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Horne Fisher ist das selbstbezeichnete "Schwarze Schaf" einer englischen Aristokratenfamilie. Er ist der Mann, der zu viel weiß; er kennt wie kein Zweiter die Motive und Abgründe der "oberen Zehntausend" und die moralische Anfälligkeit der Politiker. Im Unterschied zu seinem berühmten Kollegen, dem freundlichen und rechtschaffenen Pater Brown, ist er ein kühler Kopf und Zyniker. Mit bitterer, britischer Ironie begleiten wir Mr Fischer bei der Aufklärung der Mordfälle, Erpressungen und politischen Ränkespiele, die vorgeblich zum Schutze Englands und der Krone begangen werden, aber nur meist niederen Beweggründen entspringen. Der Band enthält 8 Kurzgeschichten: - Das Gesicht in der Schießscheibe (The Face in the Target) - Der verschwundene Prinz (The Vanishing Prince) - Die Seele eines Schulknaben (The Soul of the Schoolboy) - Der bodenlose Brunnen (The Bottomless Well) - Das Loch in der Mauer (The Hole in the Wall) - Die Liebhaberei eines Anglers (The Fad of the Fisherman) - Der Narr der Familie (The Temple of Silence) - Die Rache der Statue (The Vengeance of the Statue) Null Papier Verlag
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Seitenzahl: 308
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Gilbert Keith Chesterton
Der Mann, der zu viel wusste
Der Gentleman-Detektiv
Gilbert Keith Chesterton
Der Mann, der zu viel wusste
Der Gentleman-Detektiv
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 EV: München, Musarion Verlag, 1925 2. Auflage, ISBN 978-3-954185-24-5
www.null-papier.de/krimi
null-papier.de/katalog
Inhaltsverzeichnis
Buch und Autor
Das Gesicht in der Schießscheibe (The Face in the Target)
Der verschwundene Prinz (The Vanishing Prince)
Die Seele eines Schulknaben (The Soul of the Schoolboy)
Der bodenlose Brunnen (The Bottomless Well)
Das Loch in der Mauer (The Hole in the Wall)
Die Liebhaberei eines Anglers (The Fad of the Fisherman)
Der Narr der Familie (The Temple of Silence)
Die Rache der Statue (The Vengeance of the Statue)
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Gilbert Keith Chesterton (1874-1936) zählt neben Herbert George Wells, Arthur Conan Doyle und Rudyard Kipling zu den klassischen Alleskönnerautoren Englands am Ende der Viktorianischen Epoche. Wie diese hat er Texte verschiedenster Art hinterlassen, darunter äußerst originelle Beiträge zur Fantastik.
Gewöhnlich trug er ein Cape und einen zerdrückten Hut, einen Stockdegen in der Hand und hatte eine Zigarre aus dem Mund hängen. Er vergaß oft, wohin er wollte, und verpasste den Zug, der ihn dorthin bringen sollte. Es wird berichtet, dass er mehrfach seiner Frau von entfernten Orten Telegramme schickte, um wieder nach Hause zu finden.
Chesterton liebte zu debattieren und beteiligte sich oft an freundschaftlichen öffentlichen Disputen mit Männern wie George Bernard Shaw, H. G. Wells, Bertrand Russell und Clarence Darrow.
In seinen Romanen, Essays und Kurzgeschichten setzte er sich intensiv mit modernen Philosophien und Denkrichtungen auseinander.
Chesterton schrieb Gedichte, Bühnenstücke, meist aber Prosa: Essays, zahlreiche Erzählungen und Romane. Von manchen Kritikern hochgelobt wurden die von ihm verfassten Biografien, beispielsweise über Thomas von Aquin, Franz von Assisi, Charles Dickens, Robert Louis Stevenson und George Bernard Shaw.
Am bekanntesten ist seine Figur des Kriminalfälle lösenden Geistlichen Pater Brown, der längst schon eine Stelle im Panoptikum der berühmtesten Detektive, gleich neben Sherlock Holmes und Hercule Poirot, eingenommen hat.
Dem (besonders deutschen) Publikum weniger geläufig sein, dürfte die Rolle des Gentleman-Detektivs Horne Fisher.
Horne Fisher ist das selbstbezeichnete »Schwarze Schaf« einer englischen Aristokratenfamilie. Er ist der Mann, der zu viel weiß; er kennt wie kein Zweiter die Motive und Abgründe der »oberen Zehntausend« und die moralische Anfälligkeit der Politiker. Im Unterschied zu seinem berühmten Kollegen, dem freundlichen und rechtschaffenen Pater Brown, ist er ein kühler Kopf und Zyniker.
Mit bitterer, britischer Ironie begleiten wir Mr Fischer bei der Aufklärung der Mordfälle, Erpressungen und politischen Ränkespiele, die vorgeblich zum Schutze Englands und der Krone begangen werden, aber nur meist niederen Beweggründen entspringen.
Wie die Gestalt des Paters Brown, so hat auch die des Horne Fisher ein Vorbild unter den Freunden und Bekannten seines Schöpfers. Es ist dies der aus einer vornehmen englischen Adelsfamilie stammende Dichter Maurice Baring.
Das extreme Misstrauen Chestertons gegen die Ehrlichkeit der Regierenden hat in seinen Lebenserfahrungen einen konkreten Ansatzpunkt: der berüchtigte Marconi-Skandal, in den unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg hohe und höchste Würdenträger der englischen Politik verwickelt waren.
Chestertons Bruder Cecil gehörte zu den journalistischen Aufdeckern dieser Machenschaften und wurde dabei von der Justiz schwer angegangen, ein Umstand, der viel zum späteren Zynismus und Misstrauen Chestertons beitrug.
