1,99 €
Die Katakomben von Château Montagne birgt viele Geheimnisse - und die sind oft gefährlich und unberechenbar. Das musste Zamorra nicht erst in dieser Episode erfahren, immerhin hat sein Vorfahr Leonardo die Keller und Verliese unter dem Schloss schon vor einem ganzen Jahrtausend in den Fels über der Loire getrieben.
Und das nicht nur mithilfe von Sklaven, sondern auch Dämonen - und Schwarzmagiern, wie Zamorra immer wieder schmerzlich ins Gedächtnis gerufen wird ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 148
Cover
Impressum
In tiefsten Tiefen
Leserseite
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Verlagsleiter Romanhefte: Dr. Florian Marzin
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Stanislav Istratov / Rainer Kalwitz
Datenkonvertierung E-Book: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam
ISBN 978-3-7325-4204-8
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
In tiefsten Tiefen
Von Manfred H. Rückert
Die Bildkugel schwebte im Mittelpunkt vomSaal des Wissensüber einem Sockel und konnte Sara Moon jeden Platz auf der Erde zeigen, mochte er auch noch so verborgen liegen.
Die Herrin von Caermardhin achtete nicht auf die sich ständig verändernden Bilder. Auch nicht auf die funkelnden kristallinen Wände. Etwas anderes fesselte ihre Aufmerksamkeit. Sie hielt den Zeremonienspeer Shados in den Händen und drehte ihn mehrmals um die eigene Achse.
Ihre magischen Sinne untersuchten die Waffe des gestorbenen Yolngu. Das Holz war mit kunstvollen Schnitzereien versehen. Es stand außer Frage, dass hier ein Meister seines Fachs am Werk gewesen war. Sara schüttelte den Kopf und betrachtete die Klinge genauer. Sie spürte die Kraft, die dem Artefakt innewohnte.
Dies war der Speer des Schicksals, der helfen sollte, den Tunneldurchgang zu öffnen.
»Es kommt nicht darauf an, wie viel Zeit uns gegeben wird, wenn nichts da ist, wo sie haften bleibt; durch schadhafte und durchlöcherte Seelen rinnt sie ganz einfach hindurch.«
Lucius Annaeus Seneca, römischer Philosoph, Dramatiker, Naturforscher, Politiker und Stoiker (1 – 65)
Präambel
Caermardhin
Zehn Portalschlüssel waren nötig, um den Tunneldurchgang zur neuen Hölle nach Avalon zu öffnen. Fünf weißmagische und fünf zur Schwarzen Magie zählende Artefakte. Wobei solche Gegenstände nicht von sich aus gut, schlecht oder böse sein konnten. Erst ihre Benutzer und deren Motivation machten sie dazu. Das wusste niemand besser als Sara Moon.
Die Druidin betrachtete die zehn so unterschiedlich aussehenden Gegenstände, die vor ihren Füßen auf einer ausgerollten Decke auf dem Boden lagen. Auf den ersten Blick hatten sie nichts miteinander zu tun. Doch Sara spürte die Energie, die sie alle erfüllte, und die sie in die richtigen Bahnen lenken musste. Der Faszination konnte sie sich nicht entziehen.
Der Harzer Blutstein stammte aus dem Ort Wernigerode und war das erste Artefakt, das Zamorra gefunden hatte.
Eine der Filmrollen des Stummfilm-Horrorstreifens London after Midnight daneben war aus dem Jahr 1927.
Mit der Sense des Lakkon wurden einst im Jahr 1385 Seelen für den Dämon gesammelt. Hier war nur noch das Sensenblatt übrig.
Der leuchtende Stein aus Salem hatte die Jahrhunderte in einem Brunnen überdauert.
Als Letztes erblickte sie einen Tränensplitter von LUZIFER, der in letzter Sekunde vom in der Zerstörung befindlichen Silbermond hatte geborgen werden können.
