Pater Brown – Das Paradies der Diebe - Gilbert K. Chesterton - E-Book

Pater Brown – Das Paradies der Diebe E-Book

Gilbert K. Chesterton

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Beschreibung

Vater Brown ist ein englischer katholischer Pfarrer, der als Hobby Kriminalfälle löst. Dies gelingt ihm, indem er sich in den Täter hineinversetzt, dabei das Verbrechen selbst begeht, wie er sagt. Dabei ist er aber weniger daran interessiert, Verbrecher der irdischen Gerechtigkeit auszuliefern, sondern er will sie zu Gott führen; eine freiwillige Beichte des Täters genügt ihm. Dabei spielt es für ihn keine Rolle, welches Amt diese Person bekleidet. 12 Kurzgeschichten: - Die Abwesenheit des Herrn Glass (The Absence of Mr Glass) - Das Paradies der Diebe (The Paradise of Thieves) - Das Duell des Doktor Hirsch (The Duel of Dr. Hirsch) - Der Mann in der Passage (The Man in the Passage) - Der Fehler der Maschine (The Mistake of the Machine) - Der Kopf Caesars (The Head of Caesar) - Die purpurfarbene Perücke (The Purple Wig) - Der Fluch auf dem Hause Pendragon (The Perishing of the Pendragons) - Der Gott des Gongs (The God of the Gong) - Der Salat des Oberst Cray (The Salad of Colonel Cray) - John Boulnois' seltsames Verbrechen (The Strange Crime of John Boulnois) - Pater Browns Märchen (The Fairy Tale of Father Brown) Zwischen 1910 und 1935 erschienen neunundvierzig Erzählungen von Chesterton über Father Brown, zunächst in Zeitschriften und anschließend zusammengefasst in mehreren Bänden. Browns einziger Freund ist der ehemalige Trickdieb Hercule Flambeau, der, von Brown bekehrt, zum Privatdetektiv wird. Es gibt übrigens ein reales Vorbild für Father Brown: Father John O'Connor von St. Custherberts, Bradford. Er war der Pfarrer, der Chestertons Konversion zum katholischen Glauben leitete. Die Fälle des Vater Brown sind bereits mehrmals für Kino und TV verfilmt worden. In Deutschland ist besonders die Verkörperung durch Heinz Rühmann bekannt. Null Papier Verlag

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Gilbert Keith Chesterton

Pater Brown – Das Paradies der Diebe

Gilbert Keith Chesterton

Pater Brown – Das Paradies der Diebe

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019Übersetzung: Clarisse Meitner EV: Musarionverlag München, 1927 2. Auflage, ISBN 978-3-954185-12-2

www.null-papier.de/brown

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Buch und Au­tor

Die Ab­we­sen­heit des Herrn Glass (The Ab­sence of Mr Glass)

Das Pa­ra­dies der Die­be (The Pa­ra­di­se of Thie­ves)

Das Duell des Dok­tor Hirsch (The Duel of Dr Hirsch)

Der Mann in der Pas­sa­ge (The Man in the Pas­sa­ge)

Der Feh­ler der Ma­schi­ne (The Mi­sta­ke of the Ma­chi­ne)

Der Kopf Cae­sars (The Head of Cae­sar)

Die pur­pur­far­be­ne Perücke (The Pur­ple Wig)

Der Fluch auf dem Hau­se Pen­dra­gon (The Pe­ris­hing of the Pen­dra­g­ons)

Der Gott des Gongs (The God of the Gongs)

Der Salat des Oberst Cray (The Salad of Co­lo­nel Cray)

John Boul­nois’ selt­sa­mes Ver­bre­chen (The Stran­ge Cri­me of John Boul­nois)

Pa­ter Browns Mär­chen (The Fai­ry Tale of Fa­ther Brown)

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Buch und Autor

Gil­bert Keith Che­s­ter­ton (1874-1936) zählt ne­ben Her­bert Ge­or­ge Wells, Ar­thur Co­nan Doy­le und Ru­dyard Kip­ling zu den klas­si­schen Al­les­kön­ne­r­au­to­ren Eng­lands am Ende der Vik­to­ria­ni­schen Epo­che bis zum Ende des ers­ten Drit­tels des 20. Jahr­hun­derts. Wie die­se hat er Tex­te ver­schie­dens­ter Art hin­ter­las­sen, dar­un­ter äu­ßerst ori­gi­nel­le Bei­trä­ge zur Fan­tas­tik.

Ge­wöhn­lich trug er ein Cape und einen zer­drück­ten Hut, einen Stock­de­gen in der Hand und hat­te eine Zi­gar­re aus dem Mund hän­gen. Er ver­gaß oft, wo­hin er woll­te, und ver­pass­te den Zug, der ihn dort­hin brin­gen soll­te. Es wird be­rich­tet, dass er mehr­fach sei­ner Frau von ent­fern­ten Or­ten Te­le­gram­me schick­te, um wie­der nach Hau­se zu fin­den.

Che­s­ter­ton lieb­te zu de­bat­tie­ren und be­tei­lig­te sich oft an freund­schaft­li­chen öf­fent­li­chen Dis­pu­ten mit Män­nern wie Ge­or­ge Ber­nard Shaw, H. G. Wells, Ber­trand Rus­sell und Cla­rence Dar­row.

In sei­nen Ro­ma­nen, Essays und Kurz­ge­schich­ten setz­te er sich in­ten­siv mit mo­der­nen Phi­lo­so­phien und Den­krich­tun­gen aus­ein­an­der.

Che­s­ter­ton schrieb Ge­dich­te, Büh­nen­stücke, meist aber Pro­sa: Essays, zahl­rei­che Er­zäh­lun­gen und Ro­ma­ne. Von man­chen Kri­ti­kern hoch­ge­lobt wur­den die von ihm ver­fass­ten Bio­gra­fi­en, bei­spiels­wei­se über Tho­mas von Aquin, Franz von As­si­si, Charles Di­ckens, Ro­bert Louis Ste­ven­son und Ge­or­ge Ber­nard Shaw.

Va­ter Brown ist ein eng­li­scher ka­tho­li­scher Pfar­rer, der als Hob­by Kri­mi­nal­fäl­le löst. Dies ge­lingt ihm, in­dem er sich in den Tä­ter hin­ein­ver­setzt, da­bei das Ver­bre­chen selbst be­geht, wie er sagt. Da­bei ist er aber we­ni­ger dar­an in­ter­es­siert, Ver­bre­cher der ir­di­schen Ge­rech­tig­keit aus­zu­lie­fern, son­dern er will sie zu Gott füh­ren; eine frei­wil­li­ge Beich­te des Tä­ters ge­nügt ihm. Da­bei spielt es für ihn kei­ne Rol­le, wel­ches Amt die­se Per­son be­klei­det.

Zwi­schen 1910 und 1935 er­schie­nen neun­und­vier­zig Er­zäh­lun­gen von Che­s­ter­ton über Fa­ther Brown, zu­nächst in Zeit­schrif­ten und an­schlie­ßend zu­sam­men­ge­fasst in meh­re­ren Bän­den.

Browns ein­zi­ger Freund ist der ehe­ma­li­ge Trick­dieb Her­cu­le Flam­beau, der, von Brown be­kehrt, zum Pri­vat­de­tek­tiv wird.

Es gibt üb­ri­gens ein rea­les Vor­bild für Fa­ther Brown: Fa­ther John O’Con­nor von St. Custher­berts, Brad­ford. Er war der Pfar­rer, der Che­s­ter­tons Kon­ver­si­on zum ka­tho­li­schen Glau­ben lei­te­te.

Die Fäl­le des Va­ter Brown sind be­reits mehr­mals für Kino und TV ver­filmt wor­den. In Deutsch­land ist be­son­ders die Ver­kör­pe­rung durch Heinz Rüh­mann be­kannt.

Die Abwesenheit des Herrn Glass (The Absence of Mr Glass)

Die Sprech­zim­mer des Herrn Dok­tor Ori­on Hood, des be­rühm­ten Kri­mi­no­lo­gen und Spe­zia­lis­ten für ge­wis­se mo­ra­li­sche Stö­run­gen, er­streck­ten sich längs der See­sei­te in Scar­bo­rough1 mit ei­ner Rei­he sehr großer, bis an den Bo­den rei­chen­der Fens­ter, hin­ter de­nen die Nord­see wie eine äu­ße­re Mau­er von bläu­lich grü­nem Mar­mor zu se­hen war. An die­sem Orte hat­te das Meer ir­gen­det­was von der Mo­no­to­nie ei­nes bläu­lich grü­nen Posta­men­tes2 an sich; denn in den Zim­mern selbst herrsch­te eine schreck­li­che Re­gel­mä­ßig­keit, nicht un­ähn­lich der er­schre­cken­den Re­gel­mä­ßig­keit des Mee­res. Man darf nicht etwa an­neh­men, dass die Zim­mer des Herrn Dok­tor Hood des Lu­xus er­man­gel­ten, ja nicht ein­mal ei­ner ge­wis­sen Poe­sie. Al­les dies war da und am rech­ten Platz; aber man hat­te das Ge­fühl, als dürf­te es nie­mals an­ders­wo sein als am rech­ten Platz. Lu­xus war da: Auf ei­nem ei­gens dazu be­stimm­ten Tisch­chen stan­den acht oder zehn Schach­teln der feins­ten Zi­gar­ren; aber sie wa­ren nach ei­nem be­stimm­ten Sys­tem auf­ge­schich­tet, so­dass die stärks­ten der Wand zu­nächst stan­den und die leich­tes­ten zu­nächst dem Fens­ter. Ein Li­kör­stän­der mit drei ver­schie­de­nen Ge­trän­ken, al­les aus­ge­zeich­ne­te Mar­ken, stand im­mer auf die­sem Lu­xus­tisch­chen; aber fan­ta­sie­vol­le Leu­te ha­ben es be­stä­tigt, dass die Whis­ky-, Schnaps- und Rum­fla­schen im­mer gleich voll wa­ren. Auch Poe­sie war da: Die lin­ke Ecke des Zim­mers war mit ei­ner eben­so voll­stän­di­gen Samm­lung der eng­li­schen Klas­si­ker be­klei­det, wie die rech­te Ecke eng­li­sche und fremd­spra­chi­ge Phy­sio­lo­gen auf­wei­sen konn­te. Doch nahm man einen Band Shel­ley3 oder Chau­cer4 aus die­sen Rei­hen, so stör­te sein Feh­len an sei­nem Platz eben­so wie eine Zahn­lücke zwi­schen den Vor­der­zäh­nen ei­nes Men­schen. Man konn­te nicht sa­gen, dass die Bü­cher nie­mals ge­le­sen wor­den wa­ren; wahr­schein­lich wa­ren sie es, aber sie er­weck­ten die Vor­stel­lung, als wä­ren sie an ih­ren Platz an­ge­ket­tet wie die Bi­beln in den al­ten Kir­chen. Dok­tor Hood be­han­del­te sei­ne pri­va­ten Bü­cher­re­ga­le, als wä­ren sie eine öf­fent­li­che Biblio­thek. Und wenn die­se strik­te wis­sen­schaft­li­che Unan­tast­bar­keit so­gar über den mit Ly­rik und Bal­la­den an­ge­füll­ten Re­ga­len lag und über den mit Ta­bak und Ge­trän­ken be­setz­ten Ti­schen, so ist es wohl selbst­ver­ständ­lich, dass noch weit mehr von die­ser heid­nischen Hei­lig­keit über den an­de­ren Re­ga­len mit der Biblio­thek des Spe­zia­lis­ten wal­te­te und über den an­de­ren Ti­schen, wel­che die zer­brech­li­chen und ge­heim­nis­vol­len In­stru­men­te ei­nes ärzt­li­chen La­bo­ra­to­ri­ums tru­gen.

