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Wieder ergibt sich eine Konstellation von vier Personen und wieder sind es die reflektierenden Gespräche, die diese Personen bewegen und verändern. Diesmal startet die Geschichte an einem ungewöhnlichen Ort, der ursprünglich einen ganz anderen Zweck erfüllte. Der Protagonist zieht sich in eine abgelegene Eremitenhöhle in der Südeifel zurück, um sich von der Gemeinschaft der Menschen und ihren Schablonen abzusondern. Doch die Einsamkeit entwickelt sich anders als geplant und bereits in der Anfangsphase verliert er sein Ziel aus den Augen, ersetzt es durch eine neue, eine intime Gemeinschaft.
Schon bald setzt die Sehnsucht nach Stille dieser Dynamik ein Ende und verzweigt den Handlungsstrang in unerwartete Richtungen.
Die Handlung und die Namen der Personen sind frei erfunden.
Dieses Buch erhebt keinerlei Anspruch auf Richtigkeit im physikalischen, mathematischen, politischen, historischen, wissenschaftlichen, religiösen, philosophischen oder medizinischen Bereich.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Stille
von Walter Gerten
© 2022 Walter Gerten. Alle Rechte vorbehalten. Autor: Walter Gerten
Dieses E-Book, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne Zustimmung des Autors nicht vervielfältigt, wieder verkauft oder weitergegeben werden. Text, Zeichnungen, Bilder und Fotos von Walter Gerten. © 2022 Walter Gerten
Der Autor:
Walter Gerten lebt seit vielen Jahren in der ländlichen Südeifel. Als Autor betätigt er sich seit dem Jahr 1999. In der Anfangsphase, ab 2000 bis 2003 nahm er an einer intensiven Schreibwerkstatt teil, es folgten Lesevorträge. Daneben betreibt er seit dem Studium Malerei und Grafik, die ebenfalls teilweise als Illustration Einzug in seine Schriftwerke findet.
Weitere Romane:
Manfred Wilt und der Tote am Fluss Manfred Wilt und die Rocker Der Bote des Zarathustra Monte Nudo Unterwegs mit Tom Kerouac Ich bin ein Schiff
Die Sternenbücher 1 Professor Montagnola Die Sternenbücher 2 Akba Die Sternenbücher 3 Die dunkle Seite des Mondes Die Sternenbücher 4 Der Sinn des Lebens Die Sternenbücher 5 Planet der Phantome Die Sternenbücher 6 Das Nichts Die Sternenbücher 7 Tod eines Springers Die Sternenbücher 8 Paradise2 Die Sternenbücher 9 Solitan Die Sternenbücher 10 Das Symbol für Solitan Die Sternenbücher 11 Das Ubewu Die Sternenbücher 12 Ich und Es Die Sternenbücher 13 Der dreizehnte Stern Die Sternenbücher 14 Die Raumzeit Die Sternenbücher 15 Selbst Ich Die Sternenbücher 16 Vergehen und Werden Die Sternenbücher 17 Die zweite Reise zum JETZT Die Sternenbücher 18 Marielle
Die Sternenbücher 19 Arkadien Die Sternenbücher 20 Das letzte Abenteuer
Die philosophischen Romane: Lust Pilgern Scheitern Irritation Ehrlichkeit Stille
Das Buch
Wieder ergibt sich eine Konstellation von vier Personen und wieder sind es die reflektierenden Gespräche, die diese Personen bewegen und verändern. Diesmal startet die Geschichte an einem ungewöhnlichen Ort, der ursprünglich einen ganz anderen Zweck erfüllte. Der Protagonist zieht sich in eine abgelegene Eremitenhöhle in der Südeifel zurück, um sich von der Gemeinschaft der Menschen und ihren Schablonen abzusondern. Doch die Einsamkeit entwickelt sich anders als geplant und bereits in der Anfangsphase verliert er sein Ziel aus den Augen, ersetzt es durch eine neue, eine intime Gemeinschaft.
Schon bald setzt die Sehnsucht nach Stille dieser Dynamik ein Ende und verzweigt den Handlungsstrang in unerwartete Richtungen.
Die Handlung und die Namen der Personen sind frei erfunden.
Dieses Buch erhebt keinerlei Anspruch auf Richtigkeit im physikalischen, mathematischen, politischen, historischen, wissenschaftlichen, religiösen, philosophischen oder medizinischen Bereich.
