Der Mann, der Donnerstag war - Gilbert K. Chesterton - E-Book

Der Mann, der Donnerstag war E-Book

Gilbert K. Chesterton

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Beschreibung

Ein Dichter, der von der Londoner Polizei für die Anarchistenabwehr angeworben wird und sich unter dem Namen »Donnerstag« in eine Anarchistenbewegung einschleicht, deren Mitglieder nach den Wochentagen benannt sind. Es stellt sich bald heraus, dass alle Wochentage mit Ausnahme von Sonntag Polizeispitzel sind, die die wahre Identität von Sonntag aufdecken sollen. Damit gewinnt die Detektivgeschichte eine neue Dimension: Sonntag, der sich selbst als "Gottesfriede" bezeichnet, steht für die unbändigen Naturkräfte, die die Menschheit vergeblich zu zähmen versucht. Ein Komplott anarchistischer Terroristen am Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt sich darin, unter zunehmender Verfremdung der Wirklichkeit, in ein verrückt-göttliches Spektakel. Wie in anderen seiner Schriften wendet sich Chesterton auch in diesem Roman theologisch-philosophischen Fragen zu. Null Papier Verlag

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Gilbert K. Chesterton

Der Mann, der Donnerstag war

Ein Phantastischer Roman

Gilbert K. Chesterton

Der Mann, der Donnerstag war

Ein Phantastischer Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Heinrich Lautensack EV: München, Musarion Verlag, 1924 2. Auflage, ISBN 978-3-943466-80-5

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Der Au­tor

Zum Ro­man

Das ers­te Ka­pi­tel – Die bei­den Dich­ter von Saf­fron Park

Das zwei­te Ka­pi­tel – Das Ge­heim­nis des Ga­bri­el Syme

Das drit­te Ka­pi­tel – Der Mann, der Don­ners­tag war

Das vier­te Ka­pi­tel – Die Ge­schich­te ei­nes De­tek­tivs

Das fünf­te Ka­pi­tel – Das Fest­mahl un­ter hun­dert Ängs­ten

Das sechs­te Ka­pi­tel – Ent­larvt

Das sie­ben­te Ka­pi­tel – Pro­fes­sor de Worms führt sich un­sag­bar auf

Das ach­te Ka­pi­tel – Der Herr Pro­fes­sor de­mas­kiert sich

Das neun­te Ka­pi­tel – Der an­de­re Be­brill­te

Das zehn­te Ka­pi­tel – Das Duell

Das elf­te Ka­pi­tel – Die Ver­bre­cher ma­chen Jagd auf die Po­li­zei

Das zwölf­te Ka­pi­tel – Die gan­ze Erde in An­ar­chie

Das drei­zehn­te Ka­pi­tel – Hal­tet den Prä­si­den­ten!

Das vier­zehn­te Ka­pi­tel – Die sechs Phi­lo­so­phen

Das fünf­zehn­te Ka­pi­tel – Der An­kla­gen­de

Dan­ke

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Der Autor

Gil­bert Keith Che­s­ter­ton (1874-1936) zählt ne­ben Her­bert Ge­or­ge Wells, Ar­thur Co­nan Doy­le und Ru­dyard Kip­ling zu den klas­si­schen Al­les­kön­ne­r­au­to­ren Eng­lands am Ende der Vik­to­ria­ni­schen Epo­che bis zum Ende des ers­ten Drit­tels des 20. Jahr­hun­derts. Wie die­se hat er Tex­te ver­schie­dens­ter Art hin­ter­las­sen, dar­un­ter äu­ßerst ori­gi­nel­le Bei­trä­ge zur Phan­tas­tik.

Ge­wöhn­lich trug er ein Cape und einen zer­drück­ten Hut, einen Stock­de­gen in der Hand und hat­te eine Zi­gar­re aus dem Mund hän­gen. Er ver­gaß oft, wo­hin er woll­te, und ver­pass­te den Zug, der ihn dort­hin brin­gen soll­te. Es wird be­rich­tet, dass er mehr­fach sei­ner Frau von ent­fern­ten Or­ten Te­le­gram­me schick­te, um wie­der nach Hau­se zu fin­den.

Che­s­ter­ton lieb­te zu de­bat­tie­ren und be­tei­lig­te sich oft an freund­schaft­li­chen öf­fent­li­chen Dis­pu­ten mit Män­nern wie Ge­or­ge Ber­nard Shaw, H. G. Wells, Ber­trand Rus­sell und Cla­rence Dar­row.

In sei­nen Ro­ma­nen, Essays und Kurz­ge­schich­ten setz­te er sich in­ten­siv mit mo­der­nen Phi­lo­so­phien und Den­krich­tun­gen aus­ein­an­der.

Che­s­ter­ton schrieb Ge­dich­te, Büh­nen­stücke, meist aber Pro­sa: Essays, zahl­rei­che Er­zäh­lun­gen und Ro­ma­ne. Von man­chen Kri­ti­kern hoch­ge­lobt wur­den die von ihm ver­fass­ten Bio­gra­fi­en, bei­spiels­wei­se über Tho­mas von Aquin, Franz von As­si­si, Charles Di­ckens, Ro­bert Louis Ste­ven­son und Ge­or­ge Ber­nard Shaw.

Zum Roman

Ein Dich­ter, der von der Lon­do­ner Po­li­zei für die An­ar­chis­ten­ab­wehr an­ge­wor­ben wird und sich un­ter dem Na­men »Don­ners­tag« in eine An­ar­chis­ten­be­we­gung ein­schleicht, de­ren Mit­glie­der nach den Wo­chen­ta­gen be­nannt sind. Es stellt sich bald her­aus, dass alle Wo­chen­ta­ge mit Aus­nah­me von Sonn­tag Po­li­zei­spit­zel sind, die die wah­re Iden­ti­tät von Sonn­tag auf­de­cken sol­len. Da­mit ge­winnt die De­tek­tiv­ge­schich­te eine neue Di­men­si­on: Sonn­tag, der sich selbst als »Got­tes­frie­de« be­zeich­net, steht für die un­bän­di­gen Na­tur­kräf­te, die die Mensch­heit ver­geb­lich zu zäh­men ver­sucht.

Ein Kom­plott an­ar­chis­ti­scher Ter­ro­ris­ten am An­fang des 20. Jahr­hun­derts ent­wi­ckelt sich dar­in, un­ter zu­neh­men­der Ver­frem­dung der Wirk­lich­keit, in ein ver­rückt-gött­li­ches Spek­ta­kel. Wie in an­de­ren sei­ner Schrif­ten wen­det sich Che­s­ter­ton auch in die­sem Ro­man theo­lo­gisch-phi­lo­so­phi­schen Fra­gen zu.

