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Vater Brown ist ein englischer katholischer Pfarrer, der als Hobby Kriminalfälle löst. Dies gelingt ihm, indem er sich in den Täter hineinversetzt, dabei das Verbrechen selbst begeht, wie er sagt. Dabei ist er aber weniger daran interessiert, Verbrecher der irdischen Gerechtigkeit auszuliefern, sondern er will sie zu Gott führen; eine freiwillige Beichte des Täters genügt ihm. Dabei spielt es für ihn keine Rolle, welches Amt diese Person bekleidet. 12 Kurzgeschichten: - Die Abwesenheit des Herrn Glass (The Absence of Mr Glass) - Das Paradies der Diebe (The Paradise of Thieves) - Das Duell des Doktor Hirsch (The Duel of Dr. Hirsch) - Der Mann in der Passage (The Man in the Passage) - Der Fehler der Maschine (The Mistake of the Machine) - Der Kopf Caesars (The Head of Caesar) - Die purpurfarbene Perücke (The Purple Wig) - Der Fluch auf dem Hause Pendragon (The Perishing of the Pendragons) - Der Gott des Gongs (The God of the Gong) - Der Salat des Oberst Cray (The Salad of Colonel Cray) - John Boulnois' seltsames Verbrechen (The Strange Crime of John Boulnois) - Pater Browns Märchen (The Fairy Tale of Father Brown) Zwischen 1910 und 1935 erschienen neunundvierzig Erzählungen von Chesterton über Father Brown, zunächst in Zeitschriften und anschließend zusammengefasst in mehreren Bänden. Browns einziger Freund ist der ehemalige Trickdieb Hercule Flambeau, der, von Brown bekehrt, zum Privatdetektiv wird. Es gibt übrigens ein reales Vorbild für Father Brown: Father John O'Connor von St. Custherberts, Bradford. Er war der Pfarrer, der Chestertons Konversion zum katholischen Glauben leitete. Die Fälle des Vater Brown sind bereits mehrmals für Kino und TV verfilmt worden. In Deutschland ist besonders die Verkörperung durch Heinz Rühmann bekannt. Null Papier Verlag
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Seitenzahl: 377
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Gilbert Keith Chesterton
Pater Brown – Das Paradies der Diebe
Gilbert Keith Chesterton
Pater Brown – Das Paradies der Diebe
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019Übersetzung: Clarisse Meitner EV: Musarionverlag München, 1927 2. Auflage, ISBN 978-3-954185-12-2
www.null-papier.de/brown
null-papier.de/katalog
Inhaltsverzeichnis
Buch und Autor
Die Abwesenheit des Herrn Glass (The Absence of Mr Glass)
Das Paradies der Diebe (The Paradise of Thieves)
Das Duell des Doktor Hirsch (The Duel of Dr Hirsch)
Der Mann in der Passage (The Man in the Passage)
Der Fehler der Maschine (The Mistake of the Machine)
Der Kopf Caesars (The Head of Caesar)
Die purpurfarbene Perücke (The Purple Wig)
Der Fluch auf dem Hause Pendragon (The Perishing of the Pendragons)
Der Gott des Gongs (The God of the Gongs)
Der Salat des Oberst Cray (The Salad of Colonel Cray)
John Boulnois’ seltsames Verbrechen (The Strange Crime of John Boulnois)
Pater Browns Märchen (The Fairy Tale of Father Brown)
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Gilbert Keith Chesterton (1874-1936) zählt neben Herbert George Wells, Arthur Conan Doyle und Rudyard Kipling zu den klassischen Alleskönnerautoren Englands am Ende der Viktorianischen Epoche bis zum Ende des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts. Wie diese hat er Texte verschiedenster Art hinterlassen, darunter äußerst originelle Beiträge zur Fantastik.
Gewöhnlich trug er ein Cape und einen zerdrückten Hut, einen Stockdegen in der Hand und hatte eine Zigarre aus dem Mund hängen. Er vergaß oft, wohin er wollte, und verpasste den Zug, der ihn dorthin bringen sollte. Es wird berichtet, dass er mehrfach seiner Frau von entfernten Orten Telegramme schickte, um wieder nach Hause zu finden.
Chesterton liebte zu debattieren und beteiligte sich oft an freundschaftlichen öffentlichen Disputen mit Männern wie George Bernard Shaw, H. G. Wells, Bertrand Russell und Clarence Darrow.
In seinen Romanen, Essays und Kurzgeschichten setzte er sich intensiv mit modernen Philosophien und Denkrichtungen auseinander.
Chesterton schrieb Gedichte, Bühnenstücke, meist aber Prosa: Essays, zahlreiche Erzählungen und Romane. Von manchen Kritikern hochgelobt wurden die von ihm verfassten Biografien, beispielsweise über Thomas von Aquin, Franz von Assisi, Charles Dickens, Robert Louis Stevenson und George Bernard Shaw.
Vater Brown ist ein englischer katholischer Pfarrer, der als Hobby Kriminalfälle löst. Dies gelingt ihm, indem er sich in den Täter hineinversetzt, dabei das Verbrechen selbst begeht, wie er sagt. Dabei ist er aber weniger daran interessiert, Verbrecher der irdischen Gerechtigkeit auszuliefern, sondern er will sie zu Gott führen; eine freiwillige Beichte des Täters genügt ihm. Dabei spielt es für ihn keine Rolle, welches Amt diese Person bekleidet.
Zwischen 1910 und 1935 erschienen neunundvierzig Erzählungen von Chesterton über Father Brown, zunächst in Zeitschriften und anschließend zusammengefasst in mehreren Bänden.
Browns einziger Freund ist der ehemalige Trickdieb Hercule Flambeau, der, von Brown bekehrt, zum Privatdetektiv wird.
Es gibt übrigens ein reales Vorbild für Father Brown: Father John O’Connor von St. Custherberts, Bradford. Er war der Pfarrer, der Chestertons Konversion zum katholischen Glauben leitete.
Die Fälle des Vater Brown sind bereits mehrmals für Kino und TV verfilmt worden. In Deutschland ist besonders die Verkörperung durch Heinz Rühmann bekannt.
Die Sprechzimmer des Herrn Doktor Orion Hood, des berühmten Kriminologen und Spezialisten für gewisse moralische Störungen, erstreckten sich längs der Seeseite in Scarborough1 mit einer Reihe sehr großer, bis an den Boden reichender Fenster, hinter denen die Nordsee wie eine äußere Mauer von bläulich grünem Marmor zu sehen war. An diesem Orte hatte das Meer irgendetwas von der Monotonie eines bläulich grünen Postamentes2 an sich; denn in den Zimmern selbst herrschte eine schreckliche Regelmäßigkeit, nicht unähnlich der erschreckenden Regelmäßigkeit des Meeres. Man darf nicht etwa annehmen, dass die Zimmer des Herrn Doktor Hood des Luxus ermangelten, ja nicht einmal einer gewissen Poesie. Alles dies war da und am rechten Platz; aber man hatte das Gefühl, als dürfte es niemals anderswo sein als am rechten Platz. Luxus war da: Auf einem eigens dazu bestimmten Tischchen standen acht oder zehn Schachteln der feinsten Zigarren; aber sie waren nach einem bestimmten System aufgeschichtet, sodass die stärksten der Wand zunächst standen und die leichtesten zunächst dem Fenster. Ein Likörständer mit drei verschiedenen Getränken, alles ausgezeichnete Marken, stand immer auf diesem Luxustischchen; aber fantasievolle Leute haben es bestätigt, dass die Whisky-, Schnaps- und Rumflaschen immer gleich voll waren. Auch Poesie war da: Die linke Ecke des Zimmers war mit einer ebenso vollständigen Sammlung der englischen Klassiker bekleidet, wie die rechte Ecke englische und fremdsprachige Physiologen aufweisen konnte. Doch nahm man einen Band Shelley3 oder Chaucer4 aus diesen Reihen, so störte sein Fehlen an seinem Platz ebenso wie eine Zahnlücke zwischen den Vorderzähnen eines Menschen. Man konnte nicht sagen, dass die Bücher niemals gelesen worden waren; wahrscheinlich waren sie es, aber sie erweckten die Vorstellung, als wären sie an ihren Platz angekettet wie die Bibeln in den alten Kirchen. Doktor Hood behandelte seine privaten Bücherregale, als wären sie eine öffentliche Bibliothek. Und wenn diese strikte wissenschaftliche Unantastbarkeit sogar über den mit Lyrik und Balladen angefüllten Regalen lag und über den mit Tabak und Getränken besetzten Tischen, so ist es wohl selbstverständlich, dass noch weit mehr von dieser heidnischen Heiligkeit über den anderen Regalen mit der Bibliothek des Spezialisten waltete und über den anderen Tischen, welche die zerbrechlichen und geheimnisvollen Instrumente eines ärztlichen Laboratoriums trugen.