I M P R E S S U M
Inhalt
KarlRegenwetterSauberkeitSprachverlustUnverständnisIsolationAbgleichVerdachtIntermezzoAbschiedUnbekannte BegleitungZurück von DortVersuch und IrrtumKompromissWiedersehenMichaelIrmgardDie große FlutMenschDer Wundermann
Vom Tal stieg warme Luft empor. Insekten und Pollen trieben am Hang entlang aufwärts. In der flimmernden Hitze vor den Felsen sammelten sich Schwalben, bildeten einen Schwarm und zirkulierten in aufsteigenden Spiralen. Ein Bussard kreiste oberhalb und Karl hob den Kopf bei seinem klagenden Schrei.
Er hatte die Beine untergeschlagen und die Hände bequem im Schoß gefaltet. Sein Rücken lehnte am glatten Felsen. Sein Herz beschleunigte sich angesichts der atemberaubenden Linien der segelnden Vögel. Nahezu senkrecht fiel die Hangkante ab und Karls Platz war in der allerersten Reihe bei dieser kühnen Vorstellung. Ein zweiter Bussard kam heran und gesellte sich zu dem flirrenden Strudel der emsigen Schwalben. Mit ruhigem Kreisen überstieg er die Zone der Insektenjagd und gewann zunehmend Höhe, bis er auf dem Niveau seines Artgenossen ankam und eine andere, hellere Stimme ertönen ließ. Freude am Segeln? Flugspiele, die das Glück des Lebens ausdrückten? Freundschaft?
Karl beobachtete die beiden Greifvögel und fühlte im Gesicht die Thermik vorbei streichen. Bald würde eine Gegenreaktion einsetzen: der Abwind, - die kühle Luft, die den Sog auffüllte. Er kannte die Abfolge der unsichtbaren Dinge, die sich zyklisch ereigneten, während er saß und sah.
Seit einigen Wochen hatte sich in seinem Dasein ein Wandel vollzogen. Menschen waren aufmerksam geworden auf sein Hiersein, auf sein Leben in einer verlassenen Eremitage. Sie lag in dem steilen Felsen am Hang und er wohnte derzeit darin. Ein Zeichen, das er gegen die Hektik, die Betriebsamkeit der Zeit setzten wollte. Das hatte man ihm angedichtet, wie er vermutete. Er selbst hatte keine Zeichen setzen wollen. Es war vielmehr eine Flucht gewesen, die ihn in die Felswand und ihr Refugium geführt hatte. Eine Flucht aus der Gesellschaft. In die Einsamkeit.
Karl hatte nur wenig mitgenommen. Kleidung, Nahrung, Papier, Streichholz, Zahnbürste und Seife, gewisse Dinge aus Metall, Messer, Gabel, Töpfe, Pfanne, Tasse und Teller. Er hatte nicht vorgehabt, wie in der Steinzeit zu leben. Er hatte eine Axt zum Holzspalten, einige Sägen und Hämmer, Abfallbeutel, sogar einen Handbohrer und Schrauben. Er hatte sich die Örtlichkeit gut und sorgfältig ausgesucht.
Es war eine längst verwaiste Eremitage aus einem vergangenen Jahrhundert. Sie bestand aus drei kleinen miteinander verbundenen Höhlen in einer Steilwand. Ein schmaler Pfad führte vom Erzer Hochplateau am Steilhang entlang abwärts. Rundherum gab es Wald, nichts als Wald und Natur. Obwohl, - der Blick bergab und ins Tal zeigte eine Stadt und in der Gegenrichtung, oberhalb, zweieinhalb Kilometer entfernt auf der Hochebene befand sich das Dorf, Erz. Ein Ort, der bereits zur Römerzeit besiedelt worden war und natürlich - der Name verriet es – man hatte Eisenerz gefunden.
Der Bürgermeister von Erz hatte ihn vor einigen Wochen besucht. Ein denkwürdiger Moment. Ein recht fein gekleideter Mann, der in gewisser Weise die Denkweise der Gesellschaft repräsentierte, - und er, Karl - in zerrissenen Jeans, mit nacktem Oberkörper und beim Spalten und Stapeln von Holz überrascht.
