Psychodynamisches Verstehen in der Sonderpädagogik - Manfred Gerspach - E-Book

Psychodynamisches Verstehen in der Sonderpädagogik E-Book

Manfred Gerspach

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Beschreibung

Der (Sonder-)Pädagogik, die es mit "Beschädigungen" bei Kindern und Jugendlichen zu tun hat, eröffnet die Psychodynamik einen verstehenden pädagogischen Zugang zu deren Erleben, Verhalten und zu ihren Entwicklungsaufgaben. Psychodynamisches Verstehen entdeckt hinter den Beeinträchtigungen der Kinder und Jugendlichen frühe Kränkungen, Verletzungen und untaugliche Interaktionsmuster mit ihren Beziehungspersonen. Von hier aus präsentiert sich der Sonderpädagoge als verlässlicher Dialogpartner für diese Kinder und Jugendlichen und findet zu einer stabilisierten Arbeitsbeziehung mit ihnen. Das Buch präsentiert psychodynamisches Verstehen als eine der Kernkompetenzen der Sonderpädagogen, die sich durch den Zugang zum inneren Erleben der Kinder und Jugendlichen den Weg zu einer entwicklungsförderlichen pädagogischen Praxis bahnen.

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Manfred Gerspach

Psychodynamisches Verstehen in der Sonderpädagogik

Wie innere Prozesse Verhalten und Lernen steuern

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-033828-9

E-Book-Formate:

pdf:         ISBN 978-3-17-033829-6

epub:      ISBN 978-3-17-033830-2

mobi:      ISBN 978-3-17-033831-9

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhaltsverzeichnis

 

 

1 Persönlichkeitsstrukturierende Beziehungen in der Kindheit

1.1 Psychodynamische Grundlagen der Subjektgenese

Warum Psychodynamik?

Das Unbewusste

Über Sprachzerstörung

Die Konfliktdynamik

Übertragung und Gegenübertragung

1.2 Entwicklungsmodelle der frühen Kindheit

Erste Vorstellungen über die früheste Kindheit

Theorien namhafter Psychoanalytiker/innen

Besonders zu erwähnen: Donald W. Winnicott

Neuere Entwicklungen

1.3 Bindungstheorie und Säuglingsforschung

Kurze Einführung in die Bindungstheorie

Der Zusammenhang von Bindung und Gefahr

Grundlagen der Säuglingsforschung

Zur Diskussion der Ergebnisse der Säuglingsforschung

1.4 Neurowissenschaften und Mentalisieren

Über den Zusammenhang von Neurobiologie und Psychodynamik

Zum Konzept des Mentalisierens

Weitere Aspekte des Mentalisierens

1.5 Kindheit unter erschwerten Bedingungen

Psychodynamik und geistige Behinderung

Psychodynamik, Lernbeeinträchtigungen und Verhaltensauffälligkeiten

2 Persönlichkeitsstrukturierende Beziehungen in der Adoleszenz

2.1 Psychodynamische Aspekte der Adoleszenz

Über die Neujustierung der Geschlechterverhältnisse

Zur Bedeutung des gesellschaftlichen Wandels

Identität und Selbst

Der Körper in der Adoleszenz

2.2 Adoleszenz und Kulturentwicklung

Adoleszenz in kalten und heißen Kulturen

Zur Möglichkeit eines Strukturwandels der Persönlichkeit

Das Schicksal der Adoleszenz in der Schule

Adoleszenz und Nachträglichkeit

2.3 Männliche und weibliche Adoleszenz

Sozialisationsprozesse in der männlichen Adoleszenz

Sozialisationsprozesse in der weiblichen Adoleszenz

2.4 Adoleszenz und Migration

Weitergabe und Veränderung

Zugehörigkeitsordnungen

Bildung, Bildungsaufstieg und die Entstehung neuer Milieus

Aktuelle Entwicklungen: Flucht und Radikalisierung

2.5 Adoleszenz und Behinderung

Prolog: Psychoanalyse und Behinderung

Adoleszenz und Körperbehinderung

Adoleszenz und geistige Behinderung

Sexualität und Partnerschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung

Epilog: Adoleszenz und Autismus

3 Psychodynamik und sonderpädagogische Praxis

Szenisches Verstehen praktisch betrachtet

Psychodynamik in pädagogischen Institutionen

Was noch zu sagen wäre…

4 Literatur

1          Persönlichkeitsstrukturierende Beziehungen in der Kindheit

 

1.1       Psychodynamische Grundlagen der Subjektgenese

Warum Psychodynamik?

Das Zusammenwirken von emotionalen, sozialen und kognitiven Faktoren wird in der Sonderpädagogik zwar allenthalben betont, in seiner Tiefendimension aber kaum verstanden. Eine entwicklungsfördernde (Sonder-)Pädagogik müsste sich also an der nachdrücklichen Auflösung von Blockaden auf den Ebenen ihrer körperlichen, kognitiven, affektiven und intersubjektiven Manifestation orientieren, so wie moderne psychologische und psychotherapeutische Ansätze es vormachen (vgl. Neumann, Naumann-Lenzen 2017, S. 17). Jede kindliche Entwicklung, einschließlich ihrer besonderen oder vom normativ Gesetzten abweichenden Wege wird vom Zusammenwirken dieser Komponenten in ihren Grundfesten beeinflusst. Das sozio-psycho-biologische Ganze kann nach keiner dieser drei Säulen aufgelöst werden, ohne es damit seiner Komplexität zu berauben und zu falschen Schlussfolgerungen zu gelangen. Unsere vordringliche pädagogische Aufgabe ist es daher, entwicklungsfördernde oder -hemmende Einflüsse vor dem Hintergrund dieser Gemengelage in ihrer je subjektiven Bedeutung zu erfassen, was nur möglich wird, wenn wir auch die Dimension subtiler Vorgänge im Inneren der Persönlichkeit zu berücksichtigen wissen.

Dabei verweisen Verhaltensstörungen auf den verstörenden Referenzrahmen der äußeren Verhältnisse, Lernschwierigkeiten auf eine diffuse Angst vor Neuem, geistige Beeinträchtigungen auf das doppelte Handicap mentaler Einschränkungen und schwerer narzisstischer Kränkungen. Körper- und Sinnesbehinderungen werden schließlich durch die Erfahrung eines beschämenden Ausschlusses aus einer vorschriftsmäßig gewirkten Welt geprägt. Immer geht es um genügende oder fehlende Anerkennung mit weitreichenden Konsequenzen für das gesamte Werden des Subjekts. Vieles an den Prozessen seiner Beschädigung verläuft unbewusst, weil ihre Wahrnehmung zu schmerzhaft wäre und abgewehrt werden muss. Insofern reicht es nicht hin, sich mit Oberflächenphänomenen zu begnügen. Die Forderung etwa, Resilienz oder eine sichere Bindung bei Kindern und Jugendlichen, die evidente Schwierigkeiten aufweisen, zu unterstützen, damit sie sich unter anderem auf die Herausforderungen der schulischen Anforderungen besser einlassen können, steht eher für die alltagstheoretische Verkürzung eines komplexen Sachverhalts. Es sind »goldene Phantasien« (vgl. Opp 2017, S. 84), die das wirkliche Ausmaß der jeweiligen Problemlage kaschieren. Per se garantieren sie solange keine besser gelingende Anpassung, wie auf eine selbstreflexive Annäherung an die Erlebnisverarbeitung des betroffenen Individuums verzichtet wird. Erst wenn wir als verlässliche Dialogpartner/innen diese Kinder und Jugendlichen in einer sich stabilisierenden Arbeitsbeziehung erreichen, werden wir sie zu ermuntern vermögen, sich dem bis dahin befremdlich anmutenden Akt des Lernens und Sich-Entwickelns auszusetzen.

Dazu benötigen wir ein psychodynamisches Grundverständnis, das uns befähigt, die oftmals aufs heftigste widerstreitenden psychischen Kräfte zu erkennen, welche ein gesundes Wachstum der kindlichen Persönlichkeit zum Erlahmen gebracht haben. Vor dem Hintergrund unzureichend erfahrener Empathie bleibt dort eine basale Unfähigkeit zur angemessenen Affektregulierung zurück, die vor allem die Modulierung von Spitzenaffekten wie Wut oder Angst betrifft. Während uns Emotionen aus dem direkten Erleben sehr gut bekannt sind, stehen Affekte für mehr körperbezogene, zumindest am Anfang nicht differenzierte bewusste Regungen (vgl. Mentzos 2009, S. 25). Im Moment des bewussten Erlebens von Emotionen schwingt zugleich die Möglichkeit zur Reflexion der anflutenden Affekte sowie daraus erwachsenden Impulskontrolle mit. Im anderen Fall droht beständig die Gefahr, von mächtigen Erregungszuständen, die nicht im Zaum zu halten sind, überschwemmt zu werden. In diesem seelischen Dilemma offenbaren sich uns die gescheiterten Einigungsversuche mit den primären und späteren Beziehungspersonen und eine hinter abweisendem und aggressivem Verhalten verborgene bedrückende Vulnerabilität.

Setzen wir dagegen nur auf die Aneignung formaler Wissensbestände und äußerlich ankonditionierten Wohlverhaltens, tragen wir womöglich eher zu einer latenten Festschreibung der alten Erfahrungen bei. Denn so verpassen wir den entscheidenden Zugang zur inneren Welt dieser Kinder und Jugendlichen, der sich uns erst öffnet, wenn wir unser Verstricktwerden in deren frühe und untaugliche Interaktionsmuster erkennen. Damit können wir der Gefahr vorbeugen, uns aus eigener Verletzbarkeit zum Agieren von Gegenaggression verleiten zu lassen, was im Sinne einer Retraumatisierung das Misstrauen gegenüber einer bedrohlichen und übelmeinenden Umgebung nur bestätigen würde – mit allen Konsequenzen persistierender Auffälligkeiten. Mit Hilfe des tieferen Verstehens eines unbewusst in Gang gebrachten Beziehungskreislaufs, in welchem sich stets aufs neu tiefe Kränkungen und Versagungen einzustellen drohen, lässt sich dagegen dieser Wiederholungszwang durchbrechen und durch verträgliche und haltende emotionale Erfahrungen ersetzen. Somit erscheinen Frustrationen besser auszuhalten und Entwicklungsblockaden überwindbar. In diesem Sinne gerät Sonderpädagogik zu einer entwicklungsfreundlichen und zukunftsweisenden Praxis mit Ausstrahlung auf die gesamte Erziehungswissenschaft.

