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SIE IST KLEIN. SIE IST STILL. UND SIE IST TÖDLICH. Lou überlebte die Seuche, der ihre Mutter zum Opfer fiel. Ihr Vater beschützte sie vor dem Bösen, welches die Welt verschlungen hatte, und brachte ihr bei, in dieser Welt zu überleben. Lehrte sie den Umgang mit den tödlichen Klingen. Doch nachdem ein Überfall Lou zur Waise macht, werden die Fähigkeiten des jungen, unscheinbaren Mädchens auf die Probe gestellt. Als ziellose Wanderin, ebenso brillant wie tödlich, durchstreift sie die apokalyptische Wildnis, die einst Texas gewesen war. Aber kann sie allein überleben? Die TRAVELER-Reihe – das sind actionreiche Endzeit-Abenteuer mit einem Schuss Neo-Western.
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Seitenzahl: 348
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© 2018 Tom Abrahams
Dieses Buch ist frei erfunden. Sämtliche Namen, Charaktere, Firmen, Einrichtungen, Schauplätze, Ereignisse und Begebenheiten sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder wurden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Personen, lebend oder tot, Ereignissen oder Schauplätzen ist rein zufällig.
überarbeitete Ausgabe Originaltitel: LEGACY Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER Verlag Cyprus Ltd. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Cover: Michael Schubert Übersetzung: Raimund Gerstäcker Lektorat: Manfred Enderle
Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.
ISBN E-Book: 978-3-95835-730-3
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
5. Januar 2038, 3:00 Uhr 5 Jahre und 3 Monate nach dem Ausbruch Killeen, Texas
Lou stach die Klinge durch die Umschlagseite von L. Frank Baums Meisterwerk. Sie fädelte den abgerissenen Stoffstreifen durch die grobe Öffnung, den sie zuvor auf gleiche Weise durch den Einband eines dicken Tolstoi gezogen hatte, und verknotete die Enden.
»Das müsste passen«, sagte sie zu sich selbst. »Mein ganz persönlicher Schutzumschlag.«
Sie musste kichern, freute sich über ihre clevere Idee und ließ den Umhang aus aufgefädelten Büchern über ihren Kopf gleiten. Die dicksten Wälzer bedeckten ihre Brust. Die dünneren Bücher schützten ihre Seiten und ihren Rücken. Obwohl die Rüstung schwerer war, als sie erwartet hatte, war sie sich sicher, dass sie ihren Zweck erfüllen würde. Sie strich über den denimblauen Einband einer Erstausgabe der englischen Version von Lolita.
Die Sechzehnjährige nahm ihre Messer von der Tischplatte aus Sperrholz, an der ihr Vater so viele Tage und Nächte damit verbracht hatte, ihr die Klassiker vorzulesen. Seine Stimme hallte in ihrem Kopf wider, und sie erzählte Geschichten aus weit entfernten Ländern und noch entfernteren Zeiten, aus anderen Welten als der des postapokalyptischen Texas, in der sie lebte.
Über den weichen Teppichboden ging sie zu dem zerbrochenen Fenster mit Blick auf den kleinen Teich. Wie oft hatte sie endlos lange aus der Sicherheit der Bibliothek heraus auf das Wasser gestarrt und dabei unwillkürlich gelächelt. Jetzt rief die Aussicht nur noch einen pochenden Schmerz hervor, der tief in ihrem Bauch saß.
Lou hielt die Messer gut ausbalanciert in ihren Händen und stieg durch das Fenster, wobei sie darauf achtete, den Glassplittern auszuweichen, die auf beiden Seiten der Öffnung verstreut lagen. Kurz darauf war sie auf dem breiten Grünstreifen, der das Gebäude vom Ufer trennte und seit Langem von wild wucherndem Unkraut dominiert wurde.
Trotz des zusätzlichen Gewichts ihrer Bücherrüstung bewegte sie sich wie eine Gazelle über die offene Fläche, bis sie einen Strauch erreicht hatte. Sie kauerte sich dahinter und balancierte ihr Gewicht auf den Zehenspitzen. Ihr Puls raste, es pochte an ihren Schläfen und ihrem Hals, aber es gelang ihr, ihre Atmung zu kontrollieren. Ihr Blick konzentrierte sich im dunstigen Mondschein kurz vor der Morgendämmerung, der den Teich in ein blasses Licht tauchte.
Am Ufer befand sich das Lager der Geflohenen. Einige mochten dem Kartell angehört haben, andere vielleicht den Dwellern. Wer wusste das schon? Und wen interessierte das? Für Lou waren es die Männer, die ihrem Vater ihr Abendessen geraubt und ihn dann getötet hatten. Es waren zehn Mann, und sie würden dafür bezahlen. Jeder Einzelne würde sterben, bevor der Mond der Sonne Platz machte. Das war sie ihrem Vater schuldig.
Lou zog ihre Rüstung mit den Daumen auf ihren Schultern zurecht und nahm ihr erstes Ziel ins Visier. Die Männer hatten sich in drei Grüppchen verteilt. Das erste befand sich geradeaus zwischen ihr und dem Wasser auf der anderen Seite einer absterbenden Hecke. Das zweite war auf der linken Seite des Ufers. Das dritte befand sich auf der rechten Seite des Teiches in der Nähe der halbkreisförmigen Auffahrt, die das Grundstück mit der Straße verband. Alle Männer schliefen, soweit sie das beurteilen konnte. Es gab nicht einmal jemanden, der Wache hielt.
Lou suchte das vor ihr liegende Gelände aufmerksam ab und bewegte sich dann rasch nach links zu einem ausgetrockneten Kanal, der in der nassen Jahreszeit Regenwasser in den Teich leitete. Die Böschung ging steil nach unten, aber sie behielt ihr Gleichgewicht und eilte gebückt zum Fuß einer kleinen Brücke, die über den Kanal führte. Von ihrer Position aus konnte sie die erste Gruppe sehen. Es waren drei Männer.
Sie rieb mit den Daumen über die Griffe ihrer Messer und atmete die kühle Luft ein. Es war windstill, die Sicht war gut. Nichts würde ihre Annäherung verbergen. Sie musste schnell und präzise sein. Es gab keinen Raum für Fehler oder unnötige Bewegungen.