Doktor Orion Hood schritt der Länge nach durch die Flucht seiner Zimmer, welche im Osten — wie es in der Schulgeografie heißt — von der Nordsee und im Westen von den sachkundig zusammengestellten Reihen seiner kriminalistischen und soziologischen Bibliothek begrenzt war. Er trug eine Samtjacke wie ein Künstler, aber nicht mit der Nachlässigkeit eines Künstlers; sein Haar war stark ergraut, aber dicht und gesund; sein Gesicht war schmal, aber sanguinisch und wie in stets gespannter Erwartung. Alles um ihn und in seinem Zimmer erweckte den Eindruck einer gewissen Starrheit und Ruhelosigkeit zugleich, ähnlich diesem großen nördlichen Meer, an dem er — bloß aus hygienischen Rücksichten — sein Haus gebaut hatte.
Die heitere Laune des Zufalls öffnete die Türe und führte in diese langen, strengen, seebegrenzten Gemächer einen Mann herein, der vielleicht den überraschendsten Gegensatz zu ihnen und ihrem Besitzer darstellte. Nach einem zwar kurzen, aber höflichen Anklopfen öffnete sich die Türe nach innen, und in das Zimmer stolperte eine unförmige kleine Gestalt, die mit dem eigenen Hut und Schirm nicht fertig zu werden schien, als wären sie eine nicht zu bewältigende Menge Gepäcks. Der Schirm war ein schwarzes, prosaisches Bündel; längst aller Reparatur entwachsen; der Hut, ein breitkrempiger, schwarzer Hut von kirchlicher Form, aber in England nicht gebräuchlich; der Mann war die wahre Verkörperung alles Schlichten und Hilflosen.
Der Doktor sah den Ankömmling mit verhaltenem Erstaunen an, so etwa, wie er es gezeigt hätte, wenn irgendein riesiges, doch offensichtlich harmloses Seeungeheuer ins Zimmer gekrochen wäre. Der Ankömmling sah den Doktor mit jener strahlenden, aber atemlosen Offenheit an, wie sie dicken Scheuerweibern eignet, die es eben zustande gebracht haben, sich in einen Omnibus zu zwängen. Es liegt darin ein wirres Gemisch von sozialer Selbstgefälligkeit und körperlicher Unordnung. Der Hut fiel zu Boden, der schwere Schirm glitt mit einem dumpfen Schlag zwischen seine Knie; er griff nach dem einen und bückte sich nach dem anderen, aber zugleich sagte er mit einem unvergleichlichen Lächeln auf dem runden Gesicht Folgendes:
»Mein Name ist Brown. Entschuldigen Sie, bitte. Ich komme in Sachen dieser Mac Nabs. Wie ich gehört habe, helfen Sie Leuten oft aus solchen Verlegenheiten. Entschuldigen Sie, bitte, wenn ich mich irre.«
Jetzt war es ihm mit Mühe gelungen, seines Hutes wieder habhaft zu werden, und er verbeugte sich über ihn hin mit einem seltsamen, kleinen Ruck.
»Ich verstehe Sie nicht recht«, erwiderte der Mann der Wissenschaft mit betonter Kühle in seinem Benehmen. »Ich fürchte, Sie haben sich in der Türe geirrt. Ich bin Doktor Hood, und ich arbeite beinahe ausschließlich auf literarischem und erzieherischem Gebiete. Allerdings bin ich manchmal in besonders schwierigen und wichtigen Fällen von der Polizeibehörde konsultiert worden, aber …«
»Oh, die Sache ist ja von der größten Wichtigkeit«, fiel der kleine Mann namens Brown ein. »Ihre Mutter will die Verlobung nicht zugeben.« Und er lehnte sich, strahlend vor Vernünftigkeit, in seinem Stuhl zurück.
Herrn Doktor Hoods Stirne war in finstere Falten gezogen, aber die Augen darunter schimmerten in einem seltsamen Licht, das Zorn oder auch Belustigung sein mochte. »Ja, aber«, sagte er, »ich verstehe immer noch nicht.«
»Sehen Sie, die beiden wollten heiraten«, sagte der Mann mit dem kirchlichen Hut. »Maggie Mac Nab und der junge Todhunter wollten heiraten. Nun, was kann es Wichtigeres geben?«
Seine wissenschaftlichen Erfolge hatten Doktor Orion Hood um mancherlei gebracht — einige Leute sagten, um seine Gesundheit, andere wieder, um seinen Glauben; aber sie hatten ihm nicht gänzlich sein Verständnis für das Absurde geraubt. Bei dieser letzten Darlegung des findigen Priesters platzte der Doktor heraus und warf sich in einen Lehnstuhl mit all dem überlegenen Gehabe des konsultierten Arztes.
»Herr Brown«, sagte er ernst, »es sind ganze vierzehn und ein halb Jahre her, seitdem man mich persönlich aufforderte, eine persönliche Sache zu untersuchen: Damals war es der Fall eines Giftmordversuches an dem französischen Präsidenten bei Gelegenheit eines Banketts beim Lord Mayor.5 Jetzt handelt es sich, soweit ich verstehe, um die Frage, ob irgendeine Freundin von Ihnen namens Maggie die geeignete Braut für irgendeinen ihrer Freunde namens Todhunter ist. Nun, Herr Brown, ich tue es aus Liebhaberei. Ich nehme an. Ich will der Familie Mac Nab so gut raten wie der Französischen Republik und dem König von England — nein, besser: um vierzehn Jahre besser. Ich habe heute Nachmittag nichts anderes vor. Erzählen Sie mir Ihre Geschichte.«
Der kleine Geistliche namens Brown dankte ihm mit unbestreitbarer Wärme, aber immer noch mit einer seltsamen Art von Einfalt. Es war eher so, als danke er einem Fremden im Rauchsalon für die Gefälligkeit, ihm Streichhölzer gereicht zu haben, nicht aber so, als danke er eigentlich, so wie es hier der Fall war, dem Direktor von Kew Gardens6 dafür, dass er mit ihm aufs Feld hinausginge, um ein vierblättriges Kleeblatt zu suchen. Der kleine Mann ließ auf seine warmen Danksagungen kaum einen Beistrich folgen, ehe er mit seinem Bericht begann:
»Ich habe Ihnen gesagt, dass mein Name Brown sei; nun, so ist es, und ich bin Pfarrer jener kleinen katholischen Kirche, die Sie, wie ich wohl annehmen darf, jenseits der abseitsliegenden Straßen dort drüben bemerkt haben dürften, dort, wo die Stadt im Norden aufhört. In der letzten und am weitesten abliegenden Straße, die längs des Meeres wie eine Mauer läuft, lebt ein zwar ehrbares, aber leicht erregbares Mitglied meiner Gemeinde, eine Witwe namens Mac Nab. Sie hat eine Tochter und vermietet Zimmer; und zwischen ihr und der Tochter und zwischen ihr und den Mietern — nun, ich darf wohl sagen, dass sich für beide Parteien vieles sagen lässt. Augenblicklich hat sie nur einen Mieter, den jungen Mann namens Todhunter; aber er macht mehr zu schaffen als alle übrigen, denn er will die junge Haustochter heiraten.«
»Und die junge Haustochter«, fragte Doktor Hood mit ungeheurer, aber versteckter Belustigung, »was will sie?«
»Ja, nun, sie will ihn heiraten«, rief Pater Brown und richtete sich eifrig auf seinem Stuhl empor. »Das ist ja eben die schreckliche Komplikation!«
»Es ist wirklich eine verwickelte Geschichte«, sagte Doktor Hood.