Darum also Psychodynamik. In ihrer neueren Lesart veranschaulicht sie, dass und vor allem wie die menschliche Genese als intersubjektiver Prozess zu denken ist. Das Subjekt als Adressat der Enkulturation erscheint dabei als Gelenkter und Lenker zugleich. Zum einen ist es Produkt einer historischen Vergesellschaftung mit ihren normativen Koordinaten, zum anderen vermag es sich kraft seiner Reflexionsfähigkeit, das eigene Dasein kritisch und selbstkritisch auszuleuchten, zur umgebenden Welt in ein gestaltendes Verhältnis zu setzen. Unsere Vorstellungen der frühen Erfahrungen des Subjekts mit seinen Objekten, die wir als »Selbstobjekterfahrungen« bezeichnen können, gehen zunächst von geglückten und entwicklungsförderlichen Eltern-Kind-Interaktionen aus. Umgekehrt aber ist das »Selbstobjektversagen« innerhalb dieser Beziehungsarrangements für die Entstehung psychischer Störungen verantwortlich. Wie lassen sich nun diese Prozesse genauer fassen? Nicht zuletzt ein einschneidender Paradigmenwechsel führte diesbezüglich zu einer Erweiterung unsere Erkenntnismöglichkeiten. Hat sich in der Vergangenheit psychodynamisches Denken mehr mit rein intrapsychischen Vorgängen zwischen triebgesteuerten Wunschphantasien und phantasierten Objekten befasst, so blickt man heute viel stärker auf die »gegenwärtigen psychischen Nachwirkungen realer Interaktionen der Vergangenheit«. Das tatsächliche Verhalten der primären Objekte kann für ein Kind Stress und Belastung bedeuten und über die Verinnerlichung dieser Interaktionsformen im Sinne fortdauernder negativ eingefärbter Erwartungen an die Umwelt zu anhaltenden seelischen Verletzungen führen (vgl. Neumann, Naumann Lenzen 2017, S. 19 f.). Vielfach reichen tragfähige pädagogische Beziehungsangebote aus, implizit zu einem dauerhaften Umbau der inneren Strukturen beizutragen. Zuweilen sind explizite psychotherapeutische Hilfen nötig. Es gibt aber kein Entweder-Oder, selbst im zweiten Fall ist eine gute Pädagogik vonnöten.

Zudem müssen wir uns davor hüten, in einfachen deterministischen Denkfiguren zu verharren, nach dem alten Nenaschen Prinzip Sowas kommt von sowas. Dass dem modernen Selbstverständnis nach jegliche Sozialisationsvorgänge ihre Eindeutigkeit und Kohärenz weitgehend eingebüßt haben, ist Fluch und Segen zugleich. Traditionellen Lebensformen ist keine richtungsweisende Funktion mehr beigegeben, so dass sich das Subjekt im Rahmen der ihm zur Verfügung gestellten Ressourcen seine eigene Lebensgestaltung erarbeiten muss. Da das nicht immer konfliktfrei gelingen will, wird mit der neu gewonnenen Autonomie ein Entwicklungs- und Identitätsrisiko frei Haus mitgeliefert. Allerdings wird ihm mit der sozialen Dekonstruktion der bis dato gleichsam als natürlich und zwangsläufig erachteten Einpassung prinzipiell sein aktiver Status zurückgegeben. Funktionieren oder Nicht-Funktionieren werden aber erst vor dem Hintergrund des gesamtgesellschaftlichen Zusammenspiels der verschiedenen Wirkmächte plausibel, die Ungleichheiten bei den Abrufmöglichkeiten individueller wie gruppentypischer Entwicklungspotentiale produzieren. Gemeinhin ist der sonderpädagogischen Klientel der Zugang zu den allgemeinen, gesellschaftlich hergestellten Ressourcen verwehrt – diese sind gleichsam privatisiert. Insofern sind psychodynamische und gesellschaftskritische Entwürfe, die sich diesen Entfremdungsphänomenen annehmen möchten, aufs engste zu verzahnen (vgl. Keupp 2013, S. 1 ff.; Horn 1981, S. 77 ff.).

Selbstverständlich heißt dies – und aus dieser Selbstverpflichtung speist sich offenkundig der große Widerstand gegen die Psychoanalyse –, dass das psychoanalytische Verfahren der Bewusstmachung »auch gegen die eigene Person gewendet werde, wozu eine konstitutionelle Neigung allerdings nicht besteht« (vgl. Freud 1915e, S. 268).

Das Unbewusste

Die Psychoanalyse untersucht den Einfluss unbewusster Wünsche und Ängste auf das bewusste Erleben und Handeln eines Menschen. Freud verstand sie in dreifacher Weise: 1. als ein Verfahren zur Untersuchung seelischer Vorgänge, die sonst kaum zugänglich sind, 2. als eine Behandlungsmethode neurotischer Störungen und 3. als auf diesem Wege gewonnene psychologische Einsichten, aus denen allmählich eine wissenschaftliche Disziplin zusammenwächst (vgl. Freud 1923a, S. 211). Leber ergänzt, dass Freud in seinem Geleitwort zu Aichhorns »Verwahrloster Jugend« psychoanalytisches Vorgehen als Nacherziehung bezeichnet, was sie als einen Spezialfall von Erziehung ausweist (vgl. Leber 1985, S. 152; Freud 1977 <1925>).

Der Psychoanalyse geht es um mehr als die Aufarbeitung unbewältigter Kindheitserlebnisse. Sie ergründet die unbewusste Wirkung lebensgeschichtlicher Erfahrungen auch mit Blick auf die Zukunftsgestaltung. Da sich in der Beziehung zum Analytiker unbewusste Beziehungsarrangements wiederholen, besteht die Möglichkeit, der Bedeutung der anhaltenden Wirksamkeit dieser Lebenserfahrungen nachzuspüren. Die bislang unzugänglichen Ursachen der manifesten Symptomatik können auf diesem Wege aufgedeckt und bearbeitet werden. Die Nachhaltigkeit dieses Prozesses führt zu einer Veränderung der Symptomatik und damit zu einer Nachentwicklung des Selbstwertgefühls sowie der Verbesserung der bislang belasteten Beziehung zu nahe stehenden Menschen.

Vor allem heutzutage, da allein noch evidenzbasierte empirische Gewissheiten als Kriterien von Wissenschaftlichkeit zu gelten scheinen (vgl. Koch 2016, S. 12 ff.), hat es die Psychoanalyse als eine Disziplin, die dezidiert der Eindimensionalität des unmittelbar Beobachtbaren nicht traut, besonders schwer. Wie will sie denn die Existenz des Unbewussten beweisen, das qua definitionem für das Bewusstsein gar nicht existiert? Folglich muss sie sich mit klinischen Indikatoren begnügen und das Unbewusste allein als notwendige, aber legitime Hypothese betrachten (vgl. Valon 2015, S. 387 f.). Damit also zur klinischen Arbeit. Dort, d. h. also in der psychoanalytischen Therapie, ist es das Ziel, dem Patienten dauerhaft zu ermöglichen, unbewusste Konflikte und Phantasien zu erkennen und bewusst zu erleben, so dass sich deren determinierende Wirkung auf sein Fühlen, Denken und Handeln verändern lässt. Die früh erlittene Traumatisierung wird in der Beziehung zum Analytiker reaktiviert, was sogleich einen heftigen Widerstand auslösen mag, den Schrecken nicht erneut durchleben zu müssen. Deshalb wird die Traumageschichte zunächst in einer agierten, dem Bewusstsein unzugänglichen Darstellung präsentiert. Der Analytiker fühlt sich dabei von unerträglichen Affekten und diffusen Wahrnehmungen überflutet und ähnlich hilflos und ohnmächtig gemacht, so wie sein Patient es einst erlebte. Wenn er dies erkennt und versteht, vermag er zur Durcharbeitung im Rahmen einer emotional haltenden therapeutischen Beziehung, die nicht retraumatisierend, sondern befreiend wirkt, beitragen (vgl. Leuzinger-Bohleber, Weiß 2014, S. 16 ff.).

Die unbewusst gehaltene Erinnerung an konflikhaft Erlebtes wirkt als implizites Wissen im Hintergrund und kann, wenn eine reale oder vermeintliche Gefahr droht, die alten Reaktionsmuster aktivieren, ohne dass der wahre Grund dafür deutlich würde. Ladan nennt diese Muster das »Selbstschweigende« (vgl. Ladan 2003, S. 18). Fühlt sich jemand beständig im Beisein anderer unsicher, wird er sich nicht mehr erinnern, wie er als Kind immerfort ignoriert wurde. Stattdessen haben sich diese Erfahrungen zu seiner impliziten Überzeugung zusammengefügt, er sei nichts wert. Deshalb vermittelt er anderen laufend die Botschaft, dass er sich selbst nicht ernst nimmt und dass man seinen Gefühlen keine Beachtung schenken muss.

Ein durch übergroßen Konfliktdruck hervorgerufenes psychisches Leiden kommt in Form einer Symptombildung zur Darstellung. Neurotische und psychosomatische Symptome stellen den Lösungsversuch einer unbewussten Konfliktdynamik, eine Kompromissbildung zwischen dem unbewussten Impuls einschließlich der dazugehörenden Vorstellungen und Affekte und der Abwehr dieses Impulses dar. Im intersubjektiven Zugang wird mit dem Symptom etwas mitgeteilt, das bewusst nicht verfügbar ist (vgl. Stemmer-Lück 2009, S. 47). Die bahnbrechende Bedeutung der Psychoanalyse besteht darin, dieses dysfunktionale Ausdrucksmoment nicht allein deskriptiv, sondern sinnverstehend in seiner genetischen und dynamischen Dimension erfassen zu wollen. Denn hinter dem Symptom steht eine unbewusste Motivation. Es wird definiert als

•  Kompromiss zwischen Triebimpuls und hemmender Abwehr

•  direkte Triebentladung (z. B. bei einer impulsiven Handlung) oder

•  eine Abwehr (z. B. Händewaschen des Zwangsneurotikers).