Lou erhob sich. Schwer hing die Bücherrüstung von ihrem Oberkörper herab, als sie sich die Böschung hinaufschob. Sie zog die Rüstung erneut zurecht und stürzte sich auf das Trio, das im bleichen Mondlicht fest schlief.
Ihre Beine wirbelten über den harten Boden, bis sie die Männer erreicht hatte. Zwei von ihnen schliefen mit identischer Körperhaltung, was sie an Mumien erinnerte. In der schmalen Lücke zwischen ihnen war niedergepresstes, taufeuchtes Gras und Unkraut. Lou zielte auf diese Lücke, und kurz bevor sie sie erreichte, ließ sie sich zu Boden sinken und glitt das letzte Stück auf ihrem Rücken.
Sie hatte genügend Schwung, um zwischen die beiden Männer zu rutschen. Gleichzeitig stieß sie beide Messer nach unten und traf jeweils knapp unterhalb des Solarplexus. Die in die Körper gerammten Messer dienten als perfekte Bremsen, und Lous Bewegung stoppte abrupt.
Beide Männer japsten nach Luft, als die Messer in sie fuhren, aber Lou riss die Klingen rasch heraus und erledigte sie, genau so, wie sie schon andere Männer vor ihnen erledigt hatte. Sie gurgelten und gaben grunzende Laute von sich. Einer von ihnen griff nach Lou, als sie sich über ihn rollte, um den dritten Mann anzugreifen. Seine raue Hand umklammerte fest ihr Handgelenk und riss sie zur Seite. Sie war nahe genug an seinem Gesicht, um die Wärme seines Atems zu spüren und den Wildfleischgeruch von gegrilltem Eichhörnchen wahrzunehmen, das am vergangenen Abend als Mahlzeit gedient hatte.
Lou befreite sich aus seinem schwächer werdenden Griff und bewegte sich auf das nächste Ziel zu. Der Mann war inzwischen aufgewacht. Er wirkte benommen und desorientiert, aber er schlief nicht länger. Er stützte sich auf den Ellenbogen nach oben und murmelte etwas von zu viel Radau, um schlafen zu können, als Lou sich wie eine Wildkatze auf ihn stürzte. Ihr Angriff riss seinen Hals nach hinten, und sein Kopf schlug auf dem harten Boden auf. Er konnte nur noch stöhnen und mit den Augenlidern flattern, bevor Lou wieder und wieder ihre Klingen in die verwundbarsten Teile seines Kopfes und Halses trieb.
Ihre Brust hob und senkte sich und ihre Lunge brannte von der kalten Luft. Sie rollte sich von dem Toten herunter und legte sich flach mit dem Rücken auf den Boden. Lou versuchte, sich auf den Mond zu konzentrieren, wieder zu sich zu finden und ihre Herzfrequenz abzusenken. Unbehaglich bewegte sie ihren Körper in der harten Bücherrüstung hin und her, die gegen ihren Rücken drückte.
Sie schloss die Augen und stellte sich ihren Vater vor. Sie sah seine Augen über den oberen Rand eines dicken Romans blicken. Sie hörte das beruhigende Rascheln des Papiers beim Umblättern der Seiten.
Er hatte ihr gesagt, dass sie dazu bereit war. Er hatte sie daran erinnert, wie sehr sie sich vorbereitet hatte. Er hatte ihr versichert, wie stolz er war auf ihre überraschende Kraft, ihre Schnelligkeit und Wendigkeit. Ihr zierlicher Körperbau und ihre geringe Größe waren entscheidende Vorteile, hatte er gesagt. Er hatte sie auch davor gewarnt, dass es schwierig sein würde, jemandem das Leben zu nehmen. Vielleicht würde die Tat selbst mit der Zeit einfacher werden, aber die emotionalen Folgen würden so schwerwiegend bleiben wie beim ersten Mal.
Lou biss sich auf die Innenseite ihrer Wange, um die Erinnerung zu vertreiben. Bewusst versuchte sie, ruhiger zu atmen. Langsam atmete sie durch die Nase ein und aus. Ein. Aus. Ein. Aus. Ein. Aus. Sechs Atemzüge geschafft. Noch vier.
Sie rollte sich auf die Seite und blickte über den Teich in Richtung Straße. An der Stelle, an der sie die vier Männer zuletzt gesehen hatte, war keine Bewegung auszumachen. Sie konnte vage Umrisse auf dem Boden erkennen. Soweit sie das von hier aus sagen konnte, schliefen sie noch. Das kurze Crescendo, das mit dem Töten der drei Männer einhergegangen war, hatte sie nicht aufgeschreckt.
Lou hob ihre Klingen vor das Gesicht und drehte sie hin und her. Sie betrachtete sie im Mondlicht und beugte sich nach vorn, um sie an der Kleidung eines Toten abzuwischen. Dann bemerkte sie zahllose Blutspritzer auf ihrer Rüstung aus Büchern und Blutflecken an ihren Händen. Mit Abwischen war hier nichts zu machen.
Tief gebückt und vornübergebeugt huschte Lou näher an das verbliebene Quartett heran. Sie hielt sich hinter dem Rand des Kanals, bis sie eine gedrungene Eiche fand, die ihr etwa dreißig Yards von den Männern entfernt Deckung bot. Ihre dunklen, amorphen Formen schmiegten sich an den Boden am Rand des Teichs. Zum ersten Mal sah sie die niedrig brennende Glut eines allmählich erlöschenden Lagerfeuers. Orangerotes Glühen pulsierte im Inneren des Haufens aus fast vollständig verbrannten Stöcken und Zweigen. Über dem Feuer lag auf zwei Astgabeln ein längerer Stock, der als Spieß diente. Dort hatten sie ihr Abendessen zubereitet. Dort hatten sie das Wild gegrillt, das ihr Vater gejagt und gefangen hatte. Erneut stieg der inzwischen so vertraute Ansturm schwelender Wut in Lous Buch nach oben und breitete sich aus. Ihre Muskeln spannten sich an, ihre Zähne bissen aufeinander, ihre Hände griffen die Messer fester. Von Wut überwältigt stieß sie sich mit einem Fuß vom Boden ab, sprang hinter dem Baum hervor und stürmte auf die Männer zu. In vollem Sprint bewegte sie ihre Arme, sodass die Klingen an ihren Seiten auf und ab schwangen. Heftig schlenkernd schlug die Bücherrüstung gegen ihren Körper. Als sie das offene Areal zum Lagerplatz fast überquert hatte, erreichte sie ihre Höchstgeschwindigkeit. Nur Sekunden später war sie über ihnen.
