Pilgern - Walter Gerten - E-Book

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Walter Gerten

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Beschreibung

Mystiker, Landstreicher, Vagabund, Müßiggänger, - für den Erzähler ist Antoine, den er erst kurz zuvor kennen gelernt hat, alles in Personalunion. Und Schriftsteller ist er obendrein. Doch Antoine selbst sieht sich als Forscher, der am eigenen Leib die Möglichkeiten und Chancen einer solchen Lebensweise ergründen will. Es dauert nicht lange, da wird die Faszination, die von Antoine ausgeht, für den Erzähler zum Anreiz und er steigt ebenfalls aus dem gewohnten Alltag aus und ergründet auf dessen Spuren seine sich bald verändernden Wahrnehmungen.

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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Walter Gerten

Pilgern

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Pilgern

Pilgern

 

von Walter Gerten

© 2022 Walter Gerten. Alle Rechte vorbehalten. Autor: Walter Gerten [email protected]

Dieses E-Book, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne Zustimmung des Autors nicht vervielfältigt, wieder verkauft oder weitergegeben werden. Text, Zeichnungen, Bilder und Fotos von Walter Gerten. © 2022 Walter Gerten

 

Der Autor:

Walter Gerten lebt seit vielen Jahren in der ländlichen Südeifel. Als Autor betätigt er sich seit dem Jahr 1999. In der Anfangsphase, ab 2000 bis 2003 nahm er an einer intensiven Schreibwerkstatt teil, es folgten Lesevorträge. Daneben betreibt er seit dem Studium Malerei und Grafik, die ebenfalls teilweise als Illustration Einzug in seine Schriftwerke findet.

 

 

 

Weitere Romane:

Manfred Wilt und der Tote am Fluss Manfred Wilt und die Rocker Der Bote des Zarathustra Monte Nudo Unterwegs mit Tom Kerouac Ich bin ein Schiff Die Sternenbücher 1 Professor Montagnola Die Sternenbücher 2 Akba Die Sternenbücher 3 Die dunkle Seite des Mondes Die Sternenbücher 4 Der Sinn des Lebens Die Sternenbücher 5 Planet der Phantome Die Sternenbücher 6 Das Nichts Die Sternenbücher 7 Tod eines Springers Die Sternenbücher 8 Paradise2 Die Sternenbücher 9 Solitan Die Sternenbücher 10 Das Symbol für Solitan Die Sternenbücher 11 Das Ubewu Die Sternenbücher 12 Ich und Es Die Sternenbücher 13 Der dreizehnte Stern Die Sternenbücher 14 Die Raumzeit Die Sternenbücher 15 Selbst Ich Die Sternenbücher 16 Vergehen und Werden Die Sternenbücher 17 Die zweite Reise zum JETZT Die Sternenbücher 18 Marielle

Die Sternenbücher 19 Arkadien Die Sternenbücher 20 Das letzte Abenteuer

Die philosophischen Romane: Lust Pilgern Scheitern Irritation Ehrlichkeit Stille

 

 

 

Inhalt

Das Buch

 

Mystiker, Landstreicher, Vagabund, Müßiggänger, - für den Erzähler ist Antoine, den er erst kurz zuvor kennen gelernt hat, alles in Personalunion. Und Schriftsteller ist er obendrein. Doch Antoine selbst sieht sich als Forscher, der am eigenen Leib die Möglichkeiten und Chancen einer solchen Lebensweise ergründen will. Es dauert nicht lange, da wird die Faszination, die von Antoine ausgeht, für den Erzähler zum Anreiz und er steigt ebenfalls aus dem gewohnten Alltag aus und ergründet auf dessen Spuren seine sich bald verändernden Wahrnehmungen.