Der Mensch ist eben ein Konfliktwesen und sozusagen bipolar aufgebaut, d. h. er wird von gegensätzlichen Tendenzen bewegt (vgl. Mentzos 2009, S. 20 ff.). Die Konflikte wurzeln in seinen Trieben, Wünschen und Bedürfnissen einerseits und deren (Nicht-)Befriedigung durch das Gegenüber andererseits. Allerdings sei betont, dass nicht dem biologischen Trieb, sondern der Einbettung der Triebschicksale in eine bestimmte Beziehungskonstellation der Hauptanteil an der Symptombildung zukommt. Beziehungserfahrungen interagieren stets mit Reifungsaspekten und sind zudem in einen gesellschaftlichen Rahmen eingebunden (vgl. Stemmer-Lück 2009, S. 33).

Ein Beispiel mag erläutern, wie unbewusste Phantasien und Konflikte zur Produktion psychopathologischer Symptome führen: Eine 24jährige Patientin wird seit einem völligen seelischen Zusammenbruch von schweren Depressionen gequält. Sie hat ihr Studium abgebrochen, ist zu ihrer Mutter zurückgekehrt und verbringt den Tag meist zurückgezogen im Bett ihres verdunkelten Zimmers. Sie ist häufig krank und leidet unter schweren Schlafstörungen, Versagensängsten und Suizidgedanken. Zudem ist sie stark übergewichtig.

Als Achtjährige fand sie ihren Vater nach einem Herzinfarkt tot im Keller. Die Mutter reagierte mit einer Psychose auf dieses Ereignis, und die Leiche des Vaters wurde einfach im Leichenhaus vergessen. Erst auf eine Intervention der Behörde hin wurde er bestattet. Die beiden Töchter nahmen nicht am Begräbnis teil, und die Mutter weigert sich bis zum heutigen Tag, den Tod ihres Mannes anzuerkennen und macht sich und anderen vor, er sei auf einer Dienstreise.

Im ersten Jahr nach dem Tod nahm die Patientin 40 Kilogramm zu, sie und ihre ältere Schwester sorgten für die Mutter und gingen zur Schule, als sei nichts geschehen. Aus Angst, in ein Kinderheim zu kommen, hielten sie die häusliche Situation geheim. Die Patientin lebte in einem dissoziativen Zustand und hatte kein Gefühl für ihr eigenes Selbst. Erst mit fast 20 Jahren besuchte sie zum ersten Mal das Grab und wurde dabei von Schmerz und Verzweiflung überwältigt.

Später zog sie in eine Wohngemeinschaft und nahm eine äußerst enge Beziehung zu einem Studenten auf. Als dieser sie abrupt verließ und sie zudem finanziell übervorteilte, kam es zu besagtem depressiven Zusammenbruch. In der Behandlung wurde deutlich, dass sie unbewusst in der Beziehung zu dem Studenten den verlorenen Vater gesucht hatte und daher zu ihm eine existentielle Nähe herstellte, was diesem offensichtlich zu viel wurde. Sein Rückzug wurde von ihr unbewusst wie der traumatische Verlust des Vaters erlebt, was sie nicht zu verkraften wusste.

Sie ahnte jedoch, dass sie sich den erlittenen Traumatisierungen annähern musste, um deren Auswirkungen auf ihre Gefühle zu verstehen. Deshalb begab sie sich in eine psychoanalytische Behandlung. Das allmähliche Erkennen ihrer unbewussten Verwechslungen wie der Reaktivierung ihres Traumas in der Beziehung zum Analytiker befreite die Patientin schließlich von den »Schatten der Vergangenheit« (vgl. Leuzinger-Bohleber, Weiß 2014, S. 25 f.).

Das Unbewusste ist also das Alleinstellungsmerkmal der Psychoanalyse. Dorthin werden jene Anteile der Persönlichkeit verbannt, die in der jeweiligen Kultur verboten und tabuisiert sind. Den verdrängten Inhalten ist der Zugang zum Bewussten verwehrt und sie können erst nach der Überwindung von Widerständen zugänglich werden. Das psychische Geschehen ist demnach erfüllt von wirksamen, aber unbewussten Gedanken, auch die Entstehung von Symptomen findet dort ihren Ursprung. Das Unbewusste ist allerdings nicht wie ein zweites Bewusstsein aufgebaut, so dass es sich verbietet, vom Unterbewusstsein zu sprechen. Vielmehr handelt es sich dabei um ein dynamisches System von Inhalten und Mechanismen mit einer »spezifischen ›Energie‹« (vgl. Laplanche, Pontalis 1972, S. 562 ff.).

Mit der Entdeckung des dynamischen Unbewussten hat Freud dem Menschen die dritte große Kränkung beschert – wobei dies wohl mehr ironisch gemeint war (vgl. Quindeau 2017, S. 2015). Die erste war die kosmologische Kränkung: Mit der kopernikanischen Wende musste der Mensch Abschied nehmen von der narzisstischen Größenphantasie, die Welt bilde das Zentrum des Universums. Die zweite Kränkung war die biologische Kränkung: Darwin ordnete ihn in eine evolutionäre Reihe der Lebewesen ein und nahm ihm so die Illusion, die Krönung der Schöpfung zu sein. Die dritte und wohl am schwersten wiegende war die psychologische Kränkung: Freud befand, dass das Ich nicht Herr im eigenen Haus ist, weil seine unbewussten Triebkräfte nicht voll zu bändigen sind (vgl. Freud 1917a, S. 1 ff.).

Das klingt für manche Ohren sehr pessimistisch. Die konflikthafte Grundfigur des psychoanalytischen Denkens, beständig Antipoden auszumachen, deren energetischen Felder miteinander ringen, zeigte sich aber zehn Jahre später in der geäußerten Hoffnung auf eine vernünftige Kraft zur Bewusstmachung des Irrationalen: »Die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör geschafft hat« (vgl. Freud 1927c, S. 377).

Wo besser als an diesem Punkt ließe sich der immerfort währende Kampf zwischen Unbewusstem und Bewusstem aufzeigen? Das gegenseitig verschobene Wirken der innerpsychischen Potentiale, das von Konflikten und Ängsten bestimmt wird, ist in den Begriff der Psychodynamik eingegangen. »Eine ›psychodynamische Therapie‹ ist also eine Therapie, die sich mit den unbewussten Seiten eines Problems beschäftigt« (vgl. Voos 2011, S. 21; Voos 2015). Zu unterstreichen ist, dass in dem Oberbegriff »psychodynamisch« heute alle auf psychoanalytischer Basis gründenden Verfahren zusammengefasst werden. Psychoanalyse meint ja ganz allgemein ein Konzept zum Verstehen und Erklären der menschlichen Psyche unter besonderer Berücksichtigung der unbewussten psychodynamischen Vorgänge. Betont sei, dass die menschliche Entwicklung in einen sich ständig in Bewegung befindenden, intersubjektiven Prozess eingebettet ist, bei dem reale Beziehungserfahrungen mit anderen Menschen zu inneren Bildern werden. Dabei verwandelt die Verinnerlichung dieser frühen Beziehungserfahrungen äußere in innere Realität. Die Welt dieser inneren Realität besteht aus Vorstellungen, Gedanken, Phantasien, Emotionen, Erinnerungen und Träumen (vgl. Stemmer-Lück 2009, S. 30 ff.).

Der Arbeitskreis Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD), in dem sich Ärzte und Ärztinnen sowie Psychotherapeut/innen aus Psychosomatik, Psychotherapie und Psychiatrie zusammengefunden haben, entwickelte diesbezüglich unter Zuhilfenahme psychoanalytischer Konzepte ein eigenes diagnostisches Instrument. Ziel war es, die gängigen, rein deskriptiven Klassifikationsmodelle ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) und DSM-IV – inzwischen DSM-V – (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen) um psychodynamische Dimensionen zu erweitern.

Auf insgesamt fünf Achsen werden die erhobenen Befunde abgebildet:

•  Achse I: Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen

•  Achse II: Beziehung

•  Achse III: Konflikt

•  Achse IV: Struktur

•  Achse V: Psychische und psychosomatische Störungen.

Insbesondere Achse IV beschreibt die Verfügbarkeit über regulative Funktionen des Psychischen. Die hier angesprochene Funktionsfähigkeit des Subjekts ist im psychoanalytischen Strukturmodell der Persönlichkeit beschrieben. Danach kommt dem Über-Ich die Funktion von Gewissen, Selbstbeobachtung und Idealbildung zu. Das Es wiederum bildet den Triebpol der Persönlichkeit. Und das Ich ist jene Instanz, die zwischen den Forderungen von Es und Über-Ich vermittelt. Wesentliche Ich-Funktionen beinhalten hernach kognitive Fähigkeiten wie Wahrnehmung, Denken, Gedächtnis und Urteilskraft (vgl. Quindeau 2008, S. 40 ff.).

Die Fähigkeit zu Selbst- und Fremdwahrnehmung, affektiver Selbststeuerung und Beziehungsregulierung, intrapsychischer und interpersoneller Kommunikation sowie innerer Objektbindung und äußerer Beziehung sind die wesentlichen Items der OPD. Unter psychodynamischen Gesichtspunkten werden nun die in einem teilstrukturierten Interview gewonnenen Daten in verschiedene Strukturniveau-Cluster eingeteilt:

1.  gut integriert: relativ autonomes Selbst mit der Fähigkeit zu Selbstreflexion und realitätsgerechter Wahrnehmung

2.  mäßig integriert: intrapsychische Konflikte sind destruktiver; Übersteuerung und Impulsdurchbrüche

3.  gering integriert: wenig entwickelter Binnenraum; große Kränkbarkeit

4.  desintegriert: fehlende Kohärenz des Selbst und überflutende Emotionalität werden durch postpsychotische oder posttraumatische Organisationsformen überdeckt (vgl. Rudolf, Doering 2012, S. 87 ff.).

Für den außerklinischen Bereich, wie er sich auf dem Feld der Pädagogik darstellt, sind derlei operationalisierte Diagnoseverfahren durchaus zu vernachlässigen. Allerdings liefern sie mit ihrer vorsichtigen und verstehenden Annäherung ein Modell, mit welcher behutsamen Haltung wir unseren Adressat/innen mit psychischen und Verhaltensauffälligkeiten begegnen sollten.