»Dieser junge James Todhunter«, fuhr der Kirchenmann fort, »ist, soviel ich weiß, ein sehr anständiger Mann; aber schließlich weiß niemand sehr viel. Er ist ein vergnügter, braunhaariger kleiner Kerl, behänd wie ein Affe, glattrasiert wie ein Schauspieler und verbindlich wie ein geborener Fremdenführer. Er scheint hübsch viel Geld zu haben, aber niemand kennt seinen Beruf. Da Frau Mac Nab nun pessimistisch veranlagt ist, scheint sie fest davon überzeugt zu sein, dass es etwas Schreckliches sein muss und wahrscheinlich mit Dynamit zu tun hat. Das Dynamit muss jedoch von diskreter und lautloser Beschaffenheit sein, denn der arme Kerl schließt sich nur einige Stunden des Tages ein und studiert etwas hinter versperrten Türen. Er erklärt, sein Geheimnis sei nur vorübergehend, auch vollständig gerechtfertigt, und er verspricht, vor seiner Hochzeit alles aufklären zu wollen. Das ist alles, was man mit Sicherheit weiß, aber Frau Mac Nab wird Ihnen weit mehr erzählen, als auch nur sie mit Sicherheit sagen kann. Sie wissen, wie auf einem solchen Flecken von Unwissenheit die Geschichten wie Gras aus dem Boden schießen. Es gibt Geschichten von zwei Stimmen, die man aus jenem Zimmer gehört hat, obwohl, sobald die Türe geöffnet wird, Todhunter immer allein gefunden wird. Es gibt Geschichten von einem geheimnisvollen großen Mann mit einem Zylinderhut, der einmal aus dem Seenebel und anscheinend aus der See selbst auftauchte und in der Dämmerung mit leisen Tritten über den Sand und durch den kleinen Hintergarten geschritten ist, bis man ihn durch das offene Fenster mit dem Mieter sprechen hörte. Das Gespräch soll anscheinend mit einem Streit geendet haben: Todhunter hat sein Fenster zornig zugeschlagen, und der Mann mit dem Zylinderhut verschwand wieder im Nebel. Diese Geschichte wird von der Familie mit den wildesten Deutungen erzählt, aber ich glaube wirklich, Frau Mac Nab zieht ihre eigene ursprüngliche Version vor: dass der andere Mann oder was immer es sein mag jeden Abend aus der großen Kiste in der Ecke, die ständig versperrt gehalten wird, hervorkriecht. Sie sehen also, wie diese verschlossene Türe von Todhunters Zimmer als das Tor aller Märchen und Ungeheuerlichkeiten aus ›Tausendundeiner Nacht‹ angesehen wird. Und doch ist dieser kleine Kerl in seinem respektablen Samtrock so pünktlich und unschuldig wie eine Pendeluhr. Er bezahlt seine Miete auf den Schlag; er ist wirklich Abstinenzler; er ist unermüdlich freundlich mit den jüngeren Kindern des Hauses und kann sich den ganzen Tag über mit ihnen unterhalten; und schließlich und hauptsächlich hat er sich bei der ältesten Tochter ebenso beliebt gemacht, die bereit ist, jeden Tag mit ihm zum Altar zu gehen.«
Ist ein Mann irgendwelchen umfassenderen Theorien herzlich ergeben, so hat er stets einen Hang dazu, sie auf jede Trivialität anzuwenden. Da der große Spezialist sich nun einmal zu der Einfältigkeit des kleinen Priesters herabgelassen hatte, so tat er es ganz. Er hatte sich bequem in seinem Lehnstuhl zurechtgesetzt und begann nun im Ton eines etwas zerstreuten Vortragenden zu sprechen:
»Sogar bei winzigen Gelegenheiten ist es das Beste, zuerst die Hauptrichtlinien der Natur zu verfolgen. Irgendeine besondere Blume mag nicht zu Beginn des Winters gestorben sein, aber die Blumen sterben ab; irgendein vereinzelter Kiesel mag von der Flut nie benässt worden sein, aber die Flut tritt ein. Für das Auge der Wissenschaft ist die Geschichte der Menschheit nur eine Reihe von Kollektivbewegungen, Zerstörungen oder Umwandlungen, wie das Hinsterben der Fliegen im Winter oder die Rückkehr der Zugvögel im Frühjahr. Nun, die Wurzel aller Tatsachen der Entwicklung ist die Rasse. Die Rasse erzeugt die Religion; die Rasse erzeugt alle politischen und ethischen Gegensätze. Es gibt keine stärkere Rasse als die des wilden, weltfremden und aussterbenden, gewöhnlich als keltisch bezeichneten Stammes, für den Sie in Ihren Freunden, den Mac Nabs, ein Beispiel sehen können. Klein, von dunkler Gesichtsfarbe, träumerisch und leicht beeinflussbar, nehmen sie leicht eine abergläubische Erklärung jedes Ereignisses an, ebenso wie sie immer noch — Sie werden es mir nicht übelnehmen — jene abergläubische Erklärung aller Geschehnisse annehmen, deren Repräsentanten Sie und Ihre Kirche sind. Es ist nicht verwunderlich, dass solche Leute, die hinter sich das Klagen der See und vor sich — nehmen Sie es mir nicht übel — die Litaneien der Kirche hören, fantastische Erklärungen finden für Dinge, die wahrscheinlich nur einfache Geschehnisse sind. Sie, mit Ihren beschränkten Verantwortungen für ein kleines Kirchspiel, sehen natürlich nur diese eine Frau Mac Nab, die von dieser einen Geschichte von den zwei Stimmen und einem großen, aus der See auftauchenden Mann erschreckt ist. Aber wer wissenschaftliche Zusammenhänge erfassen kann, erkennt die Dinge so, wie sie sind, und er sieht den ganzen Klan der Mac Nabs über die ganze Welt verstreut, im Durchschnitt schließlich ebenso wenig voneinander zu unterscheiden wie ein Schwarm Vögel. Er sieht Tausende von Frau Mac Nabs in Tausenden von Häusern, die ihre kleinen Tröpfchen von Angekränkeltheit in die Teetassen ihrer Freunde tropfen; er sieht …«
Bevor der Mann der Wissenschaft seinen Satz beenden konnte, hörte man ein zweites und diesmal ungeduldigeres Klopfen von draußen; irgendjemand mit dahinfegenden Röcken wurde eiligst den Gang heruntergeleitet, und die Türe öffnete sich vor einem zwar anständig, doch etwas unordentlich gekleideten jungen Mädchen mit einem vor Hast geröteten Gesicht. Mit ihrem vom Seewind gebleichten blonden Haar wäre sie vollkommen schön zu nennen gewesen, wenn nicht die Backenknochen — wie dies oft bei Schotten vorkommt — etwas stark gebaut und rötlich gefärbt gewesen wären. Die von ihr vorgebrachte Entschuldigung klang so unvermittelt wie ein Befehl.