„Sie sorgen vor! Das ist gut, - so gestaltet sich das einfache Leben!“, hatte der Bürgermeister gesagt und gleich sein DU angeboten. Ralf hieß er und stammte natürlich aus Erz, seinem Geburtsort.
„Ich bin Karl“, antwortete Karl. Er war verlegen. „Ich komme aus der Siedlung dort unten. Ähm. Aber auch wenn es so aussieht, ich will kein Mönch sein. Mich treibt nicht die christliche Tradition in diesen Hang, in diese Höhlen.“ Karl hob die Hände entschuldigend. Er redete viel zu viel. Er fühlte sich staubig und unrein; dem Anlass nicht angemessen. Sein zotteliges Haar fiel ihm in die Stirn und verdeckte eines der blauen Augen.
„Das macht nichts! Es gibt auch einfachere Strukturen als die römisch-katholische. Entschuldigung, Karl, wenn ich unangekündigt auftauche. Aber wie anders wäre das denkbar?“ Er lachte. „Ich kenne deine Nummer nicht und ich weiß nur wegen deines Feuers, das du seit Anbruch der kühleren Tage anzündest, von deiner Anwesenheit auf unserer Gemarkung. Es qualmt ein wenig.“
Ralf lächelte, um Karl nicht zu beunruhigen. Immerhin war ja die Frage der Besitzansprüche noch unerörtert. Letztendlich, ja, - er hätte Karl des Ortes verweisen können, wenn er gewollt hätte. Aber Ralf hatte ganz andere Dinge im Sinn.
Am weit entfernten Rand der Gemarkung „Erz“ lag seit langer Zeit diese Höhle. Sie war einst, das hatte Karl gelesen, von Mönchen des Klosters in der Stadt unterhalb bewohnt gewesen. Sie hatten drei „Räume“ in den Fels geschlagen, Türen und Fenster gesetzt und einen Garten bewirtschaftet, der, schmal genug, den Weinberg ergänzte, der ebenfalls zum einsamen Lebensraum gehört hatte. Das war wohl um 1590 gewesen und der letzte Einsiedler auf dem Erzberg war ein gewisser Daniel aus dem Schwabenland gewesen. Er musste damals einem kirchlichen Edikt weichen, das alle „beschaulichen“ Orden aufhob.
Ob die Kirche damit ein geheimes Ziel verfolgte, wusste Karl nicht. Es war ihm unverständlich. Die abgesondert und gottesfürchtig lebenden Einsiedler waren bis dahin stets eine Attraktion gewesen, eine gewichtige Referenz, ein religiöses Vorbild. Aber diese Zeiten waren wohl schon vorbei und im modernen Leben gab es offenbar keinen Bedarf mehr für abseitig lebende Individuen.
Karl hatte gewusst, dass es die drei Felsräume gab. Aber erst spät, vor einem Jahr, war ihm während einer Wanderung unterhalb des Felsens wieder die ungewöhnlich schöne Lage aufgefallen. Er hatte sich bei dieser Gelegenheit eine Idee, einen Ohrwurm, einen Traum oder eine Art Virus eingefangen, die ihn nicht mehr losgelassen hatte. „Wie wäre es, dort zu leben?“
Im Nachhinein, nachdem Ralf, der Bürgermeister von Erz, ihn besucht hatte, empfand er seine Eroberung der Eremitage als einfach. Ein wenig Arbeit an der Höhle, ein paar Abdichtungen oberhalb an den Felsspalten, eine befriedigende Anpassung einer Holztür, die er sich beim Abfall der Schreinerei besorgt hatte, eine Gewöhnung an die primitive, minimalistische Wasserversorgung aus dem Kanister. - Das war schon fast alles gewesen. Sogar Ralf, der Bürgermeister, hatte sich lobend über die unerwartet heimelige Situation geäußert; - auch wenn Karl ihm nicht geglaubt hatte.
Noch immer rätselte er über die Beweggründe Ralfs. Gab es eine unbekannte Motivation, einen Zweck, einen Sinn hinter dem Besuch? Auf den ersten Eindruck wirkte er ganz beiläufig, so wie man vielleicht einen neuen Mieter oder Hauskäufer im Ort begrüßt hätte, - freundlich, neugierig, offen, tolerant und hilfsbereit. Doch irgendwie passte das nicht ganz zu Karls Wohnsituation. War sie doch extrem unzeitgemäß, abgelegen und verwunderlich. Niemand zuvor in Ralfs Leben mochte so gelebt haben, oder?