*

Das erste Kapitel – Die beiden Dichter von Saffron Park

Der Vo­r­ort Saf­fron Park, der lag da hin­aus, wo über Lon­don die Son­ne un­ter­zu­ge­hen pflegt. Und schau­te auch grad so rot und ge­nau so zer­schlis­sen aus wie eine Wol­ke bei Son­nen­un­ter­gang. Durch­weg aus knall­ro­tem Back­stein er­baut; von ei­ner ganz schrul­len­haf­ten Sil­hou­et­te und glei­cher­wei­se von ei­nem über­aus un­ge­bär­di­gen Grund­riß. Die Ema­na­ti­on ei­nes spe­ku­la­ti­ven Bau­meis­ters; eine di­let­tan­ti­sche Vor­spie­ge­lung von Kunst; in ei­nem Stil, der sich am liebs­ten -- bald go­tisch aus der Zeit der Kö­ni­gin Eli­z­abeth und bald nach Queen Anne -- nen­nen hör­te... un­ter der Im­pres­si­on of­fen­bar, daß die­se bei­den Herr­sche­rin­nen iden­tisch wä­ren ... Saf­fron Park war mit ei­ni­gem Recht als eine Künst­ler­ko­lo­nie ver­schri­en, ob­schon hier nie­mals nach ir­gend­ei­ner Rich­tung hin ir­gend­wie Kunst pro­du­ziert wur­de. Je­den­noch: wa­ren Saf­fron Parks Prä­ten­tio­nen, ein geis­tig Zen­trum dar­zu­stel­len, auch ein we­nig vage, so war sei­ne An­wart­schaft, als ein ul­ki­ger Platz zu gel­ten, un­be­streit­bar. Der Frem­de, der die­se af­fek­tiert ro­ten Häu­ser zum ers­ten­mal sah, der dach­te nur die­ses: daß es schon ziem­lich när­ri­sche Leut sein müß­ten, die es fer­tig bräch­ten, da drin­nen zu woh­nen. Aber selbst wenn er das Völk­chen dann ken­nen lern­te, selbst dann brauch­te er in die­sem sei­nem vor­ge­faß­ten Re­spekt um nichts her­un­ter­zu­ge­hen. Der Ort war nicht nur ul­kig, er war so­gar vollen­det, so­bald du dich ent­schlie­ßen konn­test, ihn nicht als eine Täu­schung und einen Be­trug, son­dern als einen Traum an­zu­se­hen. Gleich­wie, wenn die Leut­chen auch kei­ne »Künst­ler« wa­ren, das gan­ze des­sen­un­ge­ach­tet künst­le­risch war ... Je­ner jun­ge Mann, mit dem lan­gen, mehr ro­ten als kas­ta­ni­en­brau­nen Haar und dem aus­ver­schäm­ten Ge­sicht -- je­ner jun­ge Mann war nicht so sehr und in der Tat ein Dich­ter: aber ge­wiß­lich war er ein Ge­dicht. Je­ner alte Gent­le­man, mit dem tol­len wei­ßen Bart und dem tol­len wei­ßen Hut -- je­ner alt­ehr­wür­di­ge Hum­bug war nicht so sehr und in der Tat ein Phi­lo­soph: aber we­nigs­tens und nicht zu­letzt gab er sei­nen Ne­ben­menschen Grund zu phi­lo­so­phie­ren. Und je­ner ge­lehr­te Gent­le­man, mit dem kah­len ei­ähn­li­chen Schä­del und dem nack­ten vo­ge­l­ähn­li­chen Hals, der hat­te nicht das lei­ses­te Recht auf das wis­sen­schaft­li­che Ge­ba­ren, mit dem er groß­tat; nie noch hat­te er in der Bio­lo­gie ir­gend Neu­es dar­ge­stellt, aber welch eine bio­lo­gi­sche Aus­ge­burt stell­te er sel­ber dar! .. So also und nur so woll­te der gan­ze Ort ge­nom­men wer­den. Nicht als eine Werk­statt für Künst­ler -- als ein ver­gäng­li­ches, aber vollen­de­tes Kunst­werk viel­mehr. Wer im­mer in die­se Ge­sell­schaft ge­riet, der glaub­te, in eine ge­schrie­be­ne Ko­mö­die ge­ra­ten zu sein.

Vor­züg­lich ums Abend­wer­den und den Ein­bruch der Nacht über­fiel Saf­fron Park die­se rei­zen­de Un­wirk­lich­keit: wenn die Ex­tra­va­ganz der Dä­cher ver­schwamm im Nacht­glü­hen und das gan­ze ver­rück­te Dorf wie eine ein­sam trei­ben­de Wol­ke wur­de. Und noch vor­züg­li­cher war das der Fall in je­nen Näch­ten, da man ir­gend­wie Fes­te fei­er­te im Ort: wenn die klei­nen Gär­ten il­lu­mi­niert wa­ren und die mäch­ti­gen chi­ne­si­schen La­ter­nen in den zwerg­haf­ten Bäu­men er­glüh­ten wie viel man­che wil­de mons­trö­se Frucht. Oh und aber am al­ler­vor­züg­lichs­ten war das der Fall an je­nem au­ßer­ge­wöhn­li­chen Abend, an den et­li­che hier­orts zu­rück­den­ken mö­gen wohl bis auf den heu­ti­gen Tag, an je­nem au­ßer­ge­wöhn­li­chen Abend, an dem der Dich­ter mit dem mehr ro­ten als kas­ta­ni­en­brau­nen Haar der Held war. Nicht daß das etwa der ein­zi­ge Abend ge­we­sen wäre, an dem er der Held war. Wie denn? Gar in man­chen Näch­ten moch­ten sol­che, die grad an sei­nem Hin­ter­gärt­chen vor­bei­gin­gen, sei­ne lau­te, lehr­haf­te Stim­me ge­hört ha­ben, wie sie in ho­hen, selbst­be­wuß­ten Tö­nen zu Männ­lein und in­son­der­heit zu Weib­lein sang. Wo­bei die At­ti­tü­de der weib­li­chen Hö­rer­schaft al­le­mal und in der Tat eine der pa­ra­do­xes­ten Pa­ra­do­xi­en des Plat­zes war. Näm­lich die meis­ten die­ser Weib­lein wa­ren von je­nen, so man ein we­nig in Bausch und Bo­gen Eman­zi­pier­te nennt, und de­ren Be­stim­mung auf Er­den ge­wis­ser­ma­ßen die­se war: ge­gen die Su­pre­ma­tie des Man­nes Pro­test zu er­he­ben. Und gleich­wohl zoll­ten die­se neu­en Wei­ber dem Man­ne jene un­er­hör­te Ar­tig­keit, die kein ge­wöhn­li­ches Weib je ei­nem Man­ne ge­zollt: fein still zu­zu­hö­ren, der­wei­len er spricht ... Und Mr. Lu­ci­an Gre­go­ry, der rot­haa­ri­ge Poet, war in der Tat (in vie­lem Be­tracht) ein Mann, dem zu­zu­hö­ren sichs wohl ver­lohn­te, auch wenn ei­nem letz­ten En­des nur ein La­chen blieb. Er sang die alte Lei­er wohl von der Ge­setz­lo­sig­keit der Kunst und der Kunst der Ge­setz­lo­sig­keit mit ei­ner ge­wis­sen aus­ver­schäm­ten Neu­heit, so daß du schließ­lich einen Au­gen­blick Ge­fal­len dar­an fin­den konn­test. Und bis zu ei­nem ge­wis­sen Gra­de kam ihm da­bei die fes­seln­de Selt­sam­keit sei­nes Aeu­ße­ren zu­gu­te -- staf­fier­te ihn qua­si dazu her­aus. Sein wie nach­ge­dun­kel­tes ro­tes und in der Mit­te ge­schei­tel­tes Haar war buch­stäb­lich wie das ei­ner Frau und war so ster­bens­lang­wei­lig ge­lockt, wie nur das ei­ner Jung­frau auf ei­nem prära­phae­li­ti­schen So­nett in Was­ser­far­ben. Und war sein Oval auch ein noch so hei­li­gen­mä­ßi­ges -- die­ses Ge­sicht fuhr mit ei­nem Male breit und bru­tal her­aus und das Kinn schoß her­vor und war plötz­lich ei­tel Hoch­mut und ech­ter Lon­do­ner Groß­stadt­dün­kel. Dies bei­des in ei­nem, die­ses kit­zel­te die Ner­ven ei­nes neu­ro­ti­schen Pub­li­kums an­ge­nehm und peitsch­te sie im sel­bi­gen Au­gen­blick schreck­lich auf. Er war die mensch­ge­wor­de­ne Blas­phe­mie -- eine Mi­schung aus En­gel und Aff.

Die­ser au­ßer­ge­wöhn­li­che Abend also, der wird, wenn um wei­ter nichts, so doch um sei­nes selt­sam­li­chen Son­nen­un­ter­gangs wil­len in der Erin­ne­rung so man­cher des Or­tes haf­ten blei­ben. Je­ner Son­nen­un­ter­gang, der sah sich grad an -- als ob die Welt un­ter­gin­ge. Der gan­ze Him­mel schi­en von ei­nem wah­ren -- hand­greif­li­chen Fe­der­kleid be­deckt; du konn­test es nicht an­ders sa­gen als: der Him­mel war vol­ler Fe­dern und die Fe­dern streif­ten dir fast das Ge­sicht. Ue­ber dem Dom wa­ren sie grau, mit den ab­son­der­lichs­ten Schat­tie­run­gen in Vio­lett und Mal­ven­far­ben und ei­nem wi­der­na­tür­li­chen Hell­rot oder Blaß­grün. Aber ge­gen Wes­ten zu wur­de al­les über alle Be­schrei­bung trans­pa­rent und über alle Ma­ßen wild und feu­rig, und die letz­ten rot­glü­hen­den Fe­dern ver­hüll­ten die Son­ne wie et­was, das nicht zum An­schau­en taugt. Das Gan­ze war so nah an al­ler Erde --- als woll­te es ein un­end­li­ches Ge­heim­nis aus­re­den. Der gan­ze Feu­er­him­mel schi­en ein Ge­heim­nis zu sein. Er ex­pli­zier­te jene glän­zen­de Nied­rig­keit, die die See­le des Lo­kal­pa­trio­tis­mus ist. Al­ler Him­mel schi­en sehr sehr nied­rig.