»Es tut mir leid, dass ich Sie unterbreche, mein Herr«, sagte sie, »aber ich musste Pater Brown sofort nachkommen; es handelt sich um nichts Geringeres als um Tod und Leben.«
Pater Brown begann in etwas ungeordneter Weise auf die Beine zu kommen. »Wieso, was ist geschehen, Maggie?«, fragte er.
»James ist ermordet worden, soviel ich herausbringen konnte«, antwortete das Mädchen, noch immer ein wenig atemlos vom schnellen Gehen. »Dieser Mensch namens Glass ist wieder bei ihm gewesen; ich habe sie ganz deutlich durch die Türe miteinander sprechen hören. Zwei verschiedene Stimmen; denn James spricht leise und etwas heiser, während die andere Stimme hoch und zitternd war.«
»Dieser Mensch namens Glass?« wiederholte der Priester ein wenig erstaunt.
»Ich weiß, dass er Glass heißt«, antwortete das Mädchen sehr ungeduldig. »Ich hab es durch die Türe gehört. Sie haben miteinander gestritten — wegen Geld, glaub’ ich —, denn ich hörte James immer wieder und wieder sagen: ›Das ist richtig, Herr Glass‹, oder ›Nein, Herr Glass‹, und dann ›zwei und drei, Herr Glass.‹ Aber wir reden zu viel. Sie müssen sofort kommen, vielleicht ist noch Zeit.«
»Aber Zeit wofür?«, fragte Doktor Hood, der die junge Dame mit auffallendem Interesse beobachtete. »Was ist das für eine Geschichte von einem Herrn Glass und seinen Geldangelegenheiten, die so große Eile erfordert?«
»Ich versuchte, die Türe mit Gewalt zu öffnen, und konnte es nicht«, antwortete das Mädchen kurz. »Dann lief ich in den Hof hinaus und kletterte auf das Fenstersims, um in das Zimmer sehen zu können. Es war ganz finster und schien leer zu sein, aber ich schwöre, dass ich James in einem Winkel zusammengekauert sah, als wäre er betäubt oder gebunden.«
»Das ist sehr ernst«, sagte Pater Brown, indem er seinen herumirrenden Hut und Schirm zusammenraffte und aufstand. »Ich habe diesem Herrn gerade Ihren Fall vorgetragen, und seine Ansicht …«
»Hat sich inzwischen vollkommen geändert«, sagte der Wissenschaftler ernst. »Ich glaube nicht, dass diese junge Dame so keltisch ist, wie ich angenommen habe. Da ich nichts anderes vorhabe, will ich meinen Hut aufsetzen und mit Ihnen in die Stadt hinuntergehen.«
In wenigen Minuten näherten sich die Drei der trostlosen Straße, in der die Mac Nabs wohnten; das Mädchen mit den gleichmäßigen, weitausholenden Schritten der Bergbewohner, der Kriminologe mit nachlässiger Grazie, die nicht einer gewissen leopardenähnlichen Schnelligkeit entbehrte, und der Priester in einem emsigen Trott, der jeder Besonderheit bar war. Der Anblick dieses Stadtteiles rechtfertigte zum Teil die Andeutungen des Doktors über die öde Umgebung und Stimmung. Längs des Ufers zog sich eine unterbrochene Reihe einzelner Häuser hin, die immer weiter und weiter voneinander abstanden. Der Nachmittag ging in eine frühe und beinahe geisterhafte Dämmerung über; das Meer war purpurfarben gleich roter Tinte und murmelte wie in übler Vorbedeutung. In dem Stückchen Hintergarten der Mac Nabs, der gegen das Sandufer zulief, ragten zwei kahle, schwarze Bäume empor, gleich Geisterarmen in wildem Erstaunen gen Himmel gestreckt; und als Frau Mac Nab ihnen entgegengerannt kam, die mageren Hände in ähnlicher Haltung, die wilden Gesichtszüge tief im Schatten, da glich sie selbst nur allzu sehr einem kleinen Dämon. Der Arzt und der Priester gaben nur kärgliche Antworten, als die Mutter mit schriller Stimme die Geschichte ihrer Tochter wiederholte, nur noch mit beunruhigenderen Einzelheiten ausgeschmückt, unter Hinzufügung verschiedentlicher Racheschwüre gegen Herrn Glass, weil er Herrn Todhunter ermordet hatte, sowie gegen diesen selbst, einmal, weil er sich hatte ermorden lassen, dann, weil er es gewagt hatte, ihre Tochter heiraten zu wollen, und nicht lange genug gelebt hatte, um es zu tun. Sie schritten durch die schmale Einfahrt des Hauses, bis sie an die Tür des Mieters gelangten, wo Doktor Hood mit der Routine eines alten Detektivs seine Schulter hart gegen die Täfelung presste und sie eindrückte.
Man erblickte die Szene einer stummen Katastrophe. Schon auf den ersten Blick hin konnte niemand darüber im Zweifel sein, dass das Zimmer der Schauplatz eines aufregenden Zusammenstoßes zwischen zwei oder vielleicht mehreren Personen gewesen war. Karten waren über den Tisch verstreut oder lagen am Boden umher, als ob ein Spiel plötzlich unterbrochen worden wäre. Zwei Weingläser standen, zum Trinken bereit, auf einem kleinen Nebentischchen, aber ein drittes lag zerbrochen in einem Stern von Glassplittern auf dem Teppich. Einige Schritte davon entfernt lag etwas, das einem langen Messer oder einem geraden, kurzen Schwert mit einem verzierten und bemalten Griff glich; auf die dunkle Scheide fiel eben ein grauer Lichtschimmer aus dem dahinterliegenden trübseligen Fenster, aus dem man die schwarzen Bäume sich von dem bleiernen Hintergrund des Meeresspiegels abheben sah. Gegen die andere Ecke des Zimmers hin war ein Zylinderhut zu Boden gerollt, als hätte man ihn gerade jemandem vom Kopf geschlagen; ja, dieser Eindruck war so stark, dass man erwartete, er würde noch weiter rollen. Doch in der Ecke dahinter lag, wie ein hingeworfener Kartoffelsack und verschnürt wie ein Reisekorb, Herr James Todhunter, mit einem Knebel vor dem Mund und sechs oder sieben Stricken um Ellbogen und Handgelenke. Seine braunen Augen waren geöffnet und glitten lebhaft und schnell umher.
Doktor Orion Hood macht einen Augenblick lang an der Türschwelle halt und trank die ganze Szene stummer Gewalttätigkeit mit gierigen Blicken. Dann schritt er schnell über den Teppich, hob den Zylinderhut auf und setzte ihn mit ernsthafter Miene dem noch immer festgebundenen Todhunter auf. Der Hut war ihm umso vieles zu groß, dass er beinahe bis auf seine Schultern herabglitt.