 

Vorwort

 

Wir haben nun, lieber Leser, liebe Leserin, eine gewisse vertraute Basis, auf der uns nichts Unverhofftes mehr trennen kann. Nach der Betrachtung der „Lustphilosophie“ gäbe es jetzt die Möglichkeit eines weiteren Abenteuers im reflektorischen Leben, das wir führen. Wir befinden uns „normalerweise“, also im sogenannten Alltag, in einem ständigen Entscheidungsprozess mit den unterschiedlichsten Randbedingungen. Mal betreffen sie körperliche Funktionen wie Hunger, Müdigkeit, Lust, Unlust, Bewegungsdrang, Faulheit, - mal kreisen sie um die Planung unserer näheren oder ferneren Zukunft. Mal - selten - betreten wir das Gebiet reiner Anarchie, auf dem wir wild schreiend alle Fäden zerreißen, die uns fesseln. Dann regiert die wilde Wut, der animalische Instinkt, der große Befreiungsschlag. Wir zerschlagen alles, was uns von dem trennt, das wir benötigen für unser Ganzheitsgefühl. Das sind die Momente sagenhafter Impulsivität, die wir vermissen, wenn wir nicht auf ihre Ankündigungen hören. Doch bringt ihre Umsetzung keineswegs Glückseligkeit, sondern eher einen Hagelschlag, wie er bei heftigen Gewittern Schäden hinterlässt. Begleitet ist der Impuls, die Entladung, von einer massiven Forderung, die dahinter steht: Unser Ego will sich ins rechte Licht gerückt sehen. Sein Recht sieht es bedroht. Sein Licht ist nicht zentriert. Die Zeit bis zu seinem finalen Dahinsterben will es nutzen, um gehörig auf sich aufmerksam zu machen. Notfalls, wenn die Gedanken mitspielen, leugnet es eben dieses finale Hinsterben. All das hat gute Gründe.

 

Kapitel 1

1.

 

Der Himmel verfärbte sich gelb. Wolkenschleier nahmen bereits den rötlichen Ton der längst hinter dem Horizont verschwundenen Sonne an. Über die Landschaft wälzte sich der Klang malmender Mähdrescher, die das reife Korn in die riesigen Anhänger der Traktoren bliesen. Es war Hochsommer. Nur der unbedarfte Städter hätte die Geräusche einer romantischen Nostalgie anheim gestellt. Für die Landbewohner selbst, die vom Land lebten, war es ein Klingen von Zahlen, Erträgen, Erwartungen.

In den Tälern war die Hitze des Tages noch nicht verflogen und in den Steinschluchten der Städte machte man sich bereit für die Bummeltour entlang der Cafés und Restaurants. Abseits gab es eine dritte Welt: die Natur und ihre zurecht gestutzte Wildnis. Von den Peripherien der Wälder drang das Malmen hinein und störte den Übergang von Tages- und Nachtaktivitäten. Junge Rehkitze trabten vorlaut hinaus auf die Feldlichtungen und zuckten irritiert mit den Ohren. Die heurigen Hasen rannten feurig entlang schattiger Heckenränder und Füchse unterbrachen ihr Spiel für eine Begutachtung der staubigen Angelegenheit.

 

Ein Wanderer rückte die Gurte seines Rucksacks zurecht und wählte einen abseitigen Feldweg, um der störenden Arbeitstätigkeit zu entgehen. Im abnehmenden Licht folgte er einem Pfad, der den schmalen Bach bergan begleitete, die Belebtheit der Täler mied und in die gemäßigten Höhen der Bergrücken führte. Er hoffte, dort einen ruhigen Platz für die Nacht zu finden.

Der Mann wusste, dass er keine Probleme haben würde. Allenfalls ein eitler Jäger würde den Drang verspüren, ihn zurechtzuweisen. Alle anderen Vertreter der menschlichen Gemeinschaft waren ihm gegenüber zwar nicht grundlegend wohlgesonnen eingestellt, einige sogar mit Misstrauen und Abscheu, andere wiederum mit Verständnis, aber zumindest neutral, mit gewisser Bewunderung. Man mochte ihn für einen Pilger halten, der in Glaubensmission unterwegs war, - dieser Irrtum war ihm recht und er würde ihn nicht zurechtrücken, wenn er auf irgendeiner Bank auf seine Ziele oder seine Beweggründe angesprochen wurde.