Sara war mit der Sichtung der schwarzmagischen Artefakte zufrieden. Ihr Blick erfasste die weißmagischen Portalgegenstände.
Die Phiole mit dem Sand des Lichts stammte aus der alten jordanischen Felsenstadt Petra.
Daneben lag der Spiegel der Amaterasu, der japanischen Sonnengöttin, die aus der Gewalt des Erzdämons Vassago hatte befreit werden müssen.
Der Fächer des taoistischen Unsterblichen Zhongli Quan aus Hongkong, der imstande war, Tote zu erwecken, schloss sich an.
Die silberne Krone des Arawn von Annwn mit dem tiefgrünen Smaragd, die ursprünglich von Avalon stammte, lag daneben.
Als Letztes legte sie nun feierlich den Zeremonienspeer von Shado aus Australien hinzu und besah sich zufrieden die Artefakte.
Das Goldschiffchen, das einst der Zeitenwanderin Nele Großkreutz gehört hatte, existierte nicht mehr und war durch den Speer ersetzt worden.
Sara presste die Lippen zusammen, als sie an das Debakel dachte, in dem der erste Versuch, ein Portal in die neue Hölle zu eröffnen, geendet hatte. An den Verlust und die zuvor geleistete Arbeit, das Schiffchen zu finden – auch wenn diese Arbeit nicht von ihr, sondern von Zamorra deMontagne und seiner Gefährtin Nicole Duval erledigt worden war. Als Sara vor einigen Wochen die Artefakte am Brunnen des Zaubergartens Brocéliande aktivieren wollte, explodierte das Goldschiffchen und verbrannte zu einem schwarzen, formlosen Klumpen. Ihre Enttäuschung war grenzenlos gewesen.
Aber schlussendlich hatte sie der Verlust nur kurzzeitig bei ihrer Arbeit zurückgeworfen. Der australische Ureinwohner Loongarra hatte Sara schließlich den Speer überreicht und verraten, dass er viel Wissen in sich trüge und wahrscheinlich zu ihr sprechen würde.
»Ich werde den Speer auf Caermardhin gründlich unter die Lupe nehmen, bevor ich einen neuen Versuch mache, den Tunnel zu etablieren«, hatte sie damals zu Zamorra und Nicole gesagt und dabei versprochen: »Ich halte euch auf dem Laufenden.«
Letzteres war bis heute noch nicht passiert. Eine umfassende Untersuchung des Objekts kostete auch Sara Moon trotz ihrer umfassenden magischen Begabung Zeit.
Bis zu den Schultern reichendes, silbernes Haar umfloss das Gesicht der schlanken, jung aussehenden Frau. Die hoch angesetzten Wangenknochen verliehen ihrem Gesicht ein leicht asiatisches Flair und machten es nicht leicht, ihr wahres Alter zu erraten. Ihre dunklen Augen fixierten den Saal des Wissens, als hätten sie ihn noch nie zuvor gesehen. Dabei hatte sie einen Großteil der letzten zwei Jahre hier verbracht.
Beim Blick auf die sie umgebenden schimmernden Wände hatte sie für einen Moment den Eindruck, sich im Innern eines Juwels zu befinden. Als würde sie in Milliarden winziger, fein geschliffener Flächen aufgehen, die das Licht spiegelten. Doch dieser Eindruck währte nur einen Augenblick. Sie befand sich einfach nur in einem riesigen Raum, der aus Myriaden von Kristallen gebildet zu sein schien. Was dort an Informationen gespeichert war, sprengte jede Vorstellung.
Gedankenverloren rollte sie die Gegenstände wieder in die Decke ein und steckte sie in eine große Umhängetasche aus in allen Regenbogenfarben irisierendem Drachenleder, die sie extra für diesen Zweck angefertigt hatte. Sie schloss kurz die Augen, konzentrierte sich auf eine bestimmte Stelle und führte mit einer Vorwärtsbewegung einen Sprung durch.