An dieser Stelle sei betont, dass sich das Unbewusste nicht direkt beobachten, sondern nur sinnhaft aus dem manifesten Verhalten erschließen lässt. Dies ist an Fehleistungen eindrücklich zu illustrieren. Freud berichtet von einem Mann, der von irgendwelchen Vorgängen erzählt, die er beanstandet, »und setzt fort: Dann aber sind Tatsachen zum Vorschwein gekommen… Auf Anfrage bestätigt er, dass er diese Vorgänge als Schweinereien bezeichnen wollte. ›Vorschein‹ und ›Schweinerei‹ haben mitsammen das sonderbare ›Vorschwein‹ entstehen lassen« (vgl. Freud 1916/1917, S. 35). Hinter dem Versprecher scheint der eigentlich gemeinte, aber verdrängte Sinn auf, der sich durch eine sprachliche Kompromissbildung dennoch zu erkennen gibt.

Im dynamischen Unbewussten gibt es keine Kausalität oder Finalität, kein »entweder – oder«, sondern nur ein »sowohl – als auch«. Es stellt etwas Außer-Ordentliches dar, also etwas, das sich den gängigen Ordnungssystemen wie z. B. der Sprache zu entziehen weiß. Selbst die Logik von Zeit und Raum ist aufgehoben. Alles Widersprüchliche bleibt nebeneinander bestehen.

Die archaische Form, das »primäre Unbewusste«, ist prinzipiell dem Bewusstsein entzogen und kann niemals bewusst gemacht werden, so wie es auch das Konzept vom impliziten Gedächtnis sieht. Ein anderer Teil entsteht aber durch Verdrängung und kann dem Bewusstsein wieder zugänglich werden, wenn die Verdrängung sozusagen rückgängig gemacht wird. Rekonstruktion von Sprache bedeutet, dass die Sprachzeichen wieder mit den dazugehörigen Handlungsentwürfen und Erlebensweisen verbunden werden (vgl. Quindeau 2008, S. 20).

In Ergänzung zu diesem Gesichtspunkt stellt die auf Sandler und Sandler zurückgehende Unterscheidung in das Vergangenheits-Unbewusste und das Gegenwarts-Unbewusste eine hilfreiche Differenzierung des Unbewussten dar, wobei diese zwei Schichten allerdings nicht als getrennt voneinander anzusehen sind. Das Vergangenheits-Unbewusste enthält die früh gemachten Beziehungserfahrungen, während alle Formen von Abwehrmechanismen und adaptiven Mechanismen im Gegenwarts-Unbewussten wirken. Aus anderer Perspektive könnte man sagen, dass das Vergangenheits-Unbewusste die präverbalen Erfahrungen enthält, während im Gegenwarts-Unbewussten die verbalen Erfahrungen organisiert sind.

Das deklarative oder explizite Gedächtnis bzw. Gegenwarts-Unbewusste steht dem Menschen erst mit dem Erreichen der Symbolisierungsfähigkeit ab dem 2. Lebensjahr zur Verfügung. Es enthält die verdrängten, unerträglich gewordenen und konflikthaften Wünsche, Impulse und Phantasien, deren Realisierung nicht erlaubt worden ist. Das nicht-deklarative Gedächtnis stützt sich dagegen auf implizit-unbewusst Erlerntes vor der Einführung von Sprache. Die Interaktionserfahrungen dieser Zeit werden dort in Form von Bildern oder Bildfragmenten aufbewahrt, die der Sprache nicht zugänglich sind. Das implizite Gedächtnis enthält demnach prototypische, affektiv getönte Interaktionsmuster, die die spätere Beziehungsgestaltung unbewusst beeinflussen (vgl. Stemmer-Lück 2009, S. 44 ff.; Sandler, Sandler 1985, S. 804).

Über Sprachzerstörung

Stets dreht es sich um innere, psychodynamische Prozesse, die eine Geschichte haben. Aus der Interaktion des jungen Kindes mit seinen primären Objekten, voran der Mutter auf Grund der bereits pränatal entstehenden Nähe zu ihr, gehen auf Grund bestimmter sich allmählich einschleifender, weil wiederkehrender Erfahrungen bestimmte Erwartungen hervor, die zum Prototyp für die Verhaltensentwürfe in allen nachfolgenden Interaktionen werden. Wichtig ist zu erkennen, dass es sich dabei um innerliche Regulatoren des Individuums handelt. Und da sie der Persönlichkeit eingelagert sind, gehören sie eindeutig nicht zu den auf der beobachtbaren Verhaltensebene zu fassenden Interaktionserscheinungen. Weil also die Psychoanalyse von der beeinträchtigten psychischen Struktur handelt, ist es unzulässig, von der Erscheinung auf das Wesen zu schließen. Das sichtbare Verhalten gibt seinen eigentlichen, nämlich unbewussten Auslöser nicht in Form einer platten Kausalität preis. Vielmehr stoßen wir auf eine Doppeldeutigkeit des manifesten Inhalts von Sprache bzw. Handeln und seinem latenten, aber unsichtbar gewordenen Sinn. Sie rührt aus den früh einsozialisierten Verwundungen des Subjekts her, die eine systematische Beschädigung seiner Erlebensstruktur nach sich gezogen haben. Das Verhalten ist unverständlich geworden, weil es die falsche Bedeutung erhielt und zu einem Verhalten ohne Bewusstsein wurde (vgl. Lorenzer 1974, S. 127 ff.).

Gleichermaßen ist von diesem Entfremdungsprozess die Sprache betroffen – es kommt zur Sprachzerstörung. Doch halten wir kurz inne. In der Psychoanalyse spielt die Einführung der Sprachsymbolik eine zentrale Rolle. Ein Symbol ist ein Wort, eine Person, ein Gegenstand oder ein Zustand, welcher auf etwas anderes – einen Zustand, einen Begriff, eine Person usw. – verweist und es repräsentiert. Die Fähigkeit des Menschen, Repräsentationen der materiellen und immateriellen Welt zu bilden, ist vielleicht seine größte Errungenschaft. Die Symbolbildung ist von Anbeginn an bei der Entstehung der Kultur maßgeblich beteiligt, was sich in Bereichen wie Mythologie, Religion, Kunst, Technik und Wissenschaft deutlich zeigt (vgl. Mentzos 2009, S. 61).

Unter starkem Konfliktdruck kann es allerdings zu einer Regression kommen, so dass die bereits erworbene Symbolisierungsfähigkeit in Teilen wieder rückgängig gemacht wird. Mittels Verdrängung werden symbolische in desymbolisierte Repräsentanzen verwandelt, und dem Bewusstsein wird tendenziell die Verfügung über die eigentliche Bedeutung bestimmter Sprachsymbole entzogen. Sie werden aus der allgemeinen Sprachkommunikation ausgeschlossen und zu Klischees bzw. leeren Zeichen verfremdet. In dieser Hinsicht kommt es zu einer eigentümlichen Sprachverwirrung, wie das nachfolgende Beispiel zeigt. Beim kleinen Hans aus Freuds »Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben« (vgl. Freud 1909b) wird die Angst vor dem Vater auf die Angst vor dem Pferd verschoben. Hans hatte Angst, ein Pferd würde ihn beißen. Zudem spielte ein weiteres Moment eine wichtige Rolle. Auf einem Spaziergang mit seiner Mutter hatte er nämlich beobachtet, wie ein großes, schweres Pferd, das vor einen Wagen gespannt war, stürzte und mit den Beinen zu zappeln begann. Es erschreckte den Jungen so sehr, dass er die Phantasie entwickelte, das Pferd sei tot und von nun an würden alle Pferde, denen er begegnete, tot umfallen. Daraufhin entwickelte er eine starke Pferdephobie und traute sich nicht mehr auf die Straße.

Mit der hier skizzierten privatsprachlichen Verfälschung wird die Umgangssprache verstümmelt, was sich nicht sofort erschließen lässt. Zu folgern, dass das Wesen sogleich in den Erscheinungen fassbar würde, dass sich also umstandslos vom Verhalten auf seine Ursache schließen ließe, käme daher einer »Projektion der Wesensaussage auf einen Erscheinungsscreen« gleich (vgl. Lorenzer 1976, S. 23). Eine so simple Konstruktion verbietet sich von selbst. Die unbewusst verhaltensbestimmenden Erlebnismuster, die über die frühen Interaktionserfahrungen in die Subjektstruktur eingelassen wurden, dürfen nicht mit dem aktuellen Realerleben verwechselt werden. Die Wahrnehmung aktueller Beziehungskonstellationen lässt sich nicht eindimensional auf eine lebensgeschichtliche Ereignisrekonstruktion verkürzen. Ereignis und Erlebnis sind nicht dasselbe. Vor dem Hintergrund einer völlig divergierenden Einbettung des Einzelnen in frühe Beziehungskonstellationen können ähnliche nachfolgende reale Erfahrungen völlig verschieden erlebt werden und ergo zu gänzlich anderen Reaktionen führen.

Es wäre falsch zu glauben, dass eine beobachtete Interaktion unmittelbar etwas Stichhaltiges über die ihr zugrundeliegenden unbewussten Interaktionsmuster aussagen könnte. »Weil Psychoanalyse keine Ereignisermittlung leisten kann, vermag sie auch keine historiographische Rekonstruktion der Lebensgeschichte zu erbringen« (vgl. Lorenzer 1976, S. 27). Vielmehr kreist sie um die systematische Verzerrung der Erlebnisentwürfe, was zu einer fatalen Fehleinschätzung der Realität führt. Die Frage lautet nicht: Was ist damals genau vorgefallen? sondern: Wie hat sich das Kind in diesen Situationen gefühlt?

In aktuellen konflikthaften Situationen wird das alte Leid erneut virulent und wie auf dem Theater szenisch reproduziert, wobei das Gegenüber in diese Dramaturgie hineingezogen wird. Das szenische Verstehen, welches hier zur Anwendung kommt, ist ein seit Lorenzer in der Psychoanalyse angewandtes Verfahren zur tieferen Wahrnehmung dessen, was ein Patient von seinen inneren Schwierigkeiten und Konflikten unbewusst in reale Handlungen transformiert, d. h. in Szene setzt. Es ist darauf gerichtet, die hinter dem manifesten Verhalten verborgenen »dramatischen Entwürfe« zu erkennen und so auf dem Wege der unmittelbaren Teilhabe ins angebotene Drama »selbst als Akteur« einzusteigen (vgl. Lorenzer 1974, S. 138). Aber nicht nur im psychotherapeutischen Kontext, sondern auch und gerade auf dem Feld der Pädagogik entfalten sich mehr oder weniger stimmige Szenen, die wir nutzen können, um »Sinnlücken zu schließen und zu einem tieferen Verständnis der Szene und zu neuen Sinnversionen zu gelangen« (vgl. Laimböck 2015, S. 53).