Harold March, der aufstrebende Journalist und Kritiker des sozialen Lebens, schritt rüstig über die große Hochebene des Sumpf- und Wiesenlandes hin, dessen Horizontlinie von den weitab liegenden Wäldern des berühmten Grundbesitzes von Torwood Park umsäumt war. Er war ein hübscher junger Mann in einem Sommeranzug, hatte sehr helles, gelocktes Haar und helle, klare Augen. Wie er so durch Wind und Sonne in der wahren Landschaft der Freiheit dahinschritt, waren seine Gedanken — so jung war er nämlich noch — mit politischen Dingen beschäftigt, statt dass er sich bemühte, sie nur ja zu vergessen. Denn der Zweck seines Besuches in Torwood Park war ein politischer; diesen Zusammenkunftsort hatte kein Geringerer als der Finanzminister, Sir Howard Horne, bestimmt, der damals sein sogenanntes sozialistisches Budget einbrachte und es in einem Interview dem so vielversprechenden Schriftsteller erläutern wollte. Harold March war ein Mann, der alles über Politik und nichts über Politiker wusste. Er wusste auch eine Menge über Kunst, Wissenschaft, Philosophie und Kultur im Allgemeinen, kurz wirklich beinahe über alles, mit Ausnahme der Welt, in der er lebte.
Plötzlich kam er, inmitten jener sonnigen und windigen Ebenen, unvermittelt in eine Art Schlucht, die so eng war, dass man sie beinahe einen Spalt des Bodens hätte nennen können. Sie war nur eben breit genug für den Wasserlauf eines kleinen Flüsschens, der zeitweilig in grünen Tunneln des niedrigen Gehölzes verschwand, wie in einem Zwergenwald. Harold hatte die seltsame Empfindung, als wäre er ein Riese, der über ein Tal der Zwerge blickte. Als er jedoch die Enge betrat, verging dieser Eindruck. Die felsigen Ufer, obwohl kaum so hoch wie ein kleines Häuschen, waren überhängend und hatten das Profil eines steilen Abgrundes. Als er den Flusslauf hinabzuwandern begann, voll müßiger, doch romantischer Neugierde, und das Wasser in kurzen Streifdien durchschimmern sah zwischen den großen, grauen Uferkieseln und Büschen, so sanft wie große, grüne Moosflächen, da überkam ihn eine ganz entgegengesetzte fantastische Stimmung. Es war eher, als hätte sich die Erde geöffnet und ihn in eine Unterwelt des Traumlandes verschluckt. Und als er einer menschlichen Gestalt gewahr wurde, die, sich dunkel gegen den Silberstrom abhebend, auf einem großen Stein saß und mehr einem großen Vogel glich, da hatte er vielleicht eine jener Vorahnungen, wie sie jemand haben mag, wenn er der seltsamsten Freundschaft seines Lebens entgegentritt.
Der Mann angelte augenscheinlich oder saß zumindest in der Stellung eines Anglers da, regungsloser als irgendein Angler. March konnte den Mann beinahe so genau beobachten, als wäre er eine Statue; wenigstens einige Minuten lang, ehe die Statue zu sprechen anfing. Es war ein großer, blonder Mann, leichenblass und ein wenig geziert lässig; er hatte schwere Augenlider und eine scharf gebogene Nase. Wenn sein Gesicht von dem breiten, weißen Hut beschattet war, gaben ihm der leichte Schnurrbart und die geschmeidige Gestalt ein jugendliches Aussehen. Doch der Panamahut lag neben ihm im Moos, und man konnte sehen, dass seine Stirne frühzeitig kahl war; dies, zusammen mit den tiefliegenden Augen, machte den Eindruck von Kopfarbeit, ja sogar von Kopfschmerzen. Aber das seltsamste an dem Manne war, wie man nach kurzer, genauer Beobachtung feststellen konnte, dass er, obgleich er wie ein Angler aussah, nicht angelte.
Er hielt statt einer Angel etwas, das ein Hamennetz1 hätte sein können, wie es zuweilen von manchen Fischern gebraucht wird; doch glich es weit mehr einem gewöhnlichen Spielzeugnetz, wie es Kinder oft zum Fangen von Schmetterlingen benützen. Dies tauchte er von Zeit zu Zeit ins Wasser, betrachtete ernst und genau die Ausbeute an Tang und Schmutz, die er herausschöpfte, und leerte dann das Netz wieder aus.
»Nein, ich habe nichts gefangen«, bemerkte er ruhig, als beantwortete er eine unausgesprochene Frage. »Fange ich jedoch etwas, so muss ich es zurückwerfen; insbesondere die großen Fische. Aber einige von den kleineren Tieren interessieren mich, wenn ich sie fange.«
»Ein wissenschaftliches Interesse, nehme ich an?«, bemerkte March.
»Von höchst amateurhafter Art, fürchte ich«, antwortete der fremde Angler. »Es ist eine Art Steckenpferd von mir; Dinge, die man meist unter dem Namen ›Erscheinungen der Phosphoreszenz‹ zusammenfasst. Denn es wäre natürlich geschmacklos, in Gesellschaft immer von stinkenden Fischen zu reden.«
»Ja, ich glaube«, sagte March lächelnd.
»Wäre doch komisch, wenn man mit einem großen, leuchtenden Dorsch in einen Salon einträte«, fuhr der Fremde in seiner gleichgültigen Art fort. »Wie absonderlich wäre es, wenn man ihn wie eine Laterne mit sich tragen könnte oder kleine Sprotten als Kerzen hätte. Einige von den Meertierchen sähen wirklich allerliebst aus — wie Lampenschirme; die blaue Meerschnecke, die über und über glitzert wie Sternengefunkel; und einige von den roten Sternenfischen leuchten wie rote Sterne. Aber natürlich suche ich die nicht hier.«
March dachte daran, ihn zu fragen, wonach er hier suchte; doch da er sich einer fachtechnischen Diskussion nicht gewachsen fühlte, die mindestens bis zur Tiefe der Tiefseefische zu führen drohte, kehrte er zu einem gewöhnlicheren Gesprächsthema zurück.