»Herrn Glassens Hut«, sagte der Doktor, der zurückkommend mit einem Taschenvergrößerungsglas in den Hut hineinblickte. »Wie soll man die Abwesenheit dieses Herrn Glass und die Anwesenheit seines Hutes erklären? Denn Herr Glass scheint mit seinen Kleidern nicht achtlos umzugehen. Dieser Hut hat eine elegante Fasson und ist kunstgerecht gestriegelt und gebürstet, obwohl er nicht ganz neu ist. Ein alter Dandy, würde ich annehmen.«
»Ja, du lieber Himmel!«, rief Fräulein Mac Nab aus, »wollen Sie nicht vorerst den Mann von seinen Stricken befreien?«
»Ich sage mit Absicht ›alt‹, obwohl ich es nicht mit voller Gewissheit behaupten kann«, fuhr der Mann der Wissenschaft mit seinen Erklärungen fort, »und meine Gründe hierfür mögen etwas weit hergeholt erscheinen. Das menschliche Haar fällt in sehr verschiedenem Maße aus, doch fällt es beinahe immer ein klein wenig aus, und mit meinem Vergrößerungsglas könnte ich die winzigen Härchen in einem kürzlich getragenen Hut sehen. Es sind keine da, was mich zu der Vermutung führt, dass Herr Glass kahl ist. Nun, wenn dies zusammengefasst wird mit der etwas kreischenden, zornigen Stimme, von der Fräulein Mac Nab mit so großer Lebhaftigkeit erzählt hat — Geduld, meine Verehrteste, Geduld —, wenn wir den haarlosen Hut zusammennehmen mit dem Tonfall, der senilem Zorn eigen ist, so können wir, glaube ich, auf ein etwas vorgeschrittenes Alter schließen. Nichtsdestoweniger war er vermutlich kräftig, und er war beinahe sicherlich sehr groß. Ich könnte mich bis zu einem gewissen Grad auf die Geschichte seines früheren Erscheinens am Fenster stützen — er wird da als der große Mann mit dem Zylinderhut bezeichnet —, aber ich glaube, verlässlichere Anhaltspunkte zu haben. Dieses Weinglas ist durch das ganze Zimmer geschleudert worden, aber einer der Splitter liegt auf dem obersten Sims des Kamins. Dorthin hätte kein Stückchen fallen können, wenn das Glas von der Hand eines verhältnismäßig kleinen Mannes, wie es Herr Todhunter ist, geschleudert worden wäre.«
»Nebenbei gesagt«, fragte Pater Brown, »könnten wir eigentlich Herrn Todhunter nicht ebenso gut von seinen Stricken befreien?«
»Wir sind noch nicht fertig mit dem, was uns das Trinkglas noch lehrt«, fuhr der Spezialist fort. »Ich muss gleich sagen, dass die Kahlheit und Nervosität des Herrn Glass ebenso gut von einem ausschweifenden Leben wie vom Alter herrühren kann. Herr Todhunter ist, wie man bemerkt hat, ein stiller, sparsamer Mann, im Allgemeinen Abstinenzler. Diese Karten und Weingläser gehören nicht zu seinen alltäglichen Gewohnheiten; sie sind für einen besonderen Gefährten vorbereitet worden. Aber wir können, wie die Dinge nun einmal stehen, sogar noch weiter gehen. Herr Todhunter mag oder mag nicht im Besitz dieses Weinservices sein, aber es besteht kein Anzeichen dafür, dass er Wein besitzt. Womit denn, sollten diese Gläser gefüllt werden? Ich würde sofort annehmen mit irgendeinem Schnaps oder Branntwein, vielleicht von ganz besonderer Marke, aus einem Taschenflakon des Herrn Glass. Wir haben also dieserart so etwas wie das Bild des Mannes oder seines Typs vor uns: groß, ältlich, elegant, aber ein wenig abgetragen, sicherlich mit einer gewissen Vorliebe für Spiel und starke Getränke, ja vielleicht nur mit einer allzu großen Vorliebe für sie. Herr Glass ist ein Herr, der in den Grenzbezirken der Gesellschaft nicht unbekannt ist.«
»Hören Sie«, rief die junge Dame, »wenn Sie mich nicht hingehen lassen, um die Stricke aufzubinden, so werde ich hinauslaufen und nach der Polizei schreien.«
»Ich würde Ihnen, Fräulein Mac Nab«, sagte Doktor Hood sehr ernst, »nicht raten, es mit der Polizei gar so eilig zu haben. Pater Brown, ich bitte Sie, die Mitglieder Ihrer Gemeinde zu beruhigen, um ihretwillen, nicht um meinetwillen. Nun, wir haben einiges von der Erscheinung und dem Charakter des Herrn Glass erfahren; was sind die wichtigsten Tatsachen, die wir über Herrn Todhunter wissen? Es sind deren hauptsächlich Drei: dass er sparsam ist, dass er mehr oder weniger wohlhabend ist, und dass er ein Geheimnis hat. Dies sind selbstverständlich die drei wichtigsten Kennzeichen eines anständigen Mannes, von dem man etwas zu erpressen sucht. Und sicherlich ist es ebenso klar, dass die verblichene Feinheit, die liederlichen Gewohnheiten und die kreischende Reizbarkeit des Herrn Glass die unverkennbaren Kennzeichen jener Art von Leuten sind, die etwas von ihm erpressen wollen. Wir haben die beiden typischen Figuren einer Schweigegeldaffäre; auf der einen Seite den ehrenwerten Mann mit einem Geheimnis, auf der anderen den Westendgeier mit dem Spürsinn für ein Geheimnis. Diese beiden Männer sind einander hier begegnet, haben miteinander gestritten, Waffen gebraucht und Schläge ausgeteilt.«
»Wollen Sie die Stricke lösen?«, fragte das Mädchen eigensinnig.
Doktor Hood setzte den Zylinderhut vorsichtig auf das Seitentischchen hin und schritt zu dem Gefangenen hinüber. Er untersuchte ihn umständlich, ja er drehte ihn sogar ein wenig herum, indem er ihn bei den Schultern aufhob, aber er antwortete nur: »Nein, ich glaube, diese Stricke werden genügen, bis Ihre Freunde, die Polizisten, die Handschellen bringen.«
Pater Brown, der teilnahmslos auf den Teppich gestarrt hatte, hob nun sein rundes Gesicht und sagte: »Was meinen Sie?«
Der Mann der Wissenschaft hatte das seltsame, dolchartige Schwert vom Boden aufgehoben und betrachtete es genau, während er antwortete:
»Weil Sie Herrn Todhunter gebunden auffinden«, sagte er, »springen Sie alle auf den Schluss los, dass ihn Herr Glass gebunden hat und dann offenbar entflohen ist. Dagegen gibt es vier Einwände. Erstens, warum sollte ein so wohlgekleideter Herr, wie unser Freund Glass, seinen Hut zurücklassen, wenn er aus freiem Willen fort ist? Zweitens«, fuhr er, sich dem Fenster nähernd, fort, »ist dies der einzige Ausgang, und der ist von innen verschlossen. Drittens trägt die Klinge hier eine winzige Blutspur an der Spitze, doch an Herrn Todhunter ist keine Verwundung wahrzunehmen. Herr Glass hat diese Wunde mit sich fortgetragen, lebendig oder tot. Fügen Sie zu all dem die einfachste Wahrscheinlichkeit hinzu. Es ist weit glaubhafter, dass derjenige, an dem eine Erpressung versucht wird, seinen Mitschuldigen zu töten sucht, als dass der Erpresser die Gans zu töten sucht, die seine goldenen Eier legt. Wir haben hier, denk ich, eine ziemlich vollständige Geschichte.«
»Aber die Stricke?«, fragte der Priester, dessen Augen in etwas ausdrucksloser Bewunderung weit geöffnet blieben.