Sie hieb und stach mit beiden Messern nach den Männern, blind vor Wut, und tötete sie. Einen. Zwei. Drei.
Aber der vierte. Wo war der?
»Hey«, rief der Mann mit raspelnder und schlaftrunkener Stimme. Er tauchte hinter ihr auf, mit einer Decke über den Schultern und einer Schrotflinte in den Händen.
Bevor Lou reagieren konnte, drückte er ab. Der Doppelschuss explodierte aus dem Lauf. Lautes Knallen zerriss die Luft. Die Druckwelle mit einem Teil der Schrotkugeln erwischte Lou und brachte sie aus dem Gleichgewicht. Augenblicklich betäubt und zu keiner Reaktion fähig, sank sie auf die Knie. Der Mann machte einen kraftvollen Schritt auf sie zu, lud die Schrotflinte durch, feuerte erneut und lud wieder nach.
»Wer bist du?«, fragte er und zielte mit dem Lauf auf ihren Kopf.
Lou hockte atemlos auf ihren Knien. Sie schluckte schwer und beugte sich nach vorn, das Echo der Druckwelle immer noch in ihren Ohren. Sie war benommen und blutete, aber sie schaffte es, sich auf das Nötige zu konzentrieren. Noch immer war genug Wut in ihr, die sie antrieb. Während sie sich scheinbar ergab, eine Hand hob und das Messer fallen ließ, schleuderte sie mit der anderen die Klinge nach vorn. Das Messer wirbelte durch die Luft und traf den Mann am Arm.
Er schrie auf vor Schmerz und verlor kurzzeitig die Kontrolle über die Schrotflinte. In einem Augenblick des Schocks verzog er erschrocken das Gesicht, das kurz darauf von blanker Wut beherrscht wurde. Er ignorierte das Messer in seinem Arm und versuchte, seine Waffe neu auszurichten.
Der kurze Moment reichte Lou, um in ihren Hosenbund zu greifen, ihren Finger auf den Abzug zu legen und die Neunmillimeter auf seine Brust zu richten. Sie drückte auf den Abzug, und die Waffe bäumte sich auf. Sie feuerte erneut. Und noch einmal. Und noch einmal. Der Mann drehte sich taumelnd um die eigene Achse, ließ die Schrotflinte fallen und brach zusammen.
Lou stand auf und begutachtete die dutzenden kleinen Löcher in den Buchrücken vor ihrer Brust und die oberflächlichen Wunden an ihren Armen. Sie fasste sich, ihr Adrenalinspiegel ließ nach, und sie trat zu dem Toten. Eine Weile stand sie stumm über ihm und hockte sich dann hin, um in seine starren, in die unendliche Ferne blickenden Augen zu sehen.
»Ich bin die Tochter meines Vaters«, sagte sie. »Sein Name war David. Mein Name ist Lou.«
30. Oktober 2032, 7:03 Uhr 28 Tage nach dem Ausbruch Austin, Texas
Die achtjährige Louise hielt die Hand ihres Vaters und sah zu, wie die Leichen verbrannten. Mit seinem schwieligen Daumen rieb er über die Rückseite ihres Ringfingers. Keiner von beiden sagte ein Wort, als sich das Feuer über die in Laken gewickelten Leichen ausbreitete und sie mit großen, hungrig leckenden Flammen verschlang.
Mit ihrer freien Hand drückte Louise die OP-Maske, die ihre Nase und ihren Mund bedeckte, fester ins Gesicht. Es half nichts. Der beißende Geruch nach verbranntem Fleisch und Haar stieg ihr in die Nase. Bis in die Kehle hinunter konnte sie ihn schmecken, scharf und säuerlich.
Ihr Vater räusperte sich, als wolle er den Geschmack loswerden, und wischte sich über das Gesicht. Louise wandte sich von den wachsenden Flammen und dem dichter werdenden Qualm ab und blickte ihm in die Augen.
»Es ist nicht deine Schuld«, sagte sie leise. Über dem lauten Knistern des Feuers war ihre Stimme kaum zu hören. »Du hast alles getan, was du konntest.«
Er drückte ihre Hand, aber sein trauriger Blick blieb auf den Scheiterhaufen gerichtet. Seine Stimme war belegt, als er zu sprechen begann. »Lou, du bist ein gutes Mädchen. Deine Mutter hat dich geliebt. Dein Bruder auch.«
»Sie hat auch dich geliebt, Dad. Das hat sie mir immer wieder gesagt, vor allem dann, wenn du dummes Zeug angestellt hast.«
Er kicherte leise, brachte aber nur ein Lächeln zustande, das einem Stirnrunzeln ähnelte. »So, hat sie das?«
Lou nickte. »Und Davey fand, dass du einfach der Beste und Coolste bist. Mom hat das auch gesagt.«
»Deine Mom hat viele nette Dinge gesagt«, bemerkte er traurig.
Lou wandte sich wieder dem Flammenmeer vor ihr zu, dessen Hitze ihr ins Gesicht schlug. Das Feuer war jetzt heiß und hell, und obwohl ihr die Rauchschwaden in den Augen brannten, versuchte Lou, sie offen zu halten. Dieser Rauch und die aufschwebenden Flocken, das waren ihre Mutter und ihr Bruder. Ihre Körper und ihre Seelen schwebten auf sie zu und blieben an ihr kleben.
Sie und ihr Vater standen schweigend da, nur das Knistern und Knacken des Feuers füllte die Luft zwischen ihnen. Nach einer gefühlten Stunde, die wahrscheinlich nur ein paar Minuten gedauert hatte, seufzte Lous Dad tief.
»Ich hätte Davey nicht in die Schule gehen lassen sollen«, sagte er. »Dann wäre er nicht krank geworden. Und deine Mutter wäre nicht …«
Lou nahm beide Hände ihres Vaters in ihre und drückte sie. »Dad, hör auf.«
Sie war acht Jahre alt, ging in die zweite Klasse, las gern und spielte Lernspiele auf ihrem iPad. Dreimal die Woche ging sie zum Turnen, dazu spielte sie Fußball beim YMCA. Sie verstand nicht, was genau dieSeuche war. Sie begriff nicht, dass zwei von drei Menschen auf der Welt an der Lungenkrankheit sterben würden. Und sie war nicht in der Lage zu überblicken, dass der Rest ihres Lebens so unsicher sein würde wie der nächste Tag, die nächste Stunde.
