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Erstmalig vier seit Jahrzehnten unveröffentlichte Geschichten von Chesterton Der Meister der spirituellen Rätsel hat uns noch mehr geschenkt als "nur" seinen Pater Brown. In dieser ursprünglich 1922 veröffentlichten Sammlung aus einer Novelle und 3 Kurzgeschichten ermitteln verschiedene Personen in unterschiedlichen Verbrechen, aber immer in der für den Autor typischen, leisen und nachdenklichen Art. - Die Bäume des Hochmuts (The Trees of Pride) In dieser Geschichte läuft Chesterton zur Hochform auf: Er spinnt eine geheimnisvolle Intrige, gespickt mit philosophischen und theologischen Betrachtungen. Der Landadlige Vane, über den es heißt, er sei ein Mann, der sich besonders rühme, sich von keinerlei Dummheiten beeinflussen zu lassen, mit dem Resultat, dass er immer dumme Sachen mache, hat aus Afrika drei Bäume eingeführt. Diese Bäume stehen bei den abergläubischen Nachbarn in Verruf - angeblich sollen sie Krankheiten übertragen und sogar Menschen verspeisen. Um den Irrsinn zu widerlegen, verbringt Vane die Nacht im Wald. Am nächsten Morgen ist er verschwunden. Seine Gäste, unter ihnen ein amerikanischer Kritiker, ein Jurist und ein Arzt, machen sich auf, das Rätsel zu lösen. Die anderen Kurzgeschichten sind: - Der Garten des Rauches (The Garden of Smoke) - Schwert fünf (The Five of Swords) - Der Turm des Verrates (The Tower of Treason) Chesterton hat wahrlich niemals ein schlechtes Buch geschrieben. Null Papier Verlag
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Gilbert Keith Chesterton
Noch mehr Detektivgeschichten
Gilbert Keith Chesterton
Noch mehr Detektivgeschichten
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 EV: Musarion Verlag München, 1925 2. Auflage, ISBN 978-3-954185-39-9
www.null-papier.de/
null-papier.de/katalog
Inhaltsverzeichnis
Über den Autor
Über dieses Buch
Die Bäume des Hochmuts (Die Bäume des Hochmuts)
Erstes Kapitel – Die Geschichte von den Pfauenbäumen
Zweites Kapitel – Die Wette des Squires Vane
Drittes Kapitel – Das Geheimnis des Brunnens
Viertes Kapitel – Die Jagd nach der Wahrheit
Der Garten des Rauches (The Garden of Smoke)
Schwert fünf (The Five of Swords)
Der Turm des Verrates (The Tower of Treason)
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Gilbert Keith Chesterton (1874-1936) zählt neben Herbert George Wells, Arthur Conan Doyle und Rudyard Kipling zu den klassischen Alleskönnerautoren Englands am Ende der Viktorianischen Epoche bis zum Ende des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts. Wie diese hat er Texte verschiedenster Art hinterlassen, darunter äußerst originelle Beiträge zur Fantastik.
Gewöhnlich trug er ein Cape und einen zerdrückten Hut, einen Stockdegen in der Hand und hatte eine Zigarre aus dem Mund hängen. Er vergaß oft, wohin er wollte, und verpasste den Zug, der ihn dorthin bringen sollte. Es wird berichtet, dass er mehrfach seiner Frau von entfernten Orten Telegramme schickte, um wieder nach Hause zu finden.
Chesterton liebte zu debattieren und beteiligte sich oft an freundschaftlichen öffentlichen Disputen mit Männern wie George Bernard Shaw, H. G. Wells, Bertrand Russell und Clarence Darrow.
In seinen Romanen, Essays und Kurzgeschichten setzte er sich intensiv mit modernen Philosophien und Denkrichtungen auseinander.
Chesterton schrieb Gedichte, Bühnenstücke, meist aber Prosa: Essays, zahlreiche Erzählungen und Romane. Von manchen Kritikern hochgelobt wurden die von ihm verfassten Biografien, beispielsweise über Thomas von Aquin, Franz von Assisi, Charles Dickens, Robert Louis Stevenson und George Bernard Shaw.
Vater Brown ist ein englischer katholischer Pfarrer, der als Hobby Kriminalfälle löst. Dies gelingt ihm, indem er sich in den Täter hineinversetzt, dabei das Verbrechen selbst begeht, wie er sagt. Dabei ist er aber weniger daran interessiert, Verbrecher der irdischen Gerechtigkeit auszuliefern, sondern er will sie zu Gott führen; eine freiwillige Beichte des Täters genügt ihm. Dabei spielt es für ihn keine Rolle, welches Amt diese Person bekleidet.
Zwischen 1910 und 1935 erschienen neunundvierzig Erzählungen von Chesterton über Father Brown, zunächst in Zeitschriften und anschließend zusammengefasst in mehreren Bänden.
Erstmalig vier seit Jahrzehnten unveröffentlichte Geschichten von Chesterton
Der Meister der spirituellen Rätsel hat uns noch mehr geschenkt als nur seinen Pater Brown.
In dieser ursprünglich 1922 veröffentlichten Sammlung aus einer Novelle und 3 Kurzgeschichten ermitteln verschiedene Personen in unterschiedlichen Verbrechen, aber immer in der für den Autor typischen, leisen und nachdenklichen Art.
