagd an­ge­kom­men, aber das Mit­tel­stück hat­te er ver­fehlt. Wenn er sich ein­mal täusch­te (was sel­ten vor­kam), hat­te er ge­wöhn­lich den Fa­den er­hascht, aber nichts­de­sto­we­ni­ger den Ver­bre­cher ver­fehlt. Hier hat­te er den Ver­bre­cher er­hascht, noch aber konn­te er des Fa­dens nicht hab­haft wer­den.

Die bei­den Ge­stal­ten, de­nen sie folg­ten, kro­chen wie schwar­ze Flie­gen über den mäch­ti­gen, grü­nen Um­riss des Hü­gels. Sie wa­ren sicht­lich in ein Ge­spräch ver­tieft und mög­li­cher­wei­se ach­te­ten sie gar nicht dar­auf, wo­hin sie gin­gen; si­cher­lich aber schrit­ten sie den ver­wil­der­te­ren und stil­le­ren Hö­hen der Hei­de zu. Als die Ver­fol­ger nä­her­ka­men, muss­te Va­len­tin sich zu­sam­men­kau­ern wie ein In­dia­ner, sich hin­ter Baum­grup­pen de­cken und selbst lang aus­ge­streckt im tie­fen Gra­se krie­chen. Mit­tels die­ser un­ge­wöhn­li­chen Fin­ten ka­men die Jä­ger ih­rem Wil­de nahe ge­nug, um das Ge­mur­mel der Un­ter­hal­tung zu ver­neh­men, doch ließ sich nichts un­ter­schei­den als das Wort »Ver­nunft«, das oft in ei­ner ho­hen und bei­na­he kind­li­chen Stim­me wie­der­kehr­te. Ein­mal hin­ter ei­nem stei­len Ab­hange ver­lo­ren die Ver­fol­ger wirk­lich die bei­den Ge­stal­ten, de­nen sie folg­ten. Zehn angst­vol­le Mi­nu­ten hin­durch fan­den sie die Spur nicht wie­der und dann führ­te sie um einen Vor­sprung ei­nes großen, kup­pel­ar­ti­gen Hü­gels, von dem man ein Am­phi­thea­ter rei­cher und ein­sa­mer Son­nen­un­ter­gang-Sze­ne­rie über­blick­te. Un­ter ei­nem Bau­me auf die­sem be­herr­schen­den, je­doch ver­nach­läs­sig­ten Plat­ze stand eine alte, bau­fäl­li­ge Bank und auf die­ser Bank sa­ßen die zwei Pries­ter im­mer noch in erns­tem Ge­spräch. Das präch­ti­ge Grün und Gold hing noch am dunklen Ho­ri­zon­te, aber die Kup­pel dar­über ging lang­sam aus Pfau­en­grün in Pfau­en­blau über und die Ster­ne tra­ten mehr und mehr als wirk­li­che Dia­man­ten her­vor. Stumm sich ge­gen sei­ne Beglei­ter wen­dend ge­lang es Va­len­tin, sich hin­ter dem großen äs­te­rei­chen Bau­me hin­auf­zu­schlei­chen, und in töd­li­chem Schwei­gen dort ste­hend ver­nahm er zum ers­ten Male die Wor­te der son­der­ba­ren Pries­ter.

Ein teuf­li­scher Zwei­fel er­fass­te ihn, nach­dem er an­dert­halb Mi­nu­ten ge­lauscht hat­te. Vi­el­leicht hat­te er doch die zwei eng­li­schen Po­li­zis­ten in die Ein­öde ei­ner nächt­li­chen Hei­de zu ei­nem Gan­ge mit­ge­schleppt, der nicht ver­nünf­ti­ger war, als woll­te man Fei­gen auf den Dis­teln su­chen. Denn die zwei Pries­ter spra­chen ge­nau wie zwei Pries­ter, fromm, ge­lehrt und ge­las­sen über die luf­tigs­ten Rät­sel der Theo­lo­gie. Der klei­ne Pries­ter aus Es­sex, mit sei­nem run­den Ge­sich­te zu den er­star­ken­den Ster­nen ge­wen­det, sprach ein­fa­cher; der an­de­re hin­ge­gen sprach mit ge­beug­tem Kop­fe, als wäre er nicht ein­mal wert, zu ih­nen auf­zu­bli­cken. Aber man hät­te sich kei­ne un­schul­di­ge­re geist­li­che Un­ter­hal­tung den­ken kön­nen, we­der in ei­nem wei­ßen ita­lie­ni­schen Klos­ter noch in ei­ner schwar­zen spa­ni­schen Ka­the­dra­le.

Das ers­te, was er auf­fing, war der Schluss ei­nes von Va­ter Browns Sät­zen »… was man im Mit­tel­al­ter wirk­lich un­ter den ›un­be­stech­ba­ren Him­meln‹ ver­stand«.