Dok­tor Ori­on Hood schritt der Län­ge nach durch die Flucht sei­ner Zim­mer, wel­che im Os­ten — wie es in der Schul­geo­gra­fie heißt — von der Nord­see und im Wes­ten von den sach­kun­dig zu­sam­men­ge­stell­ten Rei­hen sei­ner kri­mi­na­lis­ti­schen und so­zio­lo­gi­schen Biblio­thek be­grenzt war. Er trug eine Samt­ja­cke wie ein Künst­ler, aber nicht mit der Nach­läs­sig­keit ei­nes Künst­lers; sein Haar war stark er­graut, aber dicht und ge­sund; sein Ge­sicht war schmal, aber san­gui­nisch und wie in stets ge­spann­ter Er­war­tung. Al­les um ihn und in sei­nem Zim­mer er­weck­te den Ein­druck ei­ner ge­wis­sen Starr­heit und Ru­he­lo­sig­keit zu­gleich, ähn­lich die­sem großen nörd­li­chen Meer, an dem er — bloß aus hy­gie­ni­schen Rück­sich­ten — sein Haus ge­baut hat­te.

Die hei­te­re Lau­ne des Zu­falls öff­ne­te die Türe und führ­te in die­se lan­gen, stren­gen, see­be­grenz­ten Ge­mä­cher einen Mann her­ein, der viel­leicht den über­ra­schends­ten Ge­gen­satz zu ih­nen und ih­rem Be­sit­zer dar­stell­te. Nach ei­nem zwar kur­z­en, aber höf­li­chen An­klop­fen öff­ne­te sich die Türe nach in­nen, und in das Zim­mer stol­per­te eine un­för­mi­ge klei­ne Ge­stalt, die mit dem ei­ge­nen Hut und Schirm nicht fer­tig zu wer­den schi­en, als wä­ren sie eine nicht zu be­wäl­ti­gen­de Men­ge Ge­päcks. Der Schirm war ein schwar­zes, pro­sa­i­sches Bün­del; längst al­ler Re­pa­ra­tur ent­wach­sen; der Hut, ein breit­krem­pi­ger, schwar­zer Hut von kirch­li­cher Form, aber in Eng­land nicht ge­bräuch­lich; der Mann war die wah­re Ver­kör­pe­rung al­les Sch­lich­ten und Hilflo­sen.

Der Dok­tor sah den An­kömm­ling mit ver­hal­te­nem Er­stau­nen an, so etwa, wie er es ge­zeigt hät­te, wenn ir­gend­ein rie­si­ges, doch of­fen­sicht­lich harm­lo­ses Seeun­ge­heu­er ins Zim­mer ge­kro­chen wäre. Der An­kömm­ling sah den Dok­tor mit je­ner strah­len­den, aber atem­lo­sen Of­fen­heit an, wie sie di­cken Scheu­er­wei­bern eig­net, die es eben zu­stan­de ge­bracht ha­ben, sich in einen Om­ni­bus zu zwän­gen. Es liegt dar­in ein wir­res Ge­misch von so­zia­ler Selbst­ge­fäl­lig­keit und kör­per­li­cher Un­ord­nung. Der Hut fiel zu Bo­den, der schwe­re Schirm glitt mit ei­nem dump­fen Schlag zwi­schen sei­ne Knie; er griff nach dem einen und bück­te sich nach dem an­de­ren, aber zu­gleich sag­te er mit ei­nem un­ver­gleich­li­chen Lä­cheln auf dem run­den Ge­sicht Fol­gen­des:

»Mein Name ist Brown. Ent­schul­di­gen Sie, bit­te. Ich kom­me in Sa­chen die­ser Mac Nabs. Wie ich ge­hört habe, hel­fen Sie Leu­ten oft aus sol­chen Ver­le­gen­hei­ten. Ent­schul­di­gen Sie, bit­te, wenn ich mich irre.«

Jetzt war es ihm mit Mühe ge­lun­gen, sei­nes Hu­tes wie­der hab­haft zu wer­den, und er ver­beug­te sich über ihn hin mit ei­nem selt­sa­men, klei­nen Ruck.

»Ich ver­ste­he Sie nicht recht«, er­wi­der­te der Mann der Wis­sen­schaft mit be­ton­ter Küh­le in sei­nem Be­neh­men. »Ich fürch­te, Sie ha­ben sich in der Türe ge­irrt. Ich bin Dok­tor Hood, und ich ar­bei­te bei­na­he aus­schließ­lich auf li­te­ra­ri­schem und er­zie­he­ri­schem Ge­bie­te. Al­ler­dings bin ich manch­mal in be­son­ders schwie­ri­gen und wich­ti­gen Fäl­len von der Po­li­zei­be­hör­de kon­sul­tiert wor­den, aber …«

»Oh, die Sa­che ist ja von der größ­ten Wich­tig­keit«, fiel der klei­ne Mann na­mens Brown ein. »Ihre Mut­ter will die Ver­lo­bung nicht zu­ge­ben.« Und er lehn­te sich, strah­lend vor Ver­nünf­tig­keit, in sei­nem Stuhl zu­rück.

Herrn Dok­tor Hoods Stir­ne war in fins­te­re Fal­ten ge­zo­gen, aber die Au­gen dar­un­ter schim­mer­ten in ei­nem selt­sa­men Licht, das Zorn oder auch Be­lus­ti­gung sein moch­te. »Ja, aber«, sag­te er, »ich ver­ste­he im­mer noch nicht.«

»Se­hen Sie, die bei­den woll­ten hei­ra­ten«, sag­te der Mann mit dem kirch­li­chen Hut. »Mag­gie Mac Nab und der jun­ge Tod­hun­ter woll­ten hei­ra­ten. Nun, was kann es Wich­ti­ge­res ge­ben?«

Sei­ne wis­sen­schaft­li­chen Er­fol­ge hat­ten Dok­tor Ori­on Hood um man­cher­lei ge­bracht — ei­ni­ge Leu­te sag­ten, um sei­ne Ge­sund­heit, an­de­re wie­der, um sei­nen Glau­ben; aber sie hat­ten ihm nicht gänz­lich sein Ver­ständ­nis für das Ab­sur­de ge­raubt. Bei die­ser letz­ten Dar­le­gung des fin­di­gen Pries­ters platz­te der Dok­tor her­aus und warf sich in einen Lehn­stuhl mit all dem über­le­ge­nen Ge­ha­be des kon­sul­tier­ten Arz­tes.

»Herr Brown«, sag­te er ernst, »es sind gan­ze vier­zehn und ein halb Jah­re her, seit­dem man mich per­sön­lich auf­for­der­te, eine per­sön­li­che Sa­che zu un­ter­su­chen: Da­mals war es der Fall ei­nes Gift­mord­ver­su­ches an dem fran­zö­si­schen Prä­si­den­ten bei Ge­le­gen­heit ei­nes Ban­ketts beim Lord Mayor.5 Jetzt han­delt es sich, so­weit ich ver­ste­he, um die Fra­ge, ob ir­gend­ei­ne Freun­din von Ih­nen na­mens Mag­gie die ge­eig­ne­te Braut für ir­gend­ei­nen ih­rer Freun­de na­mens Tod­hun­ter ist. Nun, Herr Brown, ich tue es aus Lieb­ha­be­rei. Ich neh­me an. Ich will der Fa­mi­lie Mac Nab so gut ra­ten wie der Fran­zö­si­schen Re­pu­blik und dem Kö­nig von Eng­land — nein, bes­ser: um vier­zehn Jah­re bes­ser. Ich habe heu­te Nach­mit­tag nichts an­de­res vor. Er­zäh­len Sie mir Ihre Ge­schich­te.«

Der klei­ne Geist­li­che na­mens Brown dank­te ihm mit un­be­streit­ba­rer Wär­me, aber im­mer noch mit ei­ner selt­sa­men Art von Ein­falt. Es war eher so, als dan­ke er ei­nem Frem­den im Rauch­sa­lon für die Ge­fäl­lig­keit, ihm Streich­höl­zer ge­reicht zu ha­ben, nicht aber so, als dan­ke er ei­gent­lich, so wie es hier der Fall war, dem Di­rek­tor von Kew Gar­dens6 da­für, dass er mit ihm aufs Feld hin­aus­gin­ge, um ein vier­blätt­ri­ges Klee­blatt zu su­chen. Der klei­ne Mann ließ auf sei­ne war­men Dank­sa­gun­gen kaum einen Beistrich fol­gen, ehe er mit sei­nem Be­richt be­gann:

»Ich habe Ih­nen ge­sagt, dass mein Name Brown sei; nun, so ist es, und ich bin Pfar­rer je­ner klei­nen ka­tho­li­schen Kir­che, die Sie, wie ich wohl an­neh­men darf, jen­seits der ab­seits­lie­gen­den Stra­ßen dort drü­ben be­merkt ha­ben dürf­ten, dort, wo die Stadt im Nor­den auf­hört. In der letz­ten und am wei­tes­ten ab­lie­gen­den Stra­ße, die längs des Mee­res wie eine Mau­er läuft, lebt ein zwar ehr­ba­res, aber leicht er­reg­ba­res Mit­glied mei­ner Ge­mein­de, eine Wit­we na­mens Mac Nab. Sie hat eine Toch­ter und ver­mie­tet Zim­mer; und zwi­schen ihr und der Toch­ter und zwi­schen ihr und den Mie­tern — nun, ich darf wohl sa­gen, dass sich für bei­de Par­tei­en vie­les sa­gen lässt. Au­gen­blick­lich hat sie nur einen Mie­ter, den jun­gen Mann na­mens Tod­hun­ter; aber er macht mehr zu schaf­fen als alle üb­ri­gen, denn er will die jun­ge Hau­s­toch­ter hei­ra­ten.«

»Und die jun­ge Hau­s­toch­ter«, frag­te Dok­tor Hood mit un­ge­heu­rer, aber ver­steck­ter Be­lus­ti­gung, »was will sie?«

»Ja, nun, sie will ihn hei­ra­ten«, rief Pa­ter Brown und rich­te­te sich eif­rig auf sei­nem Stuhl em­por. »Das ist ja eben die schreck­li­che Kom­pli­ka­ti­on!«

»Es ist wirk­lich eine ver­wi­ckel­te Ge­schich­te«, sag­te Dok­tor Hood.

»Die­ser jun­ge Ja­mes Tod­hun­ter«, fuhr der Kir­chen­mann fort, »ist, so­viel ich weiß, ein sehr an­stän­di­ger Mann; aber schließ­lich weiß nie­mand sehr viel. Er ist ein ver­gnüg­ter, braun­haa­ri­ger klei­ner Kerl, be­händ wie ein Affe, glat­tra­siert wie ein Schau­spie­ler und ver­bind­lich wie ein ge­bo­re­ner Frem­den­füh­rer. Er scheint hübsch viel Geld zu ha­ben, aber nie­mand kennt sei­nen Be­ruf. Da Frau Mac Nab nun pes­si­mis­tisch ver­an­lagt ist, scheint sie fest da­von über­zeugt zu sein, dass es et­was Schreck­li­ches sein muss und wahr­schein­lich mit Dy­na­mit zu tun hat. Das Dy­na­mit muss je­doch von dis­kre­ter und laut­lo­ser Be­schaf­fen­heit sein, denn der arme Kerl schließt sich nur ei­ni­ge Stun­den des Ta­ges ein und stu­diert et­was hin­ter ver­sperr­ten Tü­ren. Er er­klärt, sein Ge­heim­nis sei nur vor­über­ge­hend, auch voll­stän­dig ge­recht­fer­tigt, und er ver­spricht, vor sei­ner Hoch­zeit al­les auf­klä­ren zu wol­len. Das ist al­les, was man mit Si­cher­heit weiß, aber Frau Mac Nab wird Ih­nen weit mehr er­zäh­len, als auch nur sie mit Si­cher­heit sa­gen kann. Sie wis­sen, wie auf ei­nem sol­chen Fle­cken von Un­wis­sen­heit die Ge­schich­ten wie Gras aus dem Bo­den schie­ßen. Es gibt Ge­schich­ten von zwei Stim­men, die man aus je­nem Zim­mer ge­hört hat, ob­wohl, so­bald die Türe ge­öff­net wird, Tod­hun­ter im­mer al­lein ge­fun­den wird. Es gibt Ge­schich­ten von ei­nem ge­heim­nis­vol­len großen Mann mit ei­nem Zy­lin­der­hut, der ein­mal aus dem See­ne­bel und an­schei­nend aus der See selbst auf­tauch­te und in der Däm­me­rung mit lei­sen Trit­ten über den Sand und durch den klei­nen Hin­ter­gar­ten ge­schrit­ten ist, bis man ihn durch das of­fe­ne Fens­ter mit dem Mie­ter spre­chen hör­te. Das Ge­spräch soll an­schei­nend mit ei­nem Streit ge­en­det ha­ben: Tod­hun­ter hat sein Fens­ter zor­nig zu­ge­schla­gen, und der Mann mit dem Zy­lin­der­hut ver­schwand wie­der im Ne­bel. Die­se Ge­schich­te wird von der Fa­mi­lie mit den wil­des­ten Deu­tun­gen er­zählt, aber ich glau­be wirk­lich, Frau Mac Nab zieht ihre ei­ge­ne ur­sprüng­li­che Ver­si­on vor: dass der an­de­re Mann oder was im­mer es sein mag je­den Abend aus der großen Kis­te in der Ecke, die stän­dig ver­sperrt ge­hal­ten wird, her­vor­kriecht. Sie se­hen also, wie die­se ver­schlos­se­ne Türe von Tod­hun­ters Zim­mer als das Tor al­ler Mär­chen und Un­ge­heu­er­lich­kei­ten aus ›Tau­send­und­ei­ner Nacht‹ an­ge­se­hen wird. Und doch ist die­ser klei­ne Kerl in sei­nem re­spek­ta­blen Sam­t­rock so pünkt­lich und un­schul­dig wie eine Pen­del­uhr. Er be­zahlt sei­ne Mie­te auf den Schlag; er ist wirk­lich Absti­nenz­ler; er ist un­er­müd­lich freund­lich mit den jün­ge­ren Kin­dern des Hau­ses und kann sich den gan­zen Tag über mit ih­nen un­ter­hal­ten; und schließ­lich und haupt­säch­lich hat er sich bei der äl­tes­ten Toch­ter eben­so be­liebt ge­macht, die be­reit ist, je­den Tag mit ihm zum Al­tar zu ge­hen.«

Ist ein Mann ir­gend­wel­chen um­fas­sen­de­ren Theo­ri­en herz­lich er­ge­ben, so hat er stets einen Hang dazu, sie auf jede Tri­via­li­tät an­zu­wen­den. Da der große Spe­zia­list sich nun ein­mal zu der Ein­fäl­tig­keit des klei­nen Pries­ters her­ab­ge­las­sen hat­te, so tat er es ganz. Er hat­te sich be­quem in sei­nem Lehn­stuhl zu­recht­ge­setzt und be­gann nun im Ton ei­nes et­was zer­streu­ten Vor­tra­gen­den zu spre­chen:

»So­gar bei win­zi­gen Ge­le­gen­hei­ten ist es das Bes­te, zu­erst die Haup­tricht­li­ni­en der Na­tur zu ver­fol­gen. Ir­gend­ei­ne be­son­de­re Blu­me mag nicht zu Be­ginn des Win­ters ge­stor­ben sein, aber die Blu­men ster­ben ab; ir­gend­ein ver­ein­zel­ter Kie­sel mag von der Flut nie be­nässt wor­den sein, aber die Flut tritt ein. Für das Auge der Wis­sen­schaft ist die Ge­schich­te der Mensch­heit nur eine Rei­he von Kol­lek­tiv­be­we­gun­gen, Zer­stö­run­gen oder Um­wand­lun­gen, wie das Hinster­ben der Flie­gen im Win­ter oder die Rück­kehr der Zug­vö­gel im Früh­jahr. Nun, die Wur­zel al­ler Tat­sa­chen der Ent­wick­lung ist die Ras­se. Die Ras­se er­zeugt die Re­li­gi­on; die Ras­se er­zeugt alle po­li­ti­schen und ethi­schen Ge­gen­sät­ze. Es gibt kei­ne stär­ke­re Ras­se als die des wil­den, welt­frem­den und aus­ster­ben­den, ge­wöhn­lich als kel­tisch be­zeich­ne­ten Stam­mes, für den Sie in Ihren Freun­den, den Mac Nabs, ein Bei­spiel se­hen kön­nen. Klein, von dunk­ler Ge­sichts­far­be, träu­me­risch und leicht be­ein­fluss­bar, neh­men sie leicht eine aber­gläu­bi­sche Er­klä­rung je­des Er­eig­nis­ses an, eben­so wie sie im­mer noch — Sie wer­den es mir nicht übel­neh­men — jene aber­gläu­bi­sche Er­klä­rung al­ler Ge­scheh­nis­se an­neh­men, de­ren Re­prä­sen­tan­ten Sie und Ihre Kir­che sind. Es ist nicht ver­wun­der­lich, dass sol­che Leu­te, die hin­ter sich das Kla­gen der See und vor sich — neh­men Sie es mir nicht übel — die Li­ta­nei­en der Kir­che hö­ren, fan­tas­ti­sche Er­klä­run­gen fin­den für Din­ge, die wahr­schein­lich nur ein­fa­che Ge­scheh­nis­se sind. Sie, mit Ihren be­schränk­ten Verant­wor­tun­gen für ein klei­nes Kirch­spiel, se­hen na­tür­lich nur die­se eine Frau Mac Nab, die von die­ser einen Ge­schich­te von den zwei Stim­men und ei­nem großen, aus der See auf­tau­chen­den Mann er­schreckt ist. Aber wer wis­sen­schaft­li­che Zu­sam­men­hän­ge er­fas­sen kann, er­kennt die Din­ge so, wie sie sind, und er sieht den gan­zen Klan der Mac Nabs über die gan­ze Welt ver­streut, im Durch­schnitt schließ­lich eben­so we­nig von­ein­an­der zu un­ter­schei­den wie ein Schwarm Vö­gel. Er sieht Tau­sen­de von Frau Mac Nabs in Tau­sen­den von Häu­sern, die ihre klei­nen Tröpf­chen von An­ge­krän­kelt­heit in die Tee­tas­sen ih­rer Freun­de trop­fen; er sieht …«

Be­vor der Mann der Wis­sen­schaft sei­nen Satz be­en­den konn­te, hör­te man ein zwei­tes und dies­mal un­ge­dul­di­ge­res Klop­fen von drau­ßen; ir­gend­je­mand mit da­hin­fe­gen­den Rö­cken wur­de ei­ligst den Gang her­un­ter­ge­lei­tet, und die Türe öff­ne­te sich vor ei­nem zwar an­stän­dig, doch et­was un­or­dent­lich ge­klei­de­ten jun­gen Mäd­chen mit ei­nem vor Hast ge­röte­ten Ge­sicht. Mit ih­rem vom See­wind ge­bleich­ten blon­den Haar wäre sie voll­kom­men schön zu nen­nen ge­we­sen, wenn nicht die Ba­cken­kno­chen — wie dies oft bei Schot­ten vor­kommt — et­was stark ge­baut und röt­lich ge­färbt ge­we­sen wä­ren. Die von ihr vor­ge­brach­te Ent­schul­di­gung klang so un­ver­mit­telt wie ein Be­fehl.

