PREPPER - Band 1 - Tom Abrahams - E-Book
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PREPPER - Band 1 E-Book

Tom Abrahams

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Beschreibung

Kein Strom. Keine Sicherheit. Nur die Vorbereiteten werden überleben. Bevor die Lichter ausgingen, hielt sich Jack Warrant nicht für einen sogenannten "Prepper". Das waren Leute vom Rand der Gesellschaft, Verschwörungstheoretiker oder Weltuntergangskultisten mit einem fatalistischen Blick auf die Welt. Er selbst war ein Optimist. Zumindest war es das, was er sich selbst erzählte, wenn er nachts an die Decke starrte und sich finstere Gedanken in den Verstand schlichen. Doch dann ging die Welt unter, und ihm wurde klar, dass er falsch lag. Über sich, und darüber, wozu verzweifelte Menschen fähig waren … "Prepper" ist die neueste apokalyptische Abenteuerreihe von Traveler-Autor Tom Abrahams.

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Seitenzahl: 380

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis
PREPPER
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Danksagungen
Über den Autor

PREPPER

 

eine post-apokalyptische/dystopische Grid-Dowd-Survival-Reihe

 

Band 1

 

Tom Abrahams

 

Für Courtney, Sam und Luke

 

Impressum

 

Deutsche Erstausgabe Originaltitel: PREPPER Copyright Gesamtausgabe © 2025 LUZIFER Verlag Cyprus Ltd. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

 

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Madeleine Seither

 

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2025) lektoriert.

 

ISBN E-Book: 978-3-95835-929-1

 

Kontaktinformation:

[email protected]

 

LUZIFER Verlag Cyprus Ltd.

House U10, Toscana Hills

Poumboulinas Street

8873 Argaka, Polis, Cyprus

 

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

»Wer an Vorbereitung scheitert, bereitet sich aufs Scheitern vor.« —Benjamin Franklin

 

Prolog

10. JULI 2008 WASHINGTON, D.C. ZIMMER 2118, BÜROGEBÄUDE RAYBURN HOUSE

 

 

Tim Golnecki stand in der Nähe seines Chefs, ein Mitglied des Ausschusses für Streitkräfte des Repräsentantenhauses, an die Wand gelehnt da. Er zog den Knoten der Krawatte enger, die er am Nachmittag zuvor bei Macy’s gekauft hatte. Sie war von einem dunkleren Blau als sein Hemd, aber heller als seine Anzugjacke, die ein dunkles Marineblau war, das an Schwarz grenzte.

Sein Chef, ein Repräsentant aus North Carolina, hatte ihn angewiesen, sich schick zu machen. Er würde hinter den ständigen Mitgliedern des Komitees auf dem Podium stehen. Tim war der neuste Mitarbeiter, frisch von der University of Texas. Er war ein Zweiundzwanzigjähriger mit einem Abschluss in Staatswissenschaften und unendlichem Ehrgeiz. Er wollte einen guten Eindruck machen und hatte die neue Krawatte mit der Kreditkarte bezahlt. Andernfalls hätte er, angesichts der Kosten seines Umzugs, der Mietausgaben für ein Apartment so nah am Verwaltungsdistrikt und seines Gehalts von vierundsechzigtausend Dollar, eine ältere, weniger angemessene Krawatte getragen.

Tim hatte genickt, als sein Chef an ihm vorbeigegangen, ihn mit einem warmen Politikerlächeln begrüßt und in der Nähe des Komiteevorsitzes Platz genommen hatte. Hinter dem Podium mit drei Stuhlreihen für das große Komitee stand ein Zeugentisch. An dessen Mitte saß ein Mann und besprach sich mit anderen. Tim sah auf seine Armbanduhr. Es war 10:05 Uhr am Morgen. Der Hammer knallte und erschreckte Tim. Wieder richtete er seine Krawatte und hielt den Aktenordner an seiner Seite fest.

Er war kein Freund von Menschenmengen, hatte sie nie gemocht. Als kleines Kind hatte er die Hand seines Vaters verloren und war in der erdrückenden Menge auf dem Hauptweg des Jahrmarkts von ihm getrennt worden. Es hatte zehn Minuten gedauert, bis ihn ein guter Samariter wieder mit seinen Eltern vereint hatte, aber diese sechshundert Sekunden waren dem kleinen Tim wie sechshundert Tage vorgekommen. Seitdem hatte er Vergnügungsparks, Rockkonzerte und Black-Friday-Verkäufe gemieden.

Überfüllte Restaurants und Bars zerquetschten ihn wie ein Schraubstock, und so war sein Gesellschaftskalender als junger Politiker in Capitol Hill weit leerer als bei den meisten Twens, die Dupont Circle oder U Street bevölkerten.

Eine Zwanzig-Milligramm-Dosis generischen Parotexins mit einem Menü #1 und einem heißen Kaffee bei Jimmy T’s hatte seine Nerven im Vorfeld der Anhörung beruhigt. Seine erste Aufgabe nach seiner Ankunft hatte darin bestanden, die Ausgänge und Fluchtwege zu lokalisieren. Es beruhigte ihn, dass er an der Wand stand und nicht in den engen Plätzen auf der Galerie saß, oder näher am Podium.

Der Vorsitz und die hochrangigen Parlamentarier sprachen und stellten den Mann an der Mitte des Zeugentisches vor. Tims Chef hatte ihm erzählt, dass der Zeuge ein großer Fisch war, der einst die NASA geleitet hatte, und einer der klügsten Physiker auf dem Angesicht der Erde.

»Und damit übernehmen Sie bitte, Dr. Graham.«

William R. Graham war der Vorsitzende der Kommission zur Einschätzung der Bedrohung der Vereinigten Staaten durch Angriffe mittels elektromagnetischer Impulse.

Dr. Graham leitete ein neunköpfiges Komitee, sieben Mitglieder vom Verteidigungsministerium bestellt und zwei vom Direktor der FEMA, der Katastrophenschutzbehörde, ernannt. Während Graham die Kommissionsmitglieder vorstellte, bat ihn der Vorsitzende, sein Mikrofon zu richten.

Graham kam dem nach und stellte der Kommission den Mount Rushmore der Wissenschaftler und Militärtaktiker, böte Mount Rushmore Platz für neun Köpfe, vor. Tim sah zu, wie sein Chef Graham beobachtete. Wie jeder andere im Raum war auch der Repräsentant aus North Carolina wie gebannt.

»Ein von der EMP-Kommission herausgebrachter und dem Kongress im Jahr 2004 überreichter Geschäftsbericht verschaffte einen Überblick über die Bedrohung der USA«, sagte Graham, ehe er über die neueren Erkenntnisse der Kommission berichtete.

»Mehrere potentielle Gegner besitzen die Fähigkeit – und weitere mehr können sie erlangen –, die Vereinigten Staaten mit einem kernwaffenerzeugten elektromagnetischen Impuls in großer Höhe anzugreifen. Ein entschlossener Gegner kann die Fähigkeit eines EMP-Angriff erlangen, ohne dass ein höherer technischer Entwicklungsstand vorliegt.«

Tim spürte die fassungslose Stille im Raum. Zimmer 2118 war ein schmaler Anhörungssaal. Er bot einer Handvoll Besucher Platz. Der dicke blaue Teppich auf dem Boden und die passenden Vorhänge, die an der Wand hinter dem Podium hingen, dämpften Geräusche. Das verlieh dem Raum eine grabähnliche Eigenschaft, die Tim angesichts des Kontextes der Anhörung angemessen fand.