Und dennoch war Ralf so aufgetreten, als ob alles ganz im Rahmen des Akzeptablen sei.
Die Bussarde zogen nordostwärts und verschwanden aus dem Blickfeld. Ihren Platz nahm eine weitere Erinnerung ein, die Karl ins Bewusstsein kam. Es war der Folgebesuch, - wenige Tage nach Ralf. Und nahezu zeitgleich bildete sich ein Verdacht heraus, der die Sache erklären mochte. Die Frage, ob er, Karl, eine Attraktion für Erz und die historische Wertigkeit der Höhle sein könnte, stand plötzlich ganz deutlich vor seinem Auge, als Irmgard auftauchte.
Sie wirkte wie eine Praktikantin, als sie ihm dicht gegenüber saß auf der kleinen Holzbank in der „Küche“. Aber sie war Journalistin und befasste sich unter anderem mit Pressearbeit für das „Rheinische Landesmuseum Trier“. Sie sagte, sie hätte den Auftrag, einen Hinweis aus der Gemeinde Erz betreffend, das christliche Erbe der Südeifel zu untersuchen. Jetzt saß sie ihm gegenüber auf einem Steinvorsprung. Es war ein sonniger Tag und ihr Blick ins Tal.
„Nein! Einen christlichen Hintergrund hat mein Hiersein nicht.“ Karl bot Irmgard einen Tee aus frischer Minze an, die er oberhalb der Felsen am Waldrand gefunden hatte. Sie verwendete ein altertümliches Clipboard und schrieb mit dem Kugelschreiber ein paar Kurznotizen auf. Sie war jung und schüchtern, - aber nicht ungeschickt. Sie wusste, was sie wollte und hatte eine Strategie. Sie stellte Schlüsselfragen, die sie beantwortet sehen wollte. Die Religion war nur eine davon und sie reagierte erstaunlich neutral, als Karl den Kopf schüttelte.
„Wenn ich wüsste, was passieren wird, dann würde ich ja nicht weiter beobachten müssen, was sich ergibt“, sagte Karl auf die Frage nach seinen Erwartungen. „Nach diesem Muster bin ich nicht gestrickt. Ich bin ja selbst extrem neugierig, was bei so einem Leben herauskommt.“ Er war ein wenig in Redelaune und wunderte sich selbst darüber. Die Anwesenheit der schlanken Frau verunsicherte ihn. Ihre Augen unter den blonden Haarsträhnen, die ihr in die Stirn fielen, musterten ihn neugierig.
„Natürlich weiß ich, dass so eine Höhle wie diese, obwohl sie drei kleine Räumlichkeiten umfasst, nie und nimmer den Vorstellungen von modernem, zeitgemäßem Lebensstil genügen kann. Meine Erwartungen gehen auch nicht in Richtung Luxus oder Wellness. Obwohl, - wenn ich es genau betrachte -, aber das ist nicht Ihre Frage, Irmgard - ich bin wegen der Einsamkeit hier, nicht wegen der Anbetung und Gottesfürchtigkeit. Ich strebe keine Widmung an, keine Dankbarkeit an einen Schöpfer oder eine Besinnung auf einen heiligen Geist. Nein, das nicht. Darf ich Ihnen nachschenken, Irmgard? Mir geht es primär um einen Selbstversuch. Ich möchte selbst sehen, was passiert, wenn man das gewohnte Leben mit seinen Grenzsteinen und Richtungsvorgaben aufgibt und sich auf das Minimum beschränkt.“
„Wer finanziert das?“, fragte sie spontan und scheinbar ohne Überlegung.