In gewisser Weise identifizierte dieser spezielle Vagabund sich statt mit der Pilgerbewegung mit der bereits genannten dritten Welt, der Wildnis. Sie stand für ihn in gewisser Distanz zu Stadt und Land und er beobachtete im Vorbeigehen beide mit einer um Verständnis bemühten Neugier. Was bewegte jene Wesen, die dort lebten? Waren es natürliche, leicht verständliche Gründe, die ihre Entscheidungen, ihre Taten, ihre Gedanken, ihre Emotionen leiteten, oder waren jene zwei Welten fremd, mysteriös?

Das Mysterium war des Wanderers eigentlicher Beweggrund gewesen, seinen Weg zu wählen, der ihn in die Entfernung, die Distanzierung, die kritische Betrachtung geführt hatte und hin zu jenen Wesen, die schon immer, schon lange diese skeptische Vorsicht pflegten, die wilden Tiere. Der Mensch pflegte sich als Krone der „Schöpfung“ zu betrachten, als das Herrenwesen, das alle anderen an Fähigkeiten, Wissen, Bewusstsein und Macht weit übertraf. Aber war nicht die Katze, - ja, die normale, rassenreine oder gemischte Hauskatze, dieses Tier, das uns durch sein Spiel, seine Nähe, seine Art erfreute -, möglicherweise ein Wesen, das genau diese Selbsteinschätzung ebenfalls verinnerlichte?

 

Egal, es war nicht wichtig für den Menschen, den ich an jenem Abend traf, als die Mähdrescher der Landwirte über die Felder der schönen Südeifel brummten und ihre Ernte einfuhren. „Sehet die Vögel des Himmels“, zitierte er, als ich ihn fragte, wohin er zu gehen begehrte. Also wusste ich, dass er ein anderes Ziel hatte, als die Erfüllung eines einzuhaltenden Termins. Er war etwa so alt wie ich und sein Gesicht war faltig und gefurcht von Krähenfüßen, die lustig um seine Augen spielten. Welche Mission ihn beflügelte, wollte ich wissen, aber er gab zu, dass er völlig ohne Auftrag und nur im Interesse eines eigensüchtigen Begehrens unterwegs sei: der skeptischen Betrachtung all dessen, was seine Betrachtung anregen würde, also ohne Ausnahme aller Beobachtungsinhalte.

Ich bekundete meine Hochachtung und wollte die Grenzen dieser skeptischen Betrachtungsweise ausloten, indem ich ihn nach den Ausnahmen fragte, nach demjenigen Aspekt, der für ihn selbstverständlich sei, nicht zu kritisieren. Er verwies auf die körperlichen Belange, den Hunger, die Lust, die Unlust, die Faulheit, ähnliche Dinge … Ich lächelte und kaprizierte mich aus einer Laune heraus auf den Begriff der „Lust“; was denn diesbezüglich sein Begehren sei. Er grinste und entwarf ein Bild, das sich mit der Attraktivität der unabhängigen Lebensweise des Vagabunden beschäftigte und die damit verbundenen Möglichkeiten in Bezug auf das weibliche Geschlecht einbezog. Es war hoch-erotisch, jenes Bild, das seine Schilderung entfaltete, - und es eröffnete eine mir bis dato unbekannte Bereitschaft der Weiblichkeit, die völlige Unabhängigkeit des ziehenden Mannes als Chance zu sehen, Fantasien zu erwecken …

Damit war die Frage nach der körperlichen Seite beantwortet, vor allem, nachdem er mir die Bereitschaft jener Frauen schilderte, Nahrung und Getränke, Alkoholika, Annehmlichkeiten und Sonderannehmlichkeiten herbei zu schaffen. Es gab dort ein großes Potential an Möglichkeiten, von denen der Normalmensch, -mann, nichts wusste. Ich verzichtete auf weitere Ausmalung und befragte den zuvorkommenden Wanderer nach seinen weiteren Eckdaten. Er war natürlich nur zeitweise obdachlos. Sein Refugium im Süden Luxemburgs war in der Hinterhand aufnahmebereit, falls er scheitern würde mit seiner Vorstellung von Distanz.