Die Bäume des Hochmuts (The Trees of Pride)
In dieser Geschichte läuft Chesterton zur Hochform auf: Er spinnt eine geheimnisvolle Intrige, gespickt mit philosophischen und theologischen Betrachtungen. Der Landadlige Vane, über den es heißt, er sei ein Mann, der sich besonders rühme, sich von keinerlei Dummheiten beeinflussen zu lassen, mit dem Resultat, dass er immer dumme Sachen mache, hat aus Afrika drei Bäume eingeführt. Diese Bäume stehen bei den abergläubischen Nachbarn in Verruf – angeblich sollen sie Krankheiten übertragen und sogar Menschen verspeisen. Um den Irrsinn zu widerlegen, verbringt Vane die Nacht im Wald. Am nächsten Morgen ist er verschwunden. Seine Gäste, unter ihnen ein amerikanischer Kritiker, ein Jurist und ein Arzt, machen sich auf, das Rätsel zu lösen.
Die anderen Kurzgeschichten sind:
Der Garten des Rauches (The Garden of Smoke)
Schwert fünf (The Five of Swords)
Der Turm des Verrates (The Tower of Treason)
Chesterton hat wahrlich niemals ein schlechtes Buch geschrieben.
Squire1 Vane war ein ältlicher Schulknabe von englischer Erziehung und irischer Abstammung. Seine englische Erziehung an einer der großen Publicschools hatte seinen Geist in einem vollkommenen und immerwährenden Stadium des Knabenalters erhalten. Doch die irische Abstammung erweckte unbewusst in ihm den rechten Ernst eines alten Knaben und gab ihm manchmal das Verständnis für die glänzenderen Aussichten eines ungezogenen Knaben wieder. Er besaß eine körperliche Ungeduld, die manches mal mit ihm durchging, beinahe gegen seinen Willen, und die daran schuld war, dass er sowohl im Zivildienst als auch in der diplomatischen Laufbahn geradezu glänzend versagte. So ist es zwar wahr, dass der Kompromiss der Schlüssel zur englischen Politik ist, insbesondere, was die Unparteilichkeit gegenüber den Religionszweigen Indiens anbelangt; doch Vanes Versuch, den Moslems dadurch auf halbem Weg entgegenzukommen, dass er an der Pforte der Moschee einen Stiefel auszog, wurde weniger als Zeichen wahrer Unparteilichkeit aufgenommen, sondern vielmehr als etwas, das nur aggressive Gleichgültigkeit genannt werden konnte. Auch ist es wahr, dass man von einem englischen Aristokraten kaum erwarten kann, dass er in einem Streit zwischen einem russischen Juden und einer orthodoxen Prozession, welche Reliquien trägt, die Gefühle einer der beiden Parteien wirklich nachempfinden kann; doch Vanes Einfall, dass die Prozession ebenso gut den Juden selbst als ehrwürdige, historische Reliquie tragen könnte, wurde von beiden Seiten missverstanden. Kurz, er war ein Mann, der sich besonders rühmte, er lasse sich von keinerlei Dummheiten beeinflussen, mit dem Resultat, dass er immer dumme Sachen machte. Er schien einzig aus dem Grund auf dem Kopf zu stehen, um zu beweisen, dass er nicht auf den Kopf gefallen sei.
Er hatte in Gesellschaft seiner Tochter eben ein herzhaftes Frühstück beendet unter einem Baum in seinem Garten an der kornischen2 Küste. Denn, da er selbst eine wunderbare Zirkulation besaß, bestand er darauf, möglichst viele Mahlzeiten im Freien einzunehmen, obwohl der Frühling noch kaum die Bäume berührt oder das Wasser am südlichsten Ende Englands erwärmt hatte. Seine Tochter Barbara, ein hübsches Mädchen mit rotem Haar und einem so ernsten Antlitz wie eine Gartenstatue, saß immer noch, beinahe regungslos wie eine Statue, still, nachdem ihr Vater sich erhoben hatte.
Es war keine üble Gestalt, dieser große Mann in den hellen Kleidern, mit den weißen Haaren und dem weißen Schnurrbart, der ein wenig wild zurückflog aus seinem gutmütigen Gesicht, als er, den ungewöhnlich großen Panamahut in der Hand, durch den terrassenförmig angelegten Garten hinschritt, einige Steintreppen, an deren Geländer alte, reich verzierte Urnen angebracht waren, hinunterstieg, dann einem waldigeren Pfad folgte, der zu beiden Seiten von kleinen Bäumchen umsäumt war, und so im Zickzack weiter ging auf dem Weg, der den felsigen Abhang hinabführte bis ans Ufer, wo ein Gast in einem Boot ankommen sollte. Die Yacht lag bereits in der blauen Bucht, und man konnte das Boot sehen, das auf die kleine, gemauerte Landungsbrücke zuruderte.
Doch schon auf diesem kurzen Weg zwischen den grünen Wiesen und dem gelben Sand sollte sein kühler Verstand auf die Probe gestellt werden, wie leicht er in jenen nicht seltenen Zustand zu versetzen sei, den die Welt Hitzköpfigkeit zu nennen pflegt. Tatsache war, dass die kornische Landbevölkerung, der die Pächter und die Dienerschaft des Hauses angehörten, bei weitem nicht Leute waren, die keine Dummheit kannten. Sie hatten, leider, gar viele Dummheiten an sich; sie schienen ihn mit Geistern und Hexen und alten Ammenmärchen wie mit einem Zauberring von Unsinn umgeben zu wollen. Doch der Zauberkreis hatte ein Zentrum: Es gab einen Punkt, um den sich die Gespräche der Bauern immer wieder drehten. Es war ein Punkt, der den Squire immer wieder zur Verzweiflung brachte, und sogar auf diesem kurzen Gang schien er überall darauf zu stoßen. Ehe er die Treppe zur Wiese hinunterstieg, blieb er stehen, um mit dem Gärtner über die Umpflanzung irgendeines ausländischen Strauches zu sprechen, und der Gärtner drückte mit jedem Zug seines lederbraunen Gesichtes düstere Befriedigung aus über den glücklichen Zufall, der ihm gestattete, seine Meinung darüber zu äußern, wie wenig er von ausländischen Sträuchern halte.