Einen Wimpernschlag darauf tauchte sie an ihrem Zielort auf. Um sie herum breitete sich ein sorgfältig gepflegter Park aus. Schattige Bäume, liebevoll angelegte Blumenbeete und große Rasenflächen befanden sich hier und hätten das Herz eines jeden Gartenliebhabers höher schlagen lassen. All dies hatte einst ihr Vater Merlin Ambrosius geschaffen. Nach dessen Tod waren die Blumen leider verwelkt und die Gräser abgestorben, die Tiere verendet oder verschwunden. So hatte das Ganze mehrere Monate lang traurig und wie ein Sinnbild der Vergänglichkeit gewirkt. Nur ein einziges Wesen war rätselhafterweise übrig geblieben. Und für diese einzige Bewohnerin des Parks hatte Merlins Bruder Asmodis, Sara Moons Vorgänger als Diener des Wächters der Schicksalswaage, alles wieder instand gesetzt.
Sie fand diese Bewohnerin in der Nähe des kleinen verwunschenen Teichs im hinteren Bereich der Grünanlage, sozusagen an ihrem Stammplatz.
Kühlwalda saß am Fuß einer uralten, mit moosüberzogenen Statue, die einen Silbermond-Druiden und seinen Lebensbaum zeigte. Bei Kühlwalda handelte es sich um eine schlammgrüne Kröte, deren Körper mit gezackten, mintgrünen Streifen verziert war. Ihre bernsteinfarbenen Augen mit den ungewöhnlich geformten Pupillen starrten Sara gelassen … oder wie es ihr manchmal schien, sogar ein wenig von oben herab an.
Doch Sara wusste, dass dem nicht so war. Manchmal schien es ihr, dass Kühlwalda etwas Besonderes sei, dabei handelte es sich bei ihr einwandfrei um eine gewöhnliche Kröte. Allerdings um eine mit einer besonderen Gabe. Asmodis hatte Kühlwalda als Gesprächspartnerin benutzt. Das hieß, dass er sprach und sie zuhörte – und im richtigen Augenblick anscheinend durch Quaken eine Zustimmung oder Ablehnung bekräftigte.
Sara Moon erging es oft genug ebenso wie ihrem Onkel.
In der Druidin keimte ein Verdacht. Hatte Kühlwalda etwa schon Merlin geholfen, seine Gedanken zu ordnen? Hatte ihr Vater sie extra dazu hergeholt?
Wie alt wird eine Kröte?, fragte sie sich und war erstaunt, als sie auf ein Höchstalter von 35 Jahren kam. Und wie lange befindest du dich schon auf Caermardhin, Kühlwalda?
Selbstverständlich gab ihre warzige Freundin keine Antwort. Sie schaute sie nur aus großen Augen an und drehte den Kopf leicht schief. Gerade so als würde sie auf eine Begrüßung warten.
»Hallo, meine Süße«, sagte Sara und verbiss sich ein Grinsen. Sie setzte sich auf einen Stein, sodass sie sich fast auf Augenhöhe mit der Kröte befand. Die Umhängetasche mit den Artefakten setzte sie ab und lehnte sie gegen ihre Knie. »Ich glaube, ich bin der Lösung des Rätsels ein wenig näher gekommen.«
Kühlwaldas Augen wurden größer. Sara erschien es, als würde sie damit Neugierde signalisieren. Aber möglicherweise lag es nur am Lichteinfall.
»Ich meine damit die Katastrophe, die mit Neles Goldschiffchen passierte«, erklärte die Herrin von Caermardhin. »Es hatte den Anforderungen einfach nicht genügt. Es hätte nicht eingesetzt werden dürfen, weil es entweder zu schwach oder falsch war.«
Sie legte eine kurze Pause ein. »Das war ganz eindeutig ein Denkfehler des Wächters oder seines Boten«, schlussfolgerte sie. Kühlwalda schloss halb die Augen und senkte den Kopf. Es sah aus, als würde sie Sara zustimmen.