„Gute Frage!“, sagte er. „Zunächst einmal tragen das meine Rücklagen. Ich habe noch keine langfristige Abschätzung, aber ich denke, dass ich das sechs bis zehn Jahre durchhalten könnte, ohne neue Geldmittel generieren zu müssen. Aber wie gesagt, - das ist vorläufig!“
„Interessant! Sie scheinen genügsam zu sein oder wohlhabend. Darf man fragen…?“
„Weder, noch. Ich rechne mit extrem niedrigen Kosten. Es hängt aber auch mit gesellschaftlicher Akzeptanz zusammen. Die Räumlichkeiten, ähem, gehören mir nicht. Aber man scheint mein Hiersein hinzunehmen. Ich verursache keine Schäden oder Unannehmlichkeiten, - wie es scheint.“
„Besitz wird sowieso überbewertet.“, sagte Irmgard und Karl sah sie erstaunt an. „Solange man Sie in Ihrer Höhle nicht behelligt, ist das doch eine gute Sache, oder?“
„Natürlich! Unbedingt!“ Karl schenkte Tee nach und schob ein paar Kekse neben ihre Tasse, die ein wenig nach Ruß schmeckten, das wusste er. Insgeheim bewunderte er ihre Oberschenkel und die formschönen Beine, die in spitzem Winkel unter dem kurzen Kleid heraus ragten.
Irmgard räusperte sich, rückte ihr Notizblatt zurecht auf dem glatt geschliffenen Steinblock, der ihnen als Tisch diente und knabberte an dem dunklen Gebäck. Sie saßen in der „Küche“, einem winzigen, eiförmigen Raum mit eigener Glastür nach draußen. Sie blickte kurz hinaus in die Baumwipfel unterhalb und atmete tief ein. Ein magischer Moment entstand, als einer der Bussarde für eine Minute oder länger vor ihren Augen in der Luft stand und dann über die Wipfel langsam talwärts segelte. Irmgard saß staunend angesichts der prachtvollen Wildnis, doch der Augenblick des Schweigens schwebte vorüber und die beiden Menschen sahen sich fragend an. Was war in dieser Konstellation denn überhaupt die Fragestellung, oder musste man eine solche zwingend generieren?
Karl schüttelte verneinend den Kopf, gedankenverloren und abwesend, aber Irmgard zögerte einen Moment, ergriff dann zielstrebig ihren Kugelschreiber und prüfte die Fragenliste, die sie sich zusammengestellt hatte. Zu viel an Unverständlichem war offen und sie fragte Karl, ob sie würde wiederkommen dürfen, um weitere Aspekte seiner Welt zu hinterfragen und zu erläutern.
Karl nickte.
Es war dies das erste Treffen in einem lockeren Zyklus gewesen, der Karl durch die folgenden Wochen begleitete. Er hätte sich selbst eine solche Begleitung nicht gewünscht und empfand sie halb belustigt als überflüssig. Aber aus einem ihm unbekannten Grunde heraus gab es wohl einen Aspekt, der für die Wichtigkeit der Sache gesellschaftlich eine Rolle spielte. Er mochte zur Einordnung dienen, die man zu tätigen hatte, ob man nun wollte oder nicht. Für ihn, Karl, war die Einordnung überflüssig, aber er stemmte sich nicht gegen ein Anliegen, dessen Beweggründe er noch nicht verstand. Das war Bestandteil seines Selbstversuches.
War er allein - also fast immer - dann geriet er mit seinen Gedanken leicht in Betrachtungen, die sich auf die Umgebung bezogen; den Wald, die Eremitage, ihre Bezüge zur Stadt im Tal, die religiöse Bedeutung, den Glaubensinhalt. Manchmal quälten ihn Erinnerungen aus der Kindheit, als er selbst noch im Gefüge dieser kirchlichen Bräuche integriert war. Schon damals war ihm vieles merkwürdig vorgekommen. Beispielsweise ging ihm ein Kirchenlied nicht mehr aus dem Kopf, das man rituell häufig hören musste und das in seiner Form und seinem Inhalt rätselhaft gewesen war. Als Kind verstand man viele Redewendungen und Sätze völlig anders, als sie gedacht waren. Gab es darin Wörter, die zudem noch Assoziationen hervorriefen, dann bildeten sich unter Umständen Vorstellungen, die auf ganz seltsame Weise surreal und dennoch mit den Gebetsformeln verknüpft waren.
„Maria, breit den Mantel aus.“ Das war ein solches Lied. Es hieß darin, in bizarrem, altem Deutsch: Patronin voller Güte, uns allezeit behüte. Der breite Mantel, das Behütetsein, - es war stets ein Stolperstein gewesen, das Bild, der Text, diese Zeile. Die absurdesten Vorstellungen entstanden dabei in Karls blühender Phantasie. Er sah dabei eine Herde Schafe, die sich zitternd und ängstlich um die Hüterin drängte und von ihr in einen sicheren Stall, auf eine saftige Weide, in ein helles und warmes Morgen, eine glückliche Zukunft geführt werden wollte.