Verstand er Dr. Graham richtig? Hat der Mann dem Kongress gerade mitgeteilt, dass ein technisch einfach entwickelter Feind die Vereinigten Staaten in die Knie zwingen könnte? Wurde der Raum gerade kleiner? Eine Welle der Hitze durchfuhr Tim. Er schluckte und zog an seinem Kragen. Die Krawatte saß zu eng.

»Ein EMP ist eine von einer kleinen Anzahl an Bedrohungen, die unsere Gesellschaft in die Gefahr katastrophaler Konsequenzen bringen können«, sagte Graham. »Ein gut koordinierter und weitreichender Cyberangriff ist ein weiteres potentielles Beispiel.«

Toll. Es wurde immer schlimmer. Tim betrachtete das Podium. Kongressmitglieder bewegten sich auf ihren Stühlen. Ihnen schien so unbehaglich zumute zu sein, wie er sich fühlte.

Weniger als sieben Jahre nach 9/11 saß der Schmerz noch tief. Die gleiche Regierung, die mit Kriegen an zwei Fronten und dem Engagement, den Kampf in Übersee zu behalten, reagiert hatte, war jetzt diejenige, die eine Studie darüber, wie verwundbar genau sie noch waren, beauftragt hatte. Die Antwort war nicht tröstlich.

»Ein elektromagnetischer Impuls in großer Höhe resultiert aus der Detonation eines atomaren Sprengkopfes oberhalb etwa vierzig Kilometern über dem Land oder unseren Truppen«, sagte Graham. »Der unmittelbare Effekt eines EMPs würde die elektronischen Systeme und die Strominfrastruktur stören und beschädigen. Das wiederum kann wichtige Aspekte unseres gesamten nationalen Lebens beeinträchtigen, einschließlich Telekommunikation, Finanzsystem, Regierungsdiensten, der Möglichkeit, Nahrung, Wasser und medizinische Versorgung zu erlangen und Handel und Produktion aufrechtzuerhalten, sowie der Stromversorgung an sich.«

Tim dachte an das iPhone 3G in seiner Tasche. Es war ein Abschlussgeschenk einen Monat zuvor gewesen, und er war einer der Glücklichen gewesen, die das Gerät am Tag der Veröffentlichung erhalten hatten. So schnell wie sich die Technologie weiterentwickelte, nahm er an, dass ein EMP sein wertvolles Geschenk nutzlos machen würde.

Er dachte an sein Bankkonto. Er hatte seine Transaktionen online über eine rudimentäre Website verwaltet, die seine Genossenschaftsbank als kostenlosen Service für diejenigen anbot, die sowohl Giro- als auch Sparkonten besaßen. Wie käme er an sein Geld, wenn das Internet oder die Geldautomaten ausfallen würden?

Tim überlegte, ob er seine Krawatte lösen und den obersten Knopf seines Kragenhemdes öffnen sollte, entschied sich aber eines Besseren. Er wollte keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen und hoffte, dass der kalte Schweiß, der seine Achselhöhlen und sein Kreuz durchnässte, auf dem Mischgewebe seines dunklen Anzugs nicht sichtbar war. Im Augenblick gab es größere, dringendere Sorgen. Was, wenn sich der Strom abschaltete? Was, wenn eine fremde Macht heute Nacht angriffe? Heute Nachmittag? Was sollte er tun, und wohin würde er gehen? Würde der Kongress weiterarbeiten? Wäre er ohne Job?

Er hatte keine Vorräte an Nahrung, Wasser oder Medizin in seinem Apartment. Obwohl er noch zwei Mitbewohner hatte, war der Kühlschrank leer, von übrig gebliebenem Takeout, einer halb leeren Gallone Milch, die sie für ihre Schachteln voll gezuckerten Zerealien benutzen, und was immer von der Kiste Sam Adams Imperial Pilsner übrig war, abgesehen.

Tims drehte sich der Magen um, wie um die Hitze hinaus zu zwingen, und Besorgnis durchströmte ihn. Seine Knie wurden schwach, während er zuhörte, wie der Physiker die Realität und offensichtliche Gefahr für die Nation bezeugte. Er fuhr mit der Hand über den Stoff seiner neuen Krawatte.

Er hatte sich über diesen Kauf den Kopf zermartert, vier verschiedene Geschäfte in der Fashion Centre Mall besucht. Nach einer hektischen Metrofahrt hatte Tim die Indoor-Shops durchstreift, sich von Ladenfront zu Ladenfront bewegt und deren Kleiderständer umkreist wie ein Hai, vom Rand zur Mitte hin, bis er die richtige Farbe und Textur gefunden hatte. Im vierten Geschäft hatte er zwei Krawatten entdeckt, die seinen Erwartungen entsprachen, und gut dreißig Minuten damit verbracht, sich zwischen ihnen zu entscheiden, bis er sich zu der aus blauem Polyester durchgerungen hatte, die einen Hauch von Kreuzstichtextur aufwies.

Nachdem er in seine Wohnung zurückgekehrt war, hatte er seine Kleidung für den nächsten Tag herausgelegt. Er bügelte sein Hemd, eine Baumwolle-Polyester-Mischung, und benutzte viel zu viel Sprühstärke. In dieser Nacht schlief Tim kaum, besorgt um seine Kleidungswahl und ob er früher als sonst zum Kapitol gehen sollte. Wenn er zu früh im Büro ankam, könnte er übereifrig wirken. Wenn er pünktlich war, wäre er dann zu spät? Der Stabschef hatte ihn nur mit dieser Aufgabe betraut, weil zwei andere mit einer frühen Sommergrippe krankgemeldet waren. Tim hatte diesen Job seit drei Wochen. Assistent eines Repräsentanten während einer Komiteeanhörung zu sein, war eine große Sache. Das durfte er nicht vermasseln.

Es nicht zu vermasseln war der Grund dafür, warum er eine Handvoll Magensäuremittel genommen hatte, um seinen nervösen Magen vor der Morgendusche zu beruhigen. Tim ließ seine übliche Tasse schwarzen Kaffees aus. Er trug seine Anzugjacke und seine Krawatte in einem Kleidersack durch die Metro, kam fünfzehn Minuten zu früh an, ein Kompromiss zwischen einer halben Stunde und pünktlich. Zweimal war er zur Herrentoilette gegangen, um seinen Krawattenknoten zu überprüfen, bevor er seinen zugewiesenen Platz an der Wand des Komiteesaals eingenommen hatte.

Nun stand er an diesem Platz und bedauerte, wie töricht er gewesen war, wie er sich auf die falschen Dinge konzentriert hatte. Wen kümmerte eine Krawatte, wenn ein skrupelloser Akteur die Nation in Dunkelheit und Chaos stürzen konnte, ohne Anspruch auf technische Raffinesse erheben zu müssen?

Warum machte er sich solche Sorgen um sein Erscheinungsbild, wenn das, was am meisten zählte, die Arbeit an sich war? Tim verfluchte sich für seine Naivität.

Graham kam zum Schluss seiner vorbereiteten Ausführungen und begann, Fragen der einundsechzig Kongressabgeordneten zu beantworten, die im Komitee saßen. Einige davon erkannte Tim: Elijah Cummings aus Maryland, Silvestre Reyes und Mac Thornberry aus Texas und Rob Wittman aus Virginia. Er kannte auch alle drei Nordkaroliner im Ausschuss.

