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Psychoanalytische Erkenntnisse haben sich in der behindertenpädagogischen Theorie und Praxis in vielfältiger Weise niedergeschlagen. Vor allem die psychoanalytische Persönlichkeits-, Entwicklungs- und Beziehungstheorie wurde dabei breit von der Behindertenpädagogik rezipiert und für die Diagnostik, die Beratung, die Förderung und Therapie genutzt. Zusammen mit den neuesten Erkenntnissen aus der Säuglings-, Bindungs-, der Affekt- und Hirnforschung haben psychoanalytische Erklärungsansätze nicht nur zu einer neuen Auffassung von Störung und Behinderung geführt, sondern auch neue Perspektiven auf Entwicklungschancen und -risiken eröffnet. Seit den 1970er Jahren wurden eine Reihe von theoretischen und praktischen Konzepten einer Psychoanalytischen Heilpädagogik vorgelegt, allerdings kaum in eine umfassende und konsistente Form gebracht. Das Buch will in Weiter- und Zusammenführung dieser Arbeiten (und vor dem Hintergrund neuester Entwicklungen in Heilpädagogik und Psychoanalyse) die Grundlagen für eine Heilpädagogik ausführen, die sich psychoanalytische Einsichten und Erkenntnismethoden auch in der Praxis zunutze macht.
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Seitenzahl: 488
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Psychoanalytische Erkenntnisse haben sich in der behindertenpädagogischen Theorie und Praxis in vielfältiger Weise niedergeschlagen. Vor allem die psychoanalytische Persönlichkeits-, Entwicklungs- und Beziehungstheorie wurde dabei breit von der Behindertenpädagogik rezipiert und für die Diagnostik, die Beratung, die Förderung und Therapie genutzt. Zusammen mit den neuesten Erkenntnissen aus der Säuglings-, Bindungs-, der Affekt- und Hirnforschung haben psychoanalytische Erklärungsansätze nicht nur zu einer neuen Auffassung von Störung und Behinderung geführt, sondern auch neue Perspektiven auf Entwicklungschancen und -risiken eröffnet. Seit den 1970er Jahren wurden eine Reihe von theoretischen und praktischen Konzepten einer Psychoanalytischen Heilpädagogik vorgelegt, allerdings kaum in eine umfassende und konsistente Form gebracht. Das Buch will in Weiter- und Zusammenführung dieser Arbeiten (und vor dem Hintergrund neuester Entwicklungen in Heilpädagogik und Psychoanalyse) die Grundlagen für eine Heilpädagogik ausführen, die sich psychoanalytische Einsichten und Erkenntnismethoden auch in der Praxis zunutze macht.
Prof. Dr. Manfred Gerspach lehrt im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Soziale Arbeit der Hochschule Darmstadt.
Manfred Gerspach
Psychoanalytische Heilpädagogik
Ein systematischer Überblick
Verlag W. Kohlhammer
Alle Rechte vorbehalten © 2009 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart
ISBN: 978-3-17-020617-5
E-Book-Formate
pdf:
978-3-17-022897-9
epub:
978-3-17-027776-2
mobi:
978-3-17-027777-9
1 Zu Geschichte und Aktualität der Heilpädagogik
1.1 Ein kurzer Blick in die Vergangenheit
1.2 Zur Bedeutung des Dialogs für die Menschwerdung
1.3 Anmerkungen zum Begriff der Behinderung
1.4 Zum Gegenstandsbereich der Heilpädagogik
1.5 Das Verhältnis von Integration und Inklusion
1.6 Anerkennung als Qualitätsmerkmal
2 Relevante Erkenntnisse der Psychoanalyse für die Heilpädagogik
2.1 Lorenzers Beitrag zur Psychoanalytischen Pädagogik
2.2 Zur Kritik der Kritik an der Psychoanalyse
2.3 Die Berücksichtigung zentraler Erkenntnisse der Psychoanalyse
2.4 Kurzer Exkurs in die Neurowissenschaften
2.5 Übertragung und Gegenübertragung
2.6 Zum Konzept des Mentalisierens
3 Psychoanalytisches Verstehen in der Heilpädagogik
3.1 Unterschiedliche Auffassungen vom beschädigten Subjekt
3.2 Das szenische Verstehen in der Heilpädagogik
3.3 Kleiner Ausflug in die Praxis
3.4 Entwicklung unter erschwerten Bedingungen
3.5 Die Bedeutung des potentiellen Raums
4 Ausgewählte Themen Psychoanalytischer Heilpädagogik
4.1 Die doppelte Sprachlosigkeit in der Heilpädagogik
4.2 Anmerkungen zur geistigen Behinderung
4.3 Anmerkungen zu Lern- und Verhaltensstörungen
5 Zur Praxis der Psychoanalytischen Heilpädagogik
5.1 Arbeiten in einer integrativen Einrichtung
5.2 Arbeiten mit geistig behinderten Erwachsenen
5.3 Arbeiten mit hörbehinderten Kindern
5.4 Arbeiten in der Schule
5.5 Heilpädagogik als Prävention
6 Literaturverzeichnis
Im Folgenden möchte ich mich der Liaison zweier Disziplinen zuwenden, die beide ein ähnliches Schicksal mangelnder Reputation von Seiten ihrer übergeordneten erziehungs- bzw. humanwissenschaftlichen Scientific Community erleiden: der Heilpädagogik und der Psychoanalyse. Eine Verknüpfung beider gibt es seit Alfred Aichhorns bahnbrechendem Werk „Verwahrloste Jugend“ aus dem Jahre 1925. Im Geleitwort dazu verlangt Sigmund Freud zum einen nach einer psychoanalytischen Schulung des Erziehers, „weil ihm sonst das Objekt seiner Bemühung, das Kind, ein unzulängliches Rätsel bleibt“ (vgl. Freud 1977, 8). Zum andern betont er die Eigenständigkeit der Erziehungsarbeit, die nicht mit einer psychoanalytischen Beeinflussung verwechselt werden dürfe. An anderer Stelle macht er das Interesse der Pädagogik für Psychoanalyse darüber kenntlich, dass ein Erzieher „nur sein kann, wer sich in das kindliche Seelenleben einfühlen kann, und wir Erwachsenen verstehen die Kinder nicht, weil wir unsere eigene Kindheit nicht mehr verstehen“ (vgl. Freud 1970 a, 128).