Die Hüterin stand dabei in Karls bildhafter Illusion recht uninteressiert und gelangweilt neben einem gefällten Baum. Sie trug einen Cowboyhut, Langmantel aus verblichenem Leder und gespornte Stiefel, einen Revolver und einen Patronengurt. Ihren linken Fuß hatte sie forsch und attraktiv auf den Baumstamm gestützt. In der behandschuhten Hand hielt sie eine qualmende Zigarette und ihr Blick war klar und kühl in die Ferne gerichtet.
Karl hatte viele solcher skurriler Wachträume erlebt, als er noch den Ritus der Anbetung widerspruchslos mitmachte. Sobald seine Selbstbestimmung erwachte, hörte er damit auf, aber die Bilder waren geblieben und die Lieder tauchten hin und wieder als quälende Wiederholschleifen auf. Es waren - so kam es ihm nun vor - uralte Infiltrationen, die geheime Funktionen in kontaminierten Segmenten unbeirrt weiterführten, obwohl sie keinen Sinn mehr machten.
Solche Dinge und viele andere mehr waren Teil seiner Selbst geworden, Begleiter seines Wesens. Es befanden sich darunter seltsame Gestalten, die über seinen Vater und seine Mutter Zugang zu ihm gefunden hatten, durch die Erziehung, die Art, wie man ihm im Kreis der Familie die Randbedingungen des Zusammenlebens und des Weltgefühls nahegelegt hatte. Das meiste davon war natürlich erheblich älter als seine Eltern und noch weit älter als die Großeltern, Urgroßeltern, Ururgroßeltern und deren Vorfahren. Alte kollektive Prägungen.
Karl hatte irgendwann unwillkürlich begonnen - er wusste nicht mehr, in welchem Alter er das zuerst bemerkte - mehr und mehr der abgelagerten Schichten seines Selbst freizulegen und neu zu betrachten. Jedenfalls versuchte er es. Bis, ja, bis er nach dem Selbst selbst fragte und es als fragwürdig entdeckte. War es nicht ein flüchtiger Bestandteil des Zeitverlaufs? War er nicht damals ein anderer gewesen? Wer also war er selbst? War er der bemühte Archäologe, der in die eigenen Tiefen zu steigen und dort zu graben versuchte? Oder war er jene Tiefe?
Die Kommunikation über diese Beobachtungen und Fragen gelang ihm nicht. Weder seine Frau, seine Freunde, sein Lieblingsphilosoph noch einer der Schriftsteller, die er gerne las, bot einen genügend belastbaren Gegenpart. Mehr noch: Karl entdeckte zunehmend, dass auch solche und andere Personen wohl ähnliche Schichten mit sich trugen und zudem diesen Umstand teilweise noch kaum bemerkt hatten. Karl wurde wählerisch, selektiv, elitär und penibel mit seiner Gesprächsbereitschaft. War denn nicht die Selbsterkenntnis überhaupt die erforderliche Grundlage für eine Meinung? Genügte es für eine Überzeugung, wenn man Sätze zu formen in der Lage war oder gehörte da mehr dazu? Auch das bemerkte Karl. Er beobachtete an sich selbst diese Überheblichkeit, die zu überspielen ihm nur mit Humor und schauspielerischer Beiläufigkeit gelang.
Bis dann der Tag einer neuen Idee kam, die auch für ihn selbst unglaublich war und ihn vollends verwandelte. Natürlich hätte er, als er seiner Frau davon vorsichtig zu erzählen wagte, jenen Humor verwenden können, aber es war ihm wirklich ernst und er fühlte, dass die Zeit der scherzhaften Rückkehr zu den gewohnten Mustern, den Floskeln und Redewendungen für ihn endgültig vorbei war.
„Eremit? Nun, das kommt nicht ganz überraschend, Karl“, antwortete sie, „immerhin merkt man ja schon lange, dass du dich in dich selbst zurückziehst.“
Statt abzuwiegeln hatte Karl die Gelegenheit ergriffen und einen vagen Plan erläutert, den er für durchführbar hielt. Und im Verlauf der folgenden Wochen ergab sich mithilfe seiner Frau Jasmin eine reale Umsetzung der Idee. Beiden war die Wohnhöhle oben am Felsen bekannt, schließlich wohnten sie am Fuße des steilen Berges, am Rand der alten Stadt, die einst wegen der religiösen Macht die ganze Region geprägt und regiert hatte, weit über die säkularen Angelegenheiten hinaus.