»Ein reizendes Loch, das hier«, sagte er, »diese Schlucht mit dem Flüsschen da. Es ist wie einer jener Plätze, wie sie bei Stevenson Vorkommen, an denen sich stets Ereignisse abspielen müssen.«
»Ich weiß«, antwortete der andere; »ich glaube, es ist darum, weil der Platz selbst sozusagen ein Ereignis ist und nicht nur durch sein bloßes Vorhandensein wirkt. Das ist es, was der alte Picasso vielleicht und einige von den Kubisten auszudrücken versuchen durch Winkel und Ecken und zackige Linien. Sehen Sie sich diesen mauerartigen, niedrigen Felsen an, wie er ganz rechtwinkelig vorspringt über den Wiesenabhang, der sich zu ihm hinaufbiegt. Das ist wie ein sanfter Zusammenstoß. Es ist wie das Anschlägen und Zurücklaufen einer Welle.«
March blickte nach der Klippe, die tiefgewölbt über die grüne Rasenfläche hing, und nickte. Der Mann interessierte ihn, der so leicht von einem fachtechnisch-wissenschaftlichen Gespräch auf ein künstlerisches übersprang, und er fragte ihn, ob er die neue winkelige Methode in der Malerei liebe.
»Nach meinem Gefühl sind die Kubisten nicht kubistisch genug«, erwiderte der Fremde. »Ich meine, sie tragen nicht dick genug auf. Durch die mathematische Darstellung verdünnen sie die Dinge. Nimmt man die lebendigen Linien aus dieser Landschaft, vereinfacht man sie zu einem bloßen rechten Winkel, so drückt man sie zu einem bloßen Diagramm platt auf das Papier. Diagramme haben ihre eigene Schönheit, aber die ist gerade von der entgegengesetzten Art. Sie stehen für das Unabänderliche; die kühle, ewige, mathematische Art der Wahrheit; was einer einmal den weißen Strahlenglanz nannte, der —«
Er hielt inne, und bevor er das nächste Wort sprach, war etwas geschehen, zu schnell und vollständig, als dass man es hätte begreifen können. Hinter dem überhängenden Felsen kam ein Geräusch und ein Brausen, wie das eines Eisenbahnzuges, und es wurde ein großes Automobil sichtbar. Es stieg bis auf die Höhe des Abhanges, stand schwarz gegen das Sonnenlicht wie ein Kriegswagen aus einem wilden Epos, der in die Schlacht stürmt. March streckte unwillkürlich die Hand zu irgendeiner zwecklosen Bewegung aus, als wollte er eine umgestoßene Teetasse retten.
Für den Bruchteil einer Sekunde schien der Wagen den Rand des Felsens wie ein Flugschiff zu verlassen; dann war es, als drehte sich der Himmel selbst wie ein Rad herum, und der Wagen lag zertrümmert im hohen Gras unten, während eine dünne, graue Rauchsäule langsam von ihm emporstieg in die stille Luft. Ein wenig tiefer lag die Gestalt eines Mannes mit grauen Haaren, der den steilen, grünen Abhang hinuntergestürzt war, mit von sich gespreizten Gliedern und abgewendetem Gesicht.
Der exzentrische Fischer ließ das Netz fallen und schritt schnell auf die Unglücksstelle zu; sein neuer Bekannter folgte ihm nach. Als sie nähertraten, kam es ihnen wie eine ungeheuerliche Ironie vor, dass die tote Maschine immer noch emsig arbeitete und polterte, wie eine Fabrik, während der Mann so still lag.
Er war zweifellos tot. Das Blut floss aus einer verhängnisvollen Wunde am Hinterschädel in das Gras; doch das Gesicht, das der Sonne zugewendet war, schien unverletzt und an sich seltsam und auffallend. Es war einer jener Fälle, in denen ein fremdes Gesicht durch seine Unverkennbarkeit den Eindruck erweckt, als wäre es einem bekannt. Man hat irgendwie das Gefühl, als sollte man es kennen, auch wenn man es nicht kennt. Es war ein breites, eckiges Gesicht mit großen Kinnbacken, beinahe wie die eines hochentwickelten Affen; der breite Mund war so eng geschlossen, dass er nur mehr wie ein Strich zu sehen war; die Nase war kurz und mit jener Art von Nasenlöchern ausgestattet, die mit einem gewissen Verlangen nach Luft zu schnappen scheinen. Das Merkwürdigste an dem Gesicht war, dass die eine Augenbraue in einem viel höheren Bogen geschwungen war als die andere. March überlegte, dass er noch niemals ein so natürlich lebendiges Gesicht gesehen hatte wie dieses tote. Und die energievolle Hässlichkeit wirkte noch seltsamer durch den Heiligenschein weißlich grauer Haare. Aus einigen halb aus der Tasche geglittenen Papieren nahm March eine Visitenkarte; er las den Namen, der darauf stand, laut:
»›Sir Humphrey Turnbull.‹ Ich weiß sicher, dass ich den Namen schon irgendwo gehört habe.«
Sein Begleiter seufzte nur leise und schwieg dann einen Augenblick lang, als überlege er. Hierauf sagte er bloß: »Der arme Teufel ist nun tot«, und fügte noch einige Fachausdrücke hinzu, aus denen sein Zuhörer entnahm, dass er abermals nicht imstande sei, ihm zu folgen.