»Wir haben keine Erfahrung damit, die Infrastruktur in einem Land mit dreihundert Millionen Menschen zu verlieren, von denen die meisten nicht auf eine Weise leben, die Vorsorge für ihre eigene Nahrung und andere Bedürfnisse trifft«, sagte Graham.

Tim schwirrte der Kopf. Die anderen im Raum trugen grimmige Mienen und Stirnrunzeln zur Schau. Sie rieben sich die Schläfen oder das Kinn; sie beugten sich mit angespannter Aufmerksamkeit vor. Begriff einer von ihnen die Konsequenzen dessen, was Dr. Graham sagte?

Falls ja, warum erhoben sie nicht die Fäuste und verlangten Taten? Wo war die Entrüstung?

»Das ist unsere Hauptsorge: Dass wir uns, wenn das Land nichts unternimmt, einer Welt, die bereits ein gutes Verständnis von den Konsequenzen von EMPs hat und darüber berichtet hat, quasi anbieten.«

Repräsentant Roscoe Bartlett aus Maryland fragte: »Warum gibt es seitens unserer Führung so wenig Interesse daran, etwas dagegen zu unternehmen? Ist es schlicht zu schwer? Will man dem nicht ins Auge sehen?«

Tim nickte, als hätte der Kongressabgeordnete seine Gedanken gelesen. Warum so wenig Interesse?

»Das ist eine gute Frage«, sagte Graham. »Es wäre besser, sie einem Soziologen anstelle eines Ingenieurs und Physikers zu stellen.«

Tims Chef rief ihn während der Sitzung nicht zu sich. Als sie um 11:58 Uhr endete, strömten die Mitglieder aus dem Raum, ohne dass sich ihre Entrüstung je materialisiert hatte. Er wollte übers Podium springen und Dr. Graham in den Flur verfolgen. Er wollte mehr. Wie konnte er sich vor etwas schützen, das nach einem unausweichlichen Szenario klang?

Irgendwann würde ein fremder Akteur den Versuch unternehmen. Er würde einen EMP starten und ihn entweder mit einem Cyberangriff oder einer biologischen Offensive koppeln. Es würde geschehen. Tim glaubte daran.

Vielleicht lag es an der Monumentalität des Anlasses für ihn: seine erste große Aufgabe als Mitarbeiter von Capitol Hill. Er hörte zu, wo andere es nicht taten.

Tims Instinkt sagte ihm, dass alles, was möglich war, auch wahrscheinlich war. Die Menschen in Washington sprachen mit Ernsthaftigkeit und verströmten Überzeugung.

Aber ein Tag, eine Sitzung, eine Amtszeit, eine Karriere boten nicht genug Zeit, um alles zu erledigen. So wenige legislative Prioritäten erhielten die Aufmerksamkeit, die sie brauchten. Politik war Politik, schlicht und einfach. Sie leitete sich aus der Reihe von Aktivitäten, die der Entscheidungsfindung in Gruppen oder anderen Formen von Machtbeziehungen zwischen Individuen zugeordnet waren, ab. Nirgendwo deutete die Definition an, dass das Richtige zu tun Teil des Jobs war.

Dr. Graham hatte über sechzig Kongressmitgliedern mitgeteilt, was geschähe, wenn sie nicht handelten. Er hatte ihnen von der Bedrohung und der Leichtigkeit, mit der jedermann sie wahr machen konnte, berichtet. Dennoch hatte sich die Kommission ohne Handlungssatz vertagt. Tim sollte nicht lange in Capitol Hill aushalten, aber was er an diesem Tag bezeugt hatte, hinterließ einen nachhaltigen Eindruck. Er versuchte, den Menschen zu sagen, dass es auf sie zukam. Er versuchte, es von den Dächern zu rufen.

Er glaubte, dass niemand zuhörte; trotzdem versuchte er es. Bis er es aufgab.

Und dann geschah es.

Jahrzehnte später tat jemand, was Dr. Graham vorhergesagt hatte. Tim hatte immer daran geglaubt. Er war bereit, während es so viele andere nicht waren.

Was er sich jedoch nicht ausgemalt hatte, war, dass jene, die die Angriffe auslösen und seine Welt in Dunkelheit stürzen würden, nicht aus einem anderen Land stammten. Sie waren keine Terroristen, die die Interessen eines Schurkenstaates oder einer unorganisierten Zelle repräsentierten. Sie waren Amerikaner. Sie waren einheimisch. Und was sie tun würden, sollte den Lauf der Geschichte verändern.

 

Kapitel 1

NETZAUSFALL, TAG ZEHN THE WOODLANDS, TEXAS

 

 

Blut hatte einen Geruch. Ein Tropfen, eine Schmierspur nicht. Eine blutende Wunde auch nicht. Aber wenn sehr viel Blut in einem abgeschlossenen Raum war, dann hatte es einen unverwechselbaren Geruch. Scharf. Sauer. Ganz ähnlich wie verrostetes Eisen.

Jack Warrant hätte nie erwartet, das zu riechen. Er hätte nie erwartet, einen oder mehrere Männer auf eine solche Weise zu töten, dass er sie entleerte, dass sie binnen Sekunden ausbluteten.

Das war nicht Teil seiner Reise. Hatte er zumindest gedacht.

Als jedoch böse Menschen mit bösen Absichten versuchten, sich zu nehmen, was ihm gehörte, versuchten, seine Familie zu verletzen, hatte er keine andere Wahl. Er tat, was jeder Ehemann und Vater tun würde, der Mittel und Gelegenheit dazu hatte.

Jack sah auf seine blutigen Hände hinab. Würden sie je wieder sauber werden? Wirklich sauber? Er bezweifelte, dass das möglich war. Diese Art Fleck würde nie wieder weggehen. Er würde seine Seele zeichnen. Er schnüffelte, und ein weiterer Hauch von Blut quälte seine Sinne. Er würde sich genau so daran erinnern, wie ihn der Geruch von Minzschokolade an den Abstecher seiner Tochter in den Keksverkauf der Pfadfinderinnen erinnerte, oder wie Irish-Spring-Seife Erinnerungen an seinen Großvater väterlicherseits weckten.

Das waren großartige Gedanken. Dies hier nicht.

Das Herz hämmerte ihm in der Brust und sein Puls klopfte in seinen Ohren. Ein Schweißfilm bedeckte Gesicht und Hals. Die ununterbrochene Hitze war drückender als zuvor. Er atmete langsam und gleichmäßig, versuchte, sich zu beruhigen und trotz des schwindenden Adrenalins weiter fokussiert zu bleiben.

Das Wohnzimmer, das sich zur großen Küche hin öffnete, war zerstört. Jack ließ den Blick über den Schaden und das Blut schweifen. Sie konnten nicht hierbleiben. Nicht mehr. Selbst wenn sie den Ort wieder sicherten, war zu viel vorgefallen, als dass sie sich noch in ihrem eigenen Haus wohlfühlten.

Sie würden verschwinden. Es gab keine Alternative.

Er senkte das Kinn und starrte auf die Leiche vor sich. Der bärtige Mann lag auf dem Bauch. Ein Arm lag an seiner Seite, der andere war unter ihm angewinkelt. Sein Kopf zeigte auf Jack, und seine Augen waren offen. Seine Zunge hing heraus. Blut befleckte seine losen Arbeitsshorts aus Jeans in einer hässlichen Lilaschattierung. Er trug zwei dicke Goldketten um den Hals und schwarze Arbeitsschuhe, deren ausgefranste Schnürsenkel offen waren. Jack vermutete, dass der Mann Anfang bis Mitte dreißig war. Ein Tattoo auf dem Oberarm des Toten war in Schwarz gestochen und zeigte einen Schädel, in dem ein Messer steckte, und ein Banner mit einem Schriftzug, den Jack nicht entziffern konnte.