»Wär’ besser, Herr, wir wären das los, was Sie davon hier haben«, bemerkte er mürrisch weitergrabend. »Hier wächst all das Zeug nicht ordentlich.«
»Sträucher!«, sagte der Squire lachend. »Sie werden doch die Pfauenbäume nicht Sträucher nennen, wie? Schöne, große Bäume – Sie sollten stolz auf sie sein.«
»Manche Kräuter wachsen schnell«, bemerkte der Gärtner. »’s gibt Kräuter, die so groß werden wie Häuser, wenn man sie pflanzt.« Dann fügte er hinzu: »Gott, der die Lilien im Felde … wie es in der Bibel heißt.«
»Ach, der Teufel hol deine –«, fing der Squire an, und er setzte dann an Stelle des Wortes Bibel das allgemeinere Wort: »deinen Aberglauben.« Er selber war ein derber Rationalist, aber er ging zur Kirche, um seinen Pächtern ein gutes Beispiel zu geben. Was für ein gutes Beispiel? Das zu beantworten, wäre ihm schwergefallen.
Ein Stückchen weiter unten auf dem Weg begegnete er einem Holzhacker, einem Mann namens Martin, der mitteilsamer war, weil er einen größeren Kummer hatte. Seine Tochter war zurzeit ernstlich krank, sie litt an einem Fieber, das seit kurzem an der Küste wütete, und der Squire, der ein gutes Herz hatte, hätte es in einem solchen Falle gewiss gerne verziehen, wenn der Mann niedergeschlagen oder übler Laune gewesen wäre. Doch war Vane nahe daran, wieder die Geduld zu verlieren, als der Bauer darauf bestand, sein Missgeschick mit der traditionellen fixen Idee über die ausländischen Bäume in Verbindung zu bringen.
»Wenn sie es aushalten könnte, würd’ ich sie am liebsten fortschaffen von hier«, sagte der Holzhacker, »da wir ja die Bäume nicht fortschaffen dürfen, denk ich. Wie gern möcht ich mit der Hacke hineinschlagen und hören, wie sie krachend zusammenbrechen.«
»Man könnte glauben, es wären Drachen«, sagte Vane.
»So ungefähr schauen sie aus«, erwiderte Martin. »Sehen Sie nur einmal hin.«
Der Holzknecht war natürlich ein gröberer, ja sogar ein wilderer Mann als der Gärtner. Auch sein Gesicht war braun und glich einem alten Pergament; es war von einem fremdartig angeordneten Bartgestrüpp umrahmt, das in Wirklichkeit vielleicht fünfzig Jahre zuvor in ähnlicherweise getragen worden war, das aber auch fünftausend Jahre alt sein mochte oder noch älter. Man hatte das Gefühl, dass die Phönizier, als sie in der Morgendämmerung der Welt jene fremden Küsten betraten, ihre blauschwarzen Haare in ähnlicher Fasson gekämmt, gelockt oder gerauft haben mochten. Denn dieser Teil der Bevölkerung war ebenso sehr ein Winkel Cornwalls, wie Cornwall ein Winkel Englands ist; ein trauriger und einzigartiger Menschenschlag, klein und untereinander verwandt wie ein keltischer Clan. Der Clan war älter als die Familie Vane, obwohl diese so alt war, wie Grafschaftsfamilien zu sein pflegen. Denn in vielen dieser Gegenden Englands sind es die Aristokraten, die als die Letzten ins Land kamen. Sie waren jener Teil des Volksstammes, der bestimmt war, zu verschwinden, und vielleicht schon verschwunden ist.
Die Gegenstände des Anstoßes standen ein paar hundert Ellen weit vom Sprecher entfernt, der seine Axt drohend gegen sie erhob; es lag etwas Zwingendes in seinem Vergleich. Diese Küste, die sich gegen Sonnenuntergang erstreckte, war vor allem selbst beinahe so fantastisch wie eine Abendwolke. Sie stand, herausgeschnitten aus dem Smaragdgrün oder Indigoblau des Meeres, in gemeißelten Hörnern und Sicheln, die ganz gut der Abdruck oder die Form solcher gehörnter Schlangen hätten sein können; und unten war die Küste zerrissen und zerklüftet durch Höhlen und Spalten wie von dem Bohren und Wühlen eines solchen gigantischen Wurms. Auf und über dieser drachenähnlichen Bodenformation hing, leichter als Dunst, ein Schleier grauer Bäume; Bäume, die, zerfressen und zerfegt, wie gewöhnlich durch die Zauberkraft des Meeres ihrer ursprünglichen Farbe und Form beraubt worden waren. Rechtshin streckten sich die Bäume längs der Küste in einer schmalen Reihe, jeder Einzelne zu dünnen, wilden Linien verzerrt wie eine Karikatur. Am anderen Ende der Reihe drängten sie sich zu einem wilden Haufen buckliger Bäume zusammen; ein Wald, der sich nach einer weit ins Meer vorragenden Klippe dieser hohen Küste hin dehnte. Und an dieser Stelle war das Bild zu sehen, das so viele Blicke und Gedanken beinahe mechanisch auf sich zog.
Aus der Mitte dieser niedrigen und beinahe gleich hohen Bäume erhoben sich drei einzelne Stämme, die emporschossen und in den Himmel ragten wie ein Leuchtturm über den Wellen oder ein Kirchturm über den Dächern des Dorfes. Sie bildeten eine Gruppe von drei Säulen, die so eng aneinander standen, dass sie gut für einen dreigegabelten Baum hätten gehalten werden können, dessen untere Zweige abgebrochen oder im dichteren Wald versteckt waren. Alles um sie her erweckte die Vorstellung von etwas Fremdländischem, Südländischem, weit mehr als sonst irgendetwas, das sogar auf dieser äußersten Halbinsel Britanniens zu sehen war, die Spanien, Afrika oder den Südsternen am nächsten kommt. Das federartige Laubwerk spross empor in dem blassen, gelbgrünen Nebel, der die Bäume umgab, doch waren sie von einer unnatürlicheren, grünen Färbung, mit einer bläulichen Schattierung wie die Farben des Eisvogels. Aber man hätte sich auch einbilden können, es seien die Schuppen eines dreiköpfigen Drachens, der über einer Herde fliehender und eng aneinander gedrängter Rinder emporragte.