Sag­te ich nicht, daß da wel­che sein mö­gen, die sich die­ses Abends nur um ei­nes über­wäl­ti­gen­den Him­mels wil­len er­in­nern wer­den? Es sind aber auch an­de­re, die sich er­in­nern, weil an die­sem Abend erst­ma­lig der zwei­te Dich­ter von Saf­fron Park auf­trat. Eine lan­ge Zeit hat­te der rot­haa­ri­ge Re­vo­lu­tio­när ohne einen Ri­va­len ge­herrscht. Aber in der Nacht je­nes Son­nen­un­ter­gangs war es, daß sei­ne Al­lein­herr­schaft jäh­lings en­de­te. Der neue Poet, der sich sel­ber ein­führ­te und als Ga­bri­el Syme vor­stell­te, war ein sehr mild drein­schau­en­der Sterb­li­cher, mit lieb­li­chem und zu­ge­spitz­tem Bart und we­ni­gem und gel­bem Haar. Aber es half ihm et­was, daß er we­ni­ger sanft­mü­tig er­schi­en, als er mit den Au­gen dreinsah. Er mach­te sein Ein­tre­ten merk­wür­dig, in­dem er über die Dicht­kunst über­haupt ge­ra­de der ent­ge­gen­ge­setz­ten Mei­nung war als wie der ein­ge­ses­se­ne Poet Gre­go­ry. Er sag­te, daß er (Syme) ein Dich­ter von Ge­setz sei, ein Dich­ter von Ord­nung; ja so­gar, er sag­te, er wäre ein re­spek­tier­li­cher Dich­ter. Also daß ihn die Saf­fron Par­ker all an­starr­ten, als ob er eben die­sen Mo­ment aus je­nem un­mög­li­chen Him­mel her­ab­ge­fal­len sei. Und rich­tig, Mr. Lu­ci­an Gre­go­ry, der an­ar­chis­ti­sche Poet, brach­te die bei­den Ge­scheh­nis­se so­fort in einen Kon­nex.

»Es mag wohl sein«, sag­te er in sei­ner un­ver­mu­tet ly­ri­schen Ma­nier, »es mag wohl sein in ei­ner sol­chen Nacht der Wol­ken und him­mel­schrei­en­den Far­ben, daß da plötz­lich solch ein ah­nungs­vol­ler re­spek­tier­li­cher Poet uns zur Welt ge­kom­men ist. Sie sa­gen, Sie sei­en ein Dich­ter von Ge­setz. Ich sage -- Sie sind eine ›con­tra­dic­tio in ad­jec­to‹. Wun­de­re mich nur, daß nicht gleich auch Ko­me­ten schweif­ten und die Erde er­beb­te in der Nacht, da Sie in die­sem Gar­ten er­schie­nen.« Der Mann mit den him­melblau­en Au­gen und dem blas­sen ge­spitz­ten Bart er­trug dies Don­ner­wet­ter mit ei­ner ge­wis­sen sub­mis­sen Fei­er­lich­keit. Die drit­te Per­son von der Grup­pe, Gre­go­rys Schwes­ter Ro­sa­mond, mit ro­ten Haar­flech­ten wie ihr Bru­der, aber ei­nem kind­lich-lie­bens­wür­di­ge­ren Ant­litz dar­un­ter, die lach­te ihr La­chen halb vol­ler Be­wun­de­rung und halb vol­ler Miß­bil­li­gung, das sie stets lach­te zu ih­rem Fa­mi­li­e­no­ra­kel.

Gre­go­ry re­sü­mier­te hoch ora­to­risch und bei gu­ter Lau­ne.

»Ein Ar­tist ist iden­tisch mit ei­nem An­ar­chis­ten«, schrie er. »Trans­po­nie­ren Sie das Wort wie Sie nur wol­len. Ein An­ar­chist ist ein Ar­tist. Der Mann, der eine Bom­be wirft, ist ein Ar­tist, weil er einen großen Mo­ment al­lem an­dern vor­zieht. Er er­kennt, um wie­viel kost­ba­rer ein Strahl des Feu­er­leuch­tens ei­ner Ex­plo­si­on, ein Ohr­voll vom Krach ei­nes rich­ti­gen Don­ners wiegt als ein Korps von krüp­pe­li­gen Po­li­ce­men. Ein Ar­tist igno­riert alle Re­gie­rung, bricht mit al­ler Kon­ven­ti­on. Der Poet ent­flammt sich ein­zig am Cha­os. Wenn dem nicht so wäre, dann wäre das poe­tischs­te Ding von der Welt die Un­ter­grund­bahn.«

»Dem ist so«, sag­te Mr. Syme.

»Blöd­sinn!« sag­te Gre­go­ry, der sehr ver­nunft­ge­mäß tat, so­wie ein an­de­rer et­was Pa­ra­do­xes ver­such­te. »Wa­rum schau­en all die Schrei­ber und Kanal­ar­bei­ter in den Ei­sen­bah­nen so ver­drieß­lich und er­mü­det, so sehr ver­dros­sen und er­mat­tet aus -- warum? Ich wills Ih­nen sa­gen. Da­rum, weil sie wis­sen, daß der Zug rich­tig fährt. Da­rum, weil sie wis­sen, daß, für was für eine Sta­ti­on sie im­mer ein Bil­lett ge­löst ha­ben mö­gen ... daß sie die­se Sta­ti­on er­rei­chen wer­den. Da­rum, weil ... nach­dem sie Slo­an Squa­re pas­siert ha­ben ... weil sie wis­sen, daß die nächs­te Sta­ti­on Vik­to­ria sein muß -- und nichts und nichts und nichts als Vik­to­ria. Oh, oh, den­ken Sie sich nur mal die­se tol­le Ver­zückung! Wie ihre Au­gen zu Ster­nen wür­den und ihre See­len neu im Pa­ra­die­se wan­del­ten, wenn die nächs­te Sta­ti­on auf ganz un­er­klär­li­che Wei­se mit ei­nem­mal Ba­ker Street wäre!«

»Sie sind es, Sie, die un­poe­tisch sind«, er­wi­der­te der Poet Syme. »Wenn das wahr ist, was Sie von je­nen Bu­reau­an­ge­stell­ten sa­gen, so sind die­se nur eben­so pro­sa­isch wie Ihre Poe­sie. Das Fei­ne, Un­er­hör­te, das triff; -- das Rohe, All­täg­li­che, das fehl! Wir füh­len, es ist he­ro­isch, wenn der Mensch mit ei­nem küh­nen Pfeil einen weit ent­fern­ten Vo­gel trifft. Ja, ist es denn nicht eben­so he­ro­isch, wenn ein Mensch mit Hil­fe ei­nes küh­nen Dampfros­ses eine weit ent­fern­te Bahn­sta­ti­on nicht ver­fehlt? Al­les Cha­os ist trost­los; weil ja im Cha­os der Zug in der Tat ganz und gar ir­gend­wo hin­fah­ren wür­de, nach Ba­ker Street oder nach Bag­dad. Aber der Mensch ist ein Ma­gier; und all sei­ne Ma­gie ist die­se: er sagt Vik­to­ria und sieh da, sieh da! es ist Vik­to­ria. Nein, nein, nein, nein, be­hal­ten Sie fein Ihre Bü­cher von all Ih­rer Poe­sie und Pro­sa -- und las­sen Sie mir mei­nen Ei­sen­bahn­fahr­plan, las­sen Sie mich ihn le­sen un­ter Trä­nen der Rüh­rung und des Stol­zes. Be­hal­ten Sie nur bloß Ihren By­ron, der die Schlap­pen der Mensch­heit fei­ert; und ge­ben Sie mir das Kurs­buch, dar­in auf Stun­de und Mi­nu­te der Mensch­heit Sie­ge ver­zeich­net ste­hen. Ge­ben Sie mir das Kurs­buch, bit­te, so ge­ben Sie es doch her!«

»Fah­ren Sie fort?« frag­te Gre­go­ry sar­kas­tisch.