Was sie wusste, war, dass die Schule geschlossen war und die Turnhalle ebenso. Sie verstand, dass sie nicht mit ihren Freunden spielen oder sich von ihrem kleinen Grundstück entfernen durfte. Sie war dabei zu verarbeiten, dass sie ihre Mutter und ihren Bruder nie wiedersehen würde.
Sie wollte nichts davon hören, wenn ihr Vater über die Vergangenheit sprach. Ihr achtjähriger Kopf hatte genug damit zu tun, mit der Gegenwart klarzukommen. Was-wäre-wenn-Fragen verbrauchten nur die Kraft, die für andere, lebensnotwendigere Dinge benötigt wurde. Allmählich erreichte sie das Alter, in dem Menschen ihre Vernunft entwickeln. Und die Vernunft ließ keinen Raum für Trugbilder.
Lous Vater zog sie an ihren Händen und holte sie aus ihren Gedanken.
»Komm mit«, sagte er und führte sie zu der freistehenden Garage, groß genug für drei Autos, die über einen Durchgang mit dem Haus verbunden war. »Ich muss dir etwas zeigen.«
Lou warf einen letzten Blick über die Schulter auf die abnehmenden Flammen und den nachlassenden Rauch und folgte ihrem Vater in die Garage. Der vertraute Geruch nach Motoröl, Benzin und Sägespänen drang durch ihre Maske, und sie zog sie von ihrem Gesicht und klemmte sie unters Kinn.
Ihr Vater ließ Lous Hände los und zog an einem Schnurschalter, bis es Klick machte. Eine nackte Glühbirne erwachte zum Leben und tauchte den Teil der Garage, der als Werkstatt diente, in ein hellgelbes Licht. Dann drückte er einen Schalter an seiner Werkbank. Die in die Rückwand integrierte Leuchtstoffröhre flammte auf und enthüllte eine breite Arbeitsfläche, eine Tischkreissäge, einen Schraubstock und Akku-Werkzeuge, die in ihren Ladestationen steckten. Auf einer Seite stand ein kanadischer Whiskey, der noch im dekorativen lila Samtbeutel steckte, aus dem nur der verheißungsvolle, längliche Flaschenhals herausschaute.
Er wischte mit den Händen über die Arbeitsplatte, wobei eine Wolke aus Sägemehl aufstob, und griff nach einem Wandregal über dem Tisch. Mit beiden Händen holte er eine rechteckige Metallkiste herunter. Er stellte die Kiste auf die Arbeitsplatte, öffnete sie und fischte einen Schlüsselbund heraus.
Lou beobachtete, wie ihr Vater zielstrebig von der Werkbank zu dem hohen Waffenschrank in der Ecke ging. Ihre Augen weiteten sich, und sie trat nach vorn in den sanften Lichtkegel, um zuzusehen, wie ihr Vater die Metalltür aufschloss. Sie hatte diesen Schrank noch nie offen gesehen.
Mit einer Hand schob er den Schlüssel ins Schloss, während er mit der anderen das Zahlenschloss bediente. Als er die korrekte Kombination eingestellt hatte, drehte er den Schlüssel und zog an der Klinke. Die Tür, fast so groß wie ihr Bruder Davey, schwang mit einem lauten Quietschen auf. Er griff in das dunkle Innere des Schranks und holte eine rechteckige Holzkiste heraus, die etwa die gleiche Länge wie sein Unterarm hatte. Als er sich umdrehte und zur Werkbank zurückging, genügte sein Blick, um Lou dort bleiben zu lassen, wo sie war. Er musste ihr nicht sagen, dass sie sich dem Waffenschrank nicht nähern sollte.
Er stellte die Kiste ehrfürchtig in die Mitte der Werkbank, als würde er eine Opfergabe auf einen Altar legen. Mit einer Kopfbewegung holte er Lou an seine Seite. Schnell schob sie sich neben ihn und biss sich auf die Unterlippe, gespannt darauf, was sich in dieser magischen Kiste verbergen mochte.
Die Kiste bestand aus poliertem Mahagoni und war mit hellen, dekorativen Intarsien verziert. Die Scharniere und das zarte Schloss waren bronzefarben. Was auch immer in der Kiste war, war in jedem Fall etwas Besonderes. Lous Puls beschleunigte sich.
Er öffnete die Kiste mit beiden Händen und hob ein mit einem vergilbten Tuch umwickeltes Paket heraus, das sie in der Farbe an die Leichentücher ihrer Mutter und ihres Bruders erinnerte. Langsam, wie bei einer Zeremonie, faltete er das Tuch auseinander und enthüllte so ein paar Messer. Er richtete sie sorgfältig nebeneinander auf dem Tuch aus und legte die Fingerspitzen auf die Griffe.
»Das waren die Messer deines Urgroßvaters«, sagte er. »Sie gehören jetzt dir.«
Lou sah zu ihrem Vater auf, die Augen skeptisch zusammengekniffen. »Mir?«
In seiner Antwort lag keine Spur von Emotion. Sein fester Blick war so ernst, wie sie es noch nie erlebt hatte.
»Ich werde nicht für immer da sein, um dich zu beschützen«, sagte er. »Du musst lernen, das für dich selbst zu tun.«
»Mit Messern?«
»Eine Pistole oder ein Gewehr funktionieren nicht in alle Ewigkeit«, sagte er. »Schon wenn dir die Munition ausgeht, taugen sie nur noch als Briefbeschwerer. Ein gut gepflegtes Messer dagegen ist eine wahrhaft zeitlose Waffe.«
Lous Augen füllten sich mit Tränen, die schließlich über ihre Wangen liefen. »Ich verstehe nicht«, sagte sie mit zitterndem Kinn.
Sein Blick wurde weicher, und er legte seine Hände auf Lous Schultern. Er kniete sich vor sie hin und zog sie an seine Brust. Mit seiner großen Hand umschloss er ihren Hinterkopf und streichelte ihn, um seine trauernde Tochter zu trösten.