Ich selbst hatte im Kontext bereits reichlich eigene Vorstellungen generiert und begann, ihn zu beneiden, obwohl ich kaum genaue Daten hatte, die seinen Erfolg auf erotischer Ebene illustrierten. Auch auf meine Psyche wirkte das Charisma der streunenden Lebensweise. Jener Mensch, - er hieß Antoine und kam aus Schengen -, repräsentierte eine Form des Daseins, das inert, insgeheim, latent jedem Menschen sympathisch, sogar archetypisch vorbildlich erscheinen mochte, - so dachte ich.

Antoine breitete oberhalb von Ralingen-Rosport seinen Schlafsack aus, während ich ihn beglückwünschte zu seiner Wahl, und lehnte sich gegen den vertrauenerweckenden Stamm einer Buche, deren Krone das Tal überragte. Von unten her hörten wir die Geräusche der Zivilisation, Verkehr, Musik, Stimmengewirr. Antoine beruhigte mich bezüglich seiner Bedürfnisse und des Sicherheitsaspektes und beschäftigte sich mit einem kleinen Notizheft, während ich mich entfernte.

 

Jedem Menschen ist ein eigener Weg zueigen, - was als Formel recht unsinnig klingt, weil es sich selbst bestätigt. Der Eine wäre gerne Speerwerfer, hat aber zu kurze Arme. Der Andere stellt sich vor, ein extrem guter Politiker sein zu können, besitzt aber nicht die Fähigkeit zur gelungenen Rede. Die Dritte hält sich für eine passable Schauspielerin, aber nur deshalb, weil sie sich gerne fotografieren lässt. Ich selbst wäre, wenn ich jemals die Möglichkeiten und Begleitumstände erlebt hätte, ganz gerne zeitweise ein Landstreicher gewesen. Und so sann ich über Antoine nach, während ich die zwei Kilometer über den nächsten Hügel nahm und zur Nacht heimkehrte. Stattdessen den Weg in die „Wildnis“ zu wählen, hätte etwas Anarchisches gehabt, doch ich fühlte es nicht aufsteigen.

Also wanderten meine Gedanken hinaus zu Antoine und beschäftigten sich mit Phantasien. Wie sah er, aus seiner Perspektive die Menschen, die „Herrenwesen“? Genügte seine Distanz, um ihr Tun und Denken skeptisch zu hinterfragen? Oder war er nur auf einer kurzen Auszeit, um sich danach wieder dem Kollektiv und seinen Strömungen anzuschließen? Der Skeptizismus hatte keinen guten Leumund, jedenfalls nicht in unseren Tagen und auch schon lange vorher nicht. Ihm wurde der Vorwurf gemacht, sich nicht zu positionieren. Der Vagabund, also der fiktive, typische Vagabund, war von vorne herein im Verdacht, das Treiben der Menschen skeptisch zu betrachten. Vermutlich war das auch schon zu Zeiten der Entstehung des Skeptizismus, also im antiken Griechenland so gewesen. Der Landstreicher war eine unverrückbare Form für das „Nein“ zur Zivilisation.