Er stellte sich vor, wie der Mann das Tattoo erst kürzlich bekommen hatte, in der Annahme, dass es mit der Zeit verblassen würde. Der bärtige Mann hatte keine Zeit mehr. Nur er würde in Vergessenheit geraten, doch die Tinte würde nicht verblassen.

Jack machte einen weiteren, bewussten Atemzug. Er ging über die Leiche hinweg und weiter zur Nächsten, die zu einem älteren, glattrasierten, glatzköpfigen Mann gehörte. Der Glatzkopf lag auf dem Rücken, die Beine schief gespreizt, als experimentierte er mit einer ungewohnten Dehnungstechnik. Er trug einen grauen Kapuzenpullover mit kaputtem Reißverschluss und schmutzige Jeans, die eher braun als blau aussahen.

An der linken Hand trug er zwei fette Ringe. Sie sahen zu klein für die geschwollenen Finger des Glatzkopfs aus. Jack fragte sich, ob er sie jemand anderem gestohlen hatte, dessen Leiche nun verwesend dalag.

Der Glatzkopf war grausam gewesen, und Jack machte sich nicht die Mühe, einen Schritt über seine Leiche hinweg zu machen. Knochen brachen unter der Last seines Stiefelabsatzes, und er legte sein ganzes Gewicht auf den Arm des Mannes. Auch wenn der Glatzkopf nichts spürte: Das widerliche Knirschen befriedigte Jack.

Diese Befriedigung überraschte ihn, während er um zerstörte und umgestürzte Möbelstücke herum zur Treppe manövrierte, die zum ersten Stock führte. Was war nur in so kurzer Zeit aus ihm geworden?

Hatte er schon jetzt die Menschlichkeit verloren?

Jack schüttelte die Selbstzweifel ab und konzentrierte sich wieder. Er legte die blutige Hand aufs Treppengeländer, unbekümmert, ob er es beschmutzte, und packte das Schmiedeeisen, um sich auf die Stufen zu ziehen. Er ging hinauf, einen Schritt nach dem anderen. Seine Knie schmerzten. Der Ischias meldete sich wieder, und er spürte das stechende Ziehen entlang seines Beins. Älter zu werden war scheiße, aber es war besser als die Alternative. Jack beäugte die Alternative, tot in seiner Küche und seinem Wohnzimmer, und nahm wieder den Geruch des Blutes wahr.

Er machte flachere Atemzüge, versuchte, den Geruch zu mindern. Er lag streng in der feuchten Luft. Die fehlende Elektrizität hatte dem Haus ein Gefühl der Schwere verliehen. Zwar konnte Jack den Finger nicht darauf legen, aber alles war anders. Besonders jetzt. Besonders nach der Gewalt.

Nachdem Jack die oberste Stufe erreicht hatte, trat er auf den Absatz im ersten Stock und ließ die Hand auf dem dekorativen Endknopf liegen. Er sah auf seine Stiefel hinab und verfluchte sich, aus reiner Gewohnheit, dafür, sie nicht ausgezogen zu haben. Es war die Regel seiner Frau, im ersten Stock nur Socken zu tragen.

Beinahe hätte er über die Lächerlichkeit dessen gelacht. Keine Schuhe auf dem Teppich. Als ob das noch eine Rolle spielte. Tränen traten ihm in die Augen. Kaum etwas, das zuvor wichtig gewesen war, war jetzt noch wichtig. Nichts außer Familie und Eigentum. Die waren wichtig. Die würden immer wichtig bleiben.

Jack lehnte sich ans Geländer und sah auf das makabere Bild im Erdgeschoss hinab. Von oben sah die Szene für ihn wie die barocken Gemälde aus, die er einst in einer Museumsausstellung betrachtet hatte. War es Caravaggio gewesen? Velázquez? Rembrandt? Er erkannte die dunklen Farbtöne und die verstreuten, leblosen Körper vor einem blutroten Hintergrund wieder. Er müsste seine Frau fragen. Betty war die Kunstliebhaberin. Er schüttelte den Gedanken ab. Was sollte er sie fragen?

»Schatz, was hältst du von den toten Männern in unserem Haus? Aus diesem Winkel, findest du da nicht, dass sie an einen Gentileschi erinnern?«

Natürlich nicht. Das war absurd. Das alles war absurd.

»Jack?«

Bettys Stimme war schwach. Sie hatte geweint. Das hatten sie alle.

Er sah vom Blutbad auf und erwiderte ihren Blick. Sie stand im Eingang zum Zimmer ihrer Tochter. Sorge spannte ihre Züge an und vertiefte die Linien auf ihrer Stirn und um ihre Augen.

Jack bemühte sich um ein Lächeln, zwang sich, den Tsunami aus Emotionen, der drohte, ihn zu ertränken, einzudämmen. Seine schmerzenden Knie wurden schwächer, aber er lehnte sich ans Geländer, legte sein Gewicht gegen die Eisenbalustrade, die die gesamte Galerie säumte und den Grundriss teilte.

Betty rannte zu ihm und schlang die Arme um ihn. Ihre Finger gruben sich in seinen Rücken, und auch er umarmte sie fest. Einen Augenblick lang legte er das Kinn auf ihren Kopf, bevor er sie küsste, ihren Duft einatmete. Das rief exzellente Erinnerungen hervor. Es beruhigte ihn. Irgendwie, trotz des apokalyptischen Zustandes der Welt, war Betty immer noch betörend. Jack kniff die Augen zu, und die Tränen flossen.

Nach einem langen Moment löste sich Betty. Sie sah zu ihm auf. Ihre Augen suchten seine, als lägen in ihnen die Antworten auf unzählige Fragen.

»Geht‘s dir gut?«, fragte sie.

Er wollte ja sagen. Er wollte stark sein. Das war zu viel verlangt, und Jack belog seine Frau niemals. Betty würde es merken. So verbunden waren sie miteinander.

»Nein«, sagte er. »Tut es nicht. Aber alles wird gut. Die Bedrohung ist … ich … sie …«

»Ist es vorbei?«, fragte sie. »Sind wir sicher?«

»Für den Moment. Die Männer sind tot.«

»Alle?«

»Alle.«

»Aber mein Haus«, sagte sie. »Unser Haus ist ein Schlachtfeld, oder?«

Das war es. Jack konnte sich vorstellen, dass sie und die Kinder das Knallen vom Umfallen schwerer Möbelstücke gehört hatten, das Brechen von Gipskartonwänden unter der Macht von Schultern oder Knien, das Bersten von Glas, das am Travertin in unzählige Scherben zersprungen war.

Betty hatte diese Möbel kuratiert. Sie war mit einer Tasche, die ihre Farbpalette und Stoffmuster enthielt, durch die gesamte Region gereist. Diese mühevolle Liebesarbeit hatte in warmem, stylishem Dekor resultiert, das die Cover von Designzeitschriften nachahmte.

Gemeinsam hatten sie die Wände gestrichen, die Farbrolle über die zarte Textur geführt, sie in Grautönen bemalt, als das modern war, dann in Eierschale, als dieser Trend die sozialen Netzwerke und das Heimwerkerfernsehen vereinnahmte.

Das Travertin war ein Upgrade, mit dem sie Mühe gehabt hatten. Es war ein Luxus, aber eine Ausgabe, die die beiden als Teil einer Umgestaltung rechtfertigten, die sie nach einem Jahrzehnt im Haus beauftragten und ertrugen.