»Ich werde dir alles beibringen«, sagte er leise. »Du wirst lernen zu jagen und Spuren zu lesen und Nahrung zuzubereiten. Du wirst lernen, wie man Messer wirft und mit Schusswaffen umgeht.«
Er zog sich von ihr zurück, hielt sie aber an ihren Schultern fest. Sie zitterte und versuchte, ihre Tränen hinunterzuschlucken. Sie wollte stark sein. Ihr Kopf schwirrte vor Fragen. Sie biss sich auf die Lippe, um die tausend Fragen daran zu hindern, unkontrolliert herauszuströmen.
»Es wird nicht mehr lange dauern, bis wir keinen Strom mehr haben. Wir werden auf uns allein gestellt sein, Lou. Verstehst du?«
Sie nickte energisch mit dem Kopf und blinzelte die Tränen weg.
»Ich erzähle dir das nicht, um dir Angst zu machen«, sagte er. Traurigkeit hatte sich in seine Stimme geschlichen. »Ich erzähle dir das, damit du verstehst, was wir tun müssen. Wir müssen lernen und üben. Wir müssen uns vorbereiten. Wir müssen bereit sein. Willst du dazu jetzt noch etwas wissen?«
Lou schluckte. Ihr Kopf war voller Fragen: Sind böse Menschen hinter uns her? Was werden wir essen? Müssen wir unser Zuhause verlassen? Wann kann ich wieder zur Schule gehen?
Doch statt diese Fragen zu stellen, warf sie einen Blick auf die Werkbank und die glänzenden Stahlklingen, die das fluoreszierende Licht über ihnen reflektierten. Sie sahen großartig aus. Sie blies ihre Wangen auf und atmete aus.
2. Dezember 2032, 14:12 Uhr 61 Tage nach dem Ausbruch Austin, Texas
Lou balancierte das Messer in ihrer rechten Hand und prüfte sein Gewicht. Sie platzierte ihren Zeige-, Ring- und Mittelfinger in der Mitte des Griffs. Ihr kleiner Finger hing locker daneben herunter.
Sie richtete ihren Körper auf das Ziel aus, trat einen Schritt zurück und drehte sich nach links. Die linke Schulter auf das Ziel gerichtet, machte sie mit dem hinteren Fuß einen Schritt nach vorn. Um den Schleudereffekt zu maximieren, hielt sie das Messer locker zwischen den Fingern und streckte ihren Arm vollständig nach hinten aus. Ihre Schulter senkte sich, und ihr Arm schwang wie bei einem Pitcher beim Baseball über ihren Körper.
Das Messer flog durch die dichte, kalte Luft und bohrte sich tief in den Stamm der alleinstehenden Buscheiche in ihrem Hinterhof. Kaum war die Klinge im Holz versunken, blickte sie ihren Vater Anerkennung suchend an. Er stand an der Seite, die Arme vor der Brust verschränkt.
»Gut«, sagte er. »Soweit zum unkonventionellen Wurf. Jetzt lass mich den Speer-Stil sehen.«
Lou ließ die Schultern sinken und jammerte: »Ich bin überhaupt nicht gut darin!«
»Genau deshalb will ich den Wurf sehen. Wenn du nur das tust, was du gut kannst, wirst du in nichts anderem besser.«
Lou verdrehte die Augen. »Na gut.«
Sie nahm das andere Messer und hob es wie einen Speer über ihre Schulter. Auch mit der zweiten Klinge visierte sie denselben Baum an. Voll konzentriert schob Lou die Zunge zwischen die Zähne, ging einen Schritt rückwärts, machte einen Ausfallschritt nach vorn und schleuderte das Messer. Mit einem dumpfen Schlag schlug es gegen den harten Stamm und fiel zu Boden.
»Siehst du?« Sie zuckte mit den Schultern.
David rückte das Basecap mit dem Emblem der Houston Astros auf seinem Kopf zurecht und kicherte. »Alles klar. Geh und hol deine Messer. Wir werden daran arbeiten.«
Lou wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und stapfte durch das dürre Gras auf den Baum zu. Sie hob das heruntergefallene Messer auf und zog das im Holz steckende heraus. Sie wischte die Klingen sauber und ging zurück zu ihrem Vater.
»Also, dein Großvater war noch mal was?«, fragte sie. »Was genau hat er gemacht?«
»Er war mit einem Wanderzirkus unterwegs, Lou. Das habe ich dir doch schon erzählt.«
»Das weiß ich«, sagte sie und zielte. »Aber du hattest einen speziellen Begriff dafür.«
Sie holte aus und schleuderte das Messer. Es traf mit der Klinge zuerst gegen den Stamm, blieb aber nicht stecken.
»Nicht genug Kraft«, kommentierte ihr Vater.
Lou verzog schmollend die Lippen. Sie drehte sich um und runzelte die Stirn.
»Der Wurf«, korrigierte er sich rasch. »Nicht du.«
Sie hob das zweite Messer hoch, richtete die Klinge auf den Baum und schleuderte es wie einen Speer über ihre Schulter. Lou legte ihr ganzes Gewicht in den Wurf und stöhnte auf, als sie das Messer losließ. Das Messer flog horizontal und war schnell genug, um beim Auftreffen stecken zu bleiben.
Ihr Vater applaudierte. »Sehr gut. Du wirst immer besser.«
Lou schlurfte zurück zum Baum. »Wie heißt das nun?«, wiederholte sie ihre Frage. »Was er gemacht hat?«
»Man nannte es Pfählungskunst.«
Lou hob eine Augenbraue. »Sagtest du pfählen?«
David nickte. »Klingt ekelhaft, ich weiß«, gab er zu. »Letzten Endes war es nur eine schick klingende Bezeichnung dafür, Messer auf Menschen zu werfen und sie so hauchdünn wie möglich zu verfehlen.«
»Und mit dieser Nummer ist er aufgetreten?«
»Genau. Er hat für einen Wanderzirkus gearbeitet, einen der Letzten seiner Art. Mein Großvater nannte sich El Gran Mago Cuchillo.«
»Der Große Messermagier?«
»Jawohl.«
Lou streckte ihre Finger aus und balancierte die Messer auf ihren offenen Handflächen. »Das waren also seine Messer? Und er hat damit auf Menschen geworfen?«
»Nun ja, genau genommen war es nur ein Mensch. Deine Urgroßmutter.«
Lou warf eines der Messer ein kurzes Stück nach oben und fing es am Griff auf. »Und welchen Namen haben sie ihr gegeben?«, fragte sie und schnippte das Messer wieder in die Luft. »El Gran Cojín Pin?«
Ihr Vater schüttelte sich vor Lachen. »Der war gut«, schnaufte er, als er langsam wieder zu sich kam. »Aber nein, sie nannte sich nicht Das Große Nadelkissen.«
Lous Augen tanzten zwischen ihren Händen hin und her, während sie beide Messer gleichzeitig durch die Luft wirbeln ließ. Mit jedem Wurf stiegen die Messer höher.