»Aber glücklicherweise fanden wir in Shados Speer adäquaten Ersatz dafür.«
Die Kröte hob den Kopf an, ihre Augen wurden wieder größer.
»Es kann sein, dass ich da vielleicht ein wenig Zweckoptimismus vor mir hertrage«, gestand Sara Moon, »aber ich bin jetzt doch recht sicher, dass nicht nur ein Artefakt falsch war, sondern auch der Ort, an dem ich den Tunnel nach Avalon öffnen wollte. Der Zauberbrunnen von Brocéliande ist wohl doch nicht dafür geeignet, dabei erschien mir diese Lösung als die logischste. Schließlich existierte in früheren Zeiten eine feste Verbindung zwischen dem Brunnen im Zaubergarten und der Feeninsel.«
Der ehemaligen Feeninsel, korrigierte sich Sara in Gedanken. Seit Avalon die Stellung der untergegangenen Hölle übernommen hatte, war die Verbindung unterbrochen.
Kühlwalda quakte leise. Es klang traurig, fand Sara.
»Du hast recht, mir gefällt es auch nicht, dass die Verbindung unterbrochen ist«, überlegte Sara laut. »Wie oft habe ich mich früher auf Avalon aufgehalten!«
Ein weiteres, dunkleres Quaken ließ die Druidin kurz verstummen. Sie hob die Hände und schüttelte den Kopf. Sie sollte sich wirklich kurzfassen und die Sentimentalitäten unterlassen.
»Nach den mir zur Verfügung stehenden Informationen sollten wir den Tunneldurchgang in der Nähe von Château Montagne starten«, verkündete sie. »Außerhalb des Schlossbereichs und der M-Abwehr.«
Die Augen der Kröte wurden kleiner. Sie wirkte skeptisch. Sara hätte schwören können, dass ihre Zuhörerin nicht einen Muskel dabei verzogen hatte.
Die Tochter der Zeitlosen und des Königs der Druiden erwiderte den Blick. »Vertrau mir«, bat sie. »Ich weiß, was ich tue.«
Kühlwalda blickte kurz zur Decke.
»Ich weiß, dass es Zamorra und Nicole nicht recht sein wird, wenn ich sie gleich überfalle«, sagte Sara. »Aber darauf kann ich keine Rücksicht nehmen. Je eher diese Arbeit erledigt ist, desto besser.«
Sie erhob sich von ihrem Stein und blickte wieder auf ihre Zuhörerin. Eigentlich hatte Kühlwalda nichts gemacht, trotzdem war Sara jetzt überzeugt, das Richtige zu tun.
»Wie machst du das bloß?«, fragte sie sich im Selbstgespräch.
Sie lächelte und schüttelte den Kopf.
Kapitel 1 Der Teufel auf Erden
Frankreich, 1102
Leonardo deMontagne stapfte den Berghang hinauf zur Baustelle. Je höher er stieg, desto schöner wurde der Ausblick über das malerische Tal an der Loire. Doch dafür hatte der ehemalige Kreuzritter keinen Blick. Ihn interessierte allein das Vorankommen beim Bau seines künftigen Domizils.
Und mit diesem Vorankommen war er keineswegs zufrieden. Dabei hätte er es sein dürfen: Wäre das Schloss, das er nach sich selbst benennen wollte, nur mit gewöhnlichen Methoden erbaut worden, wäre der Bau bei Weitem nicht so weit vorangeschritten. Mittlerweile konnte er die Mauern, die sich wehrhaft in die Luft erhoben, schon vom Tal aus sehen.
Wesentlich wichtiger als die Mauern allerdings war das, was sich in der Tiefe der Erde fortsetzte: der entscheidende Teil des Bauwerks. Mithilfe von unzähligen Sklaven ließ Leonardo ein Labyrinth von Gängen und Kammern in den Fels treiben. Dabei nutzte er uralte Katakomben, die aus grauer Vorzeit zu stammen schienen.