»Es tut mir leid, dass ich Sie un­ter­bre­che, mein Herr«, sag­te sie, »aber ich muss­te Pa­ter Brown so­fort nach­kom­men; es han­delt sich um nichts Ge­rin­ge­res als um Tod und Le­ben.«

Pa­ter Brown be­gann in et­was un­ge­ord­ne­ter Wei­se auf die Bei­ne zu kom­men. »Wie­so, was ist ge­sche­hen, Mag­gie?«, frag­te er.

»Ja­mes ist er­mor­det wor­den, so­viel ich her­aus­brin­gen konn­te«, ant­wor­te­te das Mäd­chen, noch im­mer ein we­nig atem­los vom schnel­len Ge­hen. »Die­ser Mensch na­mens Glass ist wie­der bei ihm ge­we­sen; ich habe sie ganz deut­lich durch die Türe mit­ein­an­der spre­chen hö­ren. Zwei ver­schie­de­ne Stim­men; denn Ja­mes spricht lei­se und et­was hei­ser, wäh­rend die an­de­re Stim­me hoch und zit­ternd war.«

»Die­ser Mensch na­mens Glass?« wie­der­hol­te der Pries­ter ein we­nig er­staunt.

»Ich weiß, dass er Glass heißt«, ant­wor­te­te das Mäd­chen sehr un­ge­dul­dig. »Ich hab es durch die Türe ge­hört. Sie ha­ben mit­ein­an­der ge­strit­ten — we­gen Geld, glaub’ ich —, denn ich hör­te Ja­mes im­mer wie­der und wie­der sa­gen: ›Das ist rich­tig, Herr Glass‹, oder ›Nein, Herr Glass‹, und dann ›zwei und drei, Herr Glass.‹ Aber wir re­den zu viel. Sie müs­sen so­fort kom­men, viel­leicht ist noch Zeit.«

»Aber Zeit wo­für?«, frag­te Dok­tor Hood, der die jun­ge Dame mit auf­fal­len­dem In­ter­es­se be­ob­ach­te­te. »Was ist das für eine Ge­schich­te von ei­nem Herrn Glass und sei­nen Geldan­ge­le­gen­hei­ten, die so große Eile er­for­dert?«

»Ich ver­such­te, die Türe mit Ge­walt zu öff­nen, und konn­te es nicht«, ant­wor­te­te das Mäd­chen kurz. »Dann lief ich in den Hof hin­aus und klet­ter­te auf das Fens­ter­sims, um in das Zim­mer se­hen zu kön­nen. Es war ganz fins­ter und schi­en leer zu sein, aber ich schwö­re, dass ich Ja­mes in ei­nem Win­kel zu­sam­men­ge­kau­ert sah, als wäre er be­täubt oder ge­bun­den.«

»Das ist sehr ernst«, sag­te Pa­ter Brown, in­dem er sei­nen her­u­mir­ren­den Hut und Schirm zu­sam­men­raff­te und auf­stand. »Ich habe die­sem Herrn ge­ra­de Ihren Fall vor­ge­tra­gen, und sei­ne An­sicht …«

»Hat sich in­zwi­schen voll­kom­men ge­än­dert«, sag­te der Wis­sen­schaft­ler ernst. »Ich glau­be nicht, dass die­se jun­ge Dame so kel­tisch ist, wie ich an­ge­nom­men habe. Da ich nichts an­de­res vor­ha­be, will ich mei­nen Hut auf­set­zen und mit Ih­nen in die Stadt hin­un­ter­ge­hen.«

In we­ni­gen Mi­nu­ten nä­her­ten sich die Drei der trost­lo­sen Stra­ße, in der die Mac Nabs wohn­ten; das Mäd­chen mit den gleich­mä­ßi­gen, wei­taus­ho­len­den Schrit­ten der Berg­be­woh­ner, der Kri­mi­no­lo­ge mit nach­läs­si­ger Gra­zie, die nicht ei­ner ge­wis­sen leo­par­den­ähn­li­chen Schnel­lig­keit ent­behr­te, und der Pries­ter in ei­nem em­si­gen Trott, der je­der Be­son­der­heit bar war. Der An­blick die­ses Stadt­tei­les recht­fer­tig­te zum Teil die An­deu­tun­gen des Dok­tors über die öde Um­ge­bung und Stim­mung. Längs des Ufers zog sich eine un­ter­bro­che­ne Rei­he ein­zel­ner Häu­ser hin, die im­mer wei­ter und wei­ter von­ein­an­der ab­stan­den. Der Nach­mit­tag ging in eine frü­he und bei­na­he geis­ter­haf­te Däm­me­rung über; das Meer war pur­pur­far­ben gleich ro­ter Tin­te und mur­mel­te wie in üb­ler Vor­be­deu­tung. In dem Stück­chen Hin­ter­gar­ten der Mac Nabs, der ge­gen das San­du­fer zu­lief, rag­ten zwei kah­le, schwar­ze Bäu­me em­por, gleich Geis­ter­ar­men in wil­dem Er­stau­nen gen Him­mel ge­streckt; und als Frau Mac Nab ih­nen ent­ge­gen­ge­rannt kam, die ma­ge­ren Hän­de in ähn­li­cher Hal­tung, die wil­den Ge­sichts­zü­ge tief im Schat­ten, da glich sie selbst nur all­zu sehr ei­nem klei­nen Dä­mon. Der Arzt und der Pries­ter ga­ben nur kärg­li­che Ant­wor­ten, als die Mut­ter mit schril­ler Stim­me die Ge­schich­te ih­rer Toch­ter wie­der­hol­te, nur noch mit be­un­ru­hi­gen­de­ren Ein­zel­hei­ten aus­ge­schmückt, un­ter Hin­zu­fü­gung ver­schie­dent­li­cher Ra­che­schwü­re ge­gen Herrn Glass, weil er Herrn Tod­hun­ter er­mor­det hat­te, so­wie ge­gen die­sen selbst, ein­mal, weil er sich hat­te er­mor­den las­sen, dann, weil er es ge­wagt hat­te, ihre Toch­ter hei­ra­ten zu wol­len, und nicht lan­ge ge­nug ge­lebt hat­te, um es zu tun. Sie schrit­ten durch die schma­le Ein­fahrt des Hau­ses, bis sie an die Tür des Mie­ters ge­lang­ten, wo Dok­tor Hood mit der Rou­ti­ne ei­nes al­ten De­tek­tivs sei­ne Schul­ter hart ge­gen die Tä­fe­lung press­te und sie ein­drück­te.

Man er­blick­te die Sze­ne ei­ner stum­men Ka­ta­stro­phe. Schon auf den ers­ten Blick hin konn­te nie­mand dar­über im Zwei­fel sein, dass das Zim­mer der Schau­platz ei­nes auf­re­gen­den Zu­sam­men­sto­ßes zwi­schen zwei oder viel­leicht meh­re­ren Per­so­nen ge­we­sen war. Kar­ten wa­ren über den Tisch ver­streut oder la­gen am Bo­den um­her, als ob ein Spiel plötz­lich un­ter­bro­chen wor­den wäre. Zwei Wein­glä­ser stan­den, zum Trin­ken be­reit, auf ei­nem klei­nen Ne­ben­tisch­chen, aber ein drit­tes lag zer­bro­chen in ei­nem Stern von Glass­plit­tern auf dem Tep­pich. Ei­ni­ge Schrit­te da­von ent­fernt lag et­was, das ei­nem lan­gen Mes­ser oder ei­nem ge­ra­den, kur­z­en Schwert mit ei­nem ver­zier­ten und be­mal­ten Griff glich; auf die dunkle Schei­de fiel eben ein grau­er Licht­schim­mer aus dem da­hin­ter­lie­gen­den trüb­se­li­gen Fens­ter, aus dem man die schwar­zen Bäu­me sich von dem blei­er­nen Hin­ter­grund des Mee­res­s­pie­gels ab­he­ben sah. Ge­gen die an­de­re Ecke des Zim­mers hin war ein Zy­lin­der­hut zu Bo­den ge­rollt, als hät­te man ihn ge­ra­de je­man­dem vom Kopf ge­schla­gen; ja, die­ser Ein­druck war so stark, dass man er­war­te­te, er wür­de noch wei­ter rol­len. Doch in der Ecke da­hin­ter lag, wie ein hin­ge­wor­fe­ner Kar­tof­fel­sack und ver­schnürt wie ein Rei­se­korb, Herr Ja­mes Tod­hun­ter, mit ei­nem Kne­bel vor dem Mund und sechs oder sie­ben Stri­cken um Ell­bo­gen und Hand­ge­len­ke. Sei­ne brau­nen Au­gen wa­ren ge­öff­net und glit­ten leb­haft und schnell um­her.

Dok­tor Ori­on Hood macht einen Au­gen­blick lang an der Tür­schwel­le halt und trank die gan­ze Sze­ne stum­mer Ge­walt­tä­tig­keit mit gie­ri­gen Bli­cken. Dann schritt er schnell über den Tep­pich, hob den Zy­lin­der­hut auf und setz­te ihn mit ernst­haf­ter Mie­ne dem noch im­mer fest­ge­bun­de­nen Tod­hun­ter auf. Der Hut war ihm umso vie­les zu groß, dass er bei­na­he bis auf sei­ne Schul­tern her­ab­glitt.