»Ich sage Ih­nen, ich sage Ih­nen«, fuhr Syme mit Ei­fer fort, »daß ich al­le­mal, so­wie ein Zug an­kommt, füh­le, füh­le: daß er Bre­schen schlug in die Be­la­ge­rer -- füh­le, füh­le: der Mensch er­focht einen neu­en Sieg über das Cha­os. Sie schät­zen es ge­ring, Sie hal­ten es für mehr als selbst­ver­ständ­lich, daß ei­ner, wenn ei­ner Slo­an Squa­re ver­las­sen hat, nach Vik­to­ria kom­men muß. Ich aber sage Ih­nen: daß ei­ner statt des­sen tau­send an­de­re Din­ge tun könn­te ... und daß ich al­le­mal, wenn ich wirk­lich da­hin ge­lan­ge, das Ge­fühl habe: ich bin mit knap­per Not da­von­ge­kom­men. Und wenn ich den Schaff­ner so­dann »Vik­to­ria« schrei­en höre, so klingt das ab­so­lut nicht so mir nichts dir nichts. Da schreit für mich, da schreit für mein Ge­fühl ein He­rold: Sieg. Das klingt für mich in der Tat: »Vik­to­ria, Vik­to­ria!« Da siegt Adam, Adam!«

Gre­go­ry schüt­tel­te sein schwe­res ro­tes Haupt und lä­chel­te ver­dros­sen und kläg­lich.

»Und dann«, sag­te er, »dann fra­gen wir Poe­ten im­mer die Fra­ge: ›Ja was ist denn die­ses Vik­to­ria nun, das wir da ha­ben? Hm?‹ Sie mei­nen, Vik­to­ria, das sei Neu-Je­ru­sa­lem. Wir aber wis­sen, daß Neu-Je­ru­sa­lem nur wie­der -- Vik­to­ria sein wird. Der Poet wird so­gar auf den We­gen im Him­mel noch der Miß­ver­gnüg­te sein. Der Poet ist ewig in Re­vol­te.«

»Dor­ten wie­der«, sag­te Syme, »was ist dor­ten poe­tisch, um in Re­vol­te zu sein? Da könn­ten Sie eben­so­gut be­haup­ten, es sei poe­tisch, see­krank zu sein. Krank sein, das ist eine Re­vol­te. Bei­des: krank sein und re­bel­lisch sein, das mag in ge­wis­sen de­spa­ra­ten Le­bens­la­gen ge­sund sein. Aber ich will ge­hängt sein, wenn ich ein­se­hen soll, warum sie poe­tisch sein sol­len. Em­pö­rung -- ab­strakt -- ist -- ein­fach -- em­pö­rend. Es ist rein zum Kot­zen.«

Das Mäd­chen fuhr leicht zu­sam­men bei die­sem ge­mei­nen Aus­druck. Aber Syme war zu sehr in der Hit­ze, um sich vor ihr zu­sam­men­zu­neh­men.

»Das Rich­tig­ge­hen­de«, schrie er, »das -- das ist das Poe­ti­sche! Un­se­re Ver­dau­ung -- zum Bei­spiel -- daß die fein still und wie fromm vor sich geht: das ist die Grund­la­ge al­ler Poe­sie. Ei ja, die poe­tischs­te Sa­che, poe­ti­scher als alle Blu­men sind und poe­ti­scher als alle Ster­ne, die poe­tischs­te Sa­che von der Welt ist: ... nicht krank sein.« »Wahr­haf­tig«, sprach Gre­go­ry da hoch­nä­sig, »die Bei­spie­le, so Sie zu wäh­len be­lieb --«

»Bitt um Ver­zei­hung«, tat Syme grim­mig, »aber ich ver­gaß ganz, daß wir alle und jede Kon­ven­ti­on per­hor­res­ziert hat­ten.«

Und da wardst du einen brenn­ro­ten Fleck ge­wahr auf Gre­go­rys Stirn ...

»Sie schei­nen mir dem­nach nicht zu glau­ben«, sag­te er, »daß ich, die­sem Ge­setz zu­fol­ge, die bür­ger­li­che Ge­sell­schaft um­wäl­ze?«

Syme schau­te ihm dreist ins Ge­sicht und lä­chel­te süß:

»Nein«, sag­te er, »ab­so­lut nicht«, sag­te er, »au­ßer ... ich mei­ne ... au­ßer es wäre Ih­nen ernst um Ihren An­ar­chis­mus: dann ja ... dann ...«

Gre­go­rys un­ge­heu­re Glotzau­gen leuch­te­ten plötz­lich wie bei ei­nem zor­ni­gen Lö­wen auf -- und dir moch­te bei­nah schei­nen, als ob sei­ne rote Mäh­ne sich sträub­te.

»Sie glau­ben also nicht«, fuhr ein Dro­hen und Dräu­en in sei­ne Stim­me, »daß es mir ernst um mei­nen An­ar­chis­mus ist?«

»Bit­te?« sag­te Syme.

»Mir nicht ernst um mei­nen An­ar­chis­mus?« schrie Gre­go­ry und ball­te sei­ne kno­ti­gen Fäus­te.

»Lie­ber, ver­ehr­ter Kol­le­ge!« sag­te Syme -- und ver­ließ ihn.

Ue­ber­rascht, aber auch vol­ler Neu­gier­de und Ver­gnü­gen be­merk­te er da, daß Ro­sa­mond Gre­go­ry mit ihm ging.

»Mr. Syme«, sprach sie, »mei­nen die Leu­te, die so wie Sie und mein Bru­der re­den, mei­nen die oft auch wirk­lich, was sie sa­gen? Mei­nen Sie denn, was Sie jetzt sa­gen?«

Syme lä­chel­te:

»Wie mei­nen Sie?«

»Was mei­nen Sie?« frag­te das Mäd­chen ... und Ihre Au­gen wa­ren tief ...

»Mei­ne teue­re Miß Gre­go­ry«, sag­te Syme ver­bind­lich, »es gibt Auf­rich­tig­keit und es gibt Unauf­rich­tig­keit. Es gibt aber auch sol­che Auf­rich­tig­keit und sol­che -- und sol­che Unauf­rich­tig­keit und an­de­re. Wenn Sie für das Salz­faß etwa ›dan­ke‹ sa­gen: mei­nen Sie da auch, was Sie sa­gen? Nein. Wenn Sie sa­gen: ›die Welt ist run­d‹: mei­nen Sie da auch, was Sie sa­gen? Nein. Es ist al­le­mal et­was Wah­res; -- aber Sie mei­nen es nicht. Nun denn: ein Mann wie Ihr Bru­der fin­det zu­wei­len in der Tat ein Ding, das er meint. Es braucht nur ein halb­wahr, vier­tel­wahr, zehn­tel­wahr Ding zu sein; aber dann sagt er mehr als er meint -- vor lau­ter Mei­nen-müs­sen.«

Sie sah ihn, un­ter wag­recht ein­ge­stell­ten Brau­en her­vor, an. Tief und of­fen lag ihr Ant­litz da, über­schat­tet von dem Schat­ten je­nes ver­nunft­lo­sen Verant­wort­lich­keits­ge­fühls, das die See­le selbst des leicht­fer­tigs­ten Frau­en­zim­mers noch aus­macht: je­nes Be­mut­tern-müs­sen um je­den Preis, das so alt ist wie die Welt sel­ber.

»Ist er also wahr­haf­tig ein An­ar­chist?« frag­te sie. »Nur in je­nem Sinn, von dem ich Ih­nen sprach«, ant­wor­te­te Syme, »oder wenn Sie lie­ber wol­len -- in je­nem Un­sinn.«

Sie zog die brei­ten Au­gen­brau­en zu­sam­men und sag­te ab­rupt:

»Er wür­de nie wirk­lich Bom­ben schmei­ßen oder so was --«

Brach Syme in ein groß La­chen aus, das viel zu groß war für sein klei­nes ei­ni­ger­ma­ßen stut­zer­haf­tes Ge­sicht.