»Es tut mir sehr leid, dass deine Tochter so krank ist«, sagte Vane nicht sehr freundlich. »Aber wirklich –«, und er schritt die steile Straße in wiegendem Gang bergab.
Das Boot war bereits an dem kleinen Steindamm befestigt worden, und der Bootsmann ein jüngeres Abbild des Holzhackers und wirklich auch ein Neffe dieses nützlichen Missvergnügten – grüßte seinen Landesherrn in der mürrischen Art der Familie. Der Squire merkte es wohl im Vorbeigehen, hatte es aber bald mit allem anderen vergessen, sobald er die Hand des jungen Besuchers gedrückt hatte, der ans Land gekommen war. Es war ein langer, lässiger Mann, sehr mager für seine Jugend, dessen lange, feine Züge ganz aus Knochen und Nerven zusammengesetzt zu sein schienen und irgendwie im Widerspruch zu seinen Haaren standen, die in hellgelben Büscheln über den hohlen Schläfen unterhalb der Krempe des weißen Sommerhutes zu sehen waren. Er war sorgfältig und mit gutem Geschmack gekleidet, obwohl er geradewegs von einer ansehnlichen Seereise kam; in der Hand trug er etwas, das er während seiner langen Europareisen und seiner sogar noch längeren europäischen Besuche beinahe vergessen hatte, eine Handtasche zu nennen.
Herr Cyprian Paynter war ein Amerikaner, der in Italien lebte. Es gab noch viel mehr über ihn zu sagen, denn er war ein sehr kluger und kultivierter Herr; aber diese beiden Tatsachen deckten sich vielleicht mit den meisten anderen. Während er seinen Kopf wie ein Museum mit den Wundern der Alten Welt vollstopfte – die jedoch alle, wie durch ein Fenster, von den Wundern der Neuen Welt erhellt waren – hatte er etwas von der einzigartigen kritischen Haltung Ruskins oder Paters geerbt und war außerdem berühmt als Entdecker einiger kleinerer Dichter. Er war ein verständiger Entdecker und machte nicht alle seine kleineren Dichter zu großen Propheten. Waren seine Gänse vielleicht auch Schwäne, so waren sie nicht alle dem Schwan von Avon3 gleich. Er hatte sich sogar der tödlichen Verdächtigung des Klassizismus ausgesetzt, da er von seinen jüngeren Kollegen, den »Punktierenden Poeten«, abwich, als diese Dichtungsarten hervorbrachten, die lediglich aus Beistrichen und Doppelpunkten bestanden. Er empfand eine menschlichere Sympathie für die neue Flamme, die aus der glimmenden Asche keltischer Mythologie entfacht worden war, und es war auch wirklich das jüngste Auftauchen eines kornischen Dichters eine Art Parallele zu den neuen irischen Dichtern, was ihn bei dieser Gelegenheit nach Cornwall geführt hatte. Tatsächlich war er viel zu wohlerzogen, um seinen Gastgeber ahnen zu lassen, dass irgendein anderes Vergnügen gesucht werden könnte als das, dessen Gastfreundschaft zu genießen. Paynter war seit langem von Vane eingeladen gewesen, den er in Cypern in den letzten Tagen von Vanes undiplomatischer Diplomatenlaufbahn getroffen hatte; doch Vane hatte nicht bemerkt, dass die alte Beziehung erst wieder aufgenommen wurde, nachdem der Kritiker ›Merlin und andere Verse‹ von einem neuen Schriftsteller, namens John Treherne, gelesen hatte. Auch fing der Squire noch immer nicht an zu begreifen, durch welche weit diplomatischere Diplomatie er veranlasst worden war, den Sänger des Landes für denselben Tag, an dem der amerikanische Kritiker ankam, zu Tisch zu laden.
Herr Paynter stand noch immer mit seiner Handtasche da und starrte in aufrichtiger Bewunderung auf die ausgewaschenen Klippen, auf deren Spitze der graue, groteske Wald stand, gekrönt durch die drei höchsten Bäume.
»Es ist, als hätte man an der Küste des Märchenlandes Schiffbruch gelitten«, sagte er.
»Ich hoffe, Sie haben nicht viel Schiffbruch gelitten«, erwiderte der Gastgeber lächelnd. »Ich nehme an, Jake wird gut auf Sie achtgegeben haben.«
Herr Paynter sah zum Bootsmann hinüber und lächelte gleichfalls. »Ich fürchte«, sagte er, »unser Freund ist kein so leidenschaftlicher Bewunderer der Landschaft wie ich.«
»Ach, die Bäume wohl!«, sagte der Squire gelangweilt.
Der Bootsmann war seinem eigentlichen Beruf nach Fischer; doch da sein Haus aus schwarzem, geteertem Holz weit draußen an der Küste nur wenige Ellen vom Landungsplatz entfernt stand, war er für solche Fälle als eine Art Fährmann angestellt. Er war ein großer, dunkelhaariger Bursche, meist schweigsam, doch jetzt schien ihn etwas zum Reden zu reizen.