Anderntags traf ich Marguerite, eine Luxemburgerin, die hin und wieder auf ihren ausgedehnten Wanderungen den Weg auf den Berg wählte. Sie hatte Antoine getroffen und erzählte mir von ihrer Begegnung. Ich wusste bald, dass sie jenen Antoine meinte, den ich tags zuvor kennen gelernt hatte. Marguerite errötete leicht, während sie erzählte, aber ich mochte mir diese Farbnuance ebenso gut eingebildet haben. Immerhin entnahm ich ihrem Gebaren, ihrer Körpersprache, etwas mehr als ihren Worten, und mein Eindruck tendierte in eine bestimmte Richtung. Zudem schien es mir bereits am Anfang, als ich ihr gegenüber stand, dass sie kein Höschen trug unter dem leichten Sommerkleid. Marguerite ging beschwingt davon, ihren Rundwanderweg fest im Blick und den kleinen Rucksack mit unbekannten Zutaten auf dem braungebrannten Rücken. Es war ein schönes Bild.

 

Das bereits erwähnte Charisma, so wie es dem sauberen, nicht allzu zotteligen Wanderer anhaftete, war schon seit fünfzig Jahren ein ikonografisches Leitbild derer, die ausstiegen aus dem Zug, den das Kollektiv in Richtung Finanzen und Sicherheit, Luxus und Karriere bestiegen hatte, nachdem der zweite große Krieg und seine Ursachen erfolgreich verdrängt waren. Es war der gleiche Zug, der schon lange fuhr, schon immer fuhr, seit es kollektive Züge gab. Und die gab es schon vor der Erfindung der Dampfmaschine.

Ich selbst traf Antoine noch am selben Tag, als er den Berg herab kam und mich freudig begrüßte, um ein Glas Wasser bat, sich zusätzlich seine Flasche mit dem kühlen Trank füllte und im Schatten eine Weile ausruhte. Ich hatte ihm ein zweites kleines Frühstück angeboten, aber er zog es vor, auch mir eine vorsichtige Skepsis zu signalisieren und sich mit dem Schattenplatz zu begnügen. Ich setzte mich zu ihm und fragte ihn, wie er denn geschlafen habe, oberhalb von Rosport.

Bald entfaltete sich ein Gespräch, in dessen Verlauf er mir viele Dinge aus seinem Leben erzählte, ohne dass ich ihn dazu hätte ermuntern müssen. Er war lange die französischen Kanäle entlang geschippert, abseits der schnellen Routen. Er hatte Landschaften, Ortschaften in abgelegenen Gegenden gesehen, die abgehängt schienen vom Getriebe der üblichen Maschinerie. Er hatte erfahren, dass es Leben gab, das sich in der dritten Form entfaltete, nicht in der Welt der Städte und nicht in der Welt des Wirtschaftens auf dem Lande. Man hätte es für marginal, für unterschwellig, für nicht lohnenswert halten können, aber Antoine hatte erfahren, dass es möglich war, in jener Welt zu leben. Er sagte, es sei eine Phantasiewelt, weil die wirkliche Welt sie nicht für lohnend, für existent, für praktikabel hielte. Aber er betrachtete diese Aussagen skeptisch, denn es gäbe keine Hinweise darauf, dass die anderen Welten realer seien. Also, so sagte er, habe er sich für die Erforschung jenes Refugiums entschieden und so sei er in meiner Gegend gelandet, die er für recht überzivilisiert halte. Immerhin gäbe es noch Restbestände an Wildnis, die für einen Landstreicher gerade so genügten.

Antoine war ein Sohn aus reichem Haus. Seine Jugend hatte nach seiner eigenen Aussage aus dem üblichen Eingliedern bestanden, das man erwartete, wenn ein Mensch heranwuchs. Er sprach von einer schmerzhaften Phase, die er notgedrungen über sich hatte ergehen lassen, immer auf der Lauer, ob es nicht irgendwelche Alternativen im gesellschaftlichen Gefüge gäbe. Doch das Kollektiv entwarf sich selbst keine Kritiker. Und die Entwürfe, die es vorlegte, waren alternativlos, so behauptete es.