»Herr Je­sus, nein!« sag­te er, »es müß­ten denn Frucht­bon­bons sein.«

Da­nach form­te sich in den Win­keln ih­res Mun­des gleich­falls ein Lä­cheln ... und sie er­in­ner­te sich mit ei­nem zwie­fa­chen Ver­gnü­gen teils an Gre­go­rys Un­ge­reimt­hei­ten, teils an sein Wohl­er­ge­hen ...

Und dann steu­er­te Syme mit ihr auf eine Sitz­ge­le­gen­heit los, in ei­ner Ecke des Gar­tens, und hub neu an, von sei­nen Mei­nun­gen zu ver­brei­ten. Denn er war ein auf­rich­ti­ger Bur­sche, und ohn­ge­ach­tet sei­nes ober­fläch­li­chen Ge­ba­rens und Ko­ket­tie­rens im Grun­de ein be­schei­de­ner Jun­ge.

Und es ist im­mer der Be­schei­de­ne, der zu­viel re­det; der Hof­fär­ti­ge, der über­wacht sich sel­ber viel zu sehr. Also ver­tei­dig­te er die Re­spek­ta­bi­li­tät mit Un­ge­stüm und man­ni­ger Ue­ber­trei­bung. Und wur­de hit­zig im Rüh­men von Net­tig­keit und An­stand. Und all die Zeit schwamm Flie­der­duft um ihn ... Mit ein­mal hör­te er sehr schwach von fern­her aus ei­ner Stra­ße, daß eine Dreh­or­gel zu sin­gen an­hub, und es war ihm, als ob sei­ne he­ro­i­sche Rede eine lieb­li­che Wei­se ge­bar von un­ter oder au­ßer der Welt her ...

Und er sah sie an und er sang zu ihr: zu ih­rem ro­ten Haar und zu ih­rem amü­sier­ten Ge­sicht -- mi­nu­ten­lang wohl. Aber dann, wie ihm ein­fiel, daß es doch nicht schick­lich wäre an ei­nem sol­chen Ort, ein Plau­der­grüpp­chen auf so lan­ge aus­zu­deh­nen -- da sprang er auf. Und er­sah zu sei­nem Er­stau­nen: der gan­ze Gar­ten leer. Ein je­der war längst schon ge­gan­gen, und so ging er nun sel­ber auch -- mit ei­ner ziem­lich über­eil­ten Ent­schul­di­gung. Ging -- -- als wie mit Cham­pa­gner­wein im Kopf, ein Ge­fühl, für das er nie eine Er­klä­rung fand ... An all den wil­den Ge­scheh­nis­sen, die jet­zund fol­gen wer­den, hat­te das Mäd­chen nicht den ge­rings­ten An­teil. Er sah sie auch nim­mer­mehr wie­der, ganz bis zu al­lem Ende all die­ser sei­ner Er­leb­nis­se. Und den­noch, den­noch: -- auf ir­gend­ei­ne un­be­schreib­li­che Wei­se kehr­te sie ihm im­mer wie­der, tauch­te sie ihm im­mer und im­mer wie­der auf, wie ein mu­si­ka­li­sches Leit­mo­tiv durch all die fol­gen­den wahn­sin­ni­gen Aven­tü­ren, und die Glo­rie ih­res selt­sam­li­chen Haa­res spann sich leuch­tend so wie ein ro­ter Fa­den durch all den ge­heim­nis­vol­len und un­heim­li­chen Go­be­lin die­ser Nacht. Al­les was von nun an ge­sch­ah, oh das war all so un­wahr­schein­lich, daß es gar wohl nur ein Traum hät­te sein kön­nen ...

Als Syme auf die stern­hel­le Stra­ße her­austrat, fand er sie erst leer. Dann ver­ge­gen­wär­tig­te er sich (auf eine ge­wis­se ab­son­der­li­che Ma­nier), daß die Stil­le weit eher eine le­ben­di­ge Stil­le war denn eine tote. Un­mit­tel­bar vor dem Tor, da stand eine Stra­ßen­la­ter­ne, und ihr Strahl ver­gol­de­te das Blatt­werk des Bau­mes, der über den Zaun hin­ter ihm sich her­über­neig­te und her­aus­ver­beug­te. Und einen Schritt weit von dem La­ter­nen­pfahl, da hielt eine Ge­stalt, so steif und starr wie der La­ter­nen­pfahl sel­ber. Der küh­ne Hut und der zwei­rei­hi­ge Geh­rock mit Schö­ßen, die wa­ren schwarz. Das Ge­sicht, steil über­schat­tet, nicht min­der dun­kel. Nur eine Fran­se brenn­ro­ten Haars in der Hel­le und et­was Ag­gres­si­ves in der Hal­tung, das ver­riet; es war der Dich­ter Gre­go­ry. Und hat­te et­was von ei­nem Bra­vo mit ei­ner Mas­ke über dem Ge­sicht, wie er mit ei­nem Mord­stahl in der Hand auf sei­nen Feind war­tet.

Und grüß­te einen im­mer­hin be­denk­li­chen Gruß. Worauf Syme um ein etz­li­ches förm­li­cher zu­rück­grüß­te.

»Ich hab auf Sie ge­war­tet«, sag­te Gre­go­ry, »könn­te ich Sie in ei­ner An­ge­le­gen­heit spre­chen?«

»Ge­wiß ... In wel­cher?« frag­te Syme ein we­nig er­staunt.

Gre­go­ry schlug mit sei­nem Spa­zier­stock erst ge­gen den La­ter­nen­pfos­ten und dann ge­gen den Baum.

»In die­ser und in die­ser da«, schrie er; »über Ge­sell­schafts­ord­nung und über An­ar­chis­mus. Das da, das ist Ihre un­schätz­ba­re Ord­nung: die­se schie­fe ei­ser­ne Fun­sel, die­se ekel­haf­te blö­de La­tich­te. Und das da, das ist die An­ar­chie: reich, strot­zend von Le­ben, die sich selbst er­zeugt -- das ist die An­ar­chie, strah­lend in Grün und Gold.« »Genau so ist es«, ant­wor­te­te Syme ge­ru­hig, »ge­nau wie jetzt --: Sie se­hen den Baum nur durch das Licht der La­ter­ne. Und ich müß­te mich sehr wun­dern, wenn Sie je­mals die La­ter­ne durch das Licht des Bau­mes se­hen wür­den.« Und dann nach ei­ner Pau­se sag­te er noch: »Aber darf ich fra­gen, ob Sie hier her­au­ßen im Dun­keln ein­zig ge­stan­den ha­ben, um un­se­re klei­ne Aus­ein­an­der­set­zung wie­der auf­zu­neh­men?«

»Nein!« rief Gre­go­ry aus -- und sei­ne Stim­me läu­te­te die hal­be Stra­ße hin­ab, »ich hab weiß Gott nicht hier ge­stan­den, nur um un­se­re Aus­ein­an­der­set­zung wie­der auf­zu­neh­men -- son­dern um sie für alle Zeit und in Ewig­keit zu en­den!« Stil­le fiel wie­der ein. Und ob­schon Syme nichts von al­lem be­grei­fen konn­te, wit­ter­te er doch in­stink­tiv et­was Ernst­haf­tes. Gre­go­ry hub nun an in sanft­mü­ti­gen Tö­nen und mit ei­nem bei­na­he ver­füh­re­ri­schen Lä­cheln.