»Ah, die Stricke«, sagte der Experte mit einer etwas eigentümlichen Betonung. »Fräulein Mac Nab wollte so gerne wissen, warum ich Herrn Todhunter von seinen Stricken nicht befreit habe. Nun, ich will es ihr erzählen. Ich habe es nicht getan, weil Herr Todhunter sich jeden beliebigen Augenblick selbst davon befreien kann.«
»Wie?«, rief die gesamte Zuhörerschaft mit sehr verschiedenen Tönen des Erstaunens.
»Ich habe mir alle Knoten des Herrn Todhunter angesehen«, begann Doktor Hood ruhig von neuem. »Ich verstehe zufällig etwas von Knoten; sie sind ein ganz spezieller Zweig der wissenschaftlichen Kriminalistik. Er hat jeden einzelnen dieser Knoten selbst gemacht und könnte sich daher befreien; kein einziger ist von einem Feind gemacht worden, der die Absicht hatte, ihn wirklich festzubinden. Diese ganze Geschichte mit den Stricken ist eine schlaue List, um uns glauben zu machen, dass er das Opfer des Kampfes ist und nicht der unglückliche Herr Glass, dessen Leiche im Garten vergraben oder im Kamin versteckt sein mag.«
Es folgte ein etwas gedrücktes Schweigen; im Zimmer wurde es allmählich dunkel; die von der Meerluft zerfressenen Zweige der Bäume im Garten draußen sahen kahler und schwärzer aus als je; doch schienen sie näher ans Fenster herangekommen zu sein.
Man konnte sich beinahe einbilden, es seien Seeungeheuer, wie Kraken oder Tintenfische, sich windende Polypen, die vom Meer heraufgekrochen wären, um den Schluss dieser Tragödie mit anzusehen; genauso wie er, der Schurke und das Opfer zugleich, der schreckliche Mann im Zylinderhut, einst vom Meere heraufgekrochen war. Denn die ganze Luft war geschwängert von der Fäulnis des Verbrechens einer Erpressung, der faulsten aller menschlichen Untaten, weil es ein Verbrechen ist, das ein Verbrechen verbirgt.
Das Gesicht des kleinen katholischen Priesters, das gewöhnlich verbindlich, zufrieden und ein wenig komisch war, zog sich plötzlich in seltsame Falten. Es war nicht die aufrichtige Neugierde seiner ursprünglichen Unschuld. Es war eher jene schöpferische Neugierde, die sich dann zeigt, wenn in einem Menschen ein Gedanke aufdämmert. »Sagen Sie das noch einmal«, bat er in ungezierter und beschäftigter Art; »meinen Sie, dass Todhunter sich ganz allein binden und wieder befreien kann?«
»Ja, das meine ich«, sagte der Arzt.
»Heiliges Jerusalem!«, rief Brown plötzlich aus, »ich bin neugierig, ob es wirklich das sein kann!«
Er eilte durch das Zimmer wie ein Kaninchen und starrte mit ganz neuer Lebhaftigkeit in das zum Teil verdeckte Gesicht des Gefangenen. Dann wendete er der Gesellschaft sein eigenes, etwas einfältiges Gesicht zu. »Ja, so ist es!«, rief er in unverkennbarer Erregung. »Können Sie es auf des Mannes Antlitz nicht sehen? Ja, schauen Sie ihm doch einmal in die Augen!«
Beide, der Professor und das Mädchen, folgten der Richtung seines Blickes. Und obwohl der breite schwarze Knebel die untere Hälfte von Todhunters Gesicht vollständig bedeckte, bemerkten sie etwas Krampfartiges und Gespanntes in den oberen Partien.
»Seine Augen sehen merkwürdig aus«, rief das junge Mädchen aufgeregt. »Ihr rohen Menschen, ihr; ich glaube, er leidet Schmerzen!«
»Das nicht, denk ich«, sagte Doktor Hood, »die Augen haben sicherlich einen seltsamen Ausdruck. Aber ich würde diese quergezogenen Fältchen eher für den Ausdruck jener etwas abnormalen, psychologischen …«
»Ach, Unsinn«, rief Pater Brown, »sehen Sie denn nicht, er lacht ja!«
»Lachen?« wiederholte der Arzt überrascht, »worüber in aller Welt sollte er denn lachen?«
»Nun«, erwiderte der hochwürdige Herr Pater Brown in entschuldigendem Ton, »um es nicht allzu scharf zu betonen: Ich glaube, er lacht über Sie. Und wirklich, ich bin geneigt, über mich selbst zu lachen, jetzt, da ich es weiß.«
»Jetzt, da Sie was wissen?«, fragte Hood ein wenig verzweifelt. »Jetzt«, erwiderte der Priester, »da ich Herrn Todhunters Beruf kenne.«
Er schob im Zimmer herum und besah sich einen Gegenstand nach dem anderen mit anscheinend ausdruckslosen Blicken und brach dann jedes Mal in ebenso sinnloses Gelächter aus — ein Benehmen, das für die ihn Beobachtenden im höchsten Grade irritierend war. Er lachte mächtig über den Hut und noch weit lauter über das zerbrochene Glas, doch das Blut an der Schwertspitze rief einen wahrhaft tödlichen Lachkrampf bei ihm hervor. Dann wendete er sich dem aufgebrachten Spezialisten zu.
»Doktor Hood«, rief er, »Sie sind ein großer Dichter! Sie haben ein unerschaffenes Wesen aus dem Leeren hervorgerufen. Wie viel göttlicher ist dies, als wenn Sie nur die bloßen Tatsachen aufgespürt hätten! Wahrhaftig, die bloßen Tatsachen sind im Vergleich dazu eher alltäglich und lächerlich.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden«, sagte Dr. Hood ein wenig hochnäsig; »meine Tatsachen sind alle unwiderleglich, wenn auch nicht vollständig. Es mag vielleicht der Intuition oder der Dichtkunst, wenn Sie den Ausdruck vorziehen, ein Plätzchen eingeräumt werden, aber nur, weil die entsprechenden Details noch nicht festgestellt werden können. In der Abwesenheit des Herrn Glass …«
»Das ist es, das ist es«, sagte der kleine Priester und nickte ungemein eifrig, »das ist das Erste, was festgelegt werden muss: die Abwesenheit des Herrn Glass. Er ist so ungemein abwesend, meine ich«, fügte er nachdenklich hinzu, »wie noch niemals jemand abwesend war.«
»Meinen Sie vielleicht seine Abwesenheit von der Stadt?«, fragte der Doktor.
»Ich meine seine Abwesenheit von überall«, sagte Pater Brown; »er ist sozusagen abwesend von der Natur aller Dinge.«
»Meinen Sie ernstlich«, sagte der Spezialist lächelnd, »dass es einen solchen Menschen gar nicht gibt?«
Der Priester machte eine bejahende Bewegung. »’s ist schade, nicht?«, sagte er.
Orion Hood brach in ein verächtliches Lachen aus. »Nun«, sagte er, »bevor wir zu den hundertundeinen anderen Beweisen übergehen, lassen Sie uns das erste Zeichen nehmen, das wir gefunden haben; die erste Tatsache, über die wir stolperten, als wir in dieses Zimmer stolperten. Wenn es keinen Herrn Glass gibt, wessen Hut ist das?«
»Er gehört Herrn Todhunter«, erwiderte Brown.