»Wir müssen mit der Zeit gehen«, hatte Betty zu ihm gesagt. »Wenn wir zu weit hinter den Mond geraten, sind die Kosten zehnmal so hoch. Immer ein bisschen macht einen großen Unterschied, falls wir verkaufen müssen.«

Statt einem Bisschen hatten sie eine Menge getan, aber das war es wert gewesen. Abgesehen von Pool und Whirlpool, die ihren rückwärtigen Garten in eine Oase verwandelt hatten, war dieser Bodenbelag das kostspieligste Upgrade, das sie in die monatlichen Ausgaben absorbiert hatten.

Jetzt spielte nichts davon eine Rolle. Sie würden nie verkaufen. Dieser Ort gehörte für immer ihnen. Oder würde dem gehören, der ihn besetzen würde, nachdem sie fort waren. Ihr Eigenkapital, sowohl arbeitstechnisch als auch finanziell, besaß in dieser neuen Welt so viel Wert wie eine Glühbirne.

Jack musste Betty all das mit einem Blick mitgeteilt haben, denn obwohl er nicht auf ihre Frage reagierte, verstand sie die Antwort. Ihr Heim war nicht länger ihr Heim. Es war vergällt. Entweiht.

Betty schlug die Hände vor Mund und Nase. Ihr Körper bebte, und sie weinte. Jack zog sie wieder an sich, und sie verbarg das Gesicht an seiner Brust. Er wollte etwas sagen, das ihren Schmerz lindern könnte, hielt es aber für besser, sie nur zu halten und trauern zu lassen.

»Dad?«

Ihr ältestes Kind stand im gleichen Eingang, in dem Betty vor Kurzem aufgetaucht war. Jasper war ein Elftklässler an der Highschool. Er befand sich in jener unangenehmen Übergangsphase zwischen Kindheit und Erwachsensein. Aber er war mehr Mann als Junge. Das hatte er in den vergangenen Tagen bewiesen. Jasper hatte Dinge gesehen, die kein Kind sehen sollte. Er hatte Dinge getan, die kein Kind zu tun gezwungen sein sollte, auch keins an der Schwelle zum Erwachsensein.

»Hey, Kumpel«, sagte Jack. »Alles okay?«

Jasper nickte. Er schluckte schwer, und sein Adamsapfel hüpfte auf und ab. Okay war ein relativer Ausdruck, und Jack nahm an, dass sein Sohn dessen freiste Interpretation gebrauchte.

»Und deine Schwester? Dein Bruder?«, fragte Jack.

Betty wischte sich über die Augen und drehte sich zu ihrem Sohn um. Sie lehnte sich an Jack, blieb ihm nahe. Sie würden den Verlust ihres Heims ein andermal beklagen. Ihre Kinder brauchten ihre Zuwendung, und anders als ihr Haus war ihre Familie intakt. Das war es, was zählte, oder nicht?

Jasper zuckte mit den Schultern. Wie seine Mutter war auch er ein Empath, der Emotion spürte, ohne deren Kontext zu verstehen. »Mom?«

»Alles okay, Schatz«, sagte sie. »Wie geht‘s deinen Geschwistern?«

»Gut, schätze ich.«

Wie aufs Stichwort tauchten Jack und Bettys andere Kinder aus der Dunkelheit jenseits der Türschwelle auf. Jenna war ihre einzige Tochter und das mittlere Kind. Sie war dramatisch, wenngleich ihr theatralisches Getue allgemein eher zu verständnisvollem Lachen als zu Frust führte. Joey war der Jüngste. Er war zehn Jahre alt, aber ziemlich altklug, und verursachte für gewöhnlich das Melodrama seiner Schwester. Zumindest waren sie alle so gewesen, bevor der Strom ausgefallen war und sich die Welt auf den Kopf gestellt hatte.

Schon jetzt veränderten sich beide Kinder bereits. Sie alle, die gesamte Familie, waren anders geworden. Die Dynamik zwischen ihnen, ihr Humor, ihre Geduld. Ihre Hoffnungen, Träume und Ängste waren … unkenntlich im Vergleich mit … davor.

Wie lange war es her? Eine Woche? Zwei?

Es fühlte sich an wie ein Jahrzehnt. Zwischen all den anderen, subtilen Unterschieden, wirkten seine Kinder irgendwie älter, als wären sie aus der Notwendigkeit heraus erwachsen geworden. Machte die Apokalypse das? Stahl sie alles, einschließlich der kindlichen Unschuld?

Es schien so. Und das waren erst die Anfangstage. In dieser Zeit sollte es leicht sein. Aber die schweren Zeiten waren auf sie zugerast wie ein D-Zug. Glück, Vorbereitung und der Wille, Gewalt anzuwenden, hatte sie davor bewahrt, überfahren und auf den Schienen plattgewalzt zu werden.

Jack ahnte, dass noch mehr Züge kommen würden. Lokomotiven. Große Dampfmaschinen.

Der Jüngste drängte sich an seinen Geschwistern vorbei und lehnte sich gegen die Wand neben dem Eingang. Er verschränkte die Arme vor der Brust und fuhr mit den Daumen über den nicht vorhandenen Bizeps. »Was ist passiert?«, fragte Joey. »Ich hab gehört …«

»Ich hab‘s auch gehört«, unterbrach Jenna. »Rufe und Geschrei. Waffen.« Ihr Kinn bebte. Sie wischte sich mit den Handrücken über die Augen und suchte Halt an ihrem großen Bruder. »Ich hatte Angst um Dad«, wimmerte sie. »Ich wusste nicht, was passiert ist, und ich …«

»Deinem Dad geht es gut«, sagte Betty. »Uns geht es gut.«

Betty bat ihre Tochter mit weit ausgebreiteten Arme zu sich. Jenna überquerte die kurze Distanz mit zwei großen Schritten und sprang in die Arme ihrer Mutter. Jack spürte den Zusammenprall und hielt sich am Geländer fest.

»Hast du dich um die gekümmert?«, fragte Jenna. »Die alle?«

»Hab ich«, sagte Jack. »Um die müssen wir uns nie wieder Sorgen machen. Es ist vorbei. Mir geht‘s gut. Uns allen geht es gut.«

Jasper runzelte die Stirn. »Was musstest du tun, Dad?«

»Was nötig war, um euch zu beschützen.«

Einen Moment lang musterte Jasper ihn, ehe sich sein Fokus aufs Geländer verlagerte. Er bewegte sich darauf zu. Jack trat vor ihn und legte eine Hand auf die Brust seines Sohnes. Er schüttelte den Kopf.

»Das willst du nicht sehen, Kumpel.«

Jasper dachte über den Rat seines Vaters nach. Er trat zurück und zeigte sein Einvernehmen mit einem Nicken.

»Sind da tote Menschen?«, fragte Joey.

»Ja.«

Die Wangen des Jungen wurden rot. »Wie viele?«

»Genügend.«

»Sogar Mister …«

»Ja. Der auch«, sagte Jack.

»Das Haus riecht seltsam«, sagte Jenna. »Was ist das? Was riecht so seltsam?«

Jack und Betty tauschten einen Blick.

»Keine Klimaanlage«, sagte er. »Je länger wir ohne Strom sind, desto seltsamer wird das Haus riechen. Desto seltsamer wird alles riechen, einschließlich deiner Brüder.«

Jacks ungeschickter Versuch, lustig zu sein, scheiterte. Niemand lachte, wenngleich Joey an seiner Achsel schnüffelte. Das Kind hatte die Pubertät noch nicht erreicht, aber es hatte gesehen, wie Jasper sich von Zeit zu Zeit vergewisserte.