»Na, Herr«, sagte er, »jeder Mensch weiß, dass es damit nicht geheuer ist. Jeder Mensch weiß, dass das Meer die Bäume zerfrisst und vernichtet, wenn’s eben nur Bäume sind. Diese Dinger da treiben wie irgendeine gottlose große Meeralge, die gar nicht zum Land gehört. Es ist ja wie – wie wenn die verdammte Seeschlange ans Ufer gekommen wäre, Squire, und alles auffräße.«
»Es gibt hier eine dumme Legende«, sagte Squire Vane mürrisch. »Aber kommen Sie in den Garten hinauf, ich möchte Sie gerne meiner Tochter vorstellen.«
Als sie jedoch bei dem kleinen Tisch unter dem Baum angelangt waren, hatte die anscheinend bewegungslose junge Dame sich schließlich doch fortbewegt, und es dauerte eine Weile, bevor sie ihr auf die Spur kamen. Sie hatte sich, obwohl langsam und lässig, doch erhoben, und war gemächlich den oberen Teil des Pfades weitergeschlendert, der durch den terrassenförmigen Garten hinabführte und auf den unteren Pfad herabsah, dort, wo dieser näher an den dichteren Teil des kleinen Waldes am Ufer herankam.
Ihre Lässigkeit kam nicht von einer Schwäche, eher von der Fülle des Lebens in ihr, wie bei einem halberwachten Kind. Sie schien sich zu dehnen und alles zu genießen, ohne irgend etwas zu bemerken. Sie durchkreuzte das Wäldchen, in dessen grauem Gestrüpp ein einziger weißer Pfad wie in einem schwarzen Loch verschwand. Um diesen Teil der Terrasse lief eine Art niedriger Balustrade oder Rampe, die in Abständen von Blumen bedeckt war. An die Brüstung dieser Mauer lehnte sie sich und sah hinab auf das leuchtende Meer und die Baumgruppe unten und auf den unregelmäßigen Pfad, der zu der Landungsbrücke und dem Fischerhäuschen unten am Strande führte.
Als sie ziemlich schläfrig so hinabstarrte, sah sie, wie eine fremde Gestalt, anscheinend vom Fischerhaus kommend, sehr schnell den Pfad heraufkletterte; der Mann ging so schnell, dass er einen Augenblick später schon zwischen den Bäumen herauskam und gerade auf dem Weg unter ihr stand. Es war nicht nur eine ihr fremde, sondern eine an sich etwas befremdende Gestalt. Es war ein noch junger Mann, anscheinend sogar auch jünger als seine Kleider, die nicht nur schäbig, sondern altertümelnd aussahen; Kleider, ihrer Art nach ganz gewöhnlich, die er jedoch nur in ungewöhnlicher Art trug. Er trug einen dem Anschein nach leichten Regenmantel, vielleicht weil er übers Meer gekommen war, aber dieser wurde am Hals von einem einzigen Knopf festgehalten und hing samt Ärmeln und allem mehr wie eine Pelerine als wie ein Mantel um seine Schultern. Er stützte eine seiner knochigen Hände auf einen schwarzen Stock; unter dem Schatten des breiten Hutes hing sein schwarzes Haar in einem oder zwei Büscheln herab. Das Gesicht war schwarzbraun, doch eher hübsch zu nennen und trug den Ausdruck eines verlegenen Lächelns, das jedoch allzu sehr einem höhnischen Grinsen glich.
Ob nun diese Erscheinung ein Wanderer oder ein Landstreicher oder ein Freund oder einer von den Fischern oder Holzhackern war, konnte Barbara Vane unmöglich herausfinden. Er lüftete den Hut, noch immer mit demselben düsteren Lächeln, und sagte höflich: »Verzeihen Sie, bitte, der Squire ersuchte mich, hier vorzusprechen.« Jetzt erblickte er Martin, den Holzhacker, der am Wege zu schaffen hatte und das magere Gehölz noch magerer machte; der Fremde grüßte mit einer familiären Bewegung des einen Fingers.
Das Mädchen wusste nicht, was es sagen sollte. »Kommen Sie – kommen Sie, um Holz zu hacken?«, fragte sie schließlich.
»Ich wollte, ich wäre ein so ehrlicher Mann«, erwiderte der Fremde. »Martin ist, denke ich, irgendein entfernter Verwandter von mir; wir kornisches Volk hier aus der Umgegend sind fast alle untereinander verwandt, wissen Sie. Aber, ich schlage keine Bäume. Ich schlage überhaupt nichts, ausgenommen vielleicht Kapriolen. Ich bin, sozusagen, ein ›Jongleur‹.«
»Ein was?«, fragte Barbara.
»Ein Minnesänger, wollen wir sagen –«, antwortete der neue Ankömmling und sah sie etwas schärfer an. Während eines beklemmenden Schweigens ruhten ihre Blicke aufeinander. Was sie sah, ist schon gesagt worden; obwohl sie es jedenfalls nicht im geringsten begriff. Was er sah, war eine entschieden schöne Frau mit einem statuenhaften Antlitz und mit Haaren, die in der Sonne wie ein Helm aus Kupfer leuchteten.
»Wissen Sie«, fuhr er fort, »dass an diesem uralten Platz vor vielen hundert Jahren wirklich ein ›Jongleur‹ gestanden haben mag, so wie ich nun hier stehe, und eine Dame wirklich über diese Mauer geschaut haben mag und ihm vielleicht Geld zugeworfen hat?«
»Brauchen Sie Geld?«, fragte sie ganz ins Blaue.