Auch im pädagogischen Feld konstituiert sich im unbewussten Zusammenspiel von Übertragung und Gegenübertragung die konflikttypische Szene als Ausdruck einer konflikthaften Interaktion. Folgende Grundmerkmale des szenischen Verstehens lassen sich herauskristallisieren:

•  Beziehungsstörungen äußern sich in einer Folge von Szenen.

•  Hier ist in der Regel ein dramatischer Verlauf festzustellen.

•  Die Inszenierung bedarf der Mitwirkung des Objekts.

•  In der konflikttypischen Szene wird verschlüsselt der unbewältigte Konflikt ›erzählt‹.

•  Der Pädagoge/die Pädagogin agiert oft die ihm/ihr vom Unbewussten des Kindes zugedachte Rolle und trägt somit zur Reproduktion der frühen, leidvollen Erfahrung bei (vgl. Trescher 1985, S. 139).

Psychoanalyse ist hernach keine medizinische Spezialdisziplin, sondern kann auch in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften rezipiert und angewendet werden. Weil sie ein Modell vom Menschen anbietet, nach dem die entscheidende Antriebskraft des Erlebens und Verhaltens aus dem Unbewussten abstammt, fungiert sie als Anthropologie. Weil sie die Dimensionen des Somatischen, Psychischen und Sozialen unter dem Primat von Beziehungserfahrungen verbindet, fungiert sie als Sozialisationstheorie (vgl. Quindeau 2008, S. 7).

Da hier auch die biologische Seite des Menschen angesprochen ist, erhält das Wissen ums Unbewusste eine weitere wichtige Erkenntnisfunktion. Denn mit Bezug auf die häufig als veraltet geltende Triebtheorie lassen sich innerpsychische und Konflikte zwischen Innen und Außen genauer ausleuchten. Mit diesem Erklärungsansatz wird nämlich die Unvereinbarkeit von biologisch angelegten, unbewussten Triebbedürfnissen und meist ebenfalls nur teilweise bewussten, kulturellen Anforderungen viel transparenter. So lässt sich etwa der Konflikt heutiger junger Frauen, einerseits die existentiellen Bedürfnisse ihrer Säuglinge nach konstanter und einfühlsamer Bemutterung wahrzunehmen und andererseits ihren eigenen beruflichen Wünschen und Ansprüchen nachzukommen, sehr gut erhellen (vgl. Leuzinger-Bohleber, Weiß 2014, S. 99).

Das Streben nach Lust und Befriedigung ist eine zentrale Antriebskraft menschlichen Handelns. In diesem Sinne hat Freud den Trieb als eine Art Arbeitsanforderung verstanden, unbewusstes Begehren in psychische Aktivität zu verwandeln. Insofern sind auch psychische Abwehrformen nicht per se als pathogen oder negativ abzuwerten, sondern sie erfüllen solange eine wichtige psychohygienische Funktion, wie sie nicht auf rigide und unangemessene Weise zu einer psychischen Erkrankung führen.

Der Trieb changiert an der Grenze zwischen dem Körperlichen und dem Psychischen und heftet sich immer an ein Objekt. Das von ihm ausgehende Begehren ist ohne den Anderen nicht vorstellbar, es begründet sich in der Sozialität der zwischenmenschlichen Beziehung. Denn das Gesellschaftliche und der Andere sind dem Einzelnen vorgängig. Ein Kind, das zur Welt kommt, wird immer zugleich in eine Sozialität hineingeboren. Insofern bewegt sich Psychoanalyse im Dreieck von Biologie, Psychologie und Soziologie. Während jedoch in anderen theoretischen Modellen diese drei Ebenen auseinanderfallen bzw. als zueinander in einem additiven Verhältnis stehend erachtet werden, bilden sie hier einen konsistenten Zusammenhang (vgl. Quindeau 2008, S. 8 ff.).

Bereits in den ersten Interaktionserfahrungen eines Kindes, die Einfluss nehmen auf die Anordnung der Welt seiner inneren Objekte, ist dieser Andere gegenwärtig. Deshalb sollten wir der sehr frühe Beziehungsentwicklung und der elterlichen Fürsorge unsere ganze Aufmerksamkeit schenken. Ohne die mütterliche Pflege wäre der Mensch am Anfang überhaupt nicht lebensfähig. Wie Winnicott sagt, gibt es den Säugling eigentlich gar nicht. Auf existentielle Weise braucht er die Mutter, um nicht zugrunde zu gehen (vgl. Winnicott 1990, S. 50).

Das Subjekt bildet sich aus den früh verinnerlichten Beziehungen mit anderen Menschen, allen voran den primären Objekten wie der der Mutter. Zum einen lässt sich die Entstehung seiner psychischen Struktur als eine Art Aufeinanderschichtung fassen, zum andern erfahren die vorhandenen Erinnerungsspuren von Zeit zu Zeit eine Umschrift. Gedächtnisinhalte werden mehrfach kodiert und nachträglich umstrukturiert. Einig ist man sich dahingehend, dass das, was ein Mensch erlebt und ihm widerfährt, einen Niederschlag hinterlässt, der auf bestimmte Weise in seine psychische Struktur und in seinen Körper eingeschrieben wird. Während jedoch frühere Abbildtheorien zu zeigen suchten, dass die Sinneseindrücke unverändert im Gedächtnis gespeichert und ebenso unverändert wieder abgerufen würden, geht man heute davon aus, dass diese Vorstellung von Unveränderlichkeit nicht zutrifft, weil damit die beständige Verarbeitung dieser Eindrücke unterschätzt wird (vgl. Quindeau 2008, S. 17 f.).

Aus der Vielzahl einzelner, sich ähnelnder Interaktionserfahrungen, die ein Kind mit seinen primären Objekten macht, bilden sich sogenannte Interaktionsformen als innere Repräsentationen des Erlebten. In der Sprache der Neurowissenschaften könnte man auch von neuronalen Bahnungen sprechen. So bewahrt ein Kind in seinem impliziten Gedächtnis auf, wie es getragen oder auf dem Arm gehalten wird. In dieser »bestimmten Interaktionsform« werden die vorsprachlichen, sensomotorischen Erinnerungen als Niederschläge abgelaufener und Muster zukünftiger Interaktionen hinterlegt (vgl. Lorenzer 1977, S. 43). Dabei hat die je spezifische Art, getragen zu werden, unmittelbar Auswirkungen auf psychischer und körperlicher Ebene. In der Folge werden bestimmte Muskelpartien spezifisch ausgebildet und gefördert. Gleichzeitig findet die mit dieser Interaktion verbundene Beziehungserfahrung, also, wie zugewandt z. B. die Pflegeperson erlebt wird, ihre entsprechende Segmentierung. Während es sich hierbei zunächst auf der sensomotorischen Ebene um unmittelbare Sinneseindrücke und motorische Bewegungen handelt, erwächst aus diesen elementaren Empfindungen allmählich die psychische Struktur. Die erlebten Episoden werden nachträglich mit Sinn und Bedeutung versehen. Die Interaktionsform wird mit einem Sprachzeichen verknüpft. Die bis dato vorsprachliche bestimmte Interaktionsform erhält also einen Namen und wird zur »symbolischen Interaktionsform« (vgl. Lorenzer 1977, S. 48). Von jetzt an werden Interaktionsmuster nicht nur auf der Ebene der Sinneswahrnehmung, sondern auch auf der Ebene der Sprache niedergelegt.

Zu einem frühen Zeitpunkt könnte das in Form von »Mama, Arm« geschehen, wobei nicht nur bestimmte Personen oder Gegenstände gemeint sind, sondern eine ganze Szene zur verbalen Darstellung kommt. Dabei besitzt die Verbindung von Symbol und Interaktion eine ausgeprägt emotionale Dimension: »So ist es nicht zufällig, dass das erste Wort eines Kindes meist Mama heißt. Mit ihm kann es der Freude über die Befriedigung und Sicherheit vermittelnde Beziehung zur Mutter (…) Ausdruck verleihen. Durch Mama-Rufe kann es sich diese begehrte Beziehung real herstellen. Es kann sich aber auch mit dem Wort jenes Mama-Erlebnis vergegenwärtigen und damit deren vorübergehende Abwesenheit immer besser ertragen« (vgl. Leber 1981, S. 36). Mit zunehmender Sprachentwicklung, die eine gewisse Distanzierung zum Erlebten erlaubt, geht allerdings gleichzeitig der Verlust des Moments unmittelbarer Empfindsamkeit einher (vgl. Quindeau 2008, S. 19 ff.).

Die Konfliktdynamik

Nach psychoanalytischem Verständnis ist das Konflikterleben ein konstitutiver Teil menschlichen Seins und unabweisbar in die psychische Struktur eingeschrieben. Im Fortgang der psychosexuellen Entwicklung durchläuft das Kind orale, anale und phallisch-ödipale Grundkonflikte, in denen sich phasenspezifische Wünsche und Ängste sowie die dazu gehörigen Beziehungsstrukturen zeigen. Die in dieser Zeit gemachten Beziehungserfahrungen gerinnen zu prägnanten Beziehungsmustern und werden in der psychischen Struktur verankert.

So werden auch alle Interaktionen zwischen dem Kind und seinen primären Objekten als Objekt- und Selbstrepräsentanzen internalisiert. Wie die Bezugsperson die Signale des Kindes wahrnimmt und beantwortet, ob sie dabei freundlich oder gereizt, zärtlich oder ungeduldig erscheint, geht als affektgetönte Erinnerungsspur bzw. Erlebnisniederschlag in diese Repräsentationen ein. Wenn man den »Glanz in den Augen der Mutter« sieht (vgl. Kohut 1975, S. 149), fühlt man sich besser, als wenn Ekel oder Ablehnung zu spüren sind (vgl. Stemmer-Lück 2009, S. 57 f.).