»Ich rieche nicht seltsam«, sagte er, und damit ging der Witz auf seine Kosten.

Betty lenkte das Gespräch in eine andere Bahn. »Was jetzt? Was machen wir?«

»Wir können nicht mehr hierbleiben«, sagte Jack.

Jenna löste sich von ihrer Mutter. Eine betrübte Miene legte ihr Gesicht in Falten. »Was? Wir gehen weg? Ich will nicht weggehen. Mein Zimmer ist hier. Meine ganzen Sachen sind hier.«

Jasper sah seine Schwester an. »Das stimmt nicht. Du hast Sachen in der Ranch.«

Sie verdrehte die Augen. »Das meine ich nicht.«

Jack ergriff die Hand seiner Frau. Sie legte beide Hände um seine. Sie sahen einander an. Sie nickte: Betty war dabei. Sie begriff, wie schwerwiegend der Einbruch war, und dass ihre Festung nicht länger sicher war.

»Ich verstehe, dass du nicht wegwillst, Schatz«, sagte Jack. »Das verstehe ich. Keiner von uns will weg. Das ist unser Zuhause.«

»Es war unser Zuhause«, korrigierte Betty. »Jetzt wird die Ranch unser Zuhause sein.«

»Wie soll es denn da sicherer sein?«, fragte Jenna. »Und wie sicher ist es wohl, hinzufahren? Auf der Ranch ist es so langweilig.«

»Dort sind wir sicherer als hier«, sagte Jack. »Nach dem, was passiert ist, ist Hierbleiben keine Option mehr.«

»Ich bin mit deinem Vater einer Meinung«, sagte Betty. »Außerdem ist Langeweile gut. Wir brauchen Langeweile.«

Niemand widersprach ihr. Sie klatschte in die Hände, eine zurückgebliebene Angewohnheit aus ihrer Zeit als Museumsführerin.

Betty gestikulierte zum Schlafzimmer. »Wir müssen zusammenpacken und …«

Ein Stöhnen schallte aus dem Erdgeschoss. Es hallte vom Travertinboden und den Quartzflächen wider. Es klang unmenschlich, in einer Tonlage, die teils ein Heulen war.

Die Augen der Kinder wurden groß, und Jasper trat wieder aufs Geländer zu. Jack hielt ihn auf.

»Was ist das?«, fragte Joey. »Ich hab gedacht, die sind …«

»Das hab ich auch gedacht«, sagte Jack. »Ist kein Problem. Ich kümmere mich darum. Du gehst packen. Deine Mom wird dir helfen.«

Er schüttelte das Handgelenk und sah auf die Uhr. In dieser neuen Welt spielte Zeit keine Rolle, außer wenn sie es tat. »Dreißig Minuten. Wir sollten in dreißig Minuten hier verschwinden.«

Die Kinder zögerten. In Jennas Augen funkelten Tränen.

»Tut, was ich sage«, sagte Jack. »Alles wird gut. Okay? Wir sind eine Familie. Wir sind die verdammten Warrants, nicht wahr?«

Keines der Kinder stimmte ihm zu, während er sich zu einem Lächeln zwang. Doch sie gehorchten und schlichen ins Zimmer zurück. Als Betty sie von der Galerie führte, huschte ihr Blick zum Erdgeschoss und richtete sich dann wieder auf ihren Mann.

»Ich liebe dich«, sagte sie lautlos über die Schulter hinweg.

»Ich liebe dich auch«, sagte er laut.

Die Schlafzimmertür schloss sich hinter Betty, und Jack holte tief Luft, wappnete sich. Der sterbende Mann stöhnte wieder, als Jack die Treppe hinabging und dabei mit der Hand übers Geländer strich. Ohne ihn zu sehen, wusste Jack, welcher der Eindringlinge es sein musste. Er musste aus seiner schmerzbedingten Bewusstlosigkeit erwacht sein.

Mithilfe des Treppenknopfs am unteren Ende drehte sich Jack in Richtung Küche. Er verließ den breiten Eingangsbereich, ging am Wohnzimmer vorbei und in die Küche, wo er den Mann auf der Seite liegend vorfand, in sich zusammengekrümmt. Seine Arme waren um seinen Unterleib geschlungen, wie um seine Eingeweide festzuhalten. Jack nahm an, dass das auch der Fall war. Die Verletzungen des Mannes waren schlimm. Ein dreiundzwanzig Zentimeter langes Cutco-Küchenmesser konnte viel Schaden anrichten. Es war zum Zerschneiden von Tierfleisch entwickelt worden, und exakt so hatte Jack es auch benutzt.

In seinem Verstand spielte sich die Gewalt in einer Dauerschleife ab. Ducken. Zustechen. Drehen. Ziehen.

Immer noch spürte er, wie er Hautschichten zerschnitt, auf Knochen traf, sich in Organe bohrte. Jack hatte das Polizeimantra, das Erstechen persönlich war, immer in den Fernsehsendungen gehört. Es geschah aus nächster Nähe und war brutal und nicht die Art von Gewalt, die ein Mörder an einem Fremden ausüben würde. Das verstand er jetzt aus erster Hand. Dieser Mann war kein Fremder, doch niemals, nicht in einer Million Jahren, hätte Jack daran gedacht, ihn zu töten. Er hatte nichts gegen ihn gehabt, bis er sich gewaltsam Zutritt zu seinem Haus verschafft hatte.

Er ging neben dem Mann in die Hocke und dachte an all die Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, bevor das Stromnetz ausgefallen war. Obwohl Jack ihn immer für anständig gehalten hatte, hatten die Umstände den Charakter des sterbenden Mannes enthüllt. Er war nicht so anständig, wie Jack angenommen hatte.

Die Augen des Mannes flatterten und versuchten, sich auf Jack zu fokussieren; er war sich seiner Gegenwart bewusst. Seine Stirn legte sich in Falten, und er stöhnte wieder.

»Hilf mir«, flüsterte er. Blut floss ihm aus dem Mund. »Bitte. Vergib mir, Jack. Hilf mir.«

Der Appell ließ Jack eine Augenbraue hochziehen. Es überraschte ihn, dass der Mann gut genug beisammen war, um zu sprechen, geschweige denn, um Vergebung zu erbitten.

»Ich bin wie du«, sagte der Mann. »Ich wollte nur … Ich wollte nur überleben.«

Jack wappnete sich und beschwor die Stärke herauf, die er eingesetzt hatte, um die Eindringlinge auszuschalten. Die Zeit wurde langsamer, als das Adrenalin wieder anbrandete und die tiefe Dunkelheit brodelnd an die Oberfläche stieg. Er spannte den Kiefer an, und die Muskeln spielten.

»Du bist in mein Haus gekommen«, knurrte Jack. »Du hast meine Familie bedroht. Du wolltest uns verletzen und dir nehmen, was uns gehört.«

Mit dem letzten Rest Energie, den er noch zu haben schien, schüttelte der Mann den Kopf. »Es tut mir leid. Ich … ich …«

Jack sah ihn finster an. »Du darfst dich nicht dafür entschuldigen, was du getan hast. Du bekommst keine Gnade.«

Eine Träne löste sich aus dem Auge des Mannes und lief über seinen geschundenen Nasenrücken. Seine Lippen bebten.