»Nun«, sagte der Fremde gedehnt, »in dem Sinne, dass ich nicht genug davon habe, vielleicht; aber, ich fürchte, es gibt jetzt keinen Platz mehr für Minnesänger, nur mehr für Niggersänger. Ich muss um Entschuldigung bitten, weil ich mein Gesicht nicht geschwärzt habe.«
Sie lachte ein wenig in ihrer Verwirrung und sagte: »Nun, ich glaube, das brauchen Sie nicht erst zu tun.«
»Sie meinen, dass die Eingeborenen hier vielleicht schon dunkel genug sind«, bemerkte er ruhig. »Schließlich sind wir ja Ureinwohner und werden auch danach behandelt.«
Sie warf irgendeine verzweifelte Bemerkung über das Wetter und die Gegend hin und war neugierig, was jetzt weiter kommen werde.
»Die Aussicht ist gewiss schön«, stimmte er in derselben rätselhaften Art zu. »Nur etwas ist dabei, das mich zweifeln macht.«
Während er schweigend dastand, hob er langsam seinen schwarzen Stock wie einen langen, schwarzen Finger und deutete damit auf die Pfauenbäume oben im Wäldchen. Und es überkam das Mädchen ein seltsames Gefühl der Unruhe, als bedeutete diese bloße Geste schon Zerstörung und wäre imstande, einen Blitzschlag über den Garten zu senden.
Das drückende und peinliche Schweigen wurde von der Stimme des Squire Vane unterbrochen, die sogar noch aus der Entfernung laut klang.
»Wir wussten nicht, wo du steckst, Barbara«, sagte er. »Dies ist mein Freund, Herr Cyprian Paynter.« Im nächsten Augenblick sah er den Fremden und hielt etwas verwirrt inne.
Nur Herr Cyprian Paynter schien der Situation gewachsen. Er hatte vor Monaten ein Bild des kornischen Dichters in irgendeiner literarischen Zeitschrift gesehen, und so wurde er, zu seiner Verwunderung, plötzlich derjenige, der vorstellte, anstatt desjenigen, der vorgestellt wurde.
»Wie, Squire«, fragte er voll Erstaunen, »kennen Sie Herrn Treherne nicht? Ich dachte natürlich, er sei ein Nachbar.«
»Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr Treherne«, sagte der Squire, durch eine gewisse Munterkeit seine Verwirrung bemäntelnd. »Ich freue mich sehr, dass Sie kommen konnten. Dies ist Herr Paynter – meine Tochter«, und mit einer gewissen polternden Verlegenheit führte er den Weg zurück zu dem Tisch unterm Baum.
Cyprian Paynter folgte, innerlich damit beschäftigt, ein Rätsel zu lösen, das sogar ihn mit all seiner reichen Erfahrung überrascht hatte. Der Amerikaner war, obwohl in intellektueller Beziehung ein Aristokrat, in seinem sozialen Empfinden unbewusst noch ein Demokrat. Es war ihm niemals eingefallen, dass es ein Glück für den Dichter sein könnte, den Squire kennen zu lernen, ebenso wenig wie für den Squire, den Dichter kennen zu lernen. Die aufrichtige Gönnerschaft in Vanes Gastfreundlichkeit brachte es ihm zum Bewusstsein, dass er in England schließlich doch ein Verbannter war.
Da der Squire voraussah, was für eine schwere Prüfung ein Mittagessen mit einem fremden Literaten bedeuten würde, hatte er die Sache von seinem Standpunkt aus taktvoll zu behandeln versucht. In der Gesellschaft der benachbarten Gutsbesitzer hätte sich der Gast wie ein Fisch auf dem Trockenen vorkommen können; und so war, mit Ausnahme des amerikanischen Kritikers, des Rechtsgelehrten und des Arztes des Ortes – beide ehrbare Mittelstandsleute, die vorzüglich dazu passten – nur die engste Familie anwesend. Der Squire war Witwer, und als das Essen im Garten serviert wurde, präsidierte Barbara als Hausfrau.
Zu ihrer Rechten saß der neue Dichter, was sie sehr verlegen machte. Sie hatte diesem fälschlichen ›Jongleur‹ buchstäblich Geld angeboten, und es machte die Sache um nichts leichter, ihm nun Essen anzubieten.
»Der ganze Landstrich ist verrückt geworden«, verkündigte der Squire, als meldete er die neueste Nachricht. »Es ist alles wegen dieser höllischen Legende, die wir hier haben.«
»Ich sammle Legenden«, sagte Paynter lächelnd. »Sie müssen bedenken, dass ich bisher keine Gelegenheit hatte, die Ihren zu sammeln. Und dies hier«, fügte er hinzu und warf einen Blick auf die romantische Küste rings umher, »ist ein schöner Schauplatz für eine dramatische Handlung.«
»Ach, es ist in seiner Art ganz dramatisch«, gab Vane, nicht ohne eine schwache Befriedigung, zu. »Es handelt sich um jene Dinge dort drüben, wir nennen sie die Pfauenbäume – ich vermute, wegen der seltsamen Färbung der Blätter, wissen Sie, obwohl ich auch gehört habe, dass sie bei starkem Wind einen grellen Ton geben sollen, der an den Schrei des Pfaus erinnert. Nun, diese Bäume sollen aus der Berberei4 von meinem Vorfahren, Sir Walter Vane, herübergebracht worden sein, einem jener elisabethanischen Patrioten oder Piraten oder wie immer man sie nennend will. Man erzählt, dass am Ende seiner letzten Reise die Dorfbewohner sich dort unten am Strand versammelt hatten, um das Boot einlaufen zu sehen; und die neuen Bäume ragten wie ein Mast im Boot empor, ganz lustig mit unzeitgemäßem Laubwerk wie eine grüne Flagge. Und als sie genauer hinsahen, kam es ihnen vor, als werde das Schiff gar seltsam gelenkt, und dann, als werde es überhaupt nicht gelenkt; und als es endlich ans Land getrieben kam, waren alle Männer in jenem Boote tot, und Sir Walter Vane lehnte mit gezogenem Schwert gegen den Stamm eines Baumes, so steif wie der Baum selbst.«
»Nun, das ist sehr merkwürdig«, bemerkte Paynter nachdenklich. »Ich habe Ihnen ja gesagt, dass ich Legenden sammle, und ich glaube, ich kann Ihnen den Anfang dieser Geschichte erzählen, von der dies das Ende ist, obwohl er viele hundert Meilen übers Meer kommt.«
Er klopfte mit seinem mageren, spitz zulaufenden Finger auf den Tisch wie einer, der sich eine Melodie ins Gedächtnis zurückrufen will. Er hatte derlei Legenden tatsächlich zu seinem Steckenpferd gemacht und war ein wenig stolz auf die künstlerische Wiedergabe seiner Erzählung.