Die frühe Interaktion verläuft über eine Abfolge typisch-signifikanter Erfahrungen, die sich im Kind allmählich als sogenannte Selbstrepräsentanzen (der »Summe der szenischen Erfahrungen über sich selbst«) und Objektrepräsentanzen (der »Summe der szenischen Erfahrungen über die Mutter – und weitere Personen«) ausformen (vgl. Muck 1991, S. 26). Jede dieser Repräsentanzen enthält drei Komponenten: das Bild des Selbst, das Bild des Objekts und die affektive Einfärbung. Wenn ein Mensch als junges Kind häufig Trennungen ausgesetzt war, ist diese Erfahrung des Beziehungsabbruchs mit einem psychischen Schmerz verkoppelt. Die innere Repräsentanz der Objektbeziehung kann dann so aussehen, dass Kontaktaufnahme, Bindung und Beziehung stets mit einem unangenehmen Gefühl assoziiert werden. Aus der Gewissheit heraus, sowieso wieder verlassen zu werden, versucht man dann gar nicht erst, sich auf eine solche Situation einzulassen. Allerdings entsprechen die inneren Repräsentanzen den vergangenen Erfahrungen nicht unmittelbar, sondern unterliegen durch den Einfluss von Affekten und Wünschen einer ständigen Modifikation. Indessen sind psychische Störungen Ausdruck und Folge misslungener früher Interaktionen, die internalisiert wurden und sich in aktuellen Beziehungen zeigen. Nach Stern werden diese frühe Beziehungserfahrungen im episodischen Gedächtnis gespeichert und münden in Repräsentationen generalisierter Interaktionen oder RIGs (Representations of Interactions that have been Generalized) ein (vgl. Stemmer-Lück 2009, S. 58 ff.; Stern 1992, S. 160).

Im eben aufgenommenen Beispiel ist auch wieder ein Grundkonflikt sichtbar geworden. All diese Grundkonflikte sind dabei an typische psychodynamische Konfliktkonstellationen gebunden und zentrieren sich um bestimmte Entwicklungsaufgaben, als da sind

•  Trennungskonflikte

•  Individuationskonflikte

•  Triangulierungskonflikte

•  narzisstische oder Selbstwertkonflikte.

Für die orale Phase des ersten Lebensjahres ist der Trennungskonflikt konstitutiv. Die phantasmatische Einheit aus Mutter und Kind muss allmählich wieder aufgelöst werden, das Kind beginnt zu realisieren, dass die Mutter ein eigenständiges Wesen ist, und es muss diese Getrenntheit ertragen lernen. Damit ist eine besondere Form der Widersprüchlichkeit verknüpft. Auf der einen Seite soll der Wunsch nach Verschmelzung mit der Mutter aufrechterhalten werden. Auf der anderen Seite steht der Wunsch nach Separation. Die Hauptangst in dieser Phase ist die vor dem Verlust des Objekts. Verlassen zu werden erscheint als existentielle Bedrohung. Im späteren Erwachsenenleben werden unbewusste Trennungskonflikte in Trennungs- und Verlustsituationen aktualisiert (vgl. Quindeau 2008, S. 28 ff.).

In der analen Phase des zweiten und dritten Lebensjahres stehen Autonomiekonflikte im Mittelpunkt. Bezeichnend ist, dass das erste Nein des Kindes dem Erwerb des Ja vorausgeht. Die zentrale Entwicklungsaufgabe zentriert sich um die eigene, sich von der Mutter unterscheidende Individualität, verbunden mit körperlicher Reifung, der Ausbildung der Motorik und der Kontrolle über die Körperfunktionen sowie dem Spracherwerb. Das Kind schwankt zwischen Omnipotenzphantasien und Hilflosigkeit. Die Hauptangst sind Ohnmacht und Liebesverlust. Aus der großen Zahl von Teilobjektrepräsentanzen, wie sie für die orale Phase typisch waren, erwachsen in Abhängigkeit von der Qualität der Beziehungserfahrungen Repräsentanzen von ganzen Personen, die als gute oder böse Objekte erscheinen. Zudem entstehen Selbstrepräsentanzen, in denen sich das Kind als zunehmend handlungsfähig wahrnimmt (vgl. Quindeau 2008, S. 31 f.).

In der phallisch-ödipalen Phase im Alter von vier bis fünf Jahren bilden Triangulierungskonflikte den Grundkonflikt, die im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Ödipuskomplex stehen. Zum einen geht es um die Differenzen zwischen den Generationen von Eltern und Kind, zum anderen um die Differenzen von Mann und Frau. Die Unterscheidung zielt auf eine eindeutige Zuordnung sowie die Schaffung von Begrenzungen. Alles zentriert sich z. B. um die Überzeugung des Jungen, der Sohn der Mutter, aber nicht ihr Mann zu sein. Die Etablierung dieser Grenzen erfordert eine hohe psychische Arbeit. Zudem wird auf der affektiven Ebene eine immense Ambivalenz sichtbar: die geliebte Person, etwa der Vater, wird zugleich auch gehasst. So verwundert es nicht, dass es durchaus eine Gleichzeitigkeit der homo- und heterosexuellen Orientierung gibt, »d. h. der Liebe zu Vater und Mutter. Das gesellschaftliche Primat der Heterosexualität löst diese Gleichzeitigkeit ab«. Der Ödipuskomplex ist der Ort der Triangulierung, denn es geht um den Übergang von einer dyadischen zu einer triadischen Beziehung. Vor allem steht die Integration von Ambivalenzen an, also die Anerkennung so widersprüchlicher Regungen wie Liebe und Hass derselben Person gegenüber. Die Hauptangst zentriert sich darum, ausgeschlossen oder abgelehnt zu werden (vgl. Quindeau 2008, S. 32 ff.).

Der Ödipuskomplex ist das zentrale Element der Psychoanalyse. Fällt also mit seiner Infragestellung die gesamte Theorie? Sicherlich muss aus heutiger Sicht Kritik an den zugrundeliegenden, rein biologischen Verwandtschaftsverhältnissen geübt und ein Strukturmodell jenseits der Heteronormative formuliert werden. Warum also soll nur das männliche Genitale von Bedeutung sein? In der ganzen aufgeregten Debatte geht allerdings schnell vergessen, dass Freud eine generelle bisexuelle Anlage im Körperlichen verankerte und er den »Ausgang der Ödipussituation in Vater- oder Mutteridentifizierungen bei beiden Geschlechtern als abhängig von der relativen Stärke der beiden Geschlechtsanlagen« sah. Insofern müsste sich heute der Ödipuskonflikt von seiner immanenten Heteronormativität lösen und als universelles Strukturmodell reformuliert werden (vgl. Quindeau 2017, S. 207 ff.; Freud 1923b, S. 262).

Etwas quer zu dieser Systematik liegen die narzisstischen Konflikte. Sie zentrieren sich um Selbstliebe und Selbstbezogenheit. Menschen, die nach Spiegelung suchen, benötigen andere, die sie bewundern oder bestätigen, »d. h. das Selbst idealisierende Selbstobjekte«. Menschen, die nach Idealen suchen, benötigen andere, die wegen ihres Prestiges, ihrer Macht oder ihrer Schönheit wegen bewundert werden, »d. h. idealisierbare Selbstobjekte«. In Krisensituationen, etwa bei Trennungen, fühlen sie sich oft massiv entwertet und in ihrem Selbstgefühl bedroht (vgl. Quindeau 2008, S. 35 f.). Mentzos hat diese Konstellation wie folgt beschrieben:

Tab. 1: Konfliktart und die korrespondierenden Ängste (vgl. Mentzos 2009, S. 31)

KonfliktAngst vor

Konflikte sind in ihrer Psychodynamik eng mit Angst und daraus resultierenden Reaktionen verbunden. Häufig bestehen sie darin, quasi zwischen zwei gleich stark befürchteten Situationen wählen zu müssen. Aus Angst erscheint jede der beiden Situationen inakzeptabel. Daneben sind andere Regungen wie Schamgefühle, Schuldgefühle und Neidgefühle ebenfalls Begleiter von Konflikten. Scham entsteht, wenn etwas offen wird, das wir vor der Welt zu verbergen suchen, und wir sollen dazu veranlasst werden, den Umstand der Gefährdung unserer Selbstachtung zu vermeiden oder rückgängig zu machen. Psychodynamisch entsteht ein Schuldgefühl durch die Verinnerlichung der elterlichen Forderungen und Verbote im Über-Ich und signalisiert die Verletzung der Rechte und Bedürfnisse anderer. Unter normalen Bedingungen werden wir dann von unserem reifen Gewissen zu einer Korrektur und Wiedergutmachung veranlasst. Neid ist der Indikator für eine Minderung des eigenen Selbstwerts auf Grund des Erfolgs eines anderen. Eine extrem selbstbezogenen Einstellung z. B. steht in krassem Gegensatz zu den sozialen Normen. Deshalb muss das peinigende und peinlich werdende Neidgefühl versteckt, verdrängt oder verleugnet werden, was eine produktive Problemlösung beinahe unmöglich macht.

Kommt es zu pathologischen Pseudolösungen all dieser primären Konflikte, entstehen zwangsläufig Frustrationen, denn meist wird dann einer der beiden Konfliktpole vernachlässigt. So wird z. B. entweder das Liebesbedürfnis oder das Autonomiebedürfnis übergangen. Damit entwickeln sich Unlust und dann Gereiztheit und Aggression. Eine scheinbar grundlos entstehende Wut hat hier ihren Ursprung und nicht wie früher angenommen im destruktiven Aggressionstrieb. Biologisch ist allein ein Aggressionsreaktionsmuster vorgegeben, welches durch äußere oder innere Frustrationen mobilisiert wird. Die dabei produzierte Aggression ist also sekundär bzw. reaktiv, was ihre Bedeutung nicht schmälert, schließlich trägt sie erheblich zu intrapsychischen und interpersonellen Konflikten bei (vgl. Mentzos 2009, S. 35 ff.; Quindeau 2008, S. 77).