Für ihn blieb daher nur die Durchtrennung der Nabelschnur, wie er es malerisch formulierte. Mit Mitte Vierzig hatte er genug von der Maschinerie und kündigte. Seine Vorräte an Zahlungsmitteln erleichterten ihm den Entschluss. Ich schlug ihm vor, für ein paar Tage meine Einladung anzunehmen und unser Gästezimmer zu benutzen. Ich fand ihn interessant und verspürte Lust, ein wenig Zeit mit ihm zu verbringen. Nicht, weil er ein Abziehbild des archetypischen Vagabunden war, das mich blendete, - das war er gar nicht. Nein, ich tat es, weil ich keinen Grund sah, es zu tun, - also aus einer anarchischen Laune heraus. Aber Antoine war geschickt. Er machte einen Gegenvorschlag. Ich solle in seinem Gästezimmer logieren. Es sei oberhalb von Ralingen/Rosport gelegen und biete viel frische Luft für extrem wenig Geld. Marguerite könne die besonders gute Lage und die Nachbarschaft empfehlen. Er wisse, dass ich sie kenne, sie habe von mir berichtet.

 

Also waren bereits einige dünne Fäden geknüpft. Ich vermisste die Gesellschaft von Menschen seit ein paar Tagen, denn Sarah war mit ihrem Chor unterwegs. Ich kochte Kaffee für uns beide, trug ihn in den Garten, setzte mich zu Antoine in den Schatten und erkundigte mich nach den Bedingungen.

„Ein Schlafsack, eine Trinkflasche, nach Gusto etwas zu lesen, etwas Geld, etwas Brot, ein Taschenmesser, Feuerzeug, fertig!“

Ich suchte alles zusammen. Mein Herz pochte ein wenig, Der Kaffee war kalt, als ich fertig war. Er wollte zunächst noch ins Tal zum Fluss, um darin baden. Ich warnte ihn wegen der miesen Wasserqualität, also zogen wir den Gartenschlauch vor. Dann gingen wir bergan. Mein Nachbar staunte, die Neugier war ihm anzusehen, aber er nickte nur kurz. Dann lag die Zivilisation hinter uns. Malmende Geräusche von Erntemaschinen begleiteten uns noch eine Weile, doch bald entfernten sie sich und machten dem mittäglichen Gesang der Vögel Platz. Zwei Aussiedlerhöfe inmitten großer Felder lagen friedlich in der Sonne, auf den Weiden grasten Kühe, Schwalbenschwärme kreisten in der Thermik himmelwärts. Der Schrei eines Bussards verkündete seine Lust am Fliegen.

„Man könnte meinen, man erobere eine andere Welt, auch wenn man schon hunderte Male diesen Weg gegangen ist.“, sagte ich.

Tatsächlich beflügelte mich eine enorme Neugier, wie denn mein Erlebnishorizont sich entwickeln würde, unter diesen für ihn neuen Bedingungen.

„Keine Vorstellungen zu haben, ist eine schwere Übung.“, antwortete Antoine. Vermutlich würde er die Rolle des Erfahreneren spielen und ich diejenige des Neulings. Mir war es recht; es entsprach den Gegebenheiten. Aber es kam anders. Er selbst hatte diese Vorstellung seiner Rolle bereits „gerochen“ und beschrieb kurz, was sie ihm bedeutete.

„Das ist keine gute Ausgangsbasis, wenn ich dir gegenüber den Kenner gebe und dich damit in die Lage bringe, mir ehrfürchtig zu lauschen. Ich habe selbst keine Ahnung, was man wie tun sollte. Ich kenne nur mich selbst und meine Eindrücke. Wie sie sonst sind, weiß ich nicht. Und wie sie sein sollten, das lasse ich mir von niemandem sagen. Ich erzähle gerne, wie ich in meine derzeitige Lage geraten bin, aber nimm das nicht allzu wichtig. Es gibt Millionen anderer Möglichkeiten. Und wenn ich dich langweile, dann sag mir Bescheid. Ich höre dann auf.“

Er gab mir zu verstehen, dass er mich und meine Art zu leben mindestens genauso interessant fände, wie ich die seine, vermutlich sogar interessanter. Das ehrte mich und enthob mich meiner bereits gefassten Vorstellung unserer Rollen. Also schritten wir aus und redeten abwechselnd, ganz so, wie die Dynamik des Gesprächs uns führte. Es war, rückblickend, wie eine Musik, in der jeder Instrumentalist sich zurücknahm, wenn es darauf ankam, aber auch die Gelegenheit nutzte, wenn er impulsiv vorpreschen durfte.