»Ihr Name war Louise«, sagte er.
Sie wandte ihren Blick von den Messern ab und sah ihren Vater an. Beide Messer fielen zu Boden.
»Louise?«
»Wir haben dich nach ihr benannt. Um das Andenken an die Mutter meines Vaters fortleben zu lassen.«
Lou runzelte die Stirn und ihre Augen verengten sich zu vorwurfsvollen Schlitzen. »Du weißt, dass ich meinen Namen nicht mag. Louise klingt so altertümlich.«
»Besser als der Name, den deine Mutter für dich vorgesehen hatte.«
Lou ging in die Hocke, um die Messer aufzuheben. »Was kann schlimmer sein als Louise?«
»Sie wollte dich Pearl nennen.«
Vorsichtig strich Lou mit dem Finger über die Seite einer Klinge und wischte den Schmutz ab. Sie schürzte die Lippen. »Ihr wart beide echt schlecht im Namen ausdenken.«
»Du sprichst mit einer Weisheit, die weit über dein Alter hinausreicht«, schmunzelte ihr Vater. »Ich würde sagen, du bist eine Achtjährige, die auf siebzehn zugeht. Deine Mutter hatte schon immer darauf bestanden, dass wir mit dir reden wie mit einer Erwachsenen. Schätze, sie hatte recht.«
Lou wandte sich dem Baum zu und machte sich bereit für den nächsten Wurf. Mitten in der Bewegung hielt sie inne und blickte über ihre Schulter. Die Augen ihres Vaters schimmerten nass.
»Vermisst du Mom?«, fragte sie.
Er schniefte und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. »Sie und Davey«, nickte er traurig. »Jeden Tag, jede Minute denke ich an sie. Ich vermisse ihre Gesichter, ihre Stimmen, ihr Lachen.«
Lou zielte mit dem Messer auf den Baumstamm und konzentrierte sich darauf, den Wurf korrekt auszuführen. Blitzschnell überwand das Messer die kurze Strecke und bohrte sich in den Stamm. Sie schloss die Augen und schleuderte das zweite Messer auf die exakt gleiche Weise. Das Messer blieb weniger als zwei Fingerbreit von seinem Zwilling entfernt im Stamm stecken.
»Es ist erst ein paar Wochen her«, sagte sie. »Ich vermisse sie noch nicht. Es fühlt sich an, als wären sie im Urlaub.«
Lous Vater rückte das Astros-Basecap auf seinem Kopf zurecht und ging mit den Händen in den Taschen zum Baum, zog die Messer heraus und brachte sie seiner Tochter. Er gab sie ihr und legte seine Hand auf ihren Kopf.
»Sie sind im Urlaub«, sagte er leise. »Sie sind im Paradies. Es geht ihnen gut. Sie lachen und singen und essen Donuts.«
Unwillkürlich breitete sich ein Lächeln über Lous Gesicht aus. Der Gedanke an ihren Bruder, Donuts essend und mit vollem Mund singend, hatte etwas Tröstliches. Es war ein widerlicher Anblick vor ihrem inneren Auge, aber doch ein tröstlicher.
»Wir hingegen«, sagte ihr Vater, »haben jede Menge Arbeit vor uns. Vor allem musst du lernen, wie man jagt und Feuer macht.«
»Wir haben doch noch Konserven«, sagte sie. »Und der Gasherd funktioniert auch.«
»Ja, aber unsere Vorräte gehen zur Neige, wir haben schon keinen Strom mehr, und wer weiß, wie lange das Gas noch funktioniert.«
»Ich koche überhaupt nicht gern.«
»Du hast es noch nie versucht, also woher willst du das wissen?«
»Ich weiß es eben.«
»Es gibt dutzende Aufgaben, die du noch nicht gemacht hast und auf die du dich einlassen musst. Das ist jetzt einfach so. Das ist unsere Welt.«
Lou seufzte. Dann drehte sie sich mit einer einzigen Bewegung von ihrem Vater weg, sprang in die Luft und ließ eines ihrer Messer fliegen. Es surrte durch die Luft, drehte sich schnell und blieb in der Mitte des Stammes stecken. Sie landete auf ihren Füßen, machte eine Pirouette und schleuderte dann das zweite Messer mit der Rückhand auf dieselbe Stelle. Es traf den Griff des ersten Messers und prallte zu Boden. Sie stöhnte frustriert auf und ballte ihre Fäuste.
»Fast«, sagte sie.
15. Januar 2033, 21:12 Uhr 105 Tage nach dem Ausbruch Austin, Texas
»Schmeckt wie Schweinefleisch«, sagte Lous Vater. »Außerdem ist es alles, was wir haben.«
Lou saß auf einem knorrigen, verrottenden Baumstamm vor dem kleinen Feuer, das ihr Vater vor einer Stunde angezündet hatte. Sie hatte nicht viel für das Tier übrig, das ihr Vater in einem Topf kochte, den er über die Flammen gehängt hatte.
»Es wird sehr zart«, erklärte er ihr. »Durch das lange Kochen fällt das Fleisch geradezu vom Knochen.«
Trotz der strahlenden Wärme des Feuers durchlief Lous Körper ein unwillkürlicher Schauder. Die Vorstellung, Gürteltier zu essen, reichte aus, um ihren knurrenden Magen verstummen zu lassen.