»Ich vergebe dir«, sagte Jack, »aber nur um meinetwillen, nicht deinetwegen.«

»Wir waren mal Freunde, Jack.«

»Ich glaube nicht, dass wir je Freunde waren. Bekannte vielleicht. Nachbarn, klar. Keine Freunde. Freunde tun nicht, was du getan hast. Freunde zwingen mich nicht dazu, zu tun, was ich getan habe.«

»Kannst du mir denn nicht helfen? Bitte?«

Jack neigte den Kopf und musterte die Wunden. Es gab keine Hilfe. Es wunderte Jack, dass der Mann noch atmete. Sein Unterleib sah aus wie die Schlachtplatte eines Gerichtsmediziners, und Jack brauchte heroische Willenskraft, um die in seinem Magen aufsteigende Welle der Übelkeit zu unterdrücken.

»Das ist die Hilfe, die du bekommst«, sagte er. »Es ist das Einzige, was deinen Schmerz lindern wird.«

Jack griff an seinen Rücken und zog seine Glock. Seiner besten Schätzung nach hatte er noch vier Kugeln im Magazin. Er umfasste den Griff, legte den Finger an den Abzug und drückte den Lauf an die Schläfe des Mannes.

Der Mann kniff die Augen zu. Er murmelte etwas Unverständliches.

Jack sprach seinen Namen laut aus und befahl ihm, zu beten.

 

Kapitel 2

 

AUSTIN, TEXAS NETZAUSFALL, TAG EINS

 

 

Christopher Fine drückte eine Hand an die bronzene Remington-Skulptur, die einen Cowboy auf einem buckelnden Pferd darstellte. Er strich mit den Fingern über die Muskulatur des Wildpferdes und atmete aus, merkte erst da, dass er die Luft angehalten hatte.

Fine ging an der Statue vorbei zum verschlossenen Fenster und strich dabei mit den Fingern über die kalte Bronze. Er trat dicht an die Glasscheibe heran und hob die dünnen Eichenholzlamellen hoch, um zwischen ihnen hindurch nach Süden in Richtung Stadt zu spähen. Links ging die Sonne auf und brachte schon jetzt mehr jener drückenden Hitze mit sich, die in der vergangenen Nacht nicht nachgelassen hatte. Er bildete sich ein, die steigenden Temperaturen durchs Glas zu spüren. Noch vor Mittag wären es dreißig Grad. So lautete die Vorhersage.

Sein Haus lag rechts, sichtbar durch die Gelben Eichen und Seesternbäume hindurch, die die Landschaft mit ihren ausladenden Kronen beschatteten, wenngleich selbst sie der Hitze überdrüssig zu sein schienen. Die Innenstadt lag direkt hinter der Congress und erhob sich, um den Horizont zu versperren. Die Glas- und Stahltürme, die die Tech-Milliardäre der Stadt geschmiedet hatten, funkelten im Sonnenlicht, aber er wusste so gut wie jeder andere, dass es Dunkelheit war, auf der die Fundamente dieser digitalen Imperien errichtet waren.

Fines Blick wanderte zum weitläufigen Rasen und den gepflegten Wegen, die das Gelände durchzogen, hinunter. Er betrachtete die Denkmäler für Helden der Vergangenheit, die sich in einer Million Leben nicht hätten vorstellen können, welche Mechanismen Fine und die über vierzig Millionen Menschen, die auf ihn zählten, an den Rand einer Katastrophe gebracht hatten.

Würde er als Erster klein beigeben? Nein. Die Folgen für sein eigenes Leben und sein Auskommen wären zu katastrophal. Diejenigen am anderen Ende seines faustischen Paktes würden ihre Drohungen niemals wahrmachen.

Es würde auch sie zerstören.

Fine war gerade darum bemüht, sich genau davon zu überzeugen, als Parker Michaels Reflexion neben ihm im Glas erschien.

Parker räusperte sich. »Herr Gouverneur?«

Fine wandte sich seinem leitenden Berater und Kommunikationschef sowohl seines Büros als auch seiner politischen Kampagne nicht zu. Er schloss die Lamellen und steckte die Finger in die seidengefütterten Taschen seines blauen Nadelstreifenanzugs im italienischen Schnitt.

»Herr Gouverneur, da gibt es etwas, das Sie hören müssen. Es ist dringend.«

»Immer ist alles dringend, Parker.«

»Ja, Sir«, sagte Michaels, »aber dieses Mal ist es dringend.«

»Worum geht es?«

Fine wusste, worum es ging. Es hielt ihn nachts wach, kostete ihn drei Stunden erholsamen Schlafes, auf die er angewiesen war, um durch die langen, erschöpfenden Tage von öffentlichem Amt und Privatleben zu kommen.

»Er hat wieder angerufen«, sagte Michaels, »und gesagt, entweder arbeiten Sie mit ihm zusammen, oder das Spiel ist aus.«

Fine stupste mit der Zunge an die Innenseite seiner Wange und ließ die Worte einen Augenblick zwischen ihnen nachklingen, bevor er sich umdrehte. Er nahm die Hände aus den Taschen und knöpfte sein Jackett auf, löste den Knoten seiner knalllilafarbenen, handgemachten italienischen Krawatte, und öffnete den obersten Knopf seines weißen Baumwollhemdes mit Kent-Kragen und Umschlagmanschetten mit dem Daumen.

Der Teufel zeigte sich nicht. Es war unwahrscheinlich, dass er gehörnt und mit einer Mistgabel in der Hand erschien. Er trug feine Kleidung und Voll-Federkiel-Straußenstiefel von Lucchese. Genau wie korrupte Politiker.

Fine schritt in einem weiten Halbkreis um seinen Berater herum, als ob er den jungen Mann vor einem Kampf abschätzte. »Was haben Sie ihm gesagt?«

»Ich habe nicht mit ihm gesprochen, Sir«, sagte Parker. »Das war Carrie.«

Fine blieb stehen und zog eine Augenbraue in die Höhe. »Carrie?«

»Sie ist Ihre Stabschefin, Sir«, sagte Parker. »Es ergibt Sinn, dass …«

»Ich habe gesagt, Sie sollen sich darum kümmern. Sie sind der mit der Eloquenz, Parker. Ich wollte nicht, dass Carrie involviert wird. Sie verfügte über glaubhafte Abstreitbarkeit.«

Parker unterdrückte ein leises Auflachen. »Sir, bei allem Respekt, der Punkt, an dem irgendwer irgendwas glaubhaft hätte abstreiten können, liegt weit hinter uns.«

»Parker, wann immer jemand eine Meinung damit einstimmt, allen Respekt zu beschwören, ist er respektlos.«

Die Männer standen in peinlichem Schweigen beisammen, bis die Personaltür zum öffentlichen Empfangsraum des Gouverneurs im Kapitol von Texas aufschwang und eine einen Meter fünfundfünfzig kleine Blondine mit einem Diplom in Politikwissenschaften und Zehn-Zentimeter-Absätzen in den Raum geschritten kam.

Carrie Collins konnte Dummköpfe nicht ertragen, litt aber in ihrer Mitte. Sie betrachtete Michaels, sprach aber Fine an. »Herr Gouverneur, Sie müssen ein Telefonat führen, und zwar gestern schon. Mit seinen Drohungen und der heutigen Rekordhitze sitzen wir tief …«

Fine hob die Hand, um sie zu unterbrechen. »Hey, solche Ausdrücke benutzen wir hier nicht, Carrie. Ersparen Sie mir das theatralische Getue.«

Carries Miene wurde düsterer. Sie drohte ihrem Chef mit einem manikürten Finger. Wenn es drei Menschen auf der Welt gab, die mit vollkommener Missachtung für seine Position und Macht mit dem Gouverneur von Texas sprachen, dann war Carrie einer davon. Parker war der Zweite. Die Ehefrau des Gouverneurs, Priscilla, war der dritte Mensch.