 

Die letzten blauen Bereiche ergaben sich dem Grau, das aus den dunklen Wäldern und Tälern empor kroch und das Licht, die Farbe, verschlang. Gelb liniert von den Straßenlaternen lag ein Teil der Ortschaft unten in unserem Sichtbereich. Fledermäuse zirkelten gewagt entlang der Baumwipfel. Ein Käuzchen fühlte sich gestört. Die Geräusche der Menschen erstarben, abgesehen von wenigen Fahrzeugen auf den Talstraßen. Dann wurde es Nacht.

Doch Antoine und ich hatten noch keine Lust, zu schlafen. Er zog eine Flasche aus dem Rucksack und reichte sie mir.

„Nur einen kleinen Schluck!“, sagte er. „Das genügt. Es geht mir nicht um den Rausch. Es ist die Energie.“

Ich wusste nicht, was er meinte, aber dann spürte ich es. Es schmeckte zunächst unverdächtig nach Kräutern, aber gänzlich ohne alkoholische Schärfe, das war unverkennbar. Dann sickerte ein kompaktes Gefühl der Konzentration ins Gedärm. Und anschließend hatte sich das mit der Flasche erledigt, denn der Ruhepol des klaren Denkens hatte sich bereits eingestellt. Ich fragte ihn, ob es eine Droge sei, aber er lachte nur.

„Was ist keine Droge? Selbst Zucker ist Droge. Aber nein, es macht nicht abhängig, es ist nicht verboten, es verändert nicht die Wahrnehmung, jedenfalls nicht massiv. Es ist beruhigend, mehr nicht.“ Er lehnte sich zurück gegen seinen zusammengerollten Schlafsack und rieb sich den Bauch. „Es macht satt, ohne Völlerei. Es ist nicht notwendig, aber hier und da ganz hilfreich, ganz so wie die Nahrung. Es ist die Ankunft am Abend.“

 

In der Folge stellte sich eine gelassene Stimmung des spielerischen Betrachtens ein, die uns nicht allzu stark bedrängte, denn ihr Charakter des lockeren Betrachtens von menschlichen Schwächen war gefügig, wenn nicht gar unterwürfig. Es war eine wohlfeile Opferbereitschaft für überhebliche Landstreicher und als ich es bemerkte, fragte ich Antoine, ob dieses Herabschauen auf die normalen Menschen Teil des Spiels sei. Er lachte und nickte.

„Ja, zweifellos. Das ist das Vorrecht des Ausgestoßenen, auch wenn er sich selbst ausgestoßen hat. Jeder von uns spielt dieses Spiel und manche ereifern sich ganz kräftig darin. Nimm es nicht zu ernst. Es ist nur Oberfläche und dient der Balsamierung von empfindlichen Schwächen, die manche bis zur Größe von massiven Wunden ständig anbohren. Es macht den Teilzeitstreichern wie uns keinen wirklichen Spaß.“

Ich verstand, was er meinte und war beruhigt, dass ich mich nicht mit den Kalamitäten der echten Land- und Stadtstreicher beschäftigen musste. Dieses Thema war bald abgetragen und Antoine seufzte. Er vermeldete, dass er sich mit jenen nicht messen könne und wolle, da er selbst aus Forscherdrang seinen Weg in die Wildnis gewählt habe, nicht aus Alternativlosigkeit. Er hätte durchaus ganz andere Entscheidungen treffen können und könne es noch immer. Ebenso wie ich, vermutete er. Gerade dieser Forscherdrang aus mentalen Motiven sei es wohl, den er auch an mir wahrnehme oder vermute.