»Aber er passt ihm nicht«, rief Hood ungeduldig aus. »Er könnte ihn ja gar nicht tragen!«
Pater Brown schüttelte mit unbeschreiblicher Nachsicht den Kopf. »Ich habe ja nie behauptet, dass er ihn tragen könne«, antwortete er. »Ich habe gesagt, dass der Hut ihm gehöre. Oder, wenn Sie auf dem Schimmer eines Unterschieds bestehen, dass er der Eigentümer des Hutes sei.«
»Und wo ist der Schimmer eines Unterschiedes?«, fragte der Kriminologe leise grinsend.
»Mein Gott, Herr«, rief der nachsichtige kleine Mann, zum ersten Mal mit einer Bewegung, die der Ungeduld nahekam, »wenn Sie die Straße hinuntergehen wollen bis zum nächsten Hutgeschäft, so werden Sie sehen, dass nach dem allgemeinen Sprachgebrauch ein Unterschied ist zwischen den Hüten, die einem gehören, und solchen, deren Eigentümer man ist.«
»Ja, aber ein Hutmacher«, wendete Hood ein, »kann aus seinem Lager an neuen Hüten Kapital schlagen. Was sollte Todhunter aus seinem einen alten Hut herausschlagen?«
»Kaninchen«, erwiderte Pater Brown schlagfertig.
»Was?«, rief Doktor Hood.
»Kaninchen, Bänder, Kuchen, Goldfische, ganze Rollen bunter Papiere«, sagte der hochwürdige Herr schnell. »Haben Sie das nicht gleich erkannt, als Sie auf die List mit den Stricken kamen? Und genauso ist es mit dem Schwert. Herr Todhunter trägt keine Verwundung an sich, wie Sie gesagt haben; aber er trägt sie in sich, wenn Sie mich richtig verstehen.«
»Meinen Sie innen, unter seinen Kleidern?«, erkundigte sich Frau Mac Nab ernsthaft.
»Ich meine nicht innen, unter seinen Kleidern«, sagte Pater Brown. »Ich meine innen, in Herrn Todhunter.«
»Nun was, um Himmels willen, meinen Sie?«
»Herr Todhunter«, erklärte Pater Brown sanft, »übt sich in dem Beruf eines Zauberers, Jongleurs, Bauchredners und Experten in Kunststücken mit dem Seil. Einen Hinweis auf den Zauberer stellt der Hut dar. Der Hut trägt keine Spuren von Haaren an sich, nicht weil er von dem frühzeitig kahl gewordenen Herrn Glass getragen wird, sondern weil er niemals von irgendjemand getragen worden ist. Für das Jonglieren sprechen die drei Gläser, die Herr Todhunter in die Luft zu werfen und im Schwung aufzufangen übte. Aber da er eben noch im Stadium des Übens ist, zerschlug er ein Glas am Plafond. Auf das Jonglieren deutet auch das Schwert hin, das zu verschlucken Herrn Todhunters berufsmäßige Pflicht und sein Stolz war. Aber wiederum, da er noch im Stadium des Übens ist, ritzte er sich leicht an der Innenseite des Halses mit der Waffe. Darum trägt er eine Wunde in sich, die, wie ich nach seinem Gesichtsausdruck mit Sicherheit beurteilen kann, nicht ernst ist. Er übte sich auch in dem Kunstgriff, der von den Brüdern Davenport7 vorgeführt wurde: sich von Stricken zu befreien, die ihn fest umschnürten. Er war eben daran, als wir alle ins Zimmer platzten. Die Karten dienen natürlich zu Kartenkunststücken, und sie liegen verstreut am Boden, weil er den Trick studierte, sie durch die Luft fliegen zu lassen. Er machte aus seinem Beruf nur darum ein Geheimnis, weil er seine Kunstgriffe geheim halten musste, wie jeder andere Zauberer. Aber die bloße Tatsache, dass ein Müßiggänger in einem Zylinderhut einmal zu seinem Hinterfenster hereingeguckt hat und mit großer Empörung von Seiten Todhunters von dort weggejagt wurde, genügte, um uns alle auf eine falsche, romantische Spur zu führen, sodass wir uns einbildeten, sein ganzes Leben stehe im Schatten des Gespenstes mit dem Zylinderhut des Herrn Glass.«
»Und wie ist’s mit den zwei Stimmen?«, fragte Maggie mit weitaufgerissenen Augen.
»Haben Sie noch nie einen Bauchredner gehört?«, fragte Pater Brown. »Wissen Sie nicht, dass sie zuerst in ihrer natürlichen Stimme sprechen und sich dann selbst genau in dieser schrillen, kreischenden, unnatürlichen Stimme antworten, die Sie gehört haben?«
Es trat ein langes Schweigen ein, und Doktor Hood betrachtete den kleinen Mann, der eben gesprochen hatte, aufmerksam mit einem finsteren Lächeln. »Sie sind sicherlich ein sehr genialer Mensch«, sagte er; »man hätte es in einem Buch nicht klüger machen können. Aber es ist noch etwas da von diesem Herrn Glass, was Sie nicht wegerklären konnten: sein Name. Fräulein Mac Nab hat deutlich gehört, wie ihn Herr Todhunter so ansprach.« Der hochwürdige Herr Pater Brown brach in ein beinahe kindisches Gekicher aus. »Nun, das«, sagte er, »ist das Dümmste an dieser ganzen dummen Geschichte. Als unser Freund hier, der Jongleur, seine drei Gläser der Reihe nach in die Luft warf, zählte er sie laut, während er sie wieder auffing; in Wirklichkeit sagte er: ›Eins, zwei und drei — her ein Glas! Eins, zwei — her ein Glas!‹ Und so weiter.«
Es war einen Augenblick lang still im Zimmer, und dann brachen alle, wie auf ein Zeichen, in Lachen aus. Währenddessen knüpfte die Gestalt in der Ecke wohlgefällig alle Stricke auf und warf sie in weitem Bogen zu Boden. Dann trat er mit einer Verbeugung mitten ins Zimmer, zog aus der Tasche einen großen blau und rot bedruckten Zettel hervor, der ankündigte, dass SALADIN, der größte Zauberer, Schlangenmensch und Bauchredner der Welt, am nächsten Montag, pünktlich acht Uhr abends, im Kaiserpavillon in Scarborough eine Vorstellung mit vollständig neuem Programm und bisher noch nie vorgeführten Kunststücken geben würde.
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Percy Bysshe Shelley (1792–1822) war ein britischer Schriftsteller der Romantik. Er war ein Verfechter des Atheismus. <<<
Geoffrey Chaucer (ca. 1340–1400), englischer Dichter. Hauptwerk waren die (unvollendeten) Canterbury Tales. <<<
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Der große Muscari, der originellste aller toskanischen Dichter, betrat schnellen Schrittes sein Lieblingsrestaurant, das eine herrliche Aussicht auf das Mittelländische Meer bot, mit einer Sonnenplache1 überdeckt und von kleinen Zitronen- und Orangenbäumen umsäumt war. Kellner in weißen Schürzen legten bereits auf weißgedeckten Tischen die Insignien eines frühzeitigen und eleganten Lunchs zurecht; und dies schien bei Muscari ein Gefühl der Befriedigung noch zu verstärken, das schon beinahe an Prahlerei grenzte. Muscari hatte eine Adlernase wie Dante, Haare und Krawatte waren schwarz und flatternd; er trug einen schwarzen Mantel und hätte beinahe eine schwarze Maske tragen können, so sehr umgab ihn die Atmosphäre eines venezianischen Melodramas. Er benahm sich, als nähme ein Troubadour immer noch eine so bestimmte soziale Stellung ein wie ein Bischof. Er ging, soweit es sein Jahrhundert zuließ, buchstäblich wie Don Juan mit Rapier und Gitarre durch die Welt.