Der grö­ße­re Pries­ter nick­te mit dem ge­beug­ten Klop­fe und sag­te:

»Ah, ja, die­se mo­der­nen Ungläu­bi­gen ap­pel­lie­ren an ihre Ver­nunft, aber wer kann all die­se Mil­lio­nen von Wel­ten an­bli­cken, ohne das Ge­fühl zu ha­ben, dass es ganz gut noch Wun­der­ba­re­re Wel­ten über uns gebe, wo die Ver­nunft et­was über­aus Un­ver­nünf­ti­ges ist?«

»Nein«, ent­geg­ne­te der an­de­re Pries­ter, »Ver­nunft ist im­mer ver­nünf­tig, selbst in der letz­ten Vor­höl­le, im ver­las­se­nen Rand­ge­bie­te der Din­ge. Ich weiß, man wirft der Kir­che vor, sie er­nied­ri­ge die Ver­nunft, aber ge­nau das Ge­gen­teil trifft zu. Die Kir­che al­lein auf Er­den er­hebt die Ver­nunft wirk­lich auf ih­ren Gip­fel. Die Kir­che al­lein auf Er­den hält dar­an fest, dass Gott selbst an die Ver­nunft ge­bun­den ist.«

Der an­de­re Pries­ter er­hob sein stren­ges Ge­sicht zum flim­mern­den Him­mel und mein­te:

»Und den­noch, wer weiß, ob nicht in je­nem un­end­li­chen Uni­ver­sum –?«

»Nur phy­sisch un­end­lich«, er­wi­der­te der klei­ne Pries­ter, rasch sich zur Sei­te wen­dend, »nicht un­end­lich in dem Sin­ne, dass es sich den Ge­set­zen der Wahr­heit ent­zö­ge.«

Va­len­tin hin­ter sei­nem Bau­me zerr­te in stum­mer Wut an sei­nen Fin­ger­nä­geln. In sei­nen Ohren klang schon das Ge­ki­cher der eng­li­schen Ge­heim­po­li­zis­ten, die er auf eine fan­tas­ti­sche Ver­mu­tung hin so­weit mit­ge­jagt hat­te, nur um dem me­ta­phy­si­schen Ge­plau­der zwei­er sanf­ter, al­ter Geist­li­chen zu lau­schen. In sei­ner Un­ge­duld ent­ging ihm die eben­so über­leg­te Ant­wort des großen Pries­ters, und als er wie­der hin­hör­te, war es noch­mals Va­ter Brown, der sprach.

»Ver­nunft und Ge­rech­tig­keit um­fas­sen die ferns­ten und ein­sams­ten Stei­ne. Bli­cken Sie auf die­se Stei­ne. Se­hen sie nicht aus, als wä­ren sie ein je­der ein Dia­mant oder Sa­phir? Gut, Sie kön­nen sich jede tol­le Bo­ta­nik oder Geo­lo­gie, die Sie wol­len, vor­stel­len. Den­ken Sie an Wäl­der von Dia­mant und mit Blät­tern von Bril­lan­ten. Den­ken Sie, der Mond sei ein blau­er Mond, ein ein­zi­ger, rie­si­ger Sa­phir. Aber bil­den Sie sich nicht ein, dass all die­se wahn­sin­ni­ge Astro­no­mie auch nur den kleins­ten Un­ter­schied für die Ver­nunft und Ge­rech­tig­keit un­se­res Tuns aus­ma­chen wür­de. Auf Ebe­nen von Opal und un­ter aus Per­len ge­schnit­te­nen Klip­pen wür­den sie im­mer noch eine War­nungs­ta­fel fin­den: Du sollst nicht steh­len.«

Va­len­tin war eben im Be­grif­fe, sich aus sei­ner stei­fen und kau­ern­den Lage zu er­he­ben und so lei­se wie mög­lich weg­zu­krie­chen, er­grimmt über die­se eine große Tor­heit sei­nes Le­bens. Aber et­was in dem Schwei­gen des großen Pries­ters selbst ließ ihn noch war­ten, bis die­ser sprach. Und als er end­lich sprach, sag­te er ein­fach, den Kopf ge­beugt und die Hän­de auf den Kni­en:

»Well, ich glau­be nach wie vor, dass an­de­re Wel­ten viel­leicht noch über un­se­re Ver­nunft hin­aus­ra­gen. Das Ge­heim­nis des Him­mels ist un­er­gründ­lich und ich für mich kann nur mein Haupt beu­gen.«

Dann, im­mer noch mit ge­senk­ter Stir­ne und ohne im min­des­ten Hal­tung oder Stim­me zu ver­än­dern, füg­te er hin­zu:

»Ge­ben Sie mir nur Ihr Sa­phir­kreuz her­über, ja? wir sind hier ganz al­lein und ich könn­te Sie nie­der­schla­gen wie eine Stroh­pup­pe.«

Die völ­lig un­ver­än­der­te Stim­me und Hal­tung ver­lie­hen der un­er­war­te­ten Wen­dung des Ge­sprä­ches et­was ei­gen­ar­tig Ge­walt­tä­ti­ges. Aber der Hü­ter der Re­li­quie wand­te nur den Kopf um ein win­zi­ges. Er schi­en noch im­mer ein et­was al­ber­nes Ge­sicht den Ster­nen zu­zu­wen­den. Vi­el­leicht hat­te er nicht be­grif­fen. Oder viel­leicht auch hat­te er be­grif­fen und saß nun starr vor Schre­cken.