»Herrn Glas­sens Hut«, sag­te der Dok­tor, der zu­rück­kom­mend mit ei­nem Ta­schen­ver­grö­ße­rungs­glas in den Hut hin­ein­blick­te. »Wie soll man die Ab­we­sen­heit die­ses Herrn Glass und die An­we­sen­heit sei­nes Hu­tes er­klä­ren? Denn Herr Glass scheint mit sei­nen Klei­dern nicht acht­los um­zu­ge­hen. Die­ser Hut hat eine ele­gan­te Fas­son und ist kunst­ge­recht ge­strie­gelt und ge­bürs­tet, ob­wohl er nicht ganz neu ist. Ein al­ter Dan­dy, wür­de ich an­neh­men.«

»Ja, du lie­ber Him­mel!«, rief Fräu­lein Mac Nab aus, »wol­len Sie nicht vor­erst den Mann von sei­nen Stri­cken be­frei­en?«

»Ich sage mit Ab­sicht ›al­t‹, ob­wohl ich es nicht mit vol­ler Ge­wiss­heit be­haup­ten kann«, fuhr der Mann der Wis­sen­schaft mit sei­nen Er­klä­run­gen fort, »und mei­ne Grün­de hier­für mö­gen et­was weit her­ge­holt er­schei­nen. Das mensch­li­che Haar fällt in sehr ver­schie­de­nem Maße aus, doch fällt es bei­na­he im­mer ein klein we­nig aus, und mit mei­nem Ver­grö­ße­rungs­glas könn­te ich die win­zi­gen Här­chen in ei­nem kürz­lich ge­tra­ge­nen Hut se­hen. Es sind kei­ne da, was mich zu der Ver­mu­tung führt, dass Herr Glass kahl ist. Nun, wenn dies zu­sam­men­ge­fasst wird mit der et­was krei­schen­den, zor­ni­gen Stim­me, von der Fräu­lein Mac Nab mit so großer Leb­haf­tig­keit er­zählt hat — Ge­duld, mei­ne Ver­ehr­tes­te, Ge­duld —, wenn wir den haar­lo­sen Hut zu­sam­men­neh­men mit dem Ton­fall, der se­ni­lem Zorn ei­gen ist, so kön­nen wir, glau­be ich, auf ein et­was vor­ge­schrit­te­nes Al­ter schlie­ßen. Nichts­de­sto­we­ni­ger war er ver­mut­lich kräf­tig, und er war bei­na­he si­cher­lich sehr groß. Ich könn­te mich bis zu ei­nem ge­wis­sen Grad auf die Ge­schich­te sei­nes frü­he­ren Er­schei­nens am Fens­ter stüt­zen — er wird da als der große Mann mit dem Zy­lin­der­hut be­zeich­net —, aber ich glau­be, ver­läss­li­che­re An­halts­punk­te zu ha­ben. Die­ses Wein­glas ist durch das gan­ze Zim­mer ge­schleu­dert wor­den, aber ei­ner der Sp­lit­ter liegt auf dem obers­ten Sims des Ka­mins. Dor­thin hät­te kein Stück­chen fal­len kön­nen, wenn das Glas von der Hand ei­nes ver­hält­nis­mä­ßig klei­nen Man­nes, wie es Herr Tod­hun­ter ist, ge­schleu­dert wor­den wäre.«

»Ne­ben­bei ge­sagt«, frag­te Pa­ter Brown, »könn­ten wir ei­gent­lich Herrn Tod­hun­ter nicht eben­so gut von sei­nen Stri­cken be­frei­en?«

»Wir sind noch nicht fer­tig mit dem, was uns das Trink­glas noch lehrt«, fuhr der Spe­zia­list fort. »Ich muss gleich sa­gen, dass die Kahl­heit und Ner­vo­si­tät des Herrn Glass eben­so gut von ei­nem aus­schwei­fen­den Le­ben wie vom Al­ter her­rüh­ren kann. Herr Tod­hun­ter ist, wie man be­merkt hat, ein stil­ler, spar­sa­mer Mann, im All­ge­mei­nen Absti­nenz­ler. Die­se Kar­ten und Wein­glä­ser ge­hö­ren nicht zu sei­nen all­täg­li­chen Ge­wohn­hei­ten; sie sind für einen be­son­de­ren Ge­fähr­ten vor­be­rei­tet wor­den. Aber wir kön­nen, wie die Din­ge nun ein­mal ste­hen, so­gar noch wei­ter ge­hen. Herr Tod­hun­ter mag oder mag nicht im Be­sitz die­ses Wein­ser­vices sein, aber es be­steht kein An­zei­chen da­für, dass er Wein be­sitzt. Wo­mit denn, soll­ten die­se Glä­ser ge­füllt wer­den? Ich wür­de so­fort an­neh­men mit ir­gend­ei­nem Schnaps oder Brannt­wein, viel­leicht von ganz be­son­de­rer Mar­ke, aus ei­nem Ta­schen­fla­kon des Herrn Glass. Wir ha­ben also die­ser­art so et­was wie das Bild des Man­nes oder sei­nes Typs vor uns: groß, ält­lich, ele­gant, aber ein we­nig ab­ge­tra­gen, si­cher­lich mit ei­ner ge­wis­sen Vor­lie­be für Spiel und star­ke Ge­trän­ke, ja viel­leicht nur mit ei­ner all­zu großen Vor­lie­be für sie. Herr Glass ist ein Herr, der in den Grenz­be­zir­ken der Ge­sell­schaft nicht un­be­kannt ist.«

»Hö­ren Sie«, rief die jun­ge Dame, »wenn Sie mich nicht hin­ge­hen las­sen, um die Stri­cke auf­zu­bin­den, so wer­de ich hin­aus­lau­fen und nach der Po­li­zei schrei­en.«

»Ich wür­de Ih­nen, Fräu­lein Mac Nab«, sag­te Dok­tor Hood sehr ernst, »nicht ra­ten, es mit der Po­li­zei gar so ei­lig zu ha­ben. Pa­ter Brown, ich bit­te Sie, die Mit­glie­der Ih­rer Ge­mein­de zu be­ru­hi­gen, um ih­ret­wil­len, nicht um mei­net­wil­len. Nun, wir ha­ben ei­ni­ges von der Er­schei­nung und dem Cha­rak­ter des Herrn Glass er­fah­ren; was sind die wich­tigs­ten Tat­sa­chen, die wir über Herrn Tod­hun­ter wis­sen? Es sind de­ren haupt­säch­lich Drei: dass er spar­sam ist, dass er mehr oder we­ni­ger wohl­ha­bend ist, und dass er ein Ge­heim­nis hat. Dies sind selbst­ver­ständ­lich die drei wich­tigs­ten Kenn­zei­chen ei­nes an­stän­di­gen Man­nes, von dem man et­was zu er­pres­sen sucht. Und si­cher­lich ist es eben­so klar, dass die ver­bli­che­ne Fein­heit, die lie­der­li­chen Ge­wohn­hei­ten und die krei­schen­de Reiz­bar­keit des Herrn Glass die un­ver­kenn­ba­ren Kenn­zei­chen je­ner Art von Leu­ten sind, die et­was von ihm er­pres­sen wol­len. Wir ha­ben die bei­den ty­pi­schen Fi­gu­ren ei­ner Schwei­ge­geldaf­fä­re; auf der einen Sei­te den eh­ren­wer­ten Mann mit ei­nem Ge­heim­nis, auf der an­de­ren den Wes­tend­gei­er mit dem Spür­sinn für ein Ge­heim­nis. Die­se bei­den Män­ner sind ein­an­der hier be­geg­net, ha­ben mit­ein­an­der ge­strit­ten, Waf­fen ge­braucht und Schlä­ge aus­ge­teilt.«

»Wol­len Sie die Stri­cke lö­sen?«, frag­te das Mäd­chen ei­gen­sin­nig.

Dok­tor Hood setz­te den Zy­lin­der­hut vor­sich­tig auf das Sei­ten­tisch­chen hin und schritt zu dem Ge­fan­ge­nen hin­über. Er un­ter­such­te ihn um­ständ­lich, ja er dreh­te ihn so­gar ein we­nig her­um, in­dem er ihn bei den Schul­tern auf­hob, aber er ant­wor­te­te nur: »Nein, ich glau­be, die­se Stri­cke wer­den ge­nü­gen, bis Ihre Freun­de, die Po­li­zis­ten, die Hand­schel­len brin­gen.«

Pa­ter Brown, der teil­nahms­los auf den Tep­pich ge­st­arrt hat­te, hob nun sein run­des Ge­sicht und sag­te: »Was mei­nen Sie?«

Der Mann der Wis­sen­schaft hat­te das selt­sa­me, dolchar­ti­ge Schwert vom Bo­den auf­ge­ho­ben und be­trach­te­te es ge­nau, wäh­rend er ant­wor­te­te:

»Weil Sie Herrn Tod­hun­ter ge­bun­den auf­fin­den«, sag­te er, »sprin­gen Sie alle auf den Schluss los, dass ihn Herr Glass ge­bun­den hat und dann of­fen­bar ent­flo­hen ist. Da­ge­gen gibt es vier Ein­wän­de. Ers­tens, warum soll­te ein so wohl­ge­klei­de­ter Herr, wie un­ser Freund Glass, sei­nen Hut zu­rück­las­sen, wenn er aus frei­em Wil­len fort ist? Zwei­tens«, fuhr er, sich dem Fens­ter nä­hernd, fort, »ist dies der ein­zi­ge Aus­gang, und der ist von in­nen ver­schlos­sen. Drit­tens trägt die Klin­ge hier eine win­zi­ge Blut­spur an der Spit­ze, doch an Herrn Tod­hun­ter ist kei­ne Ver­wun­dung wahr­zu­neh­men. Herr Glass hat die­se Wun­de mit sich fort­ge­tra­gen, le­ben­dig oder tot. Fü­gen Sie zu all dem die ein­fachs­te Wahr­schein­lich­keit hin­zu. Es ist weit glaub­haf­ter, dass der­je­ni­ge, an dem eine Er­pres­sung ver­sucht wird, sei­nen Mit­schul­di­gen zu tö­ten sucht, als dass der Er­pres­ser die Gans zu tö­ten sucht, die sei­ne gol­de­nen Eier legt. Wir ha­ben hier, denk ich, eine ziem­lich voll­stän­di­ge Ge­schich­te.«

»Aber die Stri­cke?«, frag­te der Pries­ter, des­sen Au­gen in et­was aus­drucks­lo­ser Be­wun­de­rung weit ge­öff­net blie­ben.