Gerade im Falle von Krisen werden die oben beschriebenen Grundkonflikte reaktiviert. Sie bestehen ein Leben lang weiter und werden vom Bewusstsein abgewehrt. Das gilt in besonderem Maße für das Übertreten von Verboten, wenn etwa Es-Regungen auf ihrem Weg zur Befriedigung »den Boden des Ich« passieren müssen. Man verlangt von ihnen, Rücksicht auf ethische und moralische Gesetze zu nehmen, die vom Über-Ich aus das Verhalten des Ichs bestimmen sollen. Die Absicht des Ich ist die Lahmlegung der Triebe durch »geeignete Abwehrmaßnahmen, die der Sicherung seiner Grenzen dienen sollen«, wie es Anna Freud in »Das Ich und die Abwehrmechanismen« formuliert hat (vgl. Freud, A. 1936, S. 200 f.). Dass der Begriff der Abwehr eine abwertende Konnotation erfährt, tut ihm unrecht. Denn unter unbewusster Abwehr verstehen wir lebensnotwendige Bewältigungsfunktionen, die erst im Falle einer Krise pathologisch wirksam werden und sich in unterschiedlichen rigiden Abwehrformen zeigen, welche die Realitätswahrnehmung beeinträchtigen. Folgende Formen kennen wir:

•  Spaltungsvorgänge in Gut und Böse

•  Projektions- und Externalisierungsvorgänge, mit denen unerträgliche Gefühle anderen zugeschrieben werden

•  Introjektions- und Internalisierungsvorgänge als Formen der Identifizierung mit gewünschten Anteilen vom Anderen und somit für die Weiterentwicklung der psychischen Struktur von großer Bedeutung

•  Rationalisierung und Intellektualisierung, um Emotionales in formaler, affektloser Art zu behandeln und eine gefühlsmäßige Beteiligung zu vermeiden

•  Reaktionsbildung als Aktivierung eines dem ursprünglich aggressiven Impuls entgegengesetzten Verhaltens

•  Affektualisierung als deren Gegenstück aus Überemotionalisierung und Dramatisierung

•  Verschiebung als Loslösung emotionaler Reaktionen von ihren ursprünglichen Inhalten

•  Verleugnung angsterregender Aspekte der Außenwelt oder der eigenen Person, die nicht mehr wahrgenommen werden

•  Verdrängung unverträglicher Gefühle ins Unbewusste

•  Sublimierung als Umsetzung unerwünschter Affekte in sozial anerkannte Handlungen

•  Somatisierung bedingt vor allem funktionelle Syndrome, d. h. die funktionelle Störung von Körperorganen, und Psychosomatosen, d. h. die von Organveränderungen und Schädigungen begleiteten psychosomatischen Erkrankungen

•  Psychosoziale oder interpersonelle Abwehr als Bewältigung psychischer Konflikte in einer zwischenmenschlichen Konstellation

•  Institutionalisierte Abwehr, wenn Institutionen Abwehr und Kompensationsfunktionen übernehmen.

Mentzos empfiehlt eine Einteilung der hier angesprochenen Abwehrmechanismen in

•  unreife Formen (z. B. die psychotische Projektion beim Wahn oder die projektive Identifizierung, bei der es neben der Projektion eigener »böser« Persönlichkeitsanteile in ein Gegenüber zusätzlich zu dessen manipulativ erzeugter Veränderung kommt)

•  nichtpsychotische Projektionen (z. B. Spaltungen und Verleugnungen, wie sie bei der Entstehung von Feindbildern vorfindbar sind)

•  reife Abwehrmechanismen (z. B. Rationalisierung und Verdrängung im Grenzbereich zum Normalen)

•  reife Bewältigungsmechanismen (Copingstrategien).

All diese Konflikte lassen sich nicht lösen, sondern allein mehr oder weniger zufriedenstellend verarbeiten. Schließlich bilden sie die zentrale Achse der Psychodynamik (vgl. Quindeau 2008, S. 37 f.; Menztos 2009, S. 29 ff.).

Übertragung und Gegenübertragung

Das Konzept von Übertragung und Gegenübertragung beleuchtet die unbewusste Dimension zwischenmenschlicher Beziehungen. Ursprünglich war es als ein Spezifikum der psychotherapeutischen Behandlung entworfen worden. Ungelöste Konflikte und Traumatisierungen des Patienten werden dort inszeniert und der Analytiker so behandelt, als sei er das frühere Objekt. Übertragungen sind also unbewusste Neuauflagen früher, meist problematisch erlebter Objektbeziehungen. Da sie aber nicht auf dieses Setting zu begrenzen sind, sondern immer und überall geschehen, bietet sich seine Anwendung, die dann ein wenig modifiziert werde muss, auch für den nichtklinischen Bereich an. Generell lässt sich sagen, dass unbewusste Wünsche und Konflikte, die der infantilen Lebensepoche entstammen, in der Begegnung mit neuen Objekten aktualisiert werden. Im aktuellen Beziehungsgeschehen kommt es zur Reproduktion der frühen Interaktionsmuster, wobei diese dem gegenwärtigen Kontext entsprechend verändert werden. In Form einer negativen Übertragung wird dem aktuellen Dialogpartner die Rolle des gefürchteten primären Objekts zuerkannt, in Form der positiven Übertragung jene des idealisierten, ersehnten Objekts. Die Reproduktion der frühen Erfahrung folgt einem Wiederholungszwang, und zwar immer in der unbewussten Hoffnung auf einen besseren Ausgang als dereinst. Da diese Hoffnung aber sehr fragil ist und daher zunächst verborgen werden muss, lädt sich die Situation sehr rasch mit heftigen Affekten auf, was die Gefahr birgt, dass sich die alte Traumatisierung erneut einstellt. Trescher hat sieben Merkmale von Übertragungsreaktionen herausgestellt:

1.  Es handelt sich um ein intrapsychisches Geschehen.

2.  Die Übertragung stellt eine wiederbelebte Objektbeziehung dar, die aktualisiert wird.

3.  Übertragungen sind an Regression geknüpft und folgen unbewussten infantilen Beziehungsmustern.

4.  Das zugrunde liegende Erleben wird nicht bewusst erinnert, sondern unbewusst in Handlung umgesetzt.

5.  Übertragungsreaktionen basieren auf Ersetzungen des früheren Objekts durch Stellvertreter.

6.  Weil Übertragung eine Wiederholung darstellt, ist sie der Realität des aktuellen Beziehungskontextes gegenüber unangemessen.

7.  Die durch die Übertragung bedingten Wahrnehmungsverzerrungen – »Du machst mit mir dasselbe wie die primären Objekte« – können entsprechende Abwehrbewegungen auslösen und führen dann zu szenisch sich ergänzenden Gegenübertragungsreaktionen (vgl. Trescher 1993, S. 174).

Gegenübertragungen sind wiederum unbewusste Reaktionen des Analytikers auf die Übertragungen seines Patienten. Sie manifestieren sich in Phantasien, Stimmungen, Impulsen und Verhaltensweisen, die sich als unbewusste Reaktion auf die den Übertragungen einstellen und so Rückschlüsse auf den Inhalt der Übertragungen zulässt. Das Verschmelzen von Gegenwart und Vergangenheit, von Wirklichkeit und Phantasie verlangt nach einem umfassenden Begreifen der Gegenübertragung. Indem der Analytiker sich bemüht, möglichst alle Regungen, Gefühle und Befürchtungen, die sein Patient ihm gegenüber entwickelt, zu erleben, wird seine Identifikation befördert, was die Voraussetzung für das Verstehen dessen ist, was im Patienten vorgeht.

So lassen sich nun eine konkordante (auf das Selbst bezogene) und eine komplementäre (auf die inneren Objekte bezogene) Identifizierung unterscheiden. Bei der konkordanten Identifizierung kommt es zu einer Resonanz des Äußeren im Inneren, d. h. zur Gleichstellung des Eigenen mit dem, was zum andern gehört. Die komplementäre Identifizierung entsteht dadurch, dass der Patient den Analytiker wie ein inneres Objekt behandelt. Folglich fühlt sich der Analytiker auch so behandelt, d. h. er identifiziert sich mit diesem Objekt (vgl. Racker 1993, S. 157 ff.).

Für einen gelingenden Umgang mit Gegenübertragungsreaktionen lässt sich auf die nachfolgende Vorstellung einer nicht-pathologischen Form projektiver Identifizierung zurückgreifen:

1.  Unerwünschte Selbstanteile werden in eine andere Person projiziert und dort deponiert.

2.  Über die konkrete Interaktion wird Druck auf diese Person ausgeübt, sich im Einklang mit der unbewussten projektiven Phantasie zu fühlen und so zu handeln, wie es der Projektion entspricht.

3.  Die projizierten Phantasien und Gefühle werden durch den Empfänger gehalten und verarbeitet, was auf dem Wege von Re-Introjektion und Identifikation zu einer Wiederverinnerlichung der modifizierten Selbstanteile führt (vgl. Stemmer-Lück 2004, S. 101 ff.; Ogden 1997, S. 15).

Gerade in der pädagogischen Arbeit mit schwer gekränkten oder traumatisierten Kindern und Jugendlichen kann die Erfahrung, dass wir dem immensen affektiven Druck standzuhalten vermögen und damit zur Verarbeitung bislang unsäglicher (also noch nicht sprachlich benennbarer) Gefühlszustände beitragen, von großem Wert sein.

An einem Beispiel soll nun die Dynamik des Übertragungsgeschehens erläutert werden. Eine Erzieherin erzählt in einer Supervisionsstunde wütend vom fünfjährigen Max, der ihr heute ins Gesicht gespuckt hat. Sie ist außer sich und will, dass ihm Grenzen gesetzt werden. Die Supervisorin gibt ihr Recht, dass so ein Verhalten nicht zu dulden sei, macht aber den Vorschlag zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, dass gerade sie angespuckt wurde. Der Köchin hat er am Morgen anvertraut, dass er manchmal gar nicht mehr leben möchte. Die Leiterin der Kindertagesstätte hat vom Vater erfahren, dass er gerade wegen einer plötzlichen Erkrankung arbeitslos geworden ist. Es kommt einer Katastrophe gleich, denn er hat nachts gearbeitet, um tagsüber bei den Kindern sein zu können. Die Mutter ist psychisch schwer krank, war jahrelang drogenabhängig und bereits mehrmals psychiatrisch hospitalisiert, auch nach der Geburt von Max. Zudem sind zwei ältere Geschwister bereits im Heim. Max selbst leidet unter motorischer Unruhe, ist schnell ablenkbar und zeigt starke Konzentrationsschwierigkeiten. In einem Gespräch der Kindertherapeutin von Max mit seinen Eltern werden neben den schweren Traumatisierungen der Mutter auch solche beim Vater sichtbar. Dessen Vater starb noch vor seiner Geburt, und er wuchs bei der Großmutter auf. Die Trennung von seiner ersten Partnerin löste eine schwere Krise bei ihm aus, so dass er abrupt seinen Beruf aufgab. Eine weitere Partnerin verstarb nach einer schweren Krankheit.