Doch es ging ihm nicht schnell genug voran. Vor zwei Jahren war er aus dem Orient zurückgekehrt, in den er nach dem Aufruf Papst Urbans II. zur Befreiung der heiligen Stätten aufgebrochen war. Unter seinem Gewand baumelte das Amulett, das er in Jerusalem von Kalif Achman erpresst hatte, an einer Kette. Es war das wertvollste Stück, das er über das Meer zurückgebracht hatte. Das Amulett verfügte über magische Kräfte, die er sich zunutze machte. Auch beim Bau des Schlosses.
Deus lo vult. Gott will es. Das war der Ausruf der Menschen gewesen, die dem päpstlichen Aufruf begeistert gefolgt waren. Und so wie Gottes Wille den Menschen auf der Erde Gesetz war, so war Leonardos Wort hier Befehl.
Aber scheinbar nahm man seine Anordnungen nicht ernst genug. Wenn er die bisherigen Bauleistungen in Augenschein nahm, würde es wohl noch Jahre dauern, bis er Château Montagne beziehen konnte. Wahrscheinlich musste er seinen Worten einmal mehr Nachdruck verleihen.
Er blieb kurz stehen und musterte den halb fertigen Bau. Ein warmer Wind zerzauste Leonardo das Haupthaar und den Bart, während er den Blick über das Loiretal schweifen ließ. Sein Bauwerk befand sich mehrere Hundert Meter hoch auf einem Berg. Er presste die Lippen zusammen und lief weiter.
Schon von Weitem hörte er die Schläge der Hämmer und Meißel, mit denen die Männer die Steine bearbeiteten, die aus dem Tal mühsam hier heraufgeschafft wurden. Er legte die letzten Meter im Eilschritt zurück und trat zwischen die schon stehenden Außenmauern. Mit stürmischen Schritten fuhr er zwischen die Arbeiter. Man hatte seine Ankunft bemerkt, aber niemand wagte es, ihm ins Gesicht zu sehen. Jeder hier kannte seine Wutausbrüche und wollte tunlichst nicht das Ziel eines solchen werden. Der schmale Mann mit den dunklen Haaren und einem ebensolchen Vollbart besaß eine Ausstrahlung, die von vielen Menschen hinter vorgehaltener Hand als teuflisch oder dämonisch bezeichnet wurde. Und schlussendlich hatten sie nicht so ganz unrecht damit.
»Wie geht es voran?«, rief er, lauter als notwendig.
Niemand antwortete ihm.
»Wie geht es voran?«, wiederholte er brüllend seine Frage. Obwohl die Handwerker kräftige Männer waren, die sicher keiner Schlägerei in einer Spelunke aus dem Wege gingen, zuckten viele von ihnen zusammen und zogen die Köpfe zwischen die Schultern.
Leonardo deMontagne packte den nächstbesten an den Schultern und drehte ihn so, dass er ihm in die Augen sehen musste, obwohl er einen ganzen Kopf größer war als sein Auftraggeber. »Hast du meine Frage nicht gehört, du Hund?«
»Doch … doch«, beeilte der Mann, sich mit heiserer Stimme zu versichern.
»Warum antwortest du dann nicht?«
»Ich … wir …«, stammelte der Unglückliche.
Leonardo senkte seine Stimme zu einem Flüstern. Sie war so schneidend scharf wie Eiswind. »Ich wiederhole meine Frage ein letztes Mal. Wie geht es voran?«
»Gut, Herr. Sehr gut.«
Der Mann sah sich Hilfe suchend um, doch keiner der anderen wagte es, ihm zur Seite zu stehen und seine Aussage zu unterstreichen. Leonardo starrte ihn an, sodass er sich genötigt sah, weiterzusprechen. »Euer Zeitplan …«, begann er. Weiter kam er nicht.