»Wie die Dinge nun einmal stehen«, fuhr der eigentümlich wohlunterrichtete Mann fort, »wird der gesetzmäßige Vorgang für uns wohl sein, die Leiche, so wie sie ist, liegenzulassen, bis die Polizei verständigt ist. In der Tat, ich glaube, es wäre gut, wenn niemand, mit Ausnahme von der Polizei, hiervon verständigt würde. Wundern Sie sich nicht, wenn ich die Sache vor einigen unserer Nachbarn hier in der Umgebung geheimhalte.« Dann, als fühle er sich veranlasst, seine etwas unvermittelte Vertrauensseligkeit einzuschränken, sagte er: »Ich bin nämlich hergekommen, um meinen Cousin in Torwood zu besuchen; mein Name ist Horne Fisher. Man könnte mich leicht auslachen wegen meines Herumtrödelns hier, nicht?«
»Sir Howard Horne ist Ihr Cousin?«, fragte March. »Ich bin selbst nach Torwood Park unterwegs, um ihn aufzusuchen; nur um seiner Arbeit für die Öffentlichkeit willen natürlich, und wegen der wunderbaren Haltung, mit der er seine Prinzipien vertritt. Ich glaube, dass dieses Budget das größte Ereignis der englischen Geschichte ist. Fällt es durch, so war es der heroischste Fehlgriff der englischen Geschichte. Bewundern Sie Ihren großen Anverwandten nicht sehr, Herr Fisher?«
»O ja«, sagte Herr Fisher. »Er ist der beste Schütze, den ich kenne.«
Dann, als bereue er seine Nonchalance aufrichtig, fügte er mit einem gewissen Enthusiasmus hinzu:
»Nein, er ist nämlich wirklich ein ganz ausgezeichneter Schütze.«
Wie von den eigenen Worten angefeuert, sprang er plötzlich mit einer Art Anlauf zu den vorspringenden Steinen der über ihm emporragenden Felswand empor und kletterte mit einer Behändigkeit hinauf, die in überraschendem Widerspruch stand zu seiner sonstigen Lässigkeit. Er stand bereits einige Augenblicke lang am Kamm oben, das Adlerprofil unter dem Panamahut frei und scharf abgezeichnet gegen den Himmel, und blickte über das offene Land hin, bevor sein Begleiter sich so weit gesammelt hatte, dass er ihm mühsam nachkroch.
Auf der Höhe oben breitete sich eine weite Fläche von Gemeindewiesen aus, auf der die tiefeingegrabenen Furchen des unheilvollen Wagens deutlich zu sehen waren; die Kante jedoch war wie von felsigen Zähnen zerklüftet; unförmige Steine von verschiedenster Größe und Gestalt lagen nahe dem Rand; es war beinahe unglaublich, dass irgendjemand freiwillig in eine solche Todesfälle hineinfahren konnte, insbesondere bei hellem Tageslicht.
»Ich kann es gar nicht verstehen«, sagte March. »War er blind? Oder betrunken?«
»Keines von beiden, dem Anschein nach«, erwiderte der andere.
»Dann war es wohl Selbstmord.«
»Dazu scheint die Methode nicht verlockend genug«, bemerkte der Mann namens Fisher. »Außerdem glaube ich nicht, dass der arme alte Puggy jemals Selbstmord begangen hätte.«
»Der arme alte wer?«, fragte der verwunderte Journalist. »Haben Sie diesen unglücklichen Mann gekannt?«
»Niemand hat ihn eigentlich richtig gekannt«, erwiderte Fisher ziemlich allgemein. »Doch man hat ihn natürlich gekannt. Er war zu seiner Zeit sehr gefürchtet im Parlament und bei Gericht und so weiter — insbesondere anlässlich jenes Skandals über die Ausländer, die als ›unerwünscht‹ deportiert worden sind, als er einen von ihnen hängen lassen wollte wegen Mordes. Er war davon so angeekelt, dass er demissionierte. Seit damals fuhr er meist in seinem Auto herum, das er selbst chauffierte; doch sollte auch er über das Weekend nach Torwood kommen, und ich begreife nicht, warum er freiwillig just vor der Türe den Hals brechen sollte. Ich glaube, dass Hoggs — ich meine, mein Cousin Howard — eigens dazu herkam, um ihn zu treffen.«
»Gehört Torwood Park nicht Ihrem Cousin?«, fragte March.
»Nein; früher gehörte es den Winthrops, wissen Sie«, erwiderte der andere. »Jetzt hat es ein neuer Besitzer erworben — ein Mann aus Montreal namens Jenkins. Hoggs kommt her, um zu jagen; ich habe Ihnen ja erzählt, dass er ein ausgezeichneter Schütze ist.«
Dieses wiederholte Lob des großen Staatsmannes berührte Harold March so, als hätte jemand Napoleon als einen hervorragenden Dame-Spieler definiert. Doch ein anderer, halb unklarer Eindruck arbeitete sich in ihm durch — unter dieser auf ihn einstürzenden Flut unbekannter Dinge — und er versuchte, ihn an die Oberfläche zu bringen, ehe er wieder dahinschwand.
»Jenkins«, wiederholte er. »Sie meinen doch nicht Jefferson Jenkins, den Sozialreformer? Ich meine den Mann, der für das neue Arbeiterwohnungsprojekt kämpft? Es wäre ebenso interessant, ihm zu begegnen wie irgendeinem Minister der Welt, wenn ich so sagen darf.«
»Ja; Hoggs sagte ihm, dass es diesmal Häuser sein müssten«, antwortete Fisher. »Er sagte, die Viehzucht sei schon so oft verbessert worden, dass die Leute bereits darüber zu lachen anfingen. Und natürlich muss man die Pairswürde an irgendein Schlagwort knüpfen, obgleich der arme Kerl sie immer noch nicht bekommen hat. Hallo! Da ist ja noch jemand!«, Sie waren in den Spuren des Wagens weitergegangen, der hinter ihnen in der Schlucht lag und immer noch entsetzlich schnurrte, wie irgendein ungeheuerliches Insekt, das einen Menschen umgebracht hatte. Die Spuren brachten sie an eine Straßenbiegung, von der aus ein Arm in derselben Richtung weiterführte zu dem in der Ferne sichtbaren Tor des Parks. Es war klar, dass der Wagen die lange, gerade Straße herabgefahren war und dann, statt mit der Straße nach links abzubiegen, geradeaus über die Wiese seinem Schicksal entgegengefahren war. Aber nicht diese Entdeckung war es, die Fishers Blick gefangengenommen hatte, sondern etwas noch Gegenständlicheres. An der Biegung der weißen Straße stand eine dunkle, einsame Gestalt, beinahe so still wie ein Wegweiser. Es war die Gestalt eines großen Mannes in grobem Jagdanzug, barhaupt und mit zerzaustem, gelocktem Haar, das ihm ein etwas wildes Aussehen verlieh. Beim Näherkommen schwand zwar dieser erste, fantastische Eindruck, und die Gestalt nahm bei voller Beleuchtung eine konventionellere Färbung an und glich einem gewöhnlichen Herrn, der zufällig, ohne Hut und ohne vorher sein Haar besonders sorgfältig gebürstet zu haben, ausgegangen war. Doch blieb der Eindruck des ungewöhnlich massiven Wuchses, und die tiefliegenden, beinahe an einen Totenschädel gemahnenden Augenhöhlen erhoben sein animalisch gutes Aussehen über das eines Alltagsgesichtes. Aber March hatte keine Zeit, den Mann genauer zu betrachten; denn zu seiner nicht geringen Verwunderung bemerkte sein Führer nur »Hallo, Jack!«, und ging einfach vorbei, als wäre der Mann wirklich nur ein Wegweiser; auch machte Fisher keine Miene, dem Mann von der Katastrophe drüben beim Felsen zu berichten. Es war ja etwas Nebensächliches, doch war es nur der Anfang einer Reihe seltsamer Streiche, zu denen March von seinem neuen exzentrischen Freund mitgenommen wurde.