Max weiß, dass seine Mutter krank ist und er sich nicht auf sie stützen kann. Er fühlt sich schuldig und hat Angst, sie zu verlieren. Gleichzeitig fürchtet er, dass zu Hause jetzt alles zusammenbricht und auch er ins Heim muss. Unbewusst beginnt er sich mit der Mutter zu identifizieren, um den drohenden Verlust magisch abzuwenden. Er entwickelt feminine Züge und transvestitische Symptome. Seine unbewusste Phantasie ist offenbar, dass seine Mutter nicht krank wäre, sein Vater seine Arbeit nicht verloren hätte und seine Geschwister hätten zu Hause bleiben dürfen, wenn er ein Mädchen wäre. Allmählich bessert sich im Verlauf der Therapie sein Zustand. Vor dem Hintergrund der von Anbeginn an belasteten häuslichen Situation kann das aggressive Verhalten des Jungen als Ausdruck einer noch nicht geglückten Affektregulation verstanden werden. Mit seiner Hyperaktivität wiederum vermag er Gefühle von tiefer Traurigkeit abzuwehren. Jeweils greift er zum bekannten Mechanismus, passiv Befürchtetes in aktives Handeln umzusetzen. Wenn Max spuckt und sich unmöglich gebärdet, trägt er in seiner unbewussten Vorstellung wenigstens selbsttätig dazu bei, aus der Familie genommen zu werden.

Und hier kommt nun das Übertragungsgeschehen ins Spiel: Es ist seine Lieblingserzieherin, die er anspuckt. Die Eltern sind keine Garanten, um ihm die dringend benötigte Sicherheit zu vermitteln. Seine Objektrepräsentanzen sind eher von fehlender Konstanz und Verlässlichkeit eingefärbt. Weder Wut noch Angst darf er aber zeigen, aus Sorge, damit die kranke Mutter und den bedrückten Vater zu verletzen. Den Zorn auf die nicht verfügbaren Objekte richtet er fortan gegen jenen Menschen, den er als beanspruchbar erlebt, dieses schlimme Gefühl auszuhalten und reflektiert damit umzugehen. Der entwertende Angriff auf die Erzieherin war auf verquere Weise die Mitteilung seiner Verzweiflung. Im Rahmen der sich entwickelnden Übertragungsdynamik wurde sie Ziel seiner Wut auf das gefürchtete »böse« innere wie der Hoffnung auf das ersehnte »gute« Objekt. Nach dieser Stunde hatte sich ihr Ärger übrigens gelegt und sie wollte es mit Max noch einmal versuchen (vgl. Leuzinger-Bohleber u. a. 2008, S. 635 ff.).

Die aus dieser Fallvignette zu ziehende Konsequenz wäre, die psychodynamisch orientierte Herangehensweise um eine gesellschaftliche Dimension zu erweitern. Die tieferliegende Bedeutung des Verhaltens von Max ist nicht allein über eine subjektzentrierte Interpretation zu erfassen, sondern muss auch auf die Lebenssituation »draußen« bezogen werden (vgl. Lorenzer 1974, S. 43 f.). Um z. B. einen sich wandelnden Sozialcharakter präziser fassen zu können, benötigen wir zwingend die Analyse krisenhafter gesellschaftlicher Veränderungsprozesse. Erst die Anreicherung des Fallverstehens mit einer tiefenhermeneutischen Kulturanalyse macht aus den wertvollen Anleihen bei der Psychoanalyse eine gesellschaftskritische Methode. Um dem Vorwurf entgegenzutreten, Psychoanalyse verkürze in einem familialistischen Handstreich gesellschaftliche Phänomene auf ein lapidares Vater-Mutter-Kind-Szenario, ist die Freilegung ihres politisch fruchtbaren Kerns daher für eine »systematische emanzipative Diskussion« einzufordern (vgl. Lorenzer 1974, S. 276; Naumann 2003, S. 275 ff.; Busch 2007, S. 20 ff.; Gerspach 2015).

Immer haben wir es mit einer komplexen Gegensätzlichkeit von Familie und Kultur zu tun. Die Entwicklung der Kultur basiert stets auf Triebabwehr und Triebverzicht, so dass es zwangsläufig zu einer Kompromissbildung zwischen Triebansprüchen und Kulturanforderungen kommt. Ohne etwas zu beschönigen, offenbart das aufklärerische Moment der Psychoanalyse die Verstrickung des Subjekts in Begehren, Lustverzicht und verinnerlichte Aggression. Gleichzeitig stehen Konflikt und Gewalt von alters her am Ursprung der Kultur. Es wäre ein fataler Irrtum anzunehmen, dass die kulturellen Errungenschaften die Überwindung der destruktiven Abgründe des Menschen darstellten. Ist es nicht ein eklatanter Widerspruch, dass der Staat einerseits den Einzelnen zum Gewaltverzicht zugunsten seines Gewaltmonopols verpflichtet und andererseits in Kriegszeiten seine Bürger geradezu zur Gewaltanwendung verpflichtet (vgl. Quindeau 2008, S. 76 ff.)? Und dennoch – und da wird das dialektische Denken der Psychoanalyse erneut deutlich – zeigt sich die Kultiviertheit eines Menschen an seiner inneren Toleranz beim Umgang mit Konflikten. Mit Mitscherlich gilt: »Die Kultur der Affekte ist das eigentlich schwerste Bildungsziel« (vgl. Mitscherlich 1971, S. 35).

1.2       Entwicklungsmodelle der frühen Kindheit

Erste Vorstellungen über die früheste Kindheit

Sigmund Freud (1856–1939) hat als erster die besondere Bedeutung der frühen Kindheit für die psychische Entwicklung des Menschen erkannt. Diesbezüglich schenkte er vor allem den ersten fünf Lebensjahren und ihren Auswirkungen auf das weitere Leben seine besondere Aufmerksamkeit. Ihm wurde schnell klar, dass das Bewusstsein als geistiger Zustand nur einen kleinen Bereich der uns verfügbaren Persönlichkeit ausmacht. Ein großer Teil unserer Wünsche und Antriebe ist dagegen unbewusst. Für Freud bedeutete Entwicklung in erster Linie psychosexuelle Entwicklung, wobei er sehr deutlich die enge Verknüpfung mit den schon früh erlebten Beziehungen und mit kognitiven Lernprozessen erkannte. Die psychosexuelle Entwicklung vollzieht sich ihm zufolge auf mehreren Stufen. In diesem Phasenmodell lösen sich orale, anale und ödipale Phase ab. In der oralen Phase ist die hauptsächliche Lusterfahrung an den Mund gebunden. Die Einverleibung des Objekts, also zu Beginn der Mutterbrust, gibt das Vorbild für alle nachfolgenden Objektbeziehungen ab. Stets, auch in späteren Phasen, spielen aggressive und libidinöse Bestrebungen zusammen. In der analen Phase stellt der Anus die bestimmende erogene Zone dar. Gerade in dieser Zeit ist die Ambivalenz zwischen sadistischen und erotischen Anteilen besonders stark. In der ödipalen Phase steht der Phallus für beide Geschlechter als Symbol der narzisstischen Integrität im Mittelpunkt. Neben dem erwachenden Interesse am gegengeschlechtlichen Elternteil spielen für beide Geschlechter Penisneid und Kastrationsangst eine zentrale Rolle (vgl. Seiffge-Krenke 2009, S. 4 ff.).

Unter dem Einfluss eines patriarchalischen und somit phallozentrischen Menschenbildes hatte Freud die Entwicklung des kleinen Jungen im Blick und bildete daraus eine Analogie des Mädchens. Das ist ihm nicht zu Unrecht vorgeworfen worden. Heute gehen wir davon aus, dass sich beide Geschlechter entsprechend ihrer jeweiligen anatomischen Beschaffenheit entwickeln (vgl. Wittenberger 2016, S. 30). Ich möchte allerdings einschieben, dass sich Freud hier mit den unbewussten kindlichen Phantasien befasste, die in eine für diese Lebensspanne mit ihren noch beschränkten Erkenntnismöglichkeiten einleuchtende infantile Sexualtheorie einmünden. Ausgehend von den oft unzureichenden Antworten auf die kindliche Wissbegierde in Sachen Sexualität ging Freud zu seiner Zeit mit Recht davon aus, dass sich Jungen und Mädchen ihren eigenen Reim darauf machen müssen. Dass der Storch die Kinder bringe, damit waren schon immer weit mehr Kinder, als die Eltern ahnten, unzufrieden. Gleichzeitig wurde so ihr Misstrauen gegen die Erwachsenen verstärkt, was die Gewissheit nährte, auf etwas Verbotenes gestoßen zu sein, das ihnen von den Großen vorenthalten wurde. Zudem blieben ihren scharfen Augen die körperlichen Veränderungen der schwangeren Mutter nicht verborgen. Realitätswahrnehmung und Plausibilitätserklärungen gehen also eine seltsame Mischung ein. Wenn hernach im Leib der Mutter ein Kind wächst und aus diesem wieder heraus muss – so lautet diese infantile Sexualtheorie –, dann muss es »entleert werden wie ein Exkrement, ein Stuhlgang« (vgl. Freud 1908c, S. 181).

Einer weiteren infantilen Sexualtheorie zufolge sprechen nach Freud Kinder allen Menschen, also auch weibliche Personen einen Penis zu. Bekommt nun aber der kleine Junge das Genitale seiner Schwester zu Gesicht, so lautet seine erste Vermutung, ihr Penis werde sicher noch wachsen. In einem nächsten Schritt folgt die Angst, sie sei kastriert, und das könne ihm auch als Strafe vom Vater drohen, den er als störenden Rivalen um die Gunst der Mutter erachtet. Umgekehrt mutmaßte Freud einen Penisneid beim Mädchen, das sich benachteiligt fühlt (vgl. Freud 1908c, S. 175 ff.).

Freud Vorstellung, wonach derlei Theorien auf dem Umstand beruhen, dass Kinder von ihren Eltern im Unklaren gehalten werden, ist nicht von der Hand zu weisen und auch bis heute nicht völlig entkräftet. Meines Erachtens tritt aber noch eine weitere wichtige Komponente hinzu. Das, was Kinder der äußeren Wirklichkeit entnehmen, nötigt ihnen im Sinne eines forschenden Entdeckens den Aufbau von Handlungsschemata ab. Sie wollen verstehen, was da abläuft und greifen als erstes zur Methode des Generalisierens einer impliziten Theorie, die zunächst auch hartnäckig gegen Gegenbeispiele aufrechterhalten wird. Selbst das Auftreten weiterer Gegenbeispiele führt nicht zur Aufgabe der ersten Theorie, sondern nur zur Generalisierung einer Theorie der Ausnahmen.