Denn er reiste niemals ohne sein Etui mit den Degen, mittels deren er viele glänzende Duelle ausgefochten hatte, und niemals ohne sein zweites Etui mit der Mandoline, auf der er Fräulein Ethel Harrogate, der ungemein konventionellen Tochter eines Bankiers aus Yorkshire, auf einer Ferienreise wirklich und wahrhaftig Serenaden dargebracht hatte. Und doch war er weder ein Scharlatan noch ein Kind; sondern ein heißblütiger, logisch denkender Lateiner, der eine Sache liebte und für sie einstand. Seine Gedichte waren so einfach und klar wie anderer Leute Prosa. Er verlangte nach Ruhm oder Wein oder Frauenschönheit mit einer so brennenden Unmittelbarkeit, wie sie für die nebelhaften Ideale oder nebelhaften Kompromisse des Nordens beinahe unverständlich ist; für Rassen mit verschwommenerem Empfinden roch die Intensität seines Verlangens nach Gefahr, ja nach Verbrechen. Wie das Feuer oder das Meer war er zu einfach und ursprünglich, als dass man ihm vertrauen konnte.
Der Bankier und seine schöne Tochter wohnten in dem Hotel, zu dem Muscaris Restaurant gehörte; darum war es sein Lieblingsrestaurant. Nach einem flüchtig umhergeworfenen Blick erkannte er jedoch sofort, dass die englische Gesellschaft noch nicht heruntergekommen war. Das Restaurant funkelte und glitzerte, war aber noch verhältnismäßig leer. Zwei Priester sprachen miteinander an einem Tisch in einer Ecke, doch Muscari achtete ihrer nicht mehr als eines Paares Krähen. Aber von einem noch weiter entfernten Platz, der durch ein Zwergbäumchen voll goldener Orangen halb verdeckt war, erhob sich eine Gestalt, deren Kleidung in auffallendstem Gegensatz zu der des anderen stand, und näherte sich dem Dichter.
Diese Gestalt trug einen buntkarierten Anzug, eine rosafarbene Krawatte, einen steifen Kragen mit spitzen Ecken und leuchtend gelbe Schuhe. Der Mann brachte es zuwege, auffallend und gewöhnlich zugleich auszusehen. Doch als diese Londoner Erscheinung näher kam, musste Muscari mit Staunen bemerken, dass der Kopf sich vom Körper gar sehr unterschied. Es war ein italienischer Kopf, dunkelfarbig, kraushaarig und ungemein lebhaft, der sich plötzlich aus dem wie Pappendeckel emporstehenden Kragen und der komischen rosafarbenen Krawatte erhob. Es war tatsächlich ein Kopf, den er kannte. Er erkannte ihn, trotz der schrecklichen Aufmachung eines englischen Ferienreisenden; es war das Gesicht eines alten, doch vergessenen Freundes namens Ezza. Dieser Jüngling war auf der Schule ein Wunder gewesen; man hatte ihm, als er fünfzehn war, den Ruhm ganz Europas vorausgesagt; doch als er in der Welt erschien, versagte er erst öffentlich als Dramatiker und Demagoge und dann privat in allen darauffolgenden Jahren als Schauspieler, Reisender, Agent und Journalist. Muscari hatte ihn zuletzt hinter den Rampenlichtern gesehen; Ezza war nur zu gut vertraut mit den Reizmitteln dieses Berufes, und man glaubte, dass ihn irgendein moralisches Unheil befallen habe.
»Ezza!«, rief der Dichter, stand auf und schüttelte ihm in angenehmer Überraschung die Hände. »Nun, ich habe dich in vielen Kostümen gesehen, aber ich hätte nie erwartet, dich als Engländer verkleidet zu sehen.«
»Dies«, antwortete Ezza ernst, »ist nicht das Kostüm eines Engländers, sondern das des Italieners der Zukunft.«
»In diesem Falle«, bemerkte Muscari, »muss ich gestehen, dass ich den Italiener der Vergangenheit vorziehe.«
»Das ist dein alter Fehler, Muscari«, sagte kopfschüttelnd der Mann im karierten Anzug. »Und der Fehler Italiens. Im sechzehnten Jahrhundert waren wir Toskaner der aufgehende Morgen: Wir hatten den neuesten Stahl, die neuesten Schnitzereien, die neuesten Chemikalien. Warum sollten wir jetzt nicht die neuesten Fabriken haben, die neuesten Motoren, die neuesten Finanzen — und die neuesten Kleider?«
»Weil es nicht lohnt, sie zu haben«, antwortete Muscari. »Du kannst Italien nicht zu einem wirklich fortschrittlichen Land machen; die Leute sind zu klug dazu. Menschen, welche die Abkürzungswege zu einem guten Leben kennen, werden niemals jene neuen, mühevollen Straßen wandern.«
»Nun, für mich ist Marconi2 und nicht d’Annunzio der Stern Italiens«, sagte der andere. »Darum bin ich Futurist geworden und Reiseführer.«
»Reiseführer!«, rief Muscari lachend aus. »Ist das der letzte Beruf auf deiner Liste? Und wen führst du?«
»Oh, einen Menschen namens Harrogate mit seiner Familie, glaube ich.«
»Doch nicht etwa den Bankier, der hier im Hotel wohnt?«, fragte der Dichter mit einigem Eifer.
»Ja, das ist mein Mann«, antwortete der Reiseführer.
»Ist das ein einträgliches Geschäft?«, fragte der Troubadour unschuldig.
»Ich werde auf meine Kosten kommen«, rief Ezza mit sehr rätselhaftem Lächeln. »Aber ich bin ein etwas merkwürdiger Reiseführer.« Dann, als wollte er das Thema wechseln, sagte er ziemlich unvermittelt: »Er hat eine Tochter — und einen Sohn.«
»Die Tochter ist göttlich«, bestätigte Muscari, »Vater und Sohn sind, glaub’ ich, nur menschlich. Aber, seinen harmlosen Charakter zugegeben, fällt es dir nicht auf, dass dieser Bankier ein wunderbares Beispiel für meine Behauptung ist? Harrogate hat Millionen in seinen Safes, und ich habe — ein Loch in meiner Tasche. Aber du wirst nicht sagen wollen — du kannst nicht sagen —, dass er klüger ist als ich, oder kühner oder auch nur rühriger. Er ist nicht klug; er hat Augen, die wie blaue Knöpfe aussehen; er ist nicht rührig, er bewegt sich von einem Stuhl zum anderen wie ein Paralytiker. Er ist ein gewissenhafter, freundlicher alter Dummkopf; aber er hat Geld erworben, einfach weil er Geld sammelt, wie ein Knabe Marken sammelt. Du bist zu geistreich, um Geschäfte zu machen, Ezza. Du würdest nicht vorwärtskommen. Um klug genug zu sein, all das Geld zusammenzukriegen, muss man dumm genug sein, es zu wünschen.«
»Dazu bin ich dumm genug«, sagte Ezza düster. »Aber ich würde vorschlagen, deine Kritik des Bankiers aufzuschieben, denn da kommt er eben.«