»Ah, die Stri­cke«, sag­te der Ex­per­te mit ei­ner et­was ei­gen­tüm­li­chen Be­to­nung. »Fräu­lein Mac Nab woll­te so ger­ne wis­sen, warum ich Herrn Tod­hun­ter von sei­nen Stri­cken nicht be­freit habe. Nun, ich will es ihr er­zäh­len. Ich habe es nicht ge­tan, weil Herr Tod­hun­ter sich je­den be­lie­bi­gen Au­gen­blick selbst da­von be­frei­en kann.«

»Wie?«, rief die ge­sam­te Zu­hö­rer­schaft mit sehr ver­schie­de­nen Tö­nen des Er­stau­nens.

»Ich habe mir alle Kno­ten des Herrn Tod­hun­ter an­ge­se­hen«, be­gann Dok­tor Hood ru­hig von neu­em. »Ich ver­ste­he zu­fäl­lig et­was von Kno­ten; sie sind ein ganz spe­zi­el­ler Zweig der wis­sen­schaft­li­chen Kri­mi­na­lis­tik. Er hat je­den ein­zel­nen die­ser Kno­ten selbst ge­macht und könn­te sich da­her be­frei­en; kein ein­zi­ger ist von ei­nem Feind ge­macht wor­den, der die Ab­sicht hat­te, ihn wirk­lich fest­zu­bin­den. Die­se gan­ze Ge­schich­te mit den Stri­cken ist eine schlaue List, um uns glau­ben zu ma­chen, dass er das Op­fer des Kamp­fes ist und nicht der un­glück­li­che Herr Glass, des­sen Lei­che im Gar­ten ver­gra­ben oder im Ka­min ver­steckt sein mag.«

Es folg­te ein et­was ge­drück­tes Schwei­gen; im Zim­mer wur­de es all­mäh­lich dun­kel; die von der Meer­luft zer­fres­se­nen Zwei­ge der Bäu­me im Gar­ten drau­ßen sa­hen kah­ler und schwär­zer aus als je; doch schie­nen sie nä­her ans Fens­ter her­an­ge­kom­men zu sein.

Man konn­te sich bei­na­he ein­bil­den, es sei­en Seeun­ge­heu­er, wie Kra­ken oder Tin­ten­fi­sche, sich win­den­de Po­ly­pen, die vom Meer her­auf­ge­kro­chen wä­ren, um den Schluss die­ser Tra­gö­die mit an­zu­se­hen; ge­nau­so wie er, der Schur­ke und das Op­fer zu­gleich, der schreck­li­che Mann im Zy­lin­der­hut, einst vom Mee­re her­auf­ge­kro­chen war. Denn die gan­ze Luft war ge­schwän­gert von der Fäul­nis des Ver­bre­chens ei­ner Er­pres­sung, der fauls­ten al­ler mensch­li­chen Un­ta­ten, weil es ein Ver­bre­chen ist, das ein Ver­bre­chen ver­birgt.

Das Ge­sicht des klei­nen ka­tho­li­schen Pries­ters, das ge­wöhn­lich ver­bind­lich, zu­frie­den und ein we­nig ko­misch war, zog sich plötz­lich in selt­sa­me Fal­ten. Es war nicht die auf­rich­ti­ge Neu­gier­de sei­ner ur­sprüng­li­chen Un­schuld. Es war eher jene schöp­fe­ri­sche Neu­gier­de, die sich dann zeigt, wenn in ei­nem Men­schen ein Ge­dan­ke auf­däm­mert. »Sa­gen Sie das noch ein­mal«, bat er in un­ge­zier­ter und be­schäf­tig­ter Art; »mei­nen Sie, dass Tod­hun­ter sich ganz al­lein bin­den und wie­der be­frei­en kann?«

»Ja, das mei­ne ich«, sag­te der Arzt.

»Hei­li­ges Je­ru­sa­lem!«, rief Brown plötz­lich aus, »ich bin neu­gie­rig, ob es wirk­lich das sein kann!«

Er eil­te durch das Zim­mer wie ein Ka­nin­chen und starr­te mit ganz neu­er Leb­haf­tig­keit in das zum Teil ver­deck­te Ge­sicht des Ge­fan­ge­nen. Dann wen­de­te er der Ge­sell­schaft sein ei­ge­nes, et­was ein­fäl­ti­ges Ge­sicht zu. »Ja, so ist es!«, rief er in un­ver­kenn­ba­rer Er­re­gung. »Kön­nen Sie es auf des Man­nes Ant­litz nicht se­hen? Ja, schau­en Sie ihm doch ein­mal in die Au­gen!«

Bei­de, der Pro­fes­sor und das Mäd­chen, folg­ten der Rich­tung sei­nes Blickes. Und ob­wohl der brei­te schwar­ze Kne­bel die un­te­re Hälf­te von Tod­hun­ters Ge­sicht voll­stän­dig be­deck­te, be­merk­ten sie et­was Krampf­ar­ti­ges und Ge­spann­tes in den obe­ren Par­ti­en.

»Sei­ne Au­gen se­hen merk­wür­dig aus«, rief das jun­ge Mäd­chen auf­ge­regt. »Ihr ro­hen Men­schen, ihr; ich glau­be, er lei­det Schmer­zen!«

»Das nicht, denk ich«, sag­te Dok­tor Hood, »die Au­gen ha­ben si­cher­lich einen selt­sa­men Aus­druck. Aber ich wür­de die­se quer­ge­zo­ge­nen Fält­chen eher für den Aus­druck je­ner et­was ab­nor­ma­len, psy­cho­lo­gi­schen …«

»Ach, Un­sinn«, rief Pa­ter Brown, »se­hen Sie denn nicht, er lacht ja!«

»La­chen?« wie­der­hol­te der Arzt über­rascht, »wor­über in al­ler Welt soll­te er denn la­chen?«

»Nun«, er­wi­der­te der hoch­wür­di­ge Herr Pa­ter Brown in ent­schul­di­gen­dem Ton, »um es nicht all­zu scharf zu be­to­nen: Ich glau­be, er lacht über Sie. Und wirk­lich, ich bin ge­neigt, über mich selbst zu la­chen, jetzt, da ich es weiß.«

»Jetzt, da Sie was wis­sen?«, frag­te Hood ein we­nig ver­zwei­felt. »Jetzt«, er­wi­der­te der Pries­ter, »da ich Herrn Tod­hun­ters Be­ruf ken­ne.«

Er schob im Zim­mer her­um und be­sah sich einen Ge­gen­stand nach dem an­de­ren mit an­schei­nend aus­drucks­lo­sen Bli­cken und brach dann je­des Mal in eben­so sinn­lo­ses Ge­läch­ter aus — ein Be­neh­men, das für die ihn Beo­b­ach­ten­den im höchs­ten Gra­de ir­ri­tie­rend war. Er lach­te mäch­tig über den Hut und noch weit lau­ter über das zer­bro­che­ne Glas, doch das Blut an der Schwert­spit­ze rief einen wahr­haft töd­li­chen Lach­krampf bei ihm her­vor. Dann wen­de­te er sich dem auf­ge­brach­ten Spe­zia­lis­ten zu.

»Dok­tor Hood«, rief er, »Sie sind ein großer Dich­ter! Sie ha­ben ein un­er­schaf­fe­nes We­sen aus dem Lee­ren her­vor­ge­ru­fen. Wie viel gött­li­cher ist dies, als wenn Sie nur die blo­ßen Tat­sa­chen auf­ge­spürt hät­ten! Wahr­haf­tig, die blo­ßen Tat­sa­chen sind im Ver­gleich dazu eher all­täg­lich und lä­cher­lich.«

»Ich habe kei­ne Ah­nung, wo­von Sie re­den«, sag­te Dr. Hood ein we­nig hoch­nä­sig; »mei­ne Tat­sa­chen sind alle un­wi­der­leg­lich, wenn auch nicht voll­stän­dig. Es mag viel­leicht der In­tui­ti­on oder der Dicht­kunst, wenn Sie den Aus­druck vor­zie­hen, ein Plätz­chen ein­ge­räumt wer­den, aber nur, weil die ent­spre­chen­den De­tails noch nicht fest­ge­stellt wer­den kön­nen. In der Ab­we­sen­heit des Herrn Glass …«

»Das ist es, das ist es«, sag­te der klei­ne Pries­ter und nick­te un­ge­mein eif­rig, »das ist das Ers­te, was fest­ge­legt wer­den muss: die Ab­we­sen­heit des Herrn Glass. Er ist so un­ge­mein ab­we­send, mei­ne ich«, füg­te er nach­denk­lich hin­zu, »wie noch nie­mals je­mand ab­we­send war.«

»Mei­nen Sie viel­leicht sei­ne Ab­we­sen­heit von der Stadt?«, frag­te der Dok­tor.

»Ich mei­ne sei­ne Ab­we­sen­heit von über­all«, sag­te Pa­ter Brown; »er ist so­zu­sa­gen ab­we­send von der Na­tur al­ler Din­ge.«

»Mei­nen Sie ernst­lich«, sag­te der Spe­zia­list lä­chelnd, »dass es einen sol­chen Men­schen gar nicht gibt?«

Der Pries­ter mach­te eine be­ja­hen­de Be­we­gung. »’s ist scha­de, nicht?«, sag­te er.

Ori­on Hood brach in ein ver­ächt­li­ches La­chen aus. »Nun«, sag­te er, »be­vor wir zu den hun­dert­und­ei­nen an­de­ren Be­wei­sen über­ge­hen, las­sen Sie uns das ers­te Zei­chen neh­men, das wir ge­fun­den ha­ben; die ers­te Tat­sa­che, über die wir stol­per­ten, als wir in die­ses Zim­mer stol­per­ten. Wenn es kei­nen Herrn Glass gibt, wes­sen Hut ist das?«

»Er ge­hört Herrn Tod­hun­ter«, er­wi­der­te Brown.