»Ich mag lieber Kaninchen«, sagte sie. »Gutes Fleisch. Schmeckt wie Hühnchen.«
»Wir werden nicht immer ein Kaninchen finden.«
»Sogar Eichhörnchen. Ich mag Eichhörnchen.«
»Eichhörnchen schmeckt auch wie Schweinefleisch«, sagte ihr Vater. »Genau wie Gürteltier.«
Lou machte einen Bogen mit der Hand und wies auf die Ansammlung von Kiefern und Stechpalmen weniger als zwanzig Schritte von ihrem Lager entfernt. »Dort gibt es jede Menge Eichhörnchen. Wir könnten Eichhörnchen essen.«
Ihr Vater stocherte mit einem langen Grillspieß mit zwei Zinken im Topf herum. »Das ist nicht der Sinn der Übung. Der Punkt ist, dir alles über die Tiere beizubringen, die du essen kannst. Wie man sie jagt, wie man sie ausnimmt, wie man sie gart.«
»Mit Eichhörnchen und Hasen komme ich gut klar.«
Ihr Vater lehnte sich zurück und grinste. »Dabei fällt mir ein: Wie weidest du ein Eichhörnchen aus?«
Lou schob sich auf dem Baumstamm zurecht und benutzte die Hände, um den Vorgang zu beschreiben, während sie sprach. »Es ist ziemlich einfach. Zuerst drehe ich es auf den Bauch und entferne den Schwanz. Dann schneide ich es an beiden Seiten auf.«
»Soweit okay.«
»Dann stelle ich einen Fuß auf die Hinterbeine, um es festzuhalten. Ich nehme die Vorderbeine und fange an, das Tier auseinanderzuziehen. Man muss mit den Fingern tief rein, besonders an den Vorder- und Hinterbeinen, aber die Haut geht ziemlich leicht ab.«
»Wie weiter?«
Lou wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. »Dann trennt man den Kopf ab«, sagte sie und durchschnitt in einer schnellen Bewegung mit der Handkante die Luft.
»Was ist mit dem Nackenknochen?«
»Den zerknackt man mit den Fingern«, sagte sie. »Wenn du Knochen mit einem Messer schneidest, wird nur die Klinge stumpf.«
»Sehr gut.«
»Wenn es ein Männchen ist, muss man …«
»Diesen Part kannst du überspringen.«
»Na gut.« Lou kicherte. »Danach … greife ich das Bauchfell zwischen Daumen und Zeigefinger und ziehe es etwas heraus. Mit einem vorsichtigen, sauberen Schnitt öffne ich die Bauchhöhle, damit ich die Eingeweide herausnehmen kann. Da heißt es aufpassen, denn wenn das Messer in die falschen Stellen schneidet, kann es sein, dass das Fleisch ungenießbar wird.«
»Korrekt.«
Lou machte mit ihren Händen schneidende Bewegungen. »Dann trenne ich die Eingeweide heraus. Ich schaue mir die Leber genau an. Sie muss gesund aussehen. Wenn nicht, sollte man das Fleisch nicht essen.«
»Wunderbar.«
»Dann mache ich kleine Schnitte an den Vorder- und Hinterfußgelenken und breche die Füße ab. Dann kann es über das Feuer.«
»Ausgezeichnet«, sagte Lous Vater. »Du hast ein gutes Gedächtnis. Nun, du hast ja mitbekommen, dass das beim Gürteltier gar nicht so anders aussieht. Die Grundprinzipien bleiben dieselben, nur dass du das Fett unter den Vorder- und Hinterbeinen entfernen musst. Du kannst das Tier in seiner Schale zubereiten oder es auslösen. Wir kochen es, also habe ich es aus der Schale geholt.«
Lou verzog das Gesicht, als würde sie etwas Vergammeltes riechen. »Die ganze Idee, etwas in seiner Schale zu essen, ist einfach ekelhaft.«
»Ekelhaft? Du hast Garnelen gegessen. Du hast Krabben gegessen. Du isst gern Hummer.«
Lou schüttelte den Kopf. »Das ist etwas anderes.«
Lous Vater schüttelte frustriert den Kopf und stand auf, um nach ihrem Essen zu sehen. Er schob sein Gesicht über den Topf, Dampf wirbelte um ihn herum. Er atmete den Geruch ein, den Lou so ekelhaft fand und testete das Gürteltier an verschiedenen Stellen mit dem Spieß. Er sah sie mit einem breiten Grinsen an. »Es wird langsam«, sagte er. »Bist du bereit, das Zelt aufzubauen?«
Lou nickte und drückte sich vom Baumstamm nach oben. Ihre Beine fühlten sich steif an und sie streckte sich, bog ihren Rücken durch und machte die Arme lang über dem Kopf. Sie unterdrückte ein Gähnen.
»Wie lange dauert dieser Trip?«, fragte sie. »So lange wie der letzte?«
David zuckte mit den Schultern. »Es ist jedes Mal anders. Um ehrlich zu sein, Lou, ich lasse das auf mich zukommen und denke mir unterwegs etwas aus. Ich habe so vieles in meinem Kopf, das ich dir beibringen möchte. Und das mache ich immer dann, wenn ich es gerade tue.«
»Also sagen wir drei Tage?«
Er lachte, lehnte den Spieß an den Topfrand und ging zu Lou. Er packte das Zeltpaket an einem Ende und half ihr, es auseinanderzuschütteln.
»Vielleicht auch länger«, sagte er. »Das Wetter ist gut. Hier draußen gibt es viel Wild. Warum fragst du? Hast du andere Pläne?«
Lou hockte sich hin, legte das Zelt flach auf den Boden und schob die erste Stange durch die Schlaufen. Sie musste einige Zeit herumprobieren, schaffte es aber schließlich, die Stange ganz hindurchzuführen. »Ich verstehe immer noch nicht, warum das alles so wichtig ist«, sagte sie. »Wir haben ein Haus. Wir haben einen Garten.«
David schob die zweite Stange in seine Seite, was am Ende einen schönen, sauberen Bogen entlang der Kante des Vier-Personen-Zeltes ergab. Er arbeitete schweigend, bis der Rahmen fertig war.
Lou holte einen Metallpflock aus der Zelttasche. Sie drückte ihn mit der Spitze in den Boden und fand dann den kleinen Gummihammer, der an der Außenseite der Tasche befestigt war. Ein paar kräftige Schläge trieben den Pflock in den Boden.
»Das habe ich dir schon oft versucht zu erklären«, sagte er. »Wir werden unser Zuhause nicht für immer haben, Lou. Es ist gerade drei Monate her, seit … seit sich die Welt verändert hat. Das ist nicht mehr als ein Augenblick.«
Lou ging auf ihrer Seite zur anderen Ecke des Zelts und stieß einen zweiten Pflock in die Erde. Sie schlug mehrmals mit dem Hammer zu, aber der Boden war zu hart.