Der Stoß erwischte ihn völlig unvorbereitet. Leonardo hatte ihn mit unbändiger Kraft, die überhaupt nicht zu seiner schmächtigen Statur passen wollte, zur Seite geworfen, sodass er das Gleichgewicht verlor und zu Boden fiel. Noch während er sich auf den Rücken drehte, fiel ein Schatten über den Mann. Leonardo stand breitbeinig über ihm, die Hände in die Hüften gestemmt. »Der Zeitplan interessiert mich nicht. Ihr seid zu langsam! Hört ihr mich? Ihr seid zu langsam!«
Er machte eine Handbewegung, die wohl alle Arbeiter einschließen sollte. »Ihr müsst schneller werden. Viel schneller. Aber sieh dich an. Du kriechst vor mir im Staub wie ein Wurm.« Er lachte verächtlich auf. »Und was kann man von Würmern schon erwarten? Nichts.« Seine Stimme triefte vor Hohn. »Das Einzige, das man mit Würmern machen kann, ist sie zu zertreten!«
Er hob einen Fuß. Der Mann unter ihm riss die Arme hoch und hielt sie sich schützend vor das Gesicht.
Das Verhalten des Mannes widerte Leonardo an. In Jerusalem hatte er Ungläubige getötet, die mehr Ehre im Leib hatten als dieses widerliche Nichts unter ihm. Er trat nicht zu. Stattdessen stellte er den Fuß leise wieder ab und beugte sich vor. Er schlug die Deckung des am Boden Liegenden zur Seite. Der schrie erschrocken auf. Leonardo packte ihn, riss ihn fast mühelos auf die Beine und brachte sein Gesicht ganz dicht an das des anderen – so, dass er die Angst in den Augen des Wurms ganz deutlich sehen konnte. Damit er sich so recht daran erfreuen konnte.
»Du bist es nicht einmal wert, dass dein Blut meine Stiefel beschmutzt.«
Der Mann zitterte so sehr, dass er gestürzt wäre, wenn Leonardo ihn nicht an den Ärmeln seines dreckigen Obergewands gehalten hätte. »Sieh zu, dass du wieder an die Arbeit kommst!«, presste er zwischen den Zähnen hervor. Der Mann brachte ein schwaches Nicken zustande und taumelte mehr, als dass er ging, auf sein verlorenes Werkzeug zu. Als er mit gesenktem Kopf an Leonardo vorbeiging, trat dieser ihm in den Hintern. »Schneller, verdammt noch mal!«, rief er und lachte, als sein Tritt den Bauarbeiter ins Stolpern brachte.
Dann wirbelte der ehemalige Kreuzritter herum. »Was glotzt ihr denn so? Das gilt für euch alle!«
Die Männer, die vorher gebannt der ungleichen Auseinandersetzung gefolgt waren, froh darüber, dass es nicht sie selbst erwischt hatte, machten sich hektisch wieder an die Arbeit.
Leonardo sah sich zufrieden um. Das war wohl nötig gewesen. Schließlich wollte er nicht für ewige Zeiten in dem kleinen Dorf am Fuße des Berghangs wohnen. Eine schäbige Ansammlung von Hütten, mehr war es nicht. Diese Unterkunft war seiner nicht würdig. Dass die Dorfbewohner sicher froh gewesen wären, ihn nicht mehr in unmittelbarer Nähe bei sich zu wissen, war ihm gleichgültig.
Er sah sich um. Dieser Teil der Baustelle war erledigt. Er konnte ihn ohne Aufsicht lassen und sich endlich dem Teil widmen, der seine ganze Aufmerksamkeit verdiente.
Den Katakomben.
***
Frankreich, 1102
Michelle nickte und bändigte gedankenverloren ihre langen rote Haare unter einer Haube. So konnte es gehen, überlegte sie. Zumindest wenn sie etwas Glück hatten. Aber manchmal musste man sein Glück auch erzwingen. Vor allem, wenn man keine andere Wahl mehr hatte. So wie sie und ihr Gefährte.