In der Anfangssequenz, als er mit dem Ausbau, der Beschaffung der Materialien (Holz, Glas, Verputz und Farbe) und der anstrengenden Beförderung dieser Güter zum Zielort beschäftigt war, hatte er noch keine Vorstellung davon, was dann auf ihn zukommen würde, wenn die Kommunikationsmöglichkeiten erstarben. Also dehnte er diese Phase aus, ergötzte sich an den Gegebenheiten, die andere Eremiten vor ihm genutzt hatten für ihre eigenen Projekte. Es gab Spuren, es gab Mauerwerk, das die Felsen ergänzte, es gab Verputz in den Spalten, es gab Ruß in den Fugen. Man konnte uralte Reste von Balken finden, die einst die größte Höhlung in zwei Etagen geteilt hatten. Reste von Kalk und Mörtel, von Farbe und Gips zeugten von den damaligen Bemühungen um Wohnlichkeit. Und es gab die Überbleibsel der frommen Demut, die sich ebenfalls im Fels abbildeten. Ein Weihwasserbecken am Eingang, ein Altar in der Wandaussparung, Meißelspuren von heiligen Symbolen.
Doch dominant blieb die exponierte Lage in der Felswand. Zugänglich nur über einen gefährlich steilen Pfad an der Bergflanke. Der Blick fiel ungehindert hinab ins Tal, wo ein kleiner Fluss sich durch Wiesen schlängelte und die diesseitige Landschaft vom Stadtgebiet jenseits abgrenzte. Karl baute als Erstes eine Bank an die Kante, sicherte den Sitzplatz mit einem stabilen Geländer und einem dicken Tau, das er von dort hinauf führte, am Pfad entlang und hundert Meter höher auf das Erzer Plateau, wo sich Birken- und Fichtenwälder erstreckten.
Natürlich waren die Möglichkeiten, die drei kleinen Räumlichkeiten im Fels gegen die Witterung abzudichten, relativ begrenzt. Karl hatte einen kleinen Kanonenofen über das Plateau gefahren, mit einer grenzwertigen Kraftanstrengung den Pfad hinab geschleppt und im mittleren Raum aufgestellt. Das dünne Rohr schmiegte sich im Hintergrund an die Wand und verschwand oben zwischen den Felsspitzen, die sowohl damals als auch heute durch den Einsatz gehöriger Mengen an Verputzmaterial eine Art Dach bildeten und trotzdem bei heftigem Regen ein Rinnsal durchließen. Es war nicht gerade verheerend, denn es sickerte im unteren Bereich, also im Keller – wegen der Zwischendecke aus Balken und Brettern unsichtbar – wieder ins Freie.
Der Raum daneben, über einen Wanddurchbruch erreichbar, war trockener und wurde von Karl als Küche genutzt.- Links davon lag ein in alten Zeiten als Stall genutzter Raum, als es noch drei Mönche in diesem Refugium gab. Karl brachte darin seine Vorräte und Materialien unter. Ansonsten entsprach wohl seine Aufteilung der ursprünglichen. Eine Höhle als Küche, eine weitere, mittige, die zwei Etagen umfasste, Keller unten und Schlaf-Wohnraum oben, und eine separate, die Tiere oder Güter beherbergte. Zwischen Küche und oberer Wohnetage gab es eine in den Fels gehauene Treppe und eine Wandöffnung, die damals vermutlich mit einer Holzklappe verschließbar war.
Der Wohnbereich über der Zwischendecke aus Holz hatte eine naturgegebene romanische Form, also unten recht breit, etwa 3 mal 3 Meter, und nach oben parabolisch eng werdend. Karl baute in die Front zum Tal hin eine Konstruktion aus Holz und Glas, die ihm im Nachhinein um einiges zu klerikal erschien. Aber er ließ sie, wie sie war, weil die Silhouette einfach formal überzeugte. Man konnte bei Regenwetter auf dem gepolsterten Zwischenboden liegen und ungehindert hinausschauen in die Tiefe des Tals, die Ruhe des Waldes und die Geschäftigkeit der alten Reichsabteistadt.