»Ach, erzählen Sie uns, bitte, Ihren Teil!«, rief Barbara Vane, von welcher der Ausdruck sonniger Verschlafenheit irgendwie, zumindest in einem schwachen Grad, abgefallen zu sein schien.
Der Amerikaner verbeugte sich mit ernster Höflichkeit über den Tisch hin und begann dann, während er mit einem seltsamen Ring an seinem Finger spielte:
»Wenn man an der Küste der Berberei hinuntergeht, bis dahin, wo der letzte Streifen Waldes sich zwischen der Wüste und der großen, gezeitenlosen See verengt, so findet man dort Eingeborene, die immer noch eine seltsame Geschichte erzählen von einem Heiligen aus dem ›dunklen Zeitalter‹. Dort, an den dämmerigen Grenzen eines dunklen Weltteiles, fühlt man den Hauch des dunklen Zeitalters. Ich habe den Ort nur einmal besucht, obwohl er, sozusagen, gerade gegenüber der italienischen Stadt liegt, in der ich jahrelang gewohnt habe; doch würde man es kaum für möglich halten, um wie viel weniger verrückt das Durcheinander und die Verwirrungen dieses Mythos gerade dort erschienen, wo die Wälder des Nachts von dem Gebrüll der Löwen widerhallten und dahinter sich die dunkle, rote Einsamkeit ausdehnte. Man erzählt, dass der Einsiedler St. Securis, der einsam unter den Bäumen lebte, diese allmählich wie Kameraden liebte, sintemal sie, obgleich mächtige Riesen mit vielen Armen wie Briareus,5 die sanftesten und unschuldigsten Geschöpfe waren; sie verschlangen niemanden, wie die Löwen, sondern öffneten vielmehr allen Vöglein ihre Arme. Und er betete, dass sie von Zeit zu Zeit erlöst werden möchten, um wie andere Geschöpfe frei umhergehen zu können. Und die Bäume bewegten sich, auf die Gebete des Securis hin, wie durch Orpheus’ Lieder. Die Menschen in der Wüste erzitterten vor Schreck, als sie von weitem den Heiligen einhergehen sähen, inmitten eines wandelnden Haines, wie einen Schullehrer mit seinen Knaben. Denn nur so, unter strengen Regeln und Bedingungen der Ordnung, waren die Bäume befreit. Sie mussten zurückkehren beim Klang der Glocke des Einsiedlers, und vor allem durften sie die wilden Tiere nur nachahmen ins Gehen – nicht aber irgendetwas zerstören oder verschlingen. Nun erzählt man, dass einer von den Bäumen eine Stimme hörte, welche nicht die des Heiligen war; dass er im warmen, grünen Zwielicht eines Sommerabends eines Wesens gewahr wurde, das in Gestalt eines Vogels in seinen Zweigen saß und sprach, und es war dasselbe, das einst in Gestalt einer großen Schlange aus dem Baume gesprochen hatte. Als die Stimme im sanften Rauschen der Blätter lauter wurde, ergriff den Baum ein großes Verlangen, seine Zweige auszustrecken und nach den Vöglein zu greifen, die arglos um ihre Nester flatterten, und sie zu zerreißen. Endlich erfüllte der Versucher die Krone des Baumes mit seinen Vögeln des Hochmutes und des Stolzes, mit der glitzernden Pracht des Pfauen. Und der Geist des wilden Tieres überkam den Geist des Baumes, und er zerriss und verschlang die blaugrünen Vögel, dass auch nicht eine Feder übrig blieb, und dann kehrte er heim zur stillen Gemeinde der Bäume. Doch man sagt, dass, als der Frühling kam, alle anderen Bäume Blätter trugen, doch diesem wuchsen Federn von seltsamer Gestalt und Art. Und durch diese monströse Verbindung erfuhr der Heilige von der Sünde, und er kettete diesen einen Baum an den Boden mit dem Fluch, dass demjenigen Böses widerfahren sollte, der ihn je wieder von seinem Platze entfernte. Das, Squire, ist der Anfang dieser Geschichte, die in der Wüste begann und hier endigte, beinahe in diesem Garten hier.«
»Und das Ende ist, glaube ich, ebenso zuverlässig wie der Anfang«, sagte Vane. »Sie haben uns eine hübsche, einfache Geschichte erzählt, so recht geeignet für eine kleine Gesellschaft am Teetisch; ein stilles, ruhiges Stückchen beschaulichen Lebens, wirklich wahr!«
»Was für eine seltsame, entsetzliche Geschichte«, rief Barbara aus. »Man hat das Gefühl, als wäre man unter Kannibalen.«
»Ex Africa«, sagte der Jurist lächelnd. »Die Geschichte kommt aus einem Land der Kannibalen. Ich glaube, es ist das bisschen Negerblut, das darin steckt, dieses Gefühl des Alpdrucks, weil man nicht sicher weiß, ob der Held eine Pflanze oder ein Mensch oder ein Teufel ist. Haben Sie nicht auch manches Mal dieselbe Empfindung bei ›Onkel Remus‹?«
»Ja, das ist wahr«, sagte Paynter. »Vollkommen wahr.« Und er sah den Rechtsgelehrten mit neuem Interesse an. Der Jurist, der als Herr Ashe vorgestellt worden war, gehörte zu jenen Menschen, die mehr Beachtung verdienen, als ihnen die meisten Leute auf den ersten Eindruck hin schenken. Wäre Napoleon rothaarig gewesen, und hätte er mit einer gewissen Befriedigung alle seine Kräfte auf die kleinlichen Rechtsfälle eines Bezirksumkreises gerichtet, so hätte er auch nicht viel anders ausgesehen; die Erscheinung in den dunklen, unscheinbaren Kleidern war verhältnismäßig unbedeutend, ebenso wie die Napoleons. Er schien sich in der Gesellschaft des Squire wohler zu fühlen als der Arzt, der, obwohl ein Gentleman, doch ein scheuer Herr war und nur ein Schatten seines akademischen Bruders.