»Ja«, sag­te der große Pries­ter mit der­sel­ben lei­sen Stim­me und im­mer noch der­sel­ben Hal­tung, »ja, ich bin Flam­beau.« Dann nach ei­ner Pau­se füg­te er hin­zu: »Nun also, wol­len Sie mir das Kreuz her­über­ge­ben?«

»Nein«, er­wi­der­te der an­de­re und das Wort hat­te einen ei­gen­ar­ti­gen Klang. Flam­beau ließ plötz­lich sei­ne gan­ze pries­ter­li­che Mas­ke fal­len. Der große Räu­ber lehn­te sich auf sei­nem Sit­ze zu­rück und lach­te lei­se, aber lan­ge.

»Nein«, rief er, »Sie wol­len es mir nicht ge­ben, Sie klei­ner zö­li­ba­tä­rer Ein­falts­pin­sel? Soll ich Ih­nen sa­gen, wes­halb Sie es mir nicht ge­ben wer­den? Weil ich es schon in mei­ner Brust­ta­sche habe.«

Der klei­ne Mann aus Es­sex wand­te im Däm­mer­lich­te sein wie es schi­en ver­dutz­tes Ge­sicht und mein­te mit furcht­sa­mer Neu­gier­de:

»Sind – sind Sie si­cher?«

Flam­beau kräh­te vor Ver­gnü­gen.

»Wirk­lich, Sie sind so gut wie eine Drei­ak­ter-Ko­mö­die«, rief er aus. »Ja, du Kohl­kopf, ich bin ganz si­cher. Ich hat­te die Idee, von dem rich­ti­gen Pa­ket ein Du­pli­kat zu ma­chen, und jetzt, mein Freund, ha­ben Sie das Du­pli­kat und ich die Ju­we­len. Ein al­ter Kniff, Va­ter Brown. ein sehr al­ter Kniff.«

»Ja«, sag­te Va­ter Brown und fuhr im­mer noch mit der­sel­ben ei­gen­tüm­li­chen, un­be­stimm­ten Wei­se sich mit der Hand durchs Haar.

»Ja, ich habe da­von ge­hört.«

Der Ver­bre­cher beug­te sich mit ei­ner Art plötz­lich er­wach­ten In­ter­es­ses nach dem klei­nen Land­geist­li­chen hin­über.

»Sie ha­ben da­von ge­hört?« frag­te er. »wo ha­ben Sie da­von ge­hört?«

»Well, ich darf Ih­nen na­tür­lich sei­nen Na­men nicht nen­nen«, sag­te der klei­ne Mann ein­fach. »Er war ein Beicht­kind, Sie ver­ste­hen. Er hat­te mit Er­folg an die zwan­zig Jah­re al­lein von Du­pli­ka­ten brau­ner Pa­pier­pa­ke­te ge­lebt. Und als ich an­fing, Ver­dacht zu schöp­fen, dach­te ich dar­an, wie es der arme Bur­sche ge­macht hat­te, und mach­te es gleich nach.«

»– be­gan­nen Ver­dacht zu schöp­fen?« wie­der­hol­te der Ge­äch­te­te mit ver­mehr­ter Span­nung. »Hat­ten Sie wirk­lich die Grüt­ze, Ver­dacht zu schöp­fen, nur weil ich Sie nach die­sem ver­las­se­nen Tei­le der Hei­de ge­bracht habe?«

»Nein, nein«, sag­te Brown in ent­schul­di­gen­dem Tone. »Sie ka­men mir ver­däch­tig vor, schon als ich Sie zum ers­ten Male sah. Es ist jene klei­ne An­schwel­lung oben am Är­mel, wo ihr das Sta­che­l­arm­band tragt.«

»Wie, beim Tar­ta­rus«, schrie Flam­beau, »ha­ben denn Sie vom Sta­che­l­arm­band ge­hört?«

»O, un­se­re Pfarr­kin­der, Sie ver­ste­hen«, sag­te Va­ter Brown, sei­ne Au­gen­brau­en hoch­zie­hend. »Als ich Ku­rat in Hartle­pool war, hat­te ich drei von ih­nen mit Sta­che­l­arm­bän­dern. Und da ich Sie so­mit von An­fang an in Ver­dacht hat­te, se­hen Sie, da sorg­te ich da­für, dass das Kreuz auf alle Fäl­le in Si­cher­heit käme. Un­glück­li­cher­wei­se habe ich Sie be­ob­ach­tet, ja. Und so sah ich Sie schließ­lich die Pa­ke­te ver­tau­schen. Dann, Sie ver­ste­hen, habe ich sie wie­der zu­rück­ge­tauscht. Und dann ließ ich das rich­ti­ge zu­rück.«

»– lie­ßen Sie das rich­ti­ge zu­rück?« wie­der­hol­te Flam­beau, und zum ers­ten Male war ein an­de­rer Ton in sei­ner Stim­me au­ßer dem des Tri­um­phes.