»Mr. Syme«, sag­te er, »Ih­nen glück­te heu­te abend bei mir et­was ziem­lich ... Merk­wür­di­ges. Et­was ... das bis­lang noch kei­nem aus ei­nem Wei­be Ge­bo­re­nen mit mir glück­te.«

»Wahr­haf­tig!«

»Doch! Nun er­in­ne­re ich mich«, re­sü­mier­te Gre­go­ry nach­denk­lich, »ei­nem vor Ih­nen, dem glück­te es gleich­falls schon. Und das war ... und das war der Ka­pi­tän ei­nes Sech­ser­fähr­boo­tes (wenn ich mich recht er­in­ne­re) in Sü­dend. Sie ha­ben mich, Sie ha­ben mich ... ge­reizt.«

»Tut mir un­ge­mein leid«, er­wi­der­te Syme wür­dig. »Und ich fürch­te und ich muß sehr fürch­ten, daß ich viel zu schwer be­lei­digt bin, als daß eine blo­ße Ent­schul­di­gung die Sa­che ab­zu­wa­schen ver­möch­te«, sprach Gre­go­ry ge­ru­hig. »Und auch kein Zwei­kampf wäre da Ge­nug­tu­ung ge­nug. Es ist nur ein Weg, den In­sult aus­zu­til­gen, und die­sen Weg wäh­le ich. Ich wer­de ... und wer­de da­bei wo­mög­lich mein Le­ben und mei­ne Ehre zu Op­fern brin­gen müs­sen ... ich wer­de Ih­nen be­wei­sen, daß Sie un­recht hat­ten mit dem, was Sie sag­ten!«

»Was sag­te ich?«

»Sie sag­ten, daß es mir nicht ernst um mei­nen An­ar­chis­mus wäre.«

»Es kann ei­nem so und so ernst um et­was sein. Es gibt ver­schie­de­ne Gra­de. Es gibt Nüan­cen«, er­wi­der­te Syme. »Ich habe nie­mals ge­zwei­felt, daß Sie es rest­los ehr­lich mein­ten, in­so­fern als Sie dach­ten: was Sie sag­ten, das sei wohl wert, daß Sie es sag­ten ... daß Sie dach­ten: ein Pa­ra­do­xon ver­mag einen Men­schen auf­zu­rüt­teln zu neu­er Er­kennt­nis ei­ner längst ge­ring­ge­schätz­ten, ver­ach­te­ten Wahr­heit.«

Gre­go­ry blick­te ihn fest und schmerz­lich an.

»Und aber an­ders als so«, frag­te er, »hal­ten Sie mich nicht für ernst? Sie glau­ben also, ich wäre der flâ­neur, der ge­le­gent­li­che Wahr­hei­ten fal­len läßt? Sie glau­ben ab­so­lut nicht, daß ich es in ei­nem tiefe­ren, in ei­nem töd­li­che­ren Sinn ernst mei­nen könn­te?«

Syme stieß hart mit dem Spa­zier­stock auf die Pflas­ter­stei­ne.

»Ernst -- ernst!« schrie er. »Herr Je­sus, Herr Je­sus! Ist am Ende die­se Stra­ße ernst? Sind am Ende die­se ver­damm­ten chi­ne­si­schen Pa­pier­la­ter­nen ernst? Ja, ist denn der gan­ze Klim­bim ernst? Da kommt man hier­her und re­det sei­nen Stie­fel zu­sam­men -- und das so gut, als man es eben ver­mag -- -- aber das muß ich denn doch sa­gen, daß ich ver­flucht we­nig von ei­nem Men­schen hal­ten wür­de, der als Bo­den­satz sei­ner See­le nicht et­was Erns­te­res zu­rück­be­hiel­te als all den Quatsch -- et­was Erns­te­res, sei es nun Re­li­gi­on oder ein gu­ter Trop­fen.«

»Aus­ge­zeich­net«, sag­te Gre­go­ry, und sein Ant­litz ver­fins­ter­te sich, »so sol­len Sie denn et­was Erns­te­res er­le­ben, Erns­te­res als ein gu­ter Trop­fen oder Re­li­gi­on!«

Und Syme stand war­tend -- mild drein­schau­end wie ge­wöhn­lich -- bis daß Gre­go­ry neu den Mund auf­tat.

»Sie spra­chen gra­de­ben von Re­li­gi­on. Ist es tat­säch­lich wahr, daß Sie Re­li­gi­on ha­ben?«

»Oh«, sag­te Syme und lä­chel­te strah­lend, »wir sind heut­zu­ta­ge alle gute Ka­tho­li­ken.«

»Dann fra­ge ich, ob Sie mir bei was im­mer für Göt­tern oder Hei­li­gen­män­nern Ih­rer Re­li­gi­on schwö­ren wol­len: daß Sie das, was ich Ih­nen nun an­ver­trau­en wer­de, kei­ner Men­schen­see­le und in­son­ders nicht der Po­li­zei ver­ra­ten? Wol­len Sie mir schwö­ren? «Wenn Sie zu sol­cher ent­setz­li­cher Selbst­ver­leug­nung im­stan­de sind, wenn Sie be­reit sind, Ihre See­le mit ei­nem Schwur zu be­las­ten, den Sie nim­mer schwö­ren soll­ten, und mit ei­nem Wis­sen, das Sie sich nicht hät­ten träu­men las­sen: dann ver­sprech ich Ih­nen mei­ner­seits -- --«

»Sie mir Ih­rer­seits?« forsch­te Syme, als der an­de­re in­ne­hielt.

»-- -- dann ver­sprech ich Ih­nen mei­ner­seits einen un­ge­mein un­ter­halt­li­chen Abend.«

Da zog Syme eilends sei­nen Hut.

»Ihre Ein­la­dung«, sag­te er, »ist viel zu wahn­sin­nig, als daß man sie ab­leh­nen könn­te. Sie sa­gen, ein Dich­ter sei al­le­weil ein An­ar­chist. Ich wi­der­spre­che dem; aber ich hof­fe zu­min­dest, daß er ein sports­man ist. Ge­stat­ten Sie also, hier und jet­zund, daß ich Ih­nen als Christ zu­schwö­re und als gu­ter Ka­me­rad und als Dich­ter­kol­le­ge fei­er­lich ver­spre­che: von all die­sem, was es auch sein möge, nie­mals et­was ... nie, nie ir­gen­det­was der Po­li­zei zu ver­ra­ten. Und nun, sa­gen Sie mir in drei Teu­fels Na­men, was ist es?«

»Ich den­ke«, sag­te Gre­go­ry mit lie­bens­wür­di­ger Selbst­ver­ständ­lich­keit, »daß wir einen Fia­ker ru­fen wer­den.«

Er pfiff zwei lan­ge Pfif­fe, und ein Ka­brio­lett kam rat­ternd den Weg da­her. Die zwei stie­gen still­schwei­gend ein. Gre­go­ry gab durch die Wa­gen­klap­pe die Adres­se an: ei­ner ob­sku­ren Knei­pe am Chis­wick­dam­mu­fer. Das Ka­brio­lett roll­te eilends da­hin -- -- und so­mit ver­lie­ßen zwei Phan­tas­ten ihre phan­tas­ti­sche Vor­stadt.

Das zweite Kapitel – Das Geheimnis des Gabriel Syme

Das Ge­fährt hielt vor ei­ner be­son­ders trost­lo­sen und schmie­ri­gen Ka­schem­me, und Gre­go­ry lots­te sei­nen Kum­pan auf­fal­lend eil­fer­tig da hin­ein. Man nahm Platz in et­was wie ei­nem en­gen fins­tern Gast­zim­mer, an ei­nem dre­cki­gen Holz­tisch mit nur ei­nem höl­zer­nen Bein. Und so eng und fins­ter war der Raum, daß man von der her­bei­ge­ru­fe­nen Auf­war­tung nur eine vage und un­heim­li­che Im­pres­si­on be­kam: von et­was sehr Großem und sehr Be­bar­te­tem.

»Neh­men Sie viel­leicht ein klei­nes Abend­brot?« frag­te Gre­go­ry zu­vor­kom­mend. »Pâté de foie gras ist we­ni­ger aus­ge­zeich­net hier. Aber Wild­fleisch könn­te ich Ih­nen sehr emp­feh­len.«

Syme nahm sol­che Be­mer­kung dumm hin, in­dem er sich ein­bil­de­te, daß das ein Scha­ber­nack sei. Und woll­te auf den Hu­mor ein­ge­hen und sag­te mit wohl­er­zo­ge­ner In­dif­fe­renz:

»Oh -- brin­gen Sie mir et­was Hum­mer­ma­yon­nai­se.«

Da sag­te aber, zu sei­nem un­be­schreib­li­chen Er­stau­nen, der Mensch nur: »Sehr wohl, mein Herr!« und ging an­schei­nend fort, die Be­stel­lung aus­zu­füh­ren.