»Wie Sie ganz richtig behaupten«, bemerkte Paynter, »scheint die Geschichte ganz barbarische, wahrscheinlich auf Negerstämme zurückzuführende Elemente in sich zu haben. Ursprünglich jedoch, glaube ich, beruht sie auf der Lebensbeschreibung irgendeines Heiligen oder Einsiedlers, obwohl einige Kritiker wieder behaupten, dass es einen St. Securis niemals gegeben hat, sondern dass dies nur eine Allegorie der Baumzucht sei, da der Name lateinisch ›die Axt‹ bedeutet.«
»Ach, wenn Sie so weit gehen«, bemerkte der Dichter Treherne, »so könnten Sie ebenso gut behaupten, dass der Squire Vane nicht existiere und nur eine Allegorie für einen Wetterhahn sei, da sein Name englisch ›Wetterfahne‹ bedeutet.«
Der Jurist zog die Brauen zusammen, vielleicht ein wenig gar zu kühl, in Beantwortung dieses witzigen Ausfalles. Er blickte über den Tisch hin und begegnete dem etwas zweideutigen Lächeln des Dichters.
»Verstehe ich Sie richtig, Herr Treherne«, fragte Ashe, »wenn ich annehme, dass Sie in diesem Fall die Ansprüche auf die Glaubhaftigkeit jenes Mirakels des heiligen Securis unterstützen? Glauben Sie zufälligerweise an die wandelnden Bäume?«
»Ich sehe Menschen wie Bäume wandeln«, antwortete der Dichter, »wie der Mann aus der Bibel, der von Blindheit geheilt wurde. Nebenbei gesagt, verstehe ich Sie richtig, wenn ich annehme, dass Sie die Ansprüche auf die Glaubhaftigkeit des Mirakels dieses – ›Wundertäters‹ unterstützen?«
Paynter griff schnell und geschickt ein. »Nun, das klingt interessant, vom psychologischen Standpunkt aus nämlich. Was heißt das: ›Sie sehen Menschen wie Bäume?‹«
»Da ich mir nicht vorstellen kann, warum die Menschen wandeln, kann ich mir auch nicht vorstellen, warum die Bäume es nicht sollten«, antwortete Treherne.
»Es liegt offenbar in der Natur des Organismus«, warf der Mediziner Dr. Burton Brown ein; »es ist schon durch den Typus der vegetabilischen Struktur bedingt.«
»Mit anderen Worten, ein Baum steckt vom Anfang bis zum Ende des Jahres in der Erde«, antwortete Treherne. »So bleiben Sie von zehn bis elf jeden Tag in Ihrem Ordinationszimmer. Glauben Sie nicht, dass eine Fee, die einen Augenblick zu Ihnen durchs Fenster hineingeschaut hätte, nachdem sie über den Mond gesprungen ist und mit den Plejaden Verstecken gespielt hat, dass die Sie für vegetabilische Struktur hielte und glauben müsste, das Stilsitzen sei durch die Natur des Organismus bedingt?«
»Ich glaube zufällig nicht an Feen«, sagte der Arzt ein wenig ablehnend, denn das ›argumentum ad hominem‹6 wurde zu allgemein. Ein schwefelartiger, beinahe unbewusster Zorn schien von dem dunklen Dichter auszustrahlen.
»Na, ich will es hoffen, Doktor«, fing der Squire in seiner lauten, freundlichen Art an, hielt aber inne, als er die Aufmerksamkeit des anderen in Anspruch genommen sah. Der schweigsame Diener, der bei Tisch serviert hatte, war hinter dem Stuhl des Arztes stehen geblieben und sagte etwas in dem leisen, gleichmäßigen Tonfall eines gut abgerichteten Bedienten. Er war ein so glattes Exemplar des Typus, dass man zuerst gar nicht bemerkte, wie sehr auch er eine, wenngleich übertünchte Wiederholung des dunklen Bildnisses war, das in dieser besonderen Familie der kornischen Kelten so allgemein verbreitet schien. Sein Gesicht war gelblich, ja sogar ausgesprochen gelb, und sein Haar indigoschwarz. Man nannte ihn Miles. Einige fühlten sich durch diesen ewig wiederkehrenden Stammtypus in diesem winzigen Winkel Englands bedrückt. Sie hatten das Gefühl, als wären all diese dunklen Gesichter Masken einer geheimen Gesellschaft.
Der Arzt erhob sich mit einer halben Entschuldigung. »Ich muss um Verzeihung bitten, wenn ich die Gesellschaft störe; ich werde dienstlich abberufen. Es soll sich, bitte, niemand stören lassen. Wir müssen für derlei Unterbrechungen immer bereit sein, wie Sie wissen. Vielleicht wird Herr Treherne zugeben, dass meine Gewohnheiten schließlich nicht so ausschließlich vegetabilischer Natur sind.« Mit diesem parthischen7