»Sie haben das angerichtet, Herr Gouverneur«, sagte Carrie mit rotem Gesicht und darum bemüht, ihren wachsenden Ärger zu kontrollieren. Hätte sie nicht mit zusammengebissenen Zähnen gesprochen, hätte sie womöglich geschrien.

Sie war zäh, hatte sich ihre Sporen in Washington, D.C., zunächst als untergeordnete Beraterin eines Kongressmitglieds verdient. Nachdem sie sich als zuverlässige und kluge Person bewiesen hatte, die stets die Wahrheit sagte, eine Seltenheit auf Capitol Hill, wo Unterwürfigkeit und Ambition allgegenwärtig waren, war sie zu Komiteestabsarbeit übergegangen, hatte die Kammern zum Senat durchschritten, und ihre Zeit zwischen offiziellen und Kampagnen-Angelegenheiten aufgeteilt.

Erst als ihre Eltern älter wurden, und krank, hatte sie Washington verlassen, um nach Austin zu gehen. Da hatte Chris Fine die Gelegenheit ergriffen, sie als erfahrenste Beraterin an Bord zu holen.

»Wir haben Sie gewarnt«, sagte Carrie. »Wir haben Sie beraten. Und trotzdem haben Sie entschieden, dass Sie es besser wissen. Sie dachten, Sie könnten mit den großen Haien schwimmen, und Sie wurden gebissen. Verdammt, wir wurden alle gebissen. Sie, Parker, ich, Priscil–«

Wie aufs Stichwort betrat Priscilla den Raum. Sie trug das Lächeln einer Politikergattin, aber ihr Blick war der einer gekränkten Frau. Gouverneur Fine täuschte vor, Letzteres nicht zu bemerken. Er breitete die Arme aus und grinste, als wäre sie ein Baby in einer Selfie-Schlange nach einem Wahlkampfbesuch in Muleshoe.

»Liebes«, sagte er, »ich wusste nicht, dass du im Kapitol bist. Ich dachte …«

»Wo zum Teufel sollte ich sonst sein, während unsere Welt zerbricht, Chris? Du hast gesagt, das würde nie geschehen, dass er niemals …«

»Sir«, sagte Parker, »möchten Sie, dass wir Sie einen Moment mit der First Lady alleine lassen?«

Priscilla zupfte am Saum ihrer blassrosa Blazerjacke und grinste. »Diese Frage sollten Sie an mich richten, Parker. Aber nein, Sie und Miss America sollten das mitbekommen. Wir stecken alle gemeinsam drin, nicht? Haben Sie nicht gerade gesagt, es gäbe keine glaubhafte Abstreitbarkeit?«

Parker Michaels senkte das Kinn und trat zurück, ein gescholtener Welpe. Carrie Collins, eine tatsächliche zur Politiker-Flüsterin gewordene Miss America, blieb ungerührt. Es war nicht das erste Mal, dass Priscilla den Titel des Schönheitswettbewerbs im hohen Bogen auf die Beraterin ihres Mannes geworfen hatte wie eine Granate.

Carrie zog den Stift. »Okay, Kleopatra.«

Priscilla machte ein düsteres Gesicht. Verwirrung legte ihre Stirn in Falten.

Carrie stellte klar: »Königin des Leugnens. Pam Tillis?«

Priscilla starrte Carrie an; Carrie gab nicht klein bei. Gouverneur Fine hob die Hände und streckte die Handflächen aus, ein tatsächlicher und figurativer Versuch, das Gezänk zu beenden.

»Genug«, sagte er. »Wir lösen das nicht, indem wir uns streiten. Liebes, du hast recht, wir stecken alle gemeinsam drin.«

Priscillas Anspannung löste sich, aber sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Das habe ich schon mal gehört.«

Fine liebte seine Frau. Sie war seine Partnerin in allem. Ohne die unerschütterliche Unterstützung, das Drängen und den Killerinstinkt seiner Frau hätte er die Karrieresprossen vom Wahlkreisleiter zum Stadtrat zum Senat von Texas und dann zum Gouverneur nicht erklommen. Sie hätte die Politikerin werden sollen. In vielerlei Hinsicht verstand sie das Spiel weit besser als er. Doch sie zog es vor, Machiavelli zu spielen und die Puppen tanzen zu sehen, während sie lieber von hinter dem Vorhang befahl, statt den Jig auf der Bühne aufzuführen.

Ihr Langzeitgedächtnis war so scharf wie ihre Ellbogen spitz, und sie ließ Fine nie etwas vergessen. Sie hegte Groll, und es machte ihr Spaß, ihn an seine Fehler zu erinnern. Das brachte ihn auf Trab, den Tanz tanzend, und hielt ihn auch dabei. Ihre Beziehung war eine liebevolle, aber sehr komplizierte, die weder Carrie noch Parker verstanden, auch wenn sie das glaubten.

»Also«, sagte Fine, »Priscilla, was tun wir?«

Ihr Stirnrunzeln schmolz zu einem mürrischen Ausdruck, ehe sie sich fasste. Er sah, wie sich die Räder ihres Verstandes drehten, unzählige Möglichkeiten und deren Pfade zu einer Lösung kalkulierten.

»Erstens«, sagte sie, »warum sind wir in diesem Zimmer? Es gibt zwanzig andere Orte, die privater und dem Entwerfen einer Strategie dienlicher sind.«

»Ich mag dieses Zimmer«, sagte Fine. »Es beruhigt mich. Macht meinen Kopf frei.«

»Es ist scheußlich«, sagte Priscilla. »Du hättest es mich umdekorieren lassen sollen. Es ist, als hätte sich Scarlett O’Hara übergeben und das Erbrochene hätte jemandes gestalterische Sensibilität angeregt. Ich …«

»Priscilla, was tun wir?«

Sie schnaufte und löste die Arme. »Zuerst müssen wir ein Gespräch führen. Ihn beruhigen. Er ist verrückt. Aber ist er dumm und verrückt?«

»Er ist dumm und verrückt«, sagte Carrie. »Absolut. Haben Sie seinen neuesten Post gesehen?«

Priscilla nahm an, dass sie die Antwort kannte. »Der, in dem er über die Einmischung der Regierung in den digitalen Raum sprach?«

Carrie schüttelte den Kopf. Parker strich über sein Handy, tippte aufs Display und reichte es Priscilla. Ihr Blick huschte über den Bildschirm. Ihre Augen wurden schmal, dann weiteten sie sich.

»Was ist?«, fragte Fine. »Habe ich das schon gesehen?«

»Nein, Sir«, sagte Parker. »Er hat es erst vor fünfzehn Minuten gepostet.«

Fine trat zu seiner Frau und blickte von hinter ihr auf den Bildschirm. Ein Social-Media-Profil füllte das Display aus. Anstelle eines Fotos des Account-Inhabers prangte über Namen und Biografie des Mannes der Avatar eines brennenden Phönixes.

NOEL SLATE.

‘FĒNIKS TECH CEO. MILLIARDÄR. ALTERNDER PHILANTHROP. AUFSTREBENDER MISANTHROP.

MAG HEIßE SCHOKOLADE UND UMGEKEHRTE HAREM-ROMCOMS.