»Aber er passt ihm nicht«, rief Hood un­ge­dul­dig aus. »Er könn­te ihn ja gar nicht tra­gen!«

Pa­ter Brown schüt­tel­te mit un­be­schreib­li­cher Nach­sicht den Kopf. »Ich habe ja nie be­haup­tet, dass er ihn tra­gen kön­ne«, ant­wor­te­te er. »Ich habe ge­sagt, dass der Hut ihm ge­hö­re. Oder, wenn Sie auf dem Schim­mer ei­nes Un­ter­schieds be­ste­hen, dass er der Ei­gen­tü­mer des Hu­tes sei.«

»Und wo ist der Schim­mer ei­nes Un­ter­schie­des?«, frag­te der Kri­mi­no­lo­ge lei­se grin­send.

»Mein Gott, Herr«, rief der nach­sich­ti­ge klei­ne Mann, zum ers­ten Mal mit ei­ner Be­we­gung, die der Un­ge­duld na­he­kam, »wenn Sie die Stra­ße hin­un­ter­ge­hen wol­len bis zum nächs­ten Hut­ge­schäft, so wer­den Sie se­hen, dass nach dem all­ge­mei­nen Sprach­ge­brauch ein Un­ter­schied ist zwi­schen den Hü­ten, die ei­nem ge­hö­ren, und sol­chen, de­ren Ei­gen­tü­mer man ist.«

»Ja, aber ein Hut­ma­cher«, wen­de­te Hood ein, »kann aus sei­nem La­ger an neu­en Hü­ten Ka­pi­tal schla­gen. Was soll­te Tod­hun­ter aus sei­nem einen al­ten Hut her­aus­schla­gen?«

»Ka­nin­chen«, er­wi­der­te Pa­ter Brown schlag­fer­tig.

»Was?«, rief Dok­tor Hood.

»Ka­nin­chen, Bän­der, Ku­chen, Gold­fi­sche, gan­ze Rol­len bun­ter Pa­pie­re«, sag­te der hoch­wür­di­ge Herr schnell. »Ha­ben Sie das nicht gleich er­kannt, als Sie auf die List mit den Stri­cken ka­men? Und ge­nau­so ist es mit dem Schwert. Herr Tod­hun­ter trägt kei­ne Ver­wun­dung an sich, wie Sie ge­sagt ha­ben; aber er trägt sie in sich, wenn Sie mich rich­tig ver­ste­hen.«

»Mei­nen Sie in­nen, un­ter sei­nen Klei­dern?«, er­kun­dig­te sich Frau Mac Nab ernst­haft.

»Ich mei­ne nicht in­nen, un­ter sei­nen Klei­dern«, sag­te Pa­ter Brown. »Ich mei­ne in­nen, in Herrn Tod­hun­ter.«

»Nun was, um Him­mels wil­len, mei­nen Sie?«

»Herr Tod­hun­ter«, er­klär­te Pa­ter Brown sanft, »übt sich in dem Be­ruf ei­nes Zau­be­rers, Jong­leurs, Bauch­red­ners und Ex­per­ten in Kunst­stücken mit dem Seil. Ei­nen Hin­weis auf den Zau­be­rer stellt der Hut dar. Der Hut trägt kei­ne Spu­ren von Haa­ren an sich, nicht weil er von dem früh­zei­tig kahl ge­wor­de­nen Herrn Glass ge­tra­gen wird, son­dern weil er nie­mals von ir­gend­je­mand ge­tra­gen wor­den ist. Für das Jonglie­ren spre­chen die drei Glä­ser, die Herr Tod­hun­ter in die Luft zu wer­fen und im Schwung auf­zu­fan­gen übte. Aber da er eben noch im Sta­di­um des Übens ist, zer­schlug er ein Glas am Pla­fond. Auf das Jonglie­ren deu­tet auch das Schwert hin, das zu ver­schlu­cken Herrn Tod­hun­ters be­rufs­mä­ßi­ge Pf­licht und sein Stolz war. Aber wie­der­um, da er noch im Sta­di­um des Übens ist, ritz­te er sich leicht an der In­nen­sei­te des Hal­ses mit der Waf­fe. Da­rum trägt er eine Wun­de in sich, die, wie ich nach sei­nem Ge­sichts­aus­druck mit Si­cher­heit be­ur­tei­len kann, nicht ernst ist. Er übte sich auch in dem Kunst­griff, der von den Brü­dern Da­ven­port7 vor­ge­führt wur­de: sich von Stri­cken zu be­frei­en, die ihn fest um­schnür­ten. Er war eben dar­an, als wir alle ins Zim­mer platz­ten. Die Kar­ten die­nen na­tür­lich zu Kar­ten­kunst­stücken, und sie lie­gen ver­streut am Bo­den, weil er den Trick stu­dier­te, sie durch die Luft flie­gen zu las­sen. Er mach­te aus sei­nem Be­ruf nur dar­um ein Ge­heim­nis, weil er sei­ne Kunst­grif­fe ge­heim hal­ten muss­te, wie je­der an­de­re Zau­be­rer. Aber die blo­ße Tat­sa­che, dass ein Mü­ßig­gän­ger in ei­nem Zy­lin­der­hut ein­mal zu sei­nem Hin­ter­fens­ter her­ein­ge­guckt hat und mit großer Em­pö­rung von Sei­ten Tod­hun­ters von dort weg­ge­jagt wur­de, ge­nüg­te, um uns alle auf eine falsche, ro­man­ti­sche Spur zu füh­ren, so­dass wir uns ein­bil­de­ten, sein gan­zes Le­ben ste­he im Schat­ten des Ge­s­pens­tes mit dem Zy­lin­der­hut des Herrn Glass.«

»Und wie ist’s mit den zwei Stim­men?«, frag­te Mag­gie mit wei­tauf­ge­ris­se­nen Au­gen.

»Ha­ben Sie noch nie einen Bauch­red­ner ge­hört?«, frag­te Pa­ter Brown. »Wis­sen Sie nicht, dass sie zu­erst in ih­rer na­tür­li­chen Stim­me spre­chen und sich dann selbst ge­nau in die­ser schril­len, krei­schen­den, un­na­tür­li­chen Stim­me ant­wor­ten, die Sie ge­hört ha­ben?«

Es trat ein lan­ges Schwei­gen ein, und Dok­tor Hood be­trach­te­te den klei­nen Mann, der eben ge­spro­chen hat­te, auf­merk­sam mit ei­nem fins­te­ren Lä­cheln. »Sie sind si­cher­lich ein sehr ge­nia­ler Mensch«, sag­te er; »man hät­te es in ei­nem Buch nicht klü­ger ma­chen kön­nen. Aber es ist noch et­was da von die­sem Herrn Glass, was Sie nicht we­g­er­klä­ren konn­ten: sein Name. Fräu­lein Mac Nab hat deut­lich ge­hört, wie ihn Herr Tod­hun­ter so an­sprach.« Der hoch­wür­di­ge Herr Pa­ter Brown brach in ein bei­na­he kin­di­sches Ge­ki­cher aus. »Nun, das«, sag­te er, »ist das Dümms­te an die­ser gan­zen dum­men Ge­schich­te. Als un­ser Freund hier, der Jong­leur, sei­ne drei Glä­ser der Rei­he nach in die Luft warf, zähl­te er sie laut, wäh­rend er sie wie­der auf­fing; in Wirk­lich­keit sag­te er: ›Eins, zwei und drei — her ein Glas! Eins, zwei — her ein Glas!‹ Und so wei­ter.«

Es war einen Au­gen­blick lang still im Zim­mer, und dann bra­chen alle, wie auf ein Zei­chen, in La­chen aus. Wäh­rend­des­sen knüpf­te die Ge­stalt in der Ecke wohl­ge­fäl­lig alle Stri­cke auf und warf sie in wei­tem Bo­gen zu Bo­den. Dann trat er mit ei­ner Ver­beu­gung mit­ten ins Zim­mer, zog aus der Ta­sche einen großen blau und rot be­druck­ten Zet­tel her­vor, der an­kün­dig­te, dass SALADIN, der größ­te Zau­be­rer, Schlan­gen­mensch und Bauch­red­ner der Welt, am nächs­ten Mon­tag, pünkt­lich acht Uhr abends, im Kai­ser­pa­vil­lon in Scar­bo­rough eine Vor­stel­lung mit voll­stän­dig neu­em Pro­gramm und bis­her noch nie vor­ge­führ­ten Kunst­stücken ge­ben wür­de.

bri­ti­sche See­stadt und See­bad  <<<

Un­ter­bau (Archi­tek­tur)  <<<

Per­cy Byss­he Shel­ley (1792–1822) war ein bri­ti­scher Schrift­stel­ler der Ro­man­tik. Er war ein Ver­fech­ter des Athe­is­mus.  <<<

Geoffrey Chau­cer (ca. 1340–1400), eng­li­scher Dich­ter. Haupt­werk wa­ren die (un­voll­en­de­ten) Can­ter­bu­ry Ta­les.  <<<

Ober­bür­ger­meis­ter  <<<

bo­ta­ni­scher Gar­ten in Lon­don  <<<

Be­kann­te Zir­kus­künst­ler der da­ma­li­gen Zeit  <<<

Das Paradies der Diebe (The Paradise of Thieves)

Der große Mus­ca­ri, der ori­gi­nells­te al­ler tos­ka­ni­schen Dich­ter, be­trat schnel­len Schrit­tes sein Lieb­lings­re­stau­rant, das eine herr­li­che Aus­sicht auf das Mit­tel­län­di­sche Meer bot, mit ei­ner Son­nen­pla­che1 über­deckt und von klei­nen Zitro­nen- und Oran­gen­bäu­men um­säumt war. Kell­ner in wei­ßen Schür­zen leg­ten be­reits auf weiß­ge­deck­ten Ti­schen die In­si­gni­en ei­nes früh­zei­ti­gen und ele­gan­ten Lunchs zu­recht; und dies schi­en bei Mus­ca­ri ein Ge­fühl der Be­frie­di­gung noch zu ver­stär­ken, das schon bei­na­he an Prah­le­rei grenz­te. Mus­ca­ri hat­te eine Ad­ler­na­se wie Dan­te, Haa­re und Kra­wat­te wa­ren schwarz und flat­ternd; er trug einen schwar­zen Man­tel und hät­te bei­na­he eine schwar­ze Mas­ke tra­gen kön­nen, so sehr um­gab ihn die At­mo­sphä­re ei­nes ve­ne­zia­ni­schen Me­lo­dra­mas. Er be­nahm sich, als näh­me ein Trou­ba­dour im­mer noch eine so be­stimm­te so­zia­le Stel­lung ein wie ein Bi­schof. Er ging, so­weit es sein Jahr­hun­dert zuließ, buch­stäb­lich wie Don Juan mit Ra­pier und Gi­tar­re durch die Welt.