Die Heilpädagogik hat im Laufe ihrer Geschichte eine tiefgreifende Wandlung erfahren, ob der Begriff des Paradigmenwechsels tatsächlich zutrifft, bleibt umstritten (vgl. Bürli 2005, Cloerkes 2001, Hillenbrandt 1999, Mand 2003). So lassen sich ideengeschichtlich die folgenden Modelle voneinander abheben:
karitatives Paradigma – Behinderung als gottgewolltes Schicksal, das nach hingebungsvoller Liebestätigkeit verlangt;
humanistisches Paradigma – Behinderung als Ausdruck von Menschsein, das nach erzieherischen Hilfen zur Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung verlangt;
exorzistisches Paradigma – Behinderung als Besessenheit, die nach
Austreibung
oder erfahrungswissenschaftlich basierter Beseitigung verlangt;
Rehabilitations-Paradigma – Behinderung als Funktionsverlust oder Defekt, denen mit gezieltem Funktionstraining begegnet wird;
personorientiertes Paradigma – Behinderung als individuelles Merkmal, welchem mit defektspezifischen Maßnahmen zu begegnen ist;
interaktionistisches Paradigma – Behinderung als soziale Kategorie; Interventionen sind an Interaktion, Kommunikation und Bedürfnissen zu orientieren;
systemorientiertes Paradigma – Behinderung als Produkt einer Systemrationalität;
gesellschaftstheoretisches Paradigma – Behinderung als Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse, dem mit Solidarisierung, Gesellschaftsveränderung und kritischer Aufklärung zu begegnen ist (vgl. Bürli 2005, 73f).
Einig ist man sich darin, dass die Veränderungen und Diskussionen zu mehr oder weniger großen Verunsicherungen geführt haben. Dennoch hat der emphatische Anspruch von Paul Moor, einem der großen Heilpädagogen seiner Zeit, bis heute für uns alle nichts von seiner Gültigkeit verloren: „Heilpädagogik ist diejenige Pädagogik, welche vor die Gesamtzahl der über das Durchschnittsmaß hinausgehenden Erziehungsschwierigkeiten gestellt ist.“ Seiner Frage: „Was heißt Erziehung angesichts der eingeschränkten Lebensmöglichkeiten eines entwicklungsgehemmten Kindes?“ wird unter Einbeziehung aktueller Tendenzen nachzugehen sein (vgl. Moor 1969, 260ff).
Eingeführt wurde der Begriff in den wissenschaftlichen Sprachgebrauch bereits 1861, doch erst in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts sind Bemühungen zu ihrer Begründung als eigenständiger Wissenschaft zu beobachten. Und nicht vor den siebziger Jahren kam man überhaupt auf die Idee, die gesellschaftliche Einbettung des Phänomens einer Behinderung in den Blick zu nehmen (vgl. Gerspach 2008a). Inzwischen liegen in Abkehr von einer rein defizitorientierten Sicht eine Vielzahl neuerer Erkenntnisse vor, die die Selbstentwicklung unterstützende Perspektiven eröffnen. Der Begriff der Menschenwürde ist primär dadurch bestimmt, dass er den Menschen vor Diskriminierung schützt. Würde „als jene des nichtknechtischen Subjekts“ setzt an der Überwindung des Defizitdenkens an, indem jene „soziale Problemlagen“ in den Mittelpunkt gestellt werden, die defizitär sind. „Der Begriff des Defizits wird also in die soziale Situation verlagert, die Naturalisierung am Individuum als Defizit wird aufgebrochen (...) Behinderung ist eine gesellschaftliche Konstruktion. Das heißt keineswegs, dass es nicht gewisse Besonderheiten der Natur gäbe (...)“ (vgl. Jantzen 2008, 230ff). Mit Speck und Bürli könnte man festhalten, dass die Heilpädagogik gekennzeichnet ist durch eine „anthropologisch ganzheitliche Orientierung, die einer drohenden personalen und sozialen Desintegration begegnet und Lebenssinn erschließt“ (vgl. Bürli 2005, 68; Speck 2003, 32 f).
Vor allem angestoßen durch Aloys Leber wurde seit den siebziger Jahren eine Reihe von theoretischen und praktischen Konzepten einer Psychoanalytischen Heilpädagogik vorgelegt, allerdings bis auf wenige Ausnahmen (vgl. etwa Fröhlich 1994) kaum in eine umfassende, konsistente Form gebracht. Leber kann als Begründer der Psychoanalytischen Heilpädagogik gelten. In Weiterführung wie Zusammenführung dieser Arbeiten und angeregt durch interessante Entwicklungen in Heilpädagogik Psychoanalyse in jüngster Zeit soll nun diese Verbindung auf eine solide und konsistente Basis gestellt werden.
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