Sie biss die Zähne aufeinander und holte immer kräftiger aus. Der Zeltpflock ließ sich kein Stück tiefer in den Boden treiben. Sie schnaubte frustriert und schlug noch ein halbes Dutzend Mal auf ihr Ziel ein, bevor ihr Vater sie aufhielt.
Er kniete sich neben sie und legte seine Hand auf ihren Rücken. »Brauchst du Hilfe?«, fragte er leise.
»Nein«, fauchte Lou. Sie hob den Gummihammer wieder über ihren Kopf und schlug zu, immer wieder. Sie hämmerte, bis Schweißperlen an ihrem Haaransatz aufblühten und sie fast außer Atem war.
»Bist du fertig?«
Lou warf ihrem Vater einen Blick zu, in der Hoffnung, dass er sah, wie aufgebracht sie war. Er sollte wissen, dass sie nicht wütend auf ihre Ausrüstung war. Was sie wütend machte, war der Gedanke, ihr Zuhause verlassen zu müssen.
Er streckte seine Hand aus. »Lass es mich versuchen. Ich mache weiter, und dann kannst du es zu Ende bringen. Es hat schon lange nicht mehr geregnet. Der Boden ist stellenweise wirklich sehr hart.«
Widerwillig reichte Lou ihm den Hammer und zog sich ein kleines Stück zurück. Ihr Vater drosch auf den Pflock ein, bis dieser sich zumindest etwas tiefer in die Erde gebohrt hatte. Dann hielt er den Gummihammer wieder Lou hin.
»Ist schon okay«, sagte sie. »Mach ruhig weiter.«
Er stieß den Hammer in ihre Richtung. »Nein, du beendest die Aufgabe. Das ist wichtig.«
»Warum?«, schnaubte sie, nahm aber ihrem Vater das Werkzeug ab. »Weil wir unser Zuhause verlassen müssen?«
»Jetzt mal langsam. Wir brechen nicht heute auf. Wahrscheinlich auch nicht morgen oder übermorgen. Aber schon bald werden uns die Vorräte ausgehen. Dann müssen wir losziehen und einen anderen Ort finden. Mir gefällt der Gedanke auch nicht, Lou. Aber du bist alt genug, um den Ernst der Lage zu verstehen.«
Lous finsterer Blick wurde weicher und sie sah verwirrt aus. »Was heißt das? Ernst der Lage?«
»Es bedeutet, dass es um unser Leben geht. Ich weiß, dass du erst acht bist. Du solltest in der Schule sein, auf dem Fußballplatz herumtoben oder in der Turnhalle Rad schlagen. Du solltest deinen Bruder ärgern und das Gegenteil von dem machen, was deine Mutter sagt. Du solltest etwas über die Planeten lernen und Clifford-Bücher lesen.«
»Clifford ist was für Babys.«
»Aber du verstehst, was ich meine«, sagte er. »Jetzt musst du früher erwachsen werden, als du eigentlich solltest. Du musst bereit sein, für dich selbst zu sorgen, und du musst verstehen, dass dies eine gefährliche Welt voller gefährlicher Menschen ist. Du bist schlau genug, das alles hinzubekommen. Mir gefällt die ganze Sache auch überhaupt nicht. Aber es ist, wie es ist, und ich wäre ein furchtbar schlechter Vater, wenn ich dir nicht die Wahrheit sagen würde.«
Lou machte die letzten Hammerschläge und dachte an Clifford, den großen roten Hund. Insgeheim mochte sie ihn. Sie konnte es nicht zugeben, aber sie tat es. Sie mochte auch Goodnight Moon und A Is For Astronaut. Diese einfachen Bücher und das stille Glück in ihnen hatten etwas Beruhigendes. Die Welt war in ein pastellfarbenes Licht getaucht, wenn sie diese Bücher ansah, im Gegensatz zu dem Grau und Sepia, das sich über ihr tatsächliches Dasein gelegt hatte.
Lou wusste, dass die Zeit für Kinderbücher und Kinderspiele vorbei war. Sie war eine Achtjährige, die auf siebzehn zuging. Sie stand auf, gab ihrem Vater den Hammer und klopfte ihre Hose ab.
»Du bist ein guter Vater«, sagte sie, rieb sich den Staub von den Händen und ging zur Kochstelle. Sie sog das Aroma von Wildfleisch ein, das mit dem Dampf aus dem Topf entwich.
Während ihr Vater die beiden verbliebenen Pflöcke in den Boden trieb, testete sie mit dem Grillspieß, ob das Gürteltier gar war. Die Zinken tauchten leicht in das Fleisch ein und lösten sich ebenso leicht wieder, und sie rief über ihre Schulter: »Essen ist fertig! Ich habe Hunger.«
25. September 2033, 5:56 Uhr 11 Monate und 23 Tage nach dem Ausbruch Austin, Texas
Lou riss die Augen auf. Ein Schweißfilm bedeckte ihren Nacken und ihren Rücken, ihr Puls raste. Ein weiterer Albtraum in einem Jahr voller Albträume hatte ihr erneut den dringend benötigten erholsamen Schlaf geraubt. Aber es war nicht der Albtraum, der sie geweckt hatte. Es war ein Geräusch aus der unteren Etage. Sie fragte sich erst, ob das Klirren Teil ihres Traums gewesen war. Dann hörte sie wieder etwas. Diesmal war es ein lauter Knall, gefolgt von gedämpften Stimmen.
Sie rollte sich auf die Seite. Die morgendliche Kühle jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Das Schlafkleid klebte an ihr. Sie stieß ihren Vater an.
»Dad«, flüsterte sie.
Er lag auf der Seite, das Gesicht ihr zugewandt. Er schlief mit gespitzten Lippen, als machte er sich auch im Schlaf die ganze Zeit Sorgen. Als er nicht reagierte, rüttelte sie ihn an der Schulter und flüsterte energischer. Weitere Geräusche drangen von unten in ihren Schlafraum.
»Dad«, sagte sie, »steh auf!«
Langsam öffnete er erst ein Auge und dann das andere. »Was ist los?«, fragte er benommen.
»Unten ist jemand im Haus.«
Seine Augen weiteten sich und er war plötzlich hellwach. Er drehte den Kopf hin und her und lauschte. Dann setzte er sich aufrecht hin und schob die Decke mit den Füßen weg. Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nichts …«