Denn er reis­te nie­mals ohne sein Etui mit den De­gen, mit­tels de­ren er vie­le glän­zen­de Duel­le aus­ge­foch­ten hat­te, und nie­mals ohne sein zwei­tes Etui mit der Man­do­li­ne, auf der er Fräu­lein Ethel Har­ro­ga­te, der un­ge­mein kon­ven­tio­nel­len Toch­ter ei­nes Ban­kiers aus Yorks­hi­re, auf ei­ner Fe­ri­en­rei­se wirk­lich und wahr­haf­tig Se­re­na­den dar­ge­bracht hat­te. Und doch war er we­der ein Schar­la­tan noch ein Kind; son­dern ein heiß­blü­ti­ger, lo­gisch den­ken­der La­tei­ner, der eine Sa­che lieb­te und für sie ein­stand. Sei­ne Ge­dich­te wa­ren so ein­fach und klar wie an­de­rer Leu­te Pro­sa. Er ver­lang­te nach Ruhm oder Wein oder Frau­en­schön­heit mit ei­ner so bren­nen­den Un­mit­tel­bar­keit, wie sie für die ne­bel­haf­ten Idea­le oder ne­bel­haf­ten Kom­pro­mis­se des Nor­dens bei­na­he un­ver­ständ­lich ist; für Ras­sen mit ver­schwom­me­ne­rem Emp­fin­den roch die In­ten­si­tät sei­nes Ver­lan­gens nach Ge­fahr, ja nach Ver­bre­chen. Wie das Feu­er oder das Meer war er zu ein­fach und ur­sprüng­lich, als dass man ihm ver­trau­en konn­te.

Der Ban­kier und sei­ne schö­ne Toch­ter wohn­ten in dem Ho­tel, zu dem Mus­ca­ris Re­stau­rant ge­hör­te; dar­um war es sein Lieb­lings­re­stau­rant. Nach ei­nem flüch­tig um­her­ge­wor­fe­nen Blick er­kann­te er je­doch so­fort, dass die eng­li­sche Ge­sell­schaft noch nicht her­un­ter­ge­kom­men war. Das Re­stau­rant fun­kel­te und glit­zer­te, war aber noch ver­hält­nis­mä­ßig leer. Zwei Pries­ter spra­chen mit­ein­an­der an ei­nem Tisch in ei­ner Ecke, doch Mus­ca­ri ach­te­te ih­rer nicht mehr als ei­nes Paa­res Krä­hen. Aber von ei­nem noch wei­ter ent­fern­ten Platz, der durch ein Zwerg­bäum­chen voll gol­de­ner Oran­gen halb ver­deckt war, er­hob sich eine Ge­stalt, de­ren Klei­dung in auf­fallends­tem Ge­gen­satz zu der des an­de­ren stand, und nä­her­te sich dem Dich­ter.

Die­se Ge­stalt trug einen bunt­ka­rier­ten An­zug, eine ro­sa­far­be­ne Kra­wat­te, einen stei­fen Kra­gen mit spit­zen Ecken und leuch­tend gel­be Schu­he. Der Mann brach­te es zu­we­ge, auf­fal­lend und ge­wöhn­lich zu­gleich aus­zu­se­hen. Doch als die­se Lon­do­ner Er­schei­nung nä­her kam, muss­te Mus­ca­ri mit Stau­nen be­mer­ken, dass der Kopf sich vom Kör­per gar sehr un­ter­schied. Es war ein ita­lie­ni­scher Kopf, dun­kel­far­big, kraus­haa­rig und un­ge­mein leb­haft, der sich plötz­lich aus dem wie Pap­pen­de­ckel em­por­ste­hen­den Kra­gen und der ko­mi­schen ro­sa­far­be­nen Kra­wat­te er­hob. Es war tat­säch­lich ein Kopf, den er kann­te. Er er­kann­te ihn, trotz der schreck­li­chen Auf­ma­chung ei­nes eng­li­schen Fe­ri­en­rei­sen­den; es war das Ge­sicht ei­nes al­ten, doch ver­ges­se­nen Freun­des na­mens Ezza. Die­ser Jüng­ling war auf der Schu­le ein Wun­der ge­we­sen; man hat­te ihm, als er fünf­zehn war, den Ruhm ganz Eu­ro­pas vor­aus­ge­sagt; doch als er in der Welt er­schi­en, ver­sag­te er erst öf­fent­lich als Dra­ma­ti­ker und De­m­ago­ge und dann pri­vat in al­len dar­auf­fol­gen­den Jah­ren als Schau­spie­ler, Rei­sen­der, Agent und Jour­na­list. Mus­ca­ri hat­te ihn zu­letzt hin­ter den Ram­pen­lich­tern ge­se­hen; Ezza war nur zu gut ver­traut mit den Reiz­mit­teln die­ses Be­ru­fes, und man glaub­te, dass ihn ir­gend­ein mo­ra­li­sches Un­heil be­fal­len habe.

»Ezza!«, rief der Dich­ter, stand auf und schüt­tel­te ihm in an­ge­neh­mer Über­ra­schung die Hän­de. »Nun, ich habe dich in vie­len Ko­stü­men ge­se­hen, aber ich hät­te nie er­war­tet, dich als Eng­län­der ver­klei­det zu se­hen.«

»Dies«, ant­wor­te­te Ezza ernst, »ist nicht das Ko­stüm ei­nes Eng­län­ders, son­dern das des Ita­li­e­ners der Zu­kunft.«

»In die­sem Fal­le«, be­merk­te Mus­ca­ri, »muss ich ge­ste­hen, dass ich den Ita­lie­ner der Ver­gan­gen­heit vor­zie­he.«

»Das ist dein al­ter Feh­ler, Mus­ca­ri«, sag­te kopf­schüt­telnd der Mann im ka­rier­ten An­zug. »Und der Feh­ler Ita­li­ens. Im sech­zehn­ten Jahr­hun­dert wa­ren wir To­s­ka­ner der auf­ge­hen­de Mor­gen: Wir hat­ten den neues­ten Stahl, die neues­ten Schnit­ze­rei­en, die neues­ten Che­mi­ka­li­en. Wa­rum soll­ten wir jetzt nicht die neues­ten Fa­bri­ken ha­ben, die neues­ten Mo­to­ren, die neues­ten Finan­zen — und die neues­ten Klei­der?«

»Weil es nicht lohnt, sie zu ha­ben«, ant­wor­te­te Mus­ca­ri. »Du kannst Ita­li­en nicht zu ei­nem wirk­lich fort­schritt­li­chen Land ma­chen; die Leu­te sind zu klug dazu. Men­schen, wel­che die Ab­kür­zungs­we­ge zu ei­nem gu­ten Le­ben ken­nen, wer­den nie­mals jene neu­en, mü­he­vol­len Stra­ßen wan­dern.«

»Nun, für mich ist Mar­co­ni2 und nicht d’An­nun­zio der Stern Ita­li­ens«, sag­te der an­de­re. »Da­rum bin ich Fu­tu­rist ge­wor­den und Rei­se­füh­rer.«

»Rei­se­füh­rer!«, rief Mus­ca­ri la­chend aus. »Ist das der letz­te Be­ruf auf dei­ner Lis­te? Und wen führst du?«

»Oh, einen Men­schen na­mens Har­ro­ga­te mit sei­ner Fa­mi­lie, glau­be ich.«

»Doch nicht etwa den Ban­kier, der hier im Ho­tel wohnt?«, frag­te der Dich­ter mit ei­ni­gem Ei­fer.

»Ja, das ist mein Mann«, ant­wor­te­te der Rei­se­füh­rer.

»Ist das ein ein­träg­li­ches Ge­schäft?«, frag­te der Trou­ba­dour un­schul­dig.

»Ich wer­de auf mei­ne Kos­ten kom­men«, rief Ezza mit sehr rät­sel­haf­tem Lä­cheln. »Aber ich bin ein et­was merk­wür­di­ger Rei­se­füh­rer.« Dann, als woll­te er das The­ma wech­seln, sag­te er ziem­lich un­ver­mit­telt: »Er hat eine Toch­ter — und einen Sohn.«

»Die Toch­ter ist gött­lich«, be­stä­tig­te Mus­ca­ri, »Va­ter und Sohn sind, glaub’ ich, nur mensch­lich. Aber, sei­nen harm­lo­sen Cha­rak­ter zu­ge­ge­ben, fällt es dir nicht auf, dass die­ser Ban­kier ein wun­der­ba­res Bei­spiel für mei­ne Be­haup­tung ist? Har­ro­ga­te hat Mil­lio­nen in sei­nen Sa­fes, und ich habe — ein Loch in mei­ner Ta­sche. Aber du wirst nicht sa­gen wol­len — du kannst nicht sa­gen —, dass er klü­ger ist als ich, oder küh­ner oder auch nur rüh­ri­ger. Er ist nicht klug; er hat Au­gen, die wie blaue Knöp­fe aus­se­hen; er ist nicht rüh­rig, er be­wegt sich von ei­nem Stuhl zum an­de­ren wie ein Pa­ra­ly­ti­ker. Er ist ein ge­wis­sen­haf­ter, freund­li­cher al­ter Dumm­kopf; aber er hat Geld er­wor­ben, ein­fach weil er Geld sam­melt, wie ein Kna­be Mar­ken sam­melt. Du bist zu geist­reich, um Ge­schäf­te zu ma­chen, Ezza. Du wür­dest nicht vor­wärts­kom­men. Um klug ge­nug zu sein, all das Geld zu­sam­men­zu­krie­gen, muss man dumm ge­nug sein, es zu wün­schen.«

»Dazu bin ich dumm ge­nug«, sag­te Ezza düs­ter. »Aber ich wür­de vor­schla­gen, dei­ne Kri­tik des Ban­kiers auf­zu­schie­ben, denn da kommt er eben.«