»Was wün­schen Sie zu trin­ken?« fing da Gre­go­ry wie­der an -- mit sei­ner al­ten dreis­ten und den­noch wie ent­schul­di­gen­den Mie­ne. »Ich für mich will nichts als et­was crè­me de men­the; ich habe di­niert. Aber dem Cham­pa­gner ist to­tal zu trau­en. Darf ich Sie we­nigs­tens mit ei­ner hal­b­en Fla­sche Pom­me­ry in Gang brin­gen?«

»Dan­ke!« sag­te der er­starr­te Syme. »Sie sind sehr lie­bens­wür­dig.«

All sei­ne fer­ne­ren An­läu­fe zu ei­ner Kon­ver­sa­ti­on, die in­des dies­mal, so­zu­sa­gen von Haus aus, sich gar un­ge­schickt an­lie­ßen, wa­ren wie mit ei­nem Don­ner­schlag zu Ende -- als plötz­lich der Hum­mer an­ge­schwirrt kam. Syme kos­te­te ihn; und fand ihn ... be­son­ders aus­ge­zeich­net. Dann be­gann er plötz­lich mit großer Hast und großem Ap­pe­tit zu es­sen.

»Ent­schul­di­gen Sie mich, bit­te, daß ich mich ziem­lich rück­halts­los amü­sie­re!« sag­te er zu Gre­go­ry und lä­chel­te. »Ich hat­te noch nicht oft das Glück, einen Traum zu träu­men als wie die­sen. Das ist mir neu an ei­ner Nacht­mahr, daß man da­bei zu Hum­mer ein­ge­la­den wird. Ge­wöhn­lich ist das Ge­gen­teil der Fall.«

»Wenn ich Sie aber ver­si­che­re, daß Sie nicht träu­men!« sag­te Gre­go­ry. »Sie ste­hen im Ge­gen­teil vor dem wirk­lichs­ten und un­ge­heu­er­lichs­ten Au­gen­blick Ihres Le­bens. Ah, da kommt Ihr Cham­pa­gner! Ich gebe zu, es ist ein klei­nes Miß­ver­hält­nis, sa­gen wir ein klei­nes Miß­ver­hält­nis zwi­schen den in­ne­ren Ar­ran­ge­ments die­ses ex­zel­len­ten Ho­tels und sei­nem sim­peln und un­prä­ten­ti­ösen Ex­te­rieur. Aber das kommt all von un­se­rer Be­schei­den­heit. Wir sind die be­schei­dens­ten Ker­le, so je auf die­sem Pla­ne­ten ge­lebt.« »Und wer -- wer sind die­se wir?« frag­te Syme und trank sein Cham­pa­gner­glas aus.

»Das ist doch sehr ein­fach«, ver­setz­te Gre­go­ry. »Wir sind die durch­aus ernst­haf­ten An­ar­chis­ten, die Sie durch­aus nicht ernst neh­men wol­len.«

»Oh!« sag­te Syme kurz. »Sie wis­sen einen gu­ten Trop­fen nicht schlecht zu wür­di­gen, Sie!« »Ja­hah«, mein­te Gre­go­ry, »wir mei­nen es mit al­lem und je­dem ernst!«

Und nach ei­ner Pau­se setz­te er hin­zu:

»Soll­te, in ei­ni­gen we­ni­gen Au­gen­bli­cken, die­ser Tisch da an­fan­gen, sich ein biß­chen her­um­zu­dre­hen, so schie­ben Sie das bit­te durch­aus nicht dem Cham­pa­gner in die Schu­he. Ich möch­te nicht ger­ne, daß Sie etwa un­ge­recht ge­gen sich wür­den.«

»Gut, gut, ich bin nicht be­sof­fen: ich bin wahn­sin­nig«, ver­setz­te Syme voll­kom­men kalt; »aber ich ver­las­se mich dar­auf, ich kann mich dar­auf ver­las­sen, daß ich mich in je­der Si­tua­ti­on wie ein Gent­le­man be­neh­men wer­de ... Darf ich rau­chen?«

»Aber ge­wiß doch!« sag­te Gre­go­ry und zog ein Zi­gar­re­ne­tui. »Ver­su­chen Sie eine von den mei­ni­gen.«

Syme griff zu, knips­te die Spit­ze ab mit ei­nem Zi­gar­ren­ab­schnei­der aus sei­ner Wes­ten­ta­sche, steck­te sich den Glimms­ten­gel ins Ge­sicht, brach­te ihn be­däch­tig in Brand und ließ eine lang­ge­streck­te Wol­ke Rau­ches aus­fah­ren. Es kann ihm nicht hoch ge­nug an­ge­rech­net wer­den, daß er all die Prak­ti­ken mit so sehr viel Fas­sung voll­führ­te, denn fast be­vor er noch dazu kam, sie alle zu tun, hat­te der Tisch, an dem er saß, sich zu dre­hen an­ge­fan­gen -- als wie be­hut­sam zu­erst und dann ra­pid -- ganz und gar als wär’s eine ver­rück­te Sean­ce.

»Sie müs­sen nicht -- -- las­sen Sie ihn nur ma­chen!« sag­te Gre­go­ry. »Das ist näm­lich -- ge­wis­ser­ma­ßen eine Schrau­be.«

»Tref­fend be­merkt«, sag­te Syme ge­las­sen, »eine Schrau­be -- ge­wis­ser­ma­ßen! Wie so un­kom­pli­ziert!«

Den­sel­bi­gen Au­gen­blick stieg der Rauch sei­ner Zi­gar­re, der bis­lang wa­ber­te und wie durch­sich­ti­ge Schlan­gen­lei­ber über ih­nen la­ger­te, ker­zen­ge­ra­de auf als wie aus ei­ner Fa­brikes­se -- und die zwei fuh­ren mit Stüh­len und Tisch hin­ab, hin­un­ter, hin­ein, durch den Fuß­bo­den durch, als ob die Erde sie ver­schlän­ge. San­ken un­ter Ras­seln ein Ding wie einen pfau­chen­den Schacht hin­ab, so ra­pid als wie in ei­nem Lift, hin­ein, hin­un­ter, -- und plumps­ten plötz­lich auf den Bo­den auf. Aber wäh­rend Gre­go­ry zwei Türflü­gel auf­s­tieß und eine rote un­ter­ir­di­sche Hel­le ein­ließ, saß Syme, im­mer drauf­los schmau­chend, das eine Bein faul übers an­de­re ge­schla­gen, ohne daß auch nur ein ein­zi­ges Här­chen sei­nes Gelb­haars Far­be ge­las­sen hät­te.

Ge­lei­te­te ihn Gre­go­ry als­dann eine nied­ri­ge ge­wölb­te Pas­sa­ge hin­ab, von de­ren Aus­gang das rote Leuch­ten her­auf­leuch­te­te. Und das kam von ei­ner enor­men hoch­ro­ten La­ter­ne, die so rie­si­ge Di­men­sio­nen hat­te wie ein gan­zer bren­nen­der Herd, -- über ei­nem schma­len, aber schwe­rei­ser­nen Tor. Und in dem Tor, da war eine Luke oder ein Gat­ter -- und an das Tor, da schlug Gre­go­ry wohl fünf­mal. Ein mäch­ti­ges Or­gan mit ei­nem fremd­län­di­schen Ak­zent frag­te her­aus: »Wer da?« Und die­sem Ko­loß ant­wor­te­te Gre­go­ry so­dann mehr oder we­ni­ger un­ver­mu­tet: »Mr. Jo­seph Cham­ber­lain.« Und die schwe­ren Türan­geln kreisch­ten ... und ver­mut­lich war das eine Pas­se­pa­ro­le ge­we­sen ...

Vom Tor an er­strahl­te die Pas­sa­ge auf den ers­ten Blick als wie über und über ein Stahl­netz­werk. Aber beim zwei­ten Zu­se­hen er­sah Syme: die­ses glit­zern­de Mus­ter war in Wirk­lich­keit: Rei­he um Rei­he um Rei­he -- eine Ar­mee von Ge­weh­ren und Re­vol­vern, in Reih und Glied auf­ein­an­der­ge­schlos­sen, ge­rad wie Mann an Mann, Schul­ter an Schul­ter.