Der Mann, an dem sie vorbeigegangen waren, sah ihnen ein wenig argwöhnisch nach, doch Fisher setzte heiter und gelassen seinen Weg auf der geraden Straße fort, die am Tor des großen Gutsbesitzes vorbeiführte.
»Das ist John Burke, der berühmte Weltreisende«, ließ er sich herab zu erklären. »Ich nehme an, dass Sie schon von ihm gehört haben; großer Jäger und so weiter. Tut mir leid, dass ich nicht stehenbleiben konnte, um Sie vorzustellen, aber ich vermute, Sie werden ihn später noch sehen.«
»Ich kenne natürlich sein Buch«, sagte March mit neu erwecktem Interesse. »Das eine jedenfalls ist so wunderbar beschrieben: wie sie erst bemerkten, wie nahe der Elefant war, als der ungeheuerliche Kopf den Mond verdeckte.«
»Ja, der junge Haikett schreibt ganz gut, glaub’ ich. Wie? Sie wussten nicht, dass Haikett Burkes Buch geschrieben hat? Burke versteht nur sein Gewehr zu handhaben, und damit kann man nicht schreiben. Ach, er ist in seiner Art ganz genial, wissen Sie; tapfer wie ein Löwe — oder noch viel tapferer.«
»Sie scheinen ja alles mögliche von ihm zu wissen«, bemerkte March mit einem etwas verlegenen Lächeln, »und noch von einer Menge anderer Leute auch.«
Fisher runzelte plötzlich seine kahle Stirne, und seine Augen nahmen einen eigentümlichen Ausdruck an.
»Ich weiß zu viel«, sagte er. »Das ist die Sache. Das ist es, was mit mir und mit uns allen und mit dem ganzen Theater los ist: wir wissen zu viel. Zu viel voneinander, zu viel von uns selbst. Das ist es, warum mich gerade jetzt eine Sache vor allem interessiert, die ich nicht weiß.«
»Welche denn?«, fragte der andere.
»Warum dieser arme Kerl tot ist.«
Sie waren beinahe eine Meile weit auf der geraden Landstraße weitergewandert, zeitweilig dieserart ins Gespräch vertieft, und March hatte die eigentümliche Empfindung, als wäre die ganze Welt von innen nach außen umgestülpt. Herr Horne Fisher missbrauchte nicht etwa das Vertrauen seiner Freunde und Verwandten aus der großen Gesellschaft durch üble Nachrede; er sprach von einigen mit warmer Herzlichkeit. Nur schienen sie plötzlich eine ganz andere Gesellschaft von Herren und Damen zu sein, die nur zufällig dieselben Namen hatten wie jene Herren und Damen, die oft in der Zeitung genannt waren. Doch hätte die wütendste Auflehnung niemals eine so ungemein revolutionäre Wirkung hervorrufen können wie diese kalte Vertraulichkeit. Es war, als fiele grelles Tageslicht auf die Kulissen hinter der Szene.
Sie erreichten die große Pförtnertüre des Parks, aber zum Erstaunen von March gingen sie daran vorbei und auf der endlosen, weißen, geraden Landstraße weiter. Doch war es March selbst noch zu früh für seine Verabredung mit Sir Howard, und er war auch nicht abgeneigt, das Ende der Experimente seines neuen Freundes mit anzusehen, welcher Art immer sie auch sein mochten. So hatten die beiden längst das Sumpfland hinter sich gelassen, und die Hälfte der weißen Straße lag im grauen Schatten der großen Nadelwälder von Torwood, die selbst wie graue Balken das Sonnenlicht abhielten und in ihrer Mitte an diesem klaren Mittag eine eigene Mitternacht schufen. Doch bald schimmerten Lücken zwischen den Bäumen, wie farbige Fenster; die Bäume standen lichter und wurden immer weniger, je weiter die Straße führte, und man konnte das wild gewachsene, unregelmäßige Gehölz durchblinken sehen, in dem, wie Fisher sagte, die Gesellschaft des Hauses den ganzen Tag über drauflosfeuerte. Und etwa zweihundert Ellen weiter kamen sie zur ersten Biegung der Straße.
An der Biegung stand ein verfallenes Wirtshaus mit einem schmutzigen Schild »Zur Weintraube«. Die Tafel war jetzt dunkel und unentzifferbar und hing schwarz gegen den Himmel und das graue Sumpfland dahinter, ungefähr so einladend wie ein Galgen. March bemerkte, dass die Schenke nach Weinessig, aber nicht nach Wein aussähe.
»Gut gesagt«, erwiderte Fisher, »und gewiss auch richtig, wenn Sie so dumm wären, hier Wein trinken zu wollen. Aber das Bier ist sehr gut und der Branntwein auch.«
March folgte ein wenig widerstrebend in die Schenkstube, und sein unklares Gefühl der Abneigung wurde durch den ersten Anblick des Wirtes nicht getilgt, der sich gar sehr von dem freundlichen Wirt, wie er in Büchern beschrieben wird, unterschied. Er war ein knochiger Mann, ungemein schweigsam hinter einem schwarzen Schnurrbart, doch mit ruhelos umherwandernden schwarzen Augen. So wortkarg er auch war, gelang es dem Forschenden doch endlich, ein Stückchen Information aus ihm herauszuholen, dadurch, dass er Bier bestellte und beharrlich und eingehendst über das Thema des Automobilwesens sprach. Er sah den Wirt augenscheinlich in gewissem Sinn als Autorität auf dem Gebiete des Automobilfahrens an, als wäre dieser tief eingedrungen in die Geheimnisse des Mechanismus, der richtigen und der schlechten Behandlung von Automobilen, wobei er den Mann keinen Augenblick lang aus dem Auge verlor. Aus all dieser ein wenig geheimnisvollen Konversation ergab sich schließlich eine Art von Zugeständnis, dass ein bestimmter Wagen von der gegebenen Beschreibung vor ungefähr einer Stunde vor dem Wirtshaus gehalten und dass ein ältlicher Herr ausgestiegen sei und irgendwelche technische Hilfe verlangt habe. Befragt, ob der Besucher auch noch andere Hilfe verlangt habe, erwiderte der Wirt kurz, dass der alte Herr seine Flasche angefüllt und ein Paket belegte Brötchen mit sich genommen hätte. Und mit diesen Worten hatte der etwas ungastliche Gastwirt hastig die Stube verlassen, und man hörte ihn im dunkeln Innern des Hauses noch einige Türen zuschlagen.
Fishers ein wenig müde Augen wanderten über das staubige, traurige Wirtszimmer und verweilten träumerisch bei einem Glaskasten mit einem ausgestopften Vogel darin, über dem ein Gewehr an einem Haken hing, was zusammen den einzigen Schmuck des Zimmers bildete.
»Puggy war ein Humorist«, bemerkte Fisher, »zumindest in seiner etwas grimmigen Art. Doch das wäre ein allzu grimmer Scherz, ein Paket belegte Brötchen zu kaufen, wenn man im Begriff steht, Selbstmord zu begehen.«
»Wenn Sie das meinen«, antwortete March, »so ist es auch nicht gebräuchlich, ein Paket belegte Brötchen zu kaufen gerade vor der Türe eines großen Hauses, in dem man sich aufhalten will.«
»Nein … nein«, wiederholte Fisher beinahe mechanisch, und dann warf er dem anderen plötzlich mit weit lebhafterem Gesichtsausdruck einen Blick zu.
»Bei Gott, das ist eine Idee! Sie haben vollkommen recht. Und das bringt einen eigentlich auf einen ganz anderen, sehr seltsamen Gedanken, nicht?«
Es trat eine Stille ein, und dann fuhr March in ganz unbegründeter Nervosität zusammen, als die Türe der Wirtsstube aufgerissen wurde und ein Mann eintrat, der schnell an den Schanktisch schritt. Er hatte schon mit einer Münze darauf geklopft und nach einem Glas Branntwein gerufen, bevor er die anderen zwei Gäste bemerkte, die an einem ungedeckten Tisch vor dem Fenster saßen. Als er sich nun mit etwas irrem Blick umwendete, hatte March noch eine zweite unerwartete Empfindung: sein Führer rief den Mann mit Hoggs an und stellte ihn als Sir Howard Horne vor.
Er sah etwas älter aus als sein knabenhaftes Bildnis in den illustrierten Zeitungen, wie das bei Politikern meist der Fall ist; sein glattes blondes Haar war leicht ergraut, doch sein Gesicht war beinahe komisch rund, mit einer römischen Nase, die zusammen mit den tanzenden, glitzernden Augen eine entfernte Erinnerung an einen Papagei erweckte. Er hatte die Mütze ein wenig zurückgeschoben auf dem Kopfe und trug ein Gewehr unter dem Arm. Harold March hatte sich oft in Gedanken seine erste Begegnung mit dem großen Reformator ausgemalt; aber niemals hatte er sich ihn mit der Flinte unterm Arm, ein Glas Branntwein am Schanktisch eines Wirtshauses trinkend, vorgestellt.
»Du bist also auch bei Jink abgestiegen?«, sagte Fisher. »Jedermann scheint dort zu wohnen.«
»Ja«, erwiderte der Finanzminister. »Feine Jagd. Zumindest alles, was Jink nicht selbst schießt. Ich habe niemals einen Menschen gesehen, der ein so schönes Jagdrevier hat und selbst so schlecht schießt. Er ist ja ein sehr netter Kerl, weißt du, und all das; ich sag’ kein Wort gegen ihn. Aber er hat niemals gelernt, ein Gewehr zu halten, solange er Schweinefleisch versandt hat oder was immer er sonst tat. Man sagt, dass er einmal eine Kokarde vom Hut seines Dieners weggeschossen hat. Das sieht ihm übrigens auch ähnlich, dass seine Diener Kokarden tragen. Er hat den Wetterhahn von seinem lächerlichen, vergoldeten Lusthäuschen abgeschossen. Das ist der einzige Hahn, den er jemals getroffen hat, denk’ ich. Kommst du auch gleich mit hinauf?«
Fisher sagte ein wenig unbestimmt, dass er bald nachkommen wolle und nur vorher noch etwas zu erledigen hätte; und so verließ der Finanzminister das Wirtshaus. March hatte den Eindruck, als ob er ein wenig aufgeregt und ungeduldig gewesen wäre, als er nach dem Branntwein rief, sich während des Gesprächs aber wieder beruhigt hätte, wenn auch das Gespräch selbst nicht ganz das gewesen war, was der literarische Besucher erwartet hätte. Fisher ging einige Minuten später aus dem Wirtshaus fort und blieb mitten auf der Straße stehen, während er nach der Richtung zurückschaute, aus der sie gekommen waren. Dann ging er ungefähr zweihundert Ellen in dieser Richtung zurück und blieb abermals stehen.
»Ich würde annehmen, dass dies ungefähr die Stelle ist«, sagte er.
»Welche Stelle?«, fragte sein Begleiter.
»Die Stelle, wo der arme Kerl umgebracht worden ist«, sagte Fisher betrübt.
»Was meinen Sie?«, fragte March. »Er stürzte doch ein und eine halbe Meile weit weg von hier in den Felsen zu Tode.« »Nein«, erwiderte Fisher. »Er ist überhaupt nicht auf die Felsen gefallen. Haben Sie nicht bemerkt, dass er nur auf den weichen Wiesenabhang darunter fiel? Aber ich sah, dass er schon eine Kugel im Leibe hatte.«
Dann fügte er nach einer Pause noch hinzu:
»Beim Wirtshaus war er noch lebendig, doch er war lange tot, bevor er zu den Felsen kam. So wurde er also erschossen, während er dieses Stück der geraden Straße hinabfuhr; ich würde also annehmen, ungefähr hier irgendwo. Nachher lief der Wagen natürlich weiter, ohne dass jemand ihn aufgehalten oder gelenkt hätte. Es ist in seiner Art wirklich ein ganz schlauer Kniff; denn die Leiche würde so erst ziemlich weit weg gefunden werden, und die meisten Leute würden, so wie Sie, sagen, dass es ein Autounfall war. Der Mörder muss ein kluger Schurke gewesen sein.«
»Aber hätte man den Schuss nicht im Wirtshaus oder sonst irgendwo hören müssen?«, fragte March.
»Man hat ihn wohl auch gehört. Aber niemand hat ihn beachtet. Das«, fuhr der Untersuchende fort, »ist wieder ein Beweis seiner Klugheit. Es wurde den ganzen Tag über in der ganzen Gegend hier herum geschossen; wahrscheinlich hat er die Zeit so gewählt, dass sein Schuss in einer Menge anderer Schüsse unterging. Er war sicherlich ein erstklassiger Verbrecher. Aber er war sicherlich noch etwas anderes.«
»Was meinen Sie?«, fragte sein Begleiter mit einem unheimlichen Vorgefühl dessen, was kommen musste, er wusste selbst nicht, warum.
»Er war auch ein erstklassiger Schütze«, sagte Fisher.
Er hatte sich schnell umgewendet und ging nun einen schmalen, grasbewachsenen Wiesenpfad, kaum breiter als eine Wagenspur, hinunter, der gegenüber vom Wirtshaus hinlief und die Grenze zwischen dem Gutsbesitz und dem offenen Sumpfland bezeichnete. March arbeitete sich hinter ihm durch, mit der gleichen müßigen Beharrlichkeit, und sah ihn bald durch eine Lücke zwischen den hohen Unkräutern und dem Dornengestrüpp hindurchspähen auf die nackten Stäbe eines angestrichenen Lattenzaunes. Dahinter erhoben sich die großen, grauen Säulen einer Pappelreihe, sie warfen einen breiten, grünen Schatten und schwankten langsam im Winde, der allmählich zu einer stärkeren Brise ausgewachsen war. Der Nachmittag ging schon in den dunkelnden Abend über, und die gigantischen Schatten der Pappelbäume verlängerten sich über ein Drittel der Landschaft.
»Sind Sie ein erstklassiger Verbrecher?«, fragte Fisher freundlich. »Ich fürchte, ich bin es nicht. Aber ich glaube, ich brächte es zuwege, eine Art viertrangiger Einbrecher zu sein.«
Und ehe sein Begleiter antworten konnte, hatte er sich schon irgendwie über den Zaun geschwungen, während March ohne große körperliche Anstrengung, doch in beträchtlicher Geistesverwirrung folgte. Die Pappelbäume kamen so nahe an die Hecke heran, dass die beiden einige Schwierigkeit hatten, sich vorbeizuschleichen und durchzuzwängen; hinter den Pappeln sahen sie nur eine hohe Lorbeerhecke, grün und strahlend in der tiefstehenden Sonne. Irgend etwas an diesen Umgrenzungen durch eine Reihe lebender Mauern gab March das Gefühl, als dränge er wirklich in ein verschlossenes Haus ein und bewege sich nicht im Freien. Es war, als träte er durch eine nie benützte Türe oder durch ein Fenster ein und fände den Weg durch Möbelstücke versperrt. Als sie die Lorbeer hecke umgangen hatten, kamen sie auf eine Art Wiesenterrasse hinaus, die durch eine grüne Stufe zu einem länglichen, einem Kricketplatz gleichenden Rasenplatz abfiel. Dahinter war nur ein einziges Gebäude zu sehen, ein niedriges Treibhaus, das abseits zu liegen schien von allem anderen — wie ein Glashäuschen, das auf eigenem Grund und Boden des Märchenlandes stand. Fisher kannte diesen einsamen Anblick in den weiter abgelegenen Teilen eines großen Besitzes zur Genüge. Er hatte erkannt, dass sie eine bezeichnendere Satiere auf die Aristokratie darstellen, als wenn sie mit Unkraut verwachsen und mit Trümmern übersät wären. Denn sie sind nicht vernachlässigt, und doch sind sie verlassen; jedenfalls sind sie unbenützt. Sie werden regelmäßig gesäubert und geschmückt für einen Herren, der nie kommt.
Als er über die Wiese hinsah, erblickte er jedoch einen Gegenstand, den er anscheinend nicht zu sehen erwartet hatte. Es war eine Art Dreifuß, der eine große Scheibe trug, wie die runde Platte eines seitwärts geklappten Tisches; und erst als sie auf den Rasenplatz hinunter und über die Wiese hingeschritten waren, um das Ding näher zu besehen, erkannte March, dass es eine Schießscheibe war. Sie war abgenützt und vom Wetter stark mitgenommen; die lustigen Farben der konzentrischen Ringe waren verblasst; wahrscheinlich war sie in jenen fernen Tagen des elisabethanischen Zeitalters aufgestellt worden, als das Bogenschießen in der Mode war. March hatte eine vage Vision von Damen in bauschigen Krinolinen und Herren in seltsamen Hüten und Spitzbärten, die diesen verlassenen Garten wie Geister wieder besuchten.
Fisher, der näher getreten war, um die Schießscheibe anzustarren, schreckte ihn durch einen Ausruf auf.
»Hallo!«, rief er, »jemand hat dieses Ding da doch mit Schüssen ganz übersät; und noch dazu erst kürzlich. Na, ich glaube gar, der alte Jink hat versucht, hier schießen zu lernen.«
»Ja, und es sieht aus, als hätte er noch viel zu lernen«, antwortete March lachend. »Nicht einer von diesen Schüssen hat ins Schwarze getroffen; sie scheinen in der wildesten Art überall ringsherum verstreut zu sein.«
»In der wildesten Art«, wiederholte Fisher und starrte immer noch auf die Schießscheibe.
Er schien nur beizustimmen, und doch kam es March vor, als leuchteten seine Augen unter den schläfrig gesenkten Augenlidern und als richte er seine vorgebeugte Gestalt mit seltsamer Energie empor.
»Entschuldigen Sie mich einen Augenblick«, sagte er und suchte in seinen Taschen. »Ich glaube, ich habe ein wenig von meinen Chemikalien bei mir; und dann wollen wir ins Haus hinaufgehen.«
Und wieder beugte er sich über die Schießscheibe und strich mit seinen Fingern etwas über einzelne von den Schusslöchern; soviel March sehen konnte, war es nur eine trübe, graue Schmiere. Dann schritten sie in der einbrechenden Dämmerung durch die langen, grünen Alleen auf das große Haus zu.
Hier jedoch trat der exzentrische Forscher wieder nicht durch den Haupteingang ein. Er ging um das Haus herum, bis er ein offenes Fenster fand, durch das er hineinsprang, und zeigte seinem Freund ein Zimmer, das anscheinend als Gewehrkammer Verwendung fand. Ganze Reihen jener Instrumente, die gewöhnlich dazu dienen, Vögel aus der Luft herunterzuholen, standen an den Wänden; doch auf einem Tisch vor dem Fenster lagen ein oder zwei Waffen von schwererem und gefährlicherem Kaliber.
»Hallo, das sind Burkes große Jagdgewehre«, sagte Fisher. »Ich wusste gar nicht, dass er sie hier aufbewahrte.«
Er hob eines der Gewehre auf, untersuchte es flüchtig und legte es wieder stirnrunzelnd nieder. Beinahe im selben Augenblick trat ein fremder junger Mann hastig ins Zimmer. Er war dunkelhaarig und stämmig gebaut, mit breiter Stirne und einer Bulldoggenschnauze; er sagte kurz und leise entschuldigend:
»Ich habe Major Burkes Gewehre hiergelassen, und er will sie einpacken lassen. Er geht heute Abend von hier fort.«
Und damit trug er die beiden Gewehre hinaus, ohne einen Blick auf die Fremden zu werfen; sie konnten durch das Fenster seine kurze, stämmige Gestalt fortgehen und im rotglühenden Garten verschwinden sehen. Fisher stieg wieder durch das Fenster hinaus und sah ihm nach.
»Das ist Haikett, von dem ich Ihnen erzählt habe«, sagte er. »Ich wusste, dass er so eine Art Sekretär ist und Burkes Papiere verwaltet; doch ich wusste nicht, dass er auch mit den Gewehren etwas zu schaffen hätte. Aber er ist gerade so ein schweigsamer, kluger kleiner Teufel, der zu allem zu gebrauchen ist; so ein Kerl, den Sie jahrelang kennen können, ohne zu wissen, dass er ein Meister im Schachspielen ist.«
Fisher war langsam in der Richtung weitergegangen, in welcher der Sekretär verschwunden war, und bald kamen sie in Sicht der übrigen Gesellschaft des Hauses, die lachend und redend auf der Wiese beisammenstand. Man konnte die große Gestalt und die flatternde Mähne des Löwenjägers sehen, der die kleine Gruppe überragte.
»Übrigens«, bemerkte Fisher, »als wir von Burke und Haikett sprachen, habe ich gesagt, dass ein Mann nicht gut mit einem Gewehr schreiben könnte. Nun, ich bin dessen nicht mehr so sicher. Haben Sie jemals von einem Künstler gehört, der so geschickt ist, dass er mit einem Gewehr zeichnen kann? Hier treibt sich so ein wunderbarer Kerl irgendwo herum.« Sir Howard rief Fisher und dessen Freund, den Journalisten, mit beinahe polternder Liebenswürdigkeit an; March wurde dem Major Burke und Herrn Haikett vorgestellt und auch nebenbei dem Gastgeber, Herrn Jenkins, einem gewöhnlich aussehenden kleinen Mann in grellem Sommeranzug, den alle übrigen mit einer Herzlichkeit zu behandeln schienen, als wäre er ein kleines Kind.
Der unverwüstliche Finanzminister redete noch immer von den Vögeln, die er geschossen hatte, und von den Vögeln, die Jenkins, der Gastgeber, verfehlt hatte. Es schien eine Art gesellschaftliche fixe Idee zu sein.
»Sie mit Ihren großen Jagdabenteuern«, rief er Burke herausfordernd zu. »Ja, große Tiere kann jeder schießen. Man muss ein guter Schütze sein, um kleine Tiere zu treffen.« »Ganz richtig«, warf Horne Fisher ein. »Wenn jetzt ein Nilpferd aus jenem Busch in die Luft emporfliegen könnte oder wenn Sie wenigstens fliegende Elefanten auf dem Gut halten würden, ja dann —«
»Ja, solche Vögel könnte sogar Jink schießen«, rief Sir Howard und klopfte seinem Gastgeber vergnügt auf den Rücken. »Sogar er würde einen Heuschober treffen oder ein Nilpferd!«, »Hören Sie einmal«, sagte Fisher. »Ich möchte gerne, dass Sie alle einen Augenblick mit mir kommen, um auf etwas anderes zu schießen. Kein Nilpferd. Ein anderes merkwürdiges Tier, das ich hier gefunden habe. Es ist ein Tier mit drei Beinen und einem Auge, und es spielt in allen Regenbogenfarben.«