»Ent­schul­di­gen Sie viel­mals, bit­te, all die­se For­ma­li­tä­ten«, sag­te Gre­go­ry, »aber wir ha­ben äu­ßerst strikt zu sein hier.«

»Kei­ne Ent­schul­di­gung, bit­te«, sag­te Syme. »Ich ken­ne doch Ihre Pas­si­on für Ge­setz und Ord­nung« -- und er mar­schier­te die stahl­star­ren­de Pas­sa­ge für­baß. Mit sei­nem lan­gen gelb­lich­ten Haar und sei­nem ziem­lich stut­zer­haf­ten Ue­ber­rock gab er eine be­son­ders fra­gi­le und schwär­me­ri­sche Fi­gur ab, die da die­se schim­mern­de Ave­nue des To­des hin­ab­stapf­te.

Sie gin­gen durch meh­re­re sol­che Pas­sa­gen hin­durch und ge­lang­ten zu­letzt in einen wun­der­lich ge­pan­zer­ten Raum, ein Zim­mer mit ge­krümm­ten Wän­den, fast ku­gel­för­mig von Ge­stalt ... und das aber dann doch wie­der, durch sei­ne vie­len, vie­len Ban­krei­hen, eher nach ei­nem wis­sen­schaft­li­chen Hör­saal aus­sah ... Und da wa­ren kei­ne Ge­weh­re und da wa­ren kei­ne Pis­to­len in die­sem Ap­par­te­ment ... aber rund­um an den Wän­den hin­gen noch viel du­bio­se­re, viel schreck­li­che­re Din­ge, Din­ge, die aus­sa­hen so wie Knol­len von Pflan­zen aus Ei­sen oder so wie Eier von Vö­geln aus Stahl. Und das wa­ren Bom­ben. Und der Raum sel­ber, der war wie das In­ne­re ei­ner Bom­be ... Syme streif­te die Asche sei­ner Zi­gar­re an der Wand ab und trat ein.

»Und nun, mein viel­wer­ter Mr. Syme«, sag­te Gre­go­ry und warf sich mit ei­ner ex­pan­si­ven Ma­nier auf die Bank ge­rad un­ter der größ­ten Bom­be, »nun wir ab­so­lut ko­sig bei­ein­an­der sind, nun las­sen Sie uns so recht im ei­gent­li­chen Sin­ne mit­ein­an­der plau­dern. Nun ... kein mensch­li­cher Mund ver­möch­te ir­gend­wie aus­zu­sa­gen: warum denn ich Sie hier­her ge­lotst habe. Es ge­sch­ah rein aus ei­ner von je­nen to­tal will­kür­li­chen Emo­tio­nen, so wie man einen Ab­hang er­klet­tert oder sich Hals über Kopf in Ver­liebt­heit stürzt. Es ge­nü­ge zu er­wäh­nen, daß Sie ein un­aus­sprech­lich ge­rie­be­ner Bur­sche wa­ren, und -- um ge­recht zu sein -- es noch sind. Ich wäre im­stand und bräch zwan­zig Eide auf Ge­heim­nis­se -- für das eine Ver­gnü­gen, Ih­nen et­was ge­lin­de­re Sai­ten auf­zu­zie­hen. Ihre Art und Wei­se bis hier­her zu ge­hen mit Ih­rer bren­nen­den Zi­gar­re -- das hät­te dazu aus­ge­reicht, bei ei­nem Erz­pfaf­fen die sie­ben Sie­gel des Beicht­ge­heim­nis­ses zu lo­ckern. Also gut -- Sie be­haup­te­ten, Sie wüß­ten ge­wiß, ich sei kein se­ri­öser An­ar­chist. Wol­len Sie die­se Ihre Be­haup­tung auch noch an­ge­sichts die­ses Or­tes -- se­ri­ös auf­recht­er­hal­ten?«

»Der Ort sieht aus, als ver­ber­ge sich hin­ter all sei­ner Lus­tig­keit eine Moral«, gab Syme zu. »Aber ... dürf­te ich an Sie nun zwei Fra­gen stel­len? Ja? Sie brau­chen bei Ihren Ant­wor­ten kei­ne Angst zu ha­ben, (denn wie Sie sich er­in­nern wer­den) -- Sie ha­ben mir vor­her schlau ge­nug das Ver­spre­chen ab­ge­nom­men, daß ich nichts der Po­li­zei an­zei­ge ... ein Ver­spre­chen, das ich mit töd­li­cher Si­cher­heit hal­ten wer­de. Es ist aus blo­ßer Neu­gier­de, daß ich die zwei Fra­gen stel­len will. Zu al­ler­erst ... was ist die­ses al­les? Was bezwe­cken Sie da­mit? Wol­len Sie die Re­gie­rung ab­schaf­fen?«

»Wir wol­len Gott ab­schaf­fen!« sag­te Gre­go­ry, und sei­ne Au­gen wei­te­ten sich fa­na­tisch. »Wir wol­len nicht nur die paar Des­po­tis­men und Po­li­zei­re­gle­ments um­stür­zen; die­se Sor­te An­ar­chis­mus exis­tiert ja wohl, aber die ist nichts als ein Zweig der Non­kon­for­mis­ten. Wir wüh­len tiefer um, wir spren­gen auch hö­her in die Luft. Wir ver­nei­nen all jene ar­bi­trä­ren Di­stink­tio­nen wie Las­ter und Tu­gend, Treue und Ver­rä­te­rei, Phra­sen, wie sie die blo­ßen Re­bel­len all­zeit im Mun­de füh­ren. Jene al­ber­nen, über­ge­schnapp­ten Sen­ti­men­ta­lis­ten der fran­zö­si­schen Re­vo­lu­ti­on pap­pel­ten von Men­schen­rech­ten! Wir has­sen Recht und has­sen Un­recht. Wir ha­ben Recht und Un­recht ab­ge­schafft.«

»Und Rechts und Links«, sag­te Syme mit ei­ner hef­ti­gen Be­gier­de. »Ich hof­fe, daß Sie die­se bei­den auch ab­schaf­fen. Die stö­ren mich fort­wäh­rend viel zu sehr.«

»Sie spra­chen von ei­ner zwei­ten Fra­ge«, schnapp­te Gre­go­ry da ein.

»Gern, sehr gern«, fuhr Syme fort. »Aus all Ihren ge­gen­wär­ti­gen Hand­lun­gen und aus die­ser gan­zen Um­ge­bung da spricht ein wis­sen­schaft­li­ches Stre­ben nach Heim­lich­keit. Ich hat­te wohl einst eine Tan­te, die wohn­te über ei­nem Kauf­la­den. Aber nun tref­fe ich zum ers­ten­mal Leu­te, die es vor­zie­hen, un­ter ei­ner Ka­schem­me zu woh­nen. Sie ha­ben da ein schwe­res ei­ser­nes Tor. Und Sie ge­lan­gen nicht an­ders durch die­ses Tor -- au­ßer Sie er­nied­ri­gen sich so weit, daß Sie sich Mr. Cham­ber­lain nen­nen. Sie um­ge­ben sich mit stäh­ler­nen In­stru­men­ten, die den Ort, sa­gen wir, er­grei­fen­der ma­chen als wie ge­müt­lich. Darf ich fra­gen, wie­so Sie -- nach­dem Sie sich so un­end­lich viel Mühe ge­macht ha­ben, sich der­art in den Ein­ge­wei­den der Erde zu ver­bar­ri­ka­die­ren -- wie Sie dann mit Ihrem gan­zen Ge­heim­nis so pa­ra­die­ren kön­nen, daß Sie mit je­dem blöd­sin­ni­gen Frau­en­zim­mer von Saf­fron Park über An­ar­chis­mus re­den?«

Gre­go­ry lä­chel­te.

»Die Ant­wort ist eine äu­ßerst ein­fa­che«, sag­te er. »Ich sag­te Ih­nen, ich wäre ein se­ri­öser An­ar­chist, und Sie glau­ben mir’s nicht. Auf ganz die­sel­be Wei­se glau­ben’s alle und auch jene nicht. Glau­ben es ein­fach nicht und glau­ben es nicht ... es sei denn, ich füh­re sie hier­her an die­sen in­fer­na­li­schen Ort.«

Syme rauch­te nach­denk­lich und sah ihn in­ter­es­siert an. Gre­go­ry fuhr fort zu re­den: