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Pädagogik ist Fallarbeit - die Arbeit am Fall strukturiert ihre Praxis. Fallverstehen meint hier immer sinnverstehendes Erfassen eines sozialen Phänomens, die Rekonstruktion von Sinnzusammenhängen. Das Buch zeigt, dass die Psychoanalyse mit ihrer besonderen Methode des Verstehens, mit ihrem auf Sinnverstehen gerichteten Wissen und Können Pädagogen ein vertieftes Fallverstehen und darüber einen erheblichen Kompetenzzuwachs ermöglicht. Mehr noch: Die Psychoanalytische Pädagogik weist weit über jene Selbstbeschränkungen und normativen Setzungen der reinen Beobachtungs- und Erklärungswissenschaften hinaus, denen ein empathischer Zugang zu den lebensgeschichtlich eingeschriebenen affektiven Nöten der Klientel verborgen bleibt. Professor Dr. Manfred Gerspach ist Seniorprofessor am Institut für Sonderpädagogik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
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Seitenzahl: 475
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Der Autor
Prof. Dr. phil. Manfred Gerspach lehrte von 1994 bis 2014 Behinderten- und Heilpädagogik am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Soziale Arbeit der Hochschule Darmstadt. Seit 2015 lehrt er als Seniorprofessor am Institut für Sonderpädagogik der Goethe-Universität Frankfurt/Main.
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1. Auflage 2021
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-040776-3
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-040778-7
epub: ISBN 978-3-17-040778-7
mobi: ISBN 978-3-17-040779-4
1 Warum Psychoanalytische Pädagogik?
1.1 Ouvertüre
1.2 Die fruchtbare Verbindung von Psychoanalyse und Pädagogik
1.3 Die »Matrix« der Psychoanalytischen Pädagogik
2 Psychoanalytisch orientierte Beobachtung
2.1 Der kritische Moment
2.2 Reinszenierungen als Merkmal der Fallarbeit
2.3 Das Verhältnis von innerer und äußerer Welt
2.4 Erkenntnisgewinn über Meta-Reflexion
2.5 Selbstverstehen als Medium des Fremdverstehens
2.6 Teilhabe und Teilnahme am Verstehensprozess
3 Tiefenhermeneutik in der Psychoanalytischen Pädagogik
3.1 Forschungsmethodologisches Vorgeplänkel
3.2 Die Objektive Hermeneutik etwas genauer betrachtet
3.3 Zur neueren Debatte
3.4 Das psychoanalytisch-pädagogische Forschungstableau: epistemologische Vorarbeiten
3.5 Das psychoanalytisch-pädagogische Forschungstableau: Versuch einer Systematisierung
4 Tabuthemen in Praxis und Forschung
4.1 Zur Einstimmung
4.2 Das Tabuthema (Sonder-)Pädagogik und Autismus
4.2 Das Tabuthema Sexualität und geistige Behinderung
4.4 Fade out …
5 Literatur
Pädagogik ist Fallarbeit. Oder anders gesagt: die Arbeit am Fall strukturiert ihre Praxis. Es entspricht dem verständlichen Wunsch der dort tätigen Pädagog/innen in den verschiedenen Handlungsfeldern, zu wissen, was ›los‹ ist und was sie tun können oder sollen. Auf der einen Seite verheißen objektivierte Fallanalysen an Hand ihrer auf den ersten Blick eindeutigen Diagnose-, Klassifikations- und ergo Handlungsschemata, diesem Wunsch zu entsprechen. Am besten wäre es, wenn sich aus diagnostischen Datensätzen stringente Verhaltensmaßregeln herauslesen ließen. Auf der anderen Seite wissen die Pädagog/innen aber aus Erfahrung, dass eine solch zügige Umsetzung meist nicht gelingen will.
Burkard Müller hält es daher für besser, auf das »scheinbare Immer-Schon-Bescheid-Wissen« zu verzichten, weil das »Immer-Schon-Verstanden-Haben« das wirkliche Verstehen blockiert (vgl. Müller, B. 1994, S. 80 ff.). Erfolgreich wirkende pädagogische Angebote beruhen nicht auf der Umsetzung vorher gefundener Lösungen, sondern sie sind als Erkundungsprozess konzipiert.
»Es geht nicht darum, dort anzufangen, wo ich den anderen stehen sehe, sondern dort anzufangen, wo der andere mich stehen sieht: Bei den Erwartungen, Wünschen, Befürchtungen, die mir mein Gegenüber entgegenbringt, gerade auch bei den Erwartungen, die ich für illusionär halte und weder erfüllen kann, noch will« (vgl. Müller, B. 1994, S. 84).
Unterstellen wir z. B. einem Jugendlichen, noch bevor wir ihn kennen gelernt haben, ein gehöriges Gewaltpotential, so kann diese Vorannahme schnell zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden. In einem solchen Fall kommt es vielmehr darauf an, genau zu registrieren, »was sich bei seinen Konflikten als ›ganz normal‹ erklären lässt«. Aber es wäre genauso fatal, wollte man die Wahrnehmung äußerst problematischer Verhaltensweisen als Alltagskonflikte beschönigen. »Da hilft nur: Aufmerksamer Umgang mit Nichtwissen« (vgl. Müller 1994, S. 87). Noch in den Anfängen der Sozialpädagogik etwa war diese von Müller kritisierte Lesart Standard. Da wusste man sogleich, »wer ›das Problem‹ hat: selbstverständlich der oder die KlientIn« (vgl. Müller, B. 1994, S. 89).
Einen Paradigmenwechsel zu vollziehen und das pädagogische Geschehen als intersubjektives zu begreifen, verlangt nach einem anderen Fallverstehen. Verstehen wollen heißt letzten Endes, »den eigenen Zugang zum Fall besser kennenlernen« (vgl. Müller, B. 1994, S. 84). Womöglich geht es mehr um die Selbstreflexion der eigenen Situation als die Reflexion der Situation des Gegenübers, aber immer das Erfassen des wechselseitigen Miteinanders. Ergo: Wer von Reflexion und Selbstreflexion spricht, meint »›Beziehungsarbeit‹« (vgl. Müller 1994, S. 14). Unter Aufdeckung der emotionalen und vor allem unbewussten Dimensionen der darin eingeschlossenen Aushandlungsprozesse wird offenbar, dass der Pädagoge/die Pädagogin als »neues Objekt gebraucht« wird (vgl. Treurniet 1996, S. 13). In einem solchen Dialog verändern sich nicht nur die Selbst- und Fremdwahrnehmung, sondern werden auch unsere Vorstellungen von Normalität und Pathologie verfeinert und korrigiert.
So einfach ist das alles nicht. Mit dem Wissen, dass das Verstehen immer kontextabhängig ist, verändert sich unsere Vorstellung der Bedeutung von Gesten, Worten und Verhaltensweisen, die in verschiedenen Situationen ganz Unterschiedliches meinen können (vgl. Wolff 1994, S. 45). Bedeutung zu finden heißt im dialogischen Sinne Bedeutung geben. Und letzten Endes zielt das Arbeitsbündnis zwischen Pädagog/in und Klient/in in seiner charakteristischen nicht-symmetrischen Gestalt auf ein gemeinsames »Hervorbringen der Bedeutung« (vgl. Treurniet 1996, S. 27). Treurniet hat seine tiefschürfenden Erkenntnisse auf den psychoanalytischen Prozess bezogen, in dem Analytiker/in und Patient/in »affektiv verstrickt« sind (vgl. Treurniet 1996, S. 18). Burkard Müller hat die Psychoanalyse als Methodologie eines Erkenntnisprozesses und pädagogische Anthropologie kenntlich gemacht und uns in vorbildlicher Weise die Anwendbarkeit ihrer Prinzipien »jenseits der Couch« vorgemacht (vgl. Müller, B. 1989, S. 121). Insofern ist die Nähe der Formulierungen von Treurniet und Müller nicht eben verblüffend. Auch Reiser zeigt sich da als Seelenverwandter, wenn er fordert, dass wir uns zunächst mit dem Kind verwickeln müssen, damit wir uns in einem gemeinsamen Dialog mit ihm aus seinem Störungsmuster heraus entwickeln können (vgl. Reiser 1993, S. 260).
Die Psychoanalyse ermöglicht uns mit ihrer besonderen Methode des Verstehens einen Zugang zum Subjekt, dessen Übernahme der Pädagogik große Dienste zu leisten vermag. Vor allem die Öffnung der Psychoanalyse hin zu einer intersubjektiven Perspektive hat mit der damit möglich gewordenen Fokussierung des Einflusses beziehungsdynamischer Faktoren auf die kindliche Entwicklung einen qualitativen Erkenntnissprung bewirkt, den wir uns jetzt zunutze machen können. Oder anders herum formuliert: Die Psychoanalyse ist da angekommen, wo die Pädagogik schon immer stand. Allerdings kann über die Anreicherung des genuin Pädagogischen mit Anteilen des spezifischen, aufs Sinnverstehen gerichteten Wissens und Könnens der Psychoanalyse ein großer Kompetenzzuwachs verzeichnet werden. Wenn wir Augen, Ohren und Verstand für das Unbewusste und der daran geknüpften Konfliktthemen öffnen, lässt sich eine viel differenziertere Entschlüsselung der Fallgeschichten bewerkstelligen, deren verborgene Seiten wir jetzt besser begreifen können. Das, was wir auf diese Weise verstehen, wirkt aus sich selbst heraus bereits entwicklungsfördernd. Gleichwohl kann die damit gesetzte Selbstverpflichtung, sich über die Eigenbeteiligung am pädagogischen Geschehen zu versichern, auch Ängste und Widerstände aktivieren, die die Hinwendung zur Psychoanalyse erschweren. Insofern kommt es auch darauf an, diese Impulse nicht zu diskreditieren, sondern auf behutsamem Wege Sympathie zu wecken. Wie das gehen mag, sei nachfolgend ausgeführt.
Wenn also Verstehen nicht formalisiert oder operationalisiert in Handeln umsetzbar ist, stellt sich die Frage: Was nun? Jeder Fall ist von Genese und Verlauf her einzigartig. Das Gleiche gilt für die aktuelle professionelle Beziehungsgestaltung. Das Fallverstehen aber folgt in seiner Systematik bestimmten, wenngleich sehr offenen Regeln. Das erscheint im ersten Moment verwirrend und widersprüchlich. Gerade aber, wenn wir die Einmaligkeit des Falles und der ihm innewohnenden Strukturen anerkennen, können wir auf monokausal verkürzte Interventionstechniken verzichten, die uns in Gefahr bringen, dieses Einmalige zu einem »Fall von« zu machen (vgl. Müller 1994, S. 14). Was würde geschehen: Der Dialog bräche ab und führte zum »Schweigen des Subjekts« (vgl. Weber. J. 1988, S. 122). Wir verspielten den Zugang zum Erleben und den ungelösten Konflikten unseres Gegenübers. Wer innere und äußere Bilder verwechselt, ist zu einer »Methodologie des Zuhörens und Sprechens« nicht mehr in der Lage. Kulturelle Phänomene und innersubjektive Zustände treten uns dann wie »Phänomene der äußeren Natur« entgegen, und nicht mehr als solche der menschlichen Geschichte und ihrer Widersprüche (vgl. Warsitz 1997, S. 123 ff.).
Es ist ein wenig wie im Höhlengleichnis von Platon. Darin ist von Gefangenen die Rede, die an Hals und Füßen gefesselt sind und immer nur an die Wand starren können. Hinter ihren Köpfen brennt ein Feuer, das Licht spendet. An der Wand sind nur Schatten von Gegenständen zu sehen, die draußen von schweigenden Gauklern vorbeigetragen werden. »Endlich wird deutlich, dass sie nichts anderes für wahr halten können als eben jene Bilder an der Wand, d. h. die Schatten der Gegenstände, die die Künstler vorbeitragen«. Diese Schatten besitzen den niedrigsten Erkenntniswert, weil sie nicht überprüfbar sind und schlichtweg für die Wahrheit gehalten werden müssen (vgl. Banki 1986, S. 12 f.). Wir sollten also aufpassen, auf sehr konkretistische Weise etwas für bare Münze zu nehmen, was womöglich viel komplizierter und vielschichtiger ist. Mit hyperaktivem Verhalten kann z. B. genauso eine ängstigende depressive Grundstimmung in Schach zu halten gesucht werden, wie es als Notwendigkeit erkannt und verinnerlicht wurde, eine tief traurig, in sich gekehrte Mutter überhaupt auf sich aufmerksam zu machen.
Verhalten und Motiv sind eben nicht identisch. Die Beobachtung eines solchen Verhaltens ist ein Schritt zum Verstehen, aber nicht dieses selbst. Die Bekämpfung des Symptoms befreit nicht vom Anlass. Das Verstehen des Anlasses aber befreit vom Symptom. Dieses Verstehen steht für einen hochkomplexen Vorgang, der aus ganz unterschiedlichen Facetten besteht, die am Ende in einer Art Gesamtschau zusammengefügt werden müssen. Beteiligt sind Empathie, Intuition, urtümliche Affekte und reflektierte Emotionen, Identifikation und Befremdung, Assoziieren, kognitives Begreifen, Wissen und Nicht-Wissen, am Ende Versprachlichung.
Im Folgenden geht es um eine besondere Verstehensmethodik, mit der sich Tiefendimensionen auf eine Weise ausloten lassen, wie es sonst nicht möglich ist. Dazu muss ich jetzt etwas ausholen. Zunächst einmal gehört die Hermeneutik, um deren eine prägnante Form es hier geht, zu den zentralen geisteswissenschaftlichen Konzepten des Verstehens, und ihre Anfänge reichen weit in die griechische Antike zurück. Als die Kunst des Auslegens entstand sie zu einer Zeit, da die Gabe der Weissagungen allseits verehrt wurde. Das Orakel von Delphi gab keine konkreten Anleitungen, verbarg aber den Sinn seiner Antworten auch nicht vollständig. Es begnügte sich damit, »Andeutungen« zu machen. Die Enträtselung oblag den Sterblichen (vgl. Schreiter 1998, S. 411). Der bedachte Umgang mit dem Vagen zeichnet die Hermeneutik noch immer aus. Mit den ihr eigenen Mitteln von Nacherleben und Deutungen wird versucht, sich den im ersten Moment undurchschaubaren Phänomenen der Lebenswirklichkeit anzunähern.
Die Hermeneutik kann nicht mit »genau definierten Zeichen, die in genau definierten Beziehungen stehen« arbeiten, sondern ist genötigt, Unterschiede, Veränderungen und Widersprüche in ihren Erkenntnisvorgang aufzunehmen.
»Eine Theorie dieser Art steht vor dem Problem, alles Mögliche, zugleich aber auch jedes Einzelne erfassen zu müssen. Das verlangt, vom Einzelfall abzusehen und umgekehrt jeden Einzelfall auf die ihm gebührende Weise zu behandeln. Theorien dieser Art pendeln daher zwischen Generalisierung und Konkretisierung (…)« (vgl. Haubl, Schülein 2016, S. 188 f.).
Ursprünglich war sie, wie angeführt, tatsächlich allein als Textauslegung gedacht. Zur Erläuterung sei vor allem auf die folgende Systematik des Entschlüsselns verwiesen: Der Sinn eines ganzen Satzes setzt sich aus der Bedeutung der einzelnen verwendeten Wörter zusammen, die Bedeutung der einzelnen Wörter aber ist nur im Lichte des Gesamtzusammenhangs dieses einen Satzes zu verstehen. Vor allem, wenn Wörtern mehrere, gänzlich unterschiedliche Bedeutungen beigegeben sind, wird der Anspruch an diese Aufgabe nachvollziehbar. Der wechselseitige Bezug des Ganzen zum Einzelnen und des Einzelnen zum Ganzen ist auch als hermeneutischer Zirkel bekannt, wiewohl das Vorverständnis, das hier aufscheint, vorurteilsbehaftet erscheint und deshalb kein Wahrheitsanspruch einzulösen ist. »Eine philosophische Reflexion wird sich dabei nicht an einer falschen, hermeneutischen Wahrheitsvorstellung orientieren dürfen (…)« (vgl. Grondin 1982, S. 123). Postmoderne Philosophen wiederum ziehen dieses ganze Theoriengebäude in Zweifel, weil Bedeutungssysteme niemals abgeschlossene Systeme seien und es mithin keine eindeutige Signifikanz geben könne (vgl. Wæver 1996, S. 171). Habermas wiederum verteidigt den hermeneutischen Zirkel, weil er nicht auf »Bestandteile einer reinen, durch metasprachliche Konstitutionsregeln vollständig definierten Sprache zurückzuführen« sei – sofern er die eigentümliche Integration von Sprache und praktischem gesellschaftlichem Lebensbezug berücksichtige (vgl. Habermas 1973, S. 217 f.).
Noch präziser geht Lorenzer in seiner Verteidigung des hermeneutischen Zirkels vor. Er nimmt die Szene aus einer psychoanalytischen Behandlung her, in der ein Patient seinem Psychoanalytiker erzählt, er habe am Vorabend einen Streit mit seiner Frau gehabt. Im Laufe der Stunde wird klar, wodurch der Streit entstanden war. Der Patient erwähnt nämlich, dass seine Frau ihm zuvor mitgeteilt hatte, dass sie ihre Menstruation bekommen habe. Der Psychoanalytiker deutet dem Patienten, dass er böse geworden sei, und zwar aus Enttäuschung, dass seine Frau wieder nicht schwanger geworden war. Diese Interpretation beruht auf einem Schluss des Analytikers, der einen gewissen Wahrheitsanspruch erhebt. »Es ist nicht eine Mitteilung des Patienten, deren Stichhaltigkeit zu prüfen wäre (…)« (vgl. Lorenzer 1977, S. 111 f.).
Allerdings dreht es sich nicht um willkürliche Verknüpfungen oder Unterstellungen oder »Aussagen über allgemeine menschliche Verhaltensgesetzlichkeiten«, die im Beweis zu sichern gesucht werden. Das Verhalten wird »vielmehr in seiner lebensgeschichtlich-individuellen Eigenart (und davon ausgehend in seiner gruppentypischen bis epochenübergreifenden typischen Eigenart) identifiziert (…) Die Bedeutung der Einzelszenen verdeutlicht sich zugleich mit der Erfassung des Sinnganzen dieses Individuums« (vgl. Lorenzer 1977, S. 113). Vor allem tut sich mit der Berücksichtigung auch nicht-sprachlicher Manifestationen ein fundamentaler Unterschied zur klassischen Hermeneutik auf (vgl. Haubl, Schülein 2016, S. 195).
Damit will ich es bewenden lassen, um nicht zu weit abzuschweifen. Aber es wird zumindest jetzt schon deutlich, dass seit geraumer Zeit alle erkenntnistheoretischen Versuche, die Welt und sich selbst darin zu begreifen, auf dem Prüfstand stehen.
Besonders die Psychoanalyse als die Referenztheorie der hier behandelten Lesart von Pädagogik geriet ins Fadenkreuz einer harschen Kritik. Sie gilt als antiquiert, heißt es, an normativ gesetzten, um nicht zu sagen patriarchalischen Konstrukten orientiert und liefere für eine evidenzbasierte praktische Intervention ebenso wenig handfeste Grundlagen wie ihre Forschungsperspektive mit der naturalistischen Fokussierung des Einzelfalls ohne Aussagekraft und ihr am Unbewussten ausgerichtetes Verhältnis zum Forschungsgegenstand spekulativ, unsauber und also nicht zu gebrauchen sei.
Auf der Grundlage eines äußerst restringierten Wissenschaftsverständnisses wird die evidenzbasierte Forschung auf ein rein technisches und utilitaristisches Instrumentarium zurückgeschnitten. Die Kenntnis über das »What works« zielt allein noch auf überschaubare lineare Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, was ausschließlich über experimentelle Forschungsdesigns sichergestellt werden soll. Buchholz bemängelt, dass das empirische Paradigma nur ein Teil wissenschaftlicher Bemühungen sei, sich »aber manchmal zur Illusion aufschwinge, über alles letzte Schiedsinstanz zu sein. Es steht jedoch nicht über, sondern neben anderen Paradigmen« (vgl. Buchholz 2006, S. 427).
Bei Lanwerd ist die Kritik so formuliert: Die englische Wendung »evidence-based zeigt den Wunsch nach der Vermessung des Beweisbaren«, während das Lateinische die Qualität dessen benennt, »was sich im Gegensatz zum logischen Beweis an das Unbeweisbare hält (…)« (vgl. Lanwerd 2019, S. 122). Damit fällt eine mit diesem Ansatz nicht kompatibel erscheinende forscherische Methodik per se aus der metaanalytischen Betrachtung heraus und kann dementsprechend auch nicht in die »Destillierung von Evidenz« Eingang finden (vgl. Koch 2016, S. 13.ff.). Das von der pädagogischen Wirklichkeit gezeichnete Bild »beruht auf Annäherungen und Vereinfachungen«, und was soll die Praxis überhaupt mit diesem Wissen anfangen (vgl. ebd., S. 19)? Im pädagogischen Feld ist über experimentelle, randomisierte kontrollierte Studien, womit der »goldene Standard« der Evidenzbasierung sichergestellt werden soll, die Qualität einer Aussage keineswegs zu garantieren (vgl. ebd., S. 14).
Instrumentelles Wissen ist sicherlich von sachdienlichem Gewicht, pädagogische Praxis muss aber zwingend noch aus weiteren Perspektiven beleuchtet werden. Anders als für die medizinische Überprüfung von Evidenz formuliert – und was auch dort immer wieder bloß eingeschränkte Erkenntnis erzeugt – treten in der Pädagogik mehrere Erschwernisse auf, die ein solches Unterfangen völlig ins Leere laufen lassen: »die Macht des komplexen Kontextes und seiner Einflüsse, die Allgegenwart von Interaktionen und die geringe ›Halbwertzeit‹ der Befunde (…)« (vgl. Koch 2016, S. 18). Weil sich die Erziehungswirklichkeit beständig ändert, verträgt sie eine derartige szientistische Amputation nicht (vgl. ebd., S. 13 ff.; Gerspach 2016b).
Mit der Unterscheidung in eine (sozialwissenschaftlich) sinnstrukturierte und eine (naturwissenschaftlich) nicht-sinnstrukturierte Welt belegt Hechler, dass die vom Menschen hervorgebrachte, durch Unbestimmtheit charakterisierte Veränderlichkeit ihm beständig Entscheidungen abverlangt.
»Diese Welt unterstellt menschlichem Erleben und Handeln grundlegende Sinnhaftigkeit. Der Mensch hat die Wahl und ist gezwungen zu wählen (…) und jeder Wahl laufen (…) Entscheidungsprozesse voraus, die sich eben nicht durch standardisierte Muster zu Wege bringen lassen (vgl. Hechler 2016, S. 45).
Hier setzt die »Erziehungskunst« ein, die sich durchaus auf empirische Befunde stützt, aber von einem Empirieverständnis gestützt wird, das sich keiner Evidenzbasierung unterordnen will. Indessen benötigen wir eine Fähigkeit, »in ungewissen erzieherischen Situationen eine grundlegende Situationssicherheit herzustellen« (vgl. ebd., S. 68).
»Die entwicklungspädagogischen Wissensbestände ermöglichen eben nicht nur ein pädagogisches Fallverstehen, sondern geben auch Hinweise auf die einzusetzenden erzieherischen Mittel (…)« (vgl. Hechler 2016, S. 46 ff.). Mit Bezug auf Freud, der sich fragte, ob »die Beschäftigung mit den uns vorgetragenen Wissenschaften oder die mit den Persönlichkeiten unserer Lehrer« dereinst stärker war (vgl. Freud, S. 1914f, S. 204), konstatiert Hechler, dass die »Person des Pädagogen (…) das wirksamste und am häufigsten verwendete Erziehungsmittel in der pädagogischen Praxis« ist (vgl. ebd., S. 71 f.). Damit biegt er auf die Zielgerade ein und thematisiert »die Bedeutung der Übertragung und Gegenübertragung im psychoanalytischen Verständnis« für die Ausgestaltung des »professionellen pädagogischen Wollens« (vgl. S. 74).
Somit sind wir wieder beim hermeneutischen Sinnverstehen, oder jetzt genauer: beim in der Psychoanalyse verwendeten Topos der Tiefenhermeneutik. Dieser Begriff geht auf Jürgen Habermas und Alfred Lorenzer zurück (vgl. Haubl, Schülein 2016, S. 194). Sie prägten ihn, um sich von einer eher philologisch ausgerichteten Hermeneutik abzugrenzen. »Die Tiefenhermeneutik (…) bezieht sich auf Texte, die Selbsttäuschungen des Autors anzeigen«, befindet Habermas (vgl. Habermas 1973b, S. 267). Und er sagt klipp und klar: »Die Psychoanalyse ist für uns als das einzige greifbare Beispiel einer methodisch Selbstreflexion in Anspruch nehmenden Wissenschaft relevant« (S. 262). Lorenzer wiederum spricht von der »Radikalisierung der Hermeneutikthese« durch die Psychoanalyse (vgl. Lorenzer 1974, S. 153), die sich selbst ihrer »vom Widerspruch bestimmten Eigenständigkeit« zu versichern habe. Der psychoanalytischen Kulturanalyse »als einer ›tiefenhermeneutischen‹« geht es um die Anerkennung einer eigenständigen Sinnebene unterhalb der bedeutungsgenerierenden Sinnebene sprachlicher Symbolik« (vgl. Lorenzer 1988a, S. 16 ff.).
Allerdings mag man noch so voller Enthusiasmus beteuern, dass die Psychoanalyse »auch im 21. Jahrhundert nichts von ihrer Bedeutung und Faszination verloren« habe (vgl. Benecke u. a. 2016, S. 5). Oder gar einräumen, dass aus heutiger Sicht vieles, was dereinst geschrieben wurde, »ziemlich daneben liegt und erratisch wirkt« (vgl. Haubl, Schülein 2016, S. 188). All das zerstreut nicht die Bedenken, dass die Psychoanalyse von ihren Vertreter/innen gleichsam wie ein festes Gefüge von Glaubenssätzen idealisiert werde. Einmal abgesehen von dem affektgetränkten Duktus, mit dem diese Vorbehalte geäußert werden – was mich ein wenig stutzen lässt –, will mich auch der rationale Kern dieser Darlegung nicht überzeugen. Eine Disziplin, die sich dem Unbewussten nähert, wohl wissend, dass sie es nie wird à fond ergründen können, kennt den Zweifel als oberstes Grundprinzip. Ein Dogma aber ist doch genau dadurch gekennzeichnet, dass der Zweifel daraus kategorisch exkommuniziert ist.
Weil das Unbewusste an sämtlichen menschlichen Regungen beteiligt ist, fällt es der Psychoanalyse nicht schwer, ihren »disziplinären und professionellen Zugriff auf alle Ausdrucksgestalten der sinnstrukturierten Welt auszudehnen – es gibt sozusagen nichts, was nicht auf die Couch gelegt werden kann«. Überdies haben ihre theoretische Undurchdringbarkeit und »die Intimität ihrer Praxis« häufig zu verzerrten Vorstellungen Anlass gegeben (vgl. Hechler 219, S. 253 f.). Das ist aber kein Freibrief für eine kategorische Entrechtlichung der Psychoanalyse. Der Medizin-Nobelpreisträger Eric Kandel stellt einfach nur fest, dass »die Psychoanalyse immer noch die kohärenteste und intellektuell befriedigendste Sicht des Geistes darstellt« (vgl. Kandel 2006, S. 20; Hechler 2019, S. 247).
Wie dem auch sei. Jedenfalls hat es die Psychoanalytische Pädagogik jetzt doppelt schwer. Zum einen fristete sie schon immer ein eher randständiges Dasein im Kanon der Erziehungswissenschaften. Gemäß der neueren sozialwissenschaftlichen »Diskursanalyse« (vgl. Gardt 2007) repräsentiert sie als illegitimes Kind der Psychoanalyse eines jener in sich geschlossenen Theoreme, die den zeitgemäßen wissenschaftlichen Standards der Überprüfbarkeit nicht mehr genügen.
In seiner ernüchternden Bilanz der historischen Begegnung von Psychoanalyse und Pädagogik – die man im Sinne Martin Bubers eher als »Vergegnung« bezeichnen sollte (vgl. Buber 1986, S. 9) – gelangt Wininger am Ende zur Überzeugung, dass bis in die jüngste Zeit hinein psychoanalytische Theorien in »pädagogischen Veröffentlichungen teilweise eklektisch, enzyklopädisch und fragmentarisch rezipiert werden« (vgl. Wininger 2011, S. 273). Noch deutlicher wird das beim Durchblättern der Beiträge zum 26. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (vgl. van Ackeren u. a. 2020). In diesem über 600 Seiten umfassenden Reader musste ich lange suchen, bis ich auf psychoanalytische Perspektiven stieß (vgl. Rauh u. a. 2020). Und zu einem zweiten Text von Bühler, den es zu nennen gilt und der in seiner deutlichen Pointierung durchaus sympathisch daherkommt, würden mir zumindest einige kritische Anmerkungen einfallen. Seine Einschätzung der 1968er Jahre ist sehr auf »Nähe und Wärme« und die »steigenden therapeutischen Temperaturen der Pädagogik« fokussiert, das kritische Moment der Psychoanalyse bleibt dagegen eher blass (vgl. Bühler 2020, S. 605 ff.). Ansonsten wollte mir in ähnlicher Richtung nur noch Barbara Rendtorff begegnen, die in ihrem gemeinsamen Text mit Eva Breitenbach über Frauenbewegungen, Bildung und Erziehung aber eher mittelbar auf Psychoanalyse Bezug nimmt (vgl. Rendtorff, Breitenbach 2020). Allerdings hat sie sie sich an anderer Stelle dezidiert zum Verhältnis von Psychoanalyse, Geschlecht und Pädagogik geäußert (vgl. Rendtorff 2018).
Jedenfalls möchte ich nun sine ira et studio belegen, dass die Psychoanalytische Pädagogik gerade für das Verstehen einer Praxis, die viele verwirrende Erfahrungen bereit hält, im Vergleich zu anderen Spielarten der Erziehungswissenschaften ein Mehr an Erkenntnis zu liefern imstande ist. Hierzu nehme ich ein altes Beispiel von 1932 her, das aus einem von Siegfried Bernfeld ins Leben gerufenen Berliner Seminar für Pädagog/innen stammt: Eine Lehrerin und angehende Psychoanalytikerin berichtet dort von einem zehnjährigen Schüler in einer 5. Klasse, der dann zu kaspern anfängt, wenn von ihm etwas verlangt wird. Er beginnt, steif umher zu stolzieren und zu quäken. In der Reflexion dieser Szene wird eine Verbindung zu der vor kurzem behandelten Geschichte vom »Zäpfel Kern« sichtbar, die gewisse Ähnlichkeiten mit der Lebensgeschichte des Jungen, der erst vor kurzem eine kleine Schwester bekommen hat, aufweist. Die Lehrerin versteht nun das Kaspern als ein »Stück des Konkurrenzkampfes gegen die kleine Schwester und seines Kampfes um Liebe bei der Mutter« und teilt dies dem Jungen mit. Daraufhin hört sein Kasperlespiel auf und macht einem »betont vernünftigen Verhalten Platz«. Wichtig ist noch zu erwähnen, dass die Klasse bald darauf ein richtiges Kasperlespiel in Gang bringt – das Kasperlegebaren wird zu einem »gemeinsamen Spiel der Klasse«, worauf ich verschiedentlich zurückkommen werde (vgl. Datler, W. 2019, S. 66 f.; Marseille 2013, S. 307).
Zu verstehen, was der Fall ist, führt dann zu einer entspannenden Veränderung der Situation, wenn darin die Hinwendung zu den unbewussten Motiven eines als störend empfundenen Verhaltens aufbewahrt wird. Hier erleben wir einen recht simplen und doch so erfolgreichen Zusammenhang zwischen dem Zeigen eines auffälligen Gebarens und schließlich dem Verzicht auf eben jenes, nachdem sich ein Kind verstanden fühlt. Diese Episode ist schon vor 90 Jahren niedergeschrieben worden. Wir müssen also eingehender darüber nachdenken, welcher innere Widerstand – und welche irrationale Angst vor der Begegnung mit dem (eigenen) Unbewussten – dazu führen, sie geflissentlich nicht zur Kenntnis genommen zu haben.
Die gleiche Aufgabe stellt sich, wenn wir uns dem Gebiet der pädagogischen Forschung zuwenden. Auch hier treffen wir auf Selbstmitteilungen, die zunächst unzusammenhängend und verstörend erscheinen mögen, und dennoch folgen sie einer inneren Logik. Was machen wir mit dem Material und vor allem: was macht das Material mit uns? Indessen sei einschränkend vorweggeschickt, dass, anders als in der Praxis, die unmittelbare Einflussnahme auf das Gegenüber in einem hoch durchstrukturierten Forschungssetting beinahe vollständig suspendiert ist, schließlich gibt es keinen direkten Arbeitszusammenhang, in dem sich Dinge verändern ließen. Aber der Forschungsdialog lebt auch von affektiven Abstimmungen zwischen den daran Beteiligten, selbst wenn dies auf den ersten Blick nicht sogleich sichtbar werden will. Auch hier geht es darum, dass bzw. ob sich der/die Beforschte vom Forscher/von der Forscherin verstanden fühlt, damit überhaupt aussagekräftige Ergebnisse zustande kommen. Es geht also hier um keine direkte, sondern um eine mittelbare Einflussnahme, die durchaus – als Aufforderung und Einladung zum weiteren Nachdenken über sich selbst – wirksam zu werden vermag.
Im Gegensatz zu den in sich geschlossenen und vorgeblich widerspruchsfrei konzipierten Wissenschaftstheorien basiert das psychoanalytische Vorgehen »nicht ausschließlich auf logischen Schlussfolgerungen, auf Deskriptionen und Ergebnissen empirischer Untersuchungen« (vgl. Leber 1977, S. 83) und ist daher mit deren reduzierten Dechiffrierungsmöglichkeiten auch gar nicht zu fassen. Es mag zunächst verwirrend erscheinen, dass die Psychoanalyse ihre Aussagen nicht an Ereignissen festmachen kann. Indem sie sich ausschließlich im Bereich subjektiver Erlebensfiguren bewegt, liefert sie keine kausalanalytischen Beweise (vgl. Lorenzer 1974, S. 196).
Dieser Einwand wird dadurch entkräftet, dass der qualitative Sprung vom äußerlich bleibenden Erklären ins Verstehen niemals über objektive Datenoperationen hinter dem Rücken der Subjekte führen kann. Ohne die Reflexion dieses Subjektiven ist Erkenntnis nichts wert (vgl. Lorenzer 1974, S. 58). Lorenzer schlussfolgert: »Als Hermeneutik ist Psychoanalyse allenfalls ein hermeneutisches Verfahren zum Zweck der Entfaltung von Selbstreflexion. Geschichte bleibt ihr äußerlich« (ebd., S. 79). Gleichwohl betont er, dass die Erfahrung der strukturellen Beschädigung einer unpolitischen Form von Selbstreflexion entzogen bleibt, sofern sie auf die Frage nach deren objektiven Ursachen fragt. Die seelische Deformation ist als objektiv verursachte zu denken, die in die subjektiven Strukturen einfließt (ebd., S. 198 ff.).
Eine tiefenhermeneutische Systematik gilt es zu entwickeln, die sich hinsichtlich des angestrebten Erkenntnisgewinns als verlässliches Instrument erweist. Indessen müssen auch die bereits angedeuteten elementaren Unterschiede zwischen Fallarbeit und Forschung ausbuchstabiert werden. Im Handlungsfeld gilt es zunächst, Nähe herzustellen, um dann im Interesse der Adressat/innen über Reflexion wieder Distanz zu gewinnen. Das Verstehen wirkt ins Feld des dialogischen Arbeitens zurück. Das Forschungssetting will solches nicht immer mit gleicher Gründlichkeit zulassen, schließlich wird das Untersuchungsfeld nicht in den Prozess der Resultatgewinnung miteinbezogen. Diese Divergenz in der methodischen Systematik gilt es zu benennen und eingehend zu reflektieren, um die Aussagekraft einer psychoanalytisch-pädagogischen Perspektive nicht zu halbieren oder gar von vornherein zu diskeditieren. Denn die Basis des Verstehens bleibt gleich: Es ist die Annäherung an das unbewusst motivierte Fremde (im Eigenen).
Dieses Dilemma von Erkenntnis und Wirkung gilt übrigens, wenngleich kaum eingestanden, für jede Form von Praxis und Forschung, es wird aber gemeinhin nicht problematisier Mit Hilfe der psychoanalytisch-pädagogischen Methode lassen sich indessen die qua Verstehen gebildeten vorläufigen Annahmen mit Aussicht auf Erfolg probeweise einsetzen. Die Praxis spiegelt zurück, ob sie zutreffend sind. Im Forschungssetting ist dies kaum oder nur bedingt möglich. Aber über das Mitdenken der Tiefendimension des Erlebens wird der Erkenntnisgewinn reicher. Und eben über diese vorsichtige und nicht auf Erklärungswissen beharrende Vorgehensweise lässt sich die Analogie von Fall und Forschung legitimieren – was sich nicht zuletzt am Umgang mit den Tabuthemen Sexualität und geistige Behinderung sowie einem psychodynamisch begriffenen Autismus bewahrheitet, die abschließend zur Debatte stehen.
Ein triftiger Grund für das Entstehen der großen Ideenvielfalt in der Psychoanalyse mag sein, dass sich das Unbewusste grundsätzlich der unmittelbaren Beobachtung entzieht und nur indirekt erschließbar ist. Damit auch ist eine eindeutige wissenschaftliche Festlegung erschwert, und es bedarf also mehrerer »theoretischer Sprachen«, um sich ihm anzunähern. So »kann der psychoanalytische Blick auf das Unbewusste gerade in seiner Heterogenität als ein fortgesetzter Versuch verstanden werden, dieses flüchtigen Gegenstandes habhaft zu werden« (vgl. Rohde-Dachser 2019, S. 2). Bion etwa geht gar nicht von einem prinzipiell immer schon existierenden Unterschied von Bewusstem und Unbewusstem aus, sondern er erachtet deren Trennung als Ergebnis des ständigen Austauschs zwischen Mutter und Kind (vgl. Bion 1995, S. 231).
Dieses Bild taucht in jüngeren Konzepten der klinischen Psychoanalyse wieder auf – als ein intersubjektives Wechselspiel zwischen »zwei Subjektivitäten« – denen von Analytiker/in und Patient/in (vgl. Orange u. a. 1997, S. 11). Vertreter/innen verschiedener psychoanalytischer Schulen heben hervor, dass ein Analytiker/eine Analytikerin seine/ihre eigenen emotionalen Reaktionen auf seinen Patienten/ihre Patientin niemals restlos zugunsten einer ›objektiven‹ dynamischen und genetischen Erklärung auszuschalten vermag. Erst seine/ihre aktive Reaktion auf dessen/deren freien Assoziationen »setzt den therapeutischen Dialog in Gang« (vgl. Ornstein, Ornstein 2001, S. 14 f.). Das empathische Verständnis schließt eine Antwort unbedingt ein.»Patienten beschweren sich zu Recht, dass wir sie nicht verstehen, wenn wir nicht empathisch antworten«. Andersherum erwächst aus dem Verstehen eine intersubjektive psychoanalytische Verständigung (vgl. Orange 2004, S. 39 f.). Daher steht in der relationalen Psychoanalyse das »Konzept des Anderen« im Mittelpunkt der Überlegungen, wird das Unbewusste zur »Präsenz der Interaktion« (vgl. Buchholz 2005, S. 633 f.). Nach dieser Lesart »greifen reale Erfahrungen und deren phantasmatische Ausarbeitung ineinander, beeinflussen sich gegenseitig und führen zu immer neuen Konstellationen der Relationalität« (vgl. Potthoff 2019, S. 16). Demzufolge bildet sich in der Begegnung mit dem realen Anderen – also in einem wechselseitigen Austausch von subjektivem Erleben – das »implizite Beziehungswissen« heraus (vgl. The Boston Change Process Study Group 2004. S. 936; Rohde-Dachser 2019, S. 3 ff.). Ich werde später darauf zurückkommen.
Die Psychoanalyse ist vor allem auf Grund ihrer klinischen Erfolge bei der Behandlung neurotischer Störungen allgemein längst anerkannt, auch wenn etwa bei uns hinsichtlich der Richtlinienpolitik im Rahmen der Krankenversicherung Kritik zu äußern ist (vgl. Pollak 2020, S. 403). Ihr Markenkennzeichen ist, sich auf naturalistischem Wege dem einzelnen Subjekt anzunehmen, um präzise verstehen zu lernen, worunter und vor allem warum es zu leiden hat. Diese Logik liegt ein wenig quer zu einer empirisch bedingten Aufsummierung von großen Kohorten, die quasi zu einem Prototyp verdampft werden. Hinter dem allgemeinen Maßstab droht das singuläre Individuum zu verschwinden. Langer bringt es auf den Punkt:
»Der vermeintliche Goldstandard experimentell-quantitative angelegter Studien unter kontrollierbaren Laborbedingungen kann die Komplexität diffuser, historisch und kulturell bestimmter Konfliktdynamiken in the real world out there nicht systematisch erfassen, sodass diese aus dem Bereich des sinnvoll Erforschbaren ausgeklammert werden müssen« (vgl. Langer 2019, S. 81).
Übrigens spricht auch genau dieser Umstand gegen eine allgemein greifende Neurosen-Prophylaxe, weil ihr Instrumentarium viel zu grobkörnig wäre. Bei aller anthropologisch begründeten Gemeinsamkeit der in Gang gesetzten innerpsychischen Mechanismen bleibt jedes Schicksal doch einzigartig. Es gilt das Paradox anzuerkennen, das menschliche Subjekte »gleich und zugleich verschieden sind« (vgl. Crain 2005, S. 196).
Ein weiteres kommt hinzu, was die Vorbehalte gegenüber der Anwendbarkeit der Psychoanalyse auf dem Gebiet der Pädagogik anbelangt. Die Klärung des Verhältnisses von psychoanalytischer Therapie und Psychoanalytischer Pädagogik nahm nämlich viel Zeit in Anspruch, und bis heute haben sich zuweilen gewisse Zweifel erhalten, ob dieser Schritt inzwischen hinreichend vollzogen wurde. Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass mitunter von externer psychoanalytischer Seite, ohne die im erziehungswissenschaftlichen Kontext nötigen Modifikation der psychoanalytischen Technik vorzunehmen, eher »unerbetene Deutungen« für bestimmte Situationen angeboten wurden, nicht aber eine interne Anreicherung der genuin pädagogischen Handlungsvollzüge mit psychoanalytischen Verstehens erfolgte (vgl. Reiser 2006, S. 20; Bittner 1985, S. 38).
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wandten sich alle Spielarten der Humanwissenschaften verstärkt der positivistischen Wissenschaftstheorie zu. Mit deren Verheißung, über exakte empirische Verfahren zu verfügen, schien die Hoffnung auf, in den Adelsstand einer echten Naturwissenschaft erhoben zu werden. Nur das Positive, also unzweifelhaft beobacht- und beschreibbare Existente, war fortan noch kreditwürdig, und damit schien man dem spekulativen Sinnieren über etwas so Unfassbares wie die Seele entkommen zu können. Mehrheitlich entschied man sich für eine technologische Ausrichtung, die auf Kontrolle und Überprüfbarkeit setzt, und der selbstverständlich die Psychoanalyse als erstes zum Opfer fiel. Zudem machte diese wissenschaftstheoretische Rolle rückwärts beileibe nicht Halt vor den Psychoanalytiker/innen selbst. Einige unter ihnen schlossen sich dem positivistischen Denken an, weil sie die Psychoanalyse für unwissenschaftlich hielten. Offensichtlich hatten sie den besonderen Charakter des intersubjektiven Feldes ihrer eigenen Profession gründlich missverstanden.
Winnicott ist der Überzeugung, dass manche Menschen »so tief in der objektiv wahrnehmbaren Realität verwurzelt sind, dass sie (…) den Kontakt zur subjektiven Welt und die kreative Haltung gegenüber den Dingen verloren haben« (vgl. Winnicott 1993, S. 79 f.). Umgekehrt gibt es natürlich auch solche, die die äußere Realität »nur aus ihrer inneren Perspektive wahrzunehmen vermögen« (vgl. Crain 2005, S. 113). Bei Orange heißt es: »Selbst die besten Fallstudien können nur andeutungsweise versuchen, die Atmosphäre, die ein spezifisches intersubjektives Feld erzeugt, (…) zu erfassen« (vgl. Orange u. a. 2001, S. 13).
Die theoretische und konzeptionelle Verengung hat es lange Zeit schwer gemacht, Psychoanalyse für den nichtklinischen Bereich zu reklamieren, und die Frage, welche methodischen Änderungen damit verknüpft sein müssten, harrte lange einer zufriedenstellenden Beantwortung. Mit seiner klaren Aussage, Psychoanalytische Pädagogik in Theorie und Praxis als »Teil der Psychoanalyse« zu begreifen, hat Hans-Georg Trescher diesbezüglich eine wichtige Diskussion angestoßen (vgl. Trescher, H.-G. 1985a, S. 65). Vor nicht allzu langer Zeit hat Perner eine ähnliche Definition eingebracht: »Die psychoanalytische Sozialarbeit ist eine spezifische Form der Psychoanalyse (…)« (vgl. Perner 2010, S. 62).
Nach psychoanalytischer Auffassung hinterlässt das, was ein Kind in seinen frühen Interaktionen erlebt hat, einen Niederschlag, der in seine psychische Struktur und in seinen Körper eingeschrieben wird (vgl. Quindeau 2008, S. 17). Da dem Körper der Charakter von etwas Unverfügbarem innewohnt und er sich folglich nicht auf die »Eigenschaft einer objektivierbaren raum-zeitlichen, physikalischen Größe« reduzieren lässt, erscheint es geboten, eher von Leib und Leiblichkeit zu sprechen. »Der Leib erscheint uns in einer doppelten Weise gegeben: in einem präreflexiven Zugang zur Welt und in einer materialen Beschaffenheit als potentielle Begrenzung der gelebten Selbstverständlichkeit« (vgl. Mattner 1987, S. 36 ff.). Die beseelte Leiblichkeit entspringt dem Körper.
In diesem Sinne lässt Lorenzers Analyse beschädigter individueller Struktur die begrenzten Möglichkeiten von beobachtungswissenschaftlich-erklärenden Erkenntnisfiguren hinter sich. In seinem Topos von der »Hermeneutik des Leibes« werden die beiden Antipoden – der »homo cultura« und der »homo natura« – dergestalt miteinander verbunden, dass der »›Leib‹ als ›Sinnzusammenhang‹« aufscheint: »Damit deutet sich ein Verhältnis zwischen Psyche und Körper an, das nicht der alten Trennung in sinn-lose Natur einerseits und sinn-stiftendes Bewusstsein andererseits entspricht (…)«. Dieses nichtsprachlich einsozialisierte Sinnsystem bildet die »›Grammatik‹ des Körpers« (vgl. Lorenzer 1988b, S. 842 ff.).
Der Körper ist das vorgängige, bereits sozial hergestellte Reservoir jeglicher Symbolbildung. In Regina Kleins Auseinandersetzung mit der Position Lorenzers stellt der Körper »als subversives Elementarteilchen im Gefüge der symbolischen Ordnung« ein eigenständiges, unbewusst wirkendes Gegensystem zum bestehenden Diskurs dar (vgl. Klein, R. 2004, S. 633). Denn schon bei Lorenzer ist »eine restlose Verknüpfung aller lnteraktionsformen mit Sprachzeichen (…) prinzipiell nicht möglich« (vgl. Lorenzer 1984a, S. 93). Insofern erscheint es konsequent, eine nach zwei Seiten hin relativierende Position einzunehmen: Zum einen wird die Biologie auf ihre soziale Einbettung verwiesen, zum andern die Hermeneutik wiederum an ihre Verstehensgrenze durch das biologisch-organische Fundament des Erlebens und Verstehens erinnert (vgl. Görlich 2003, S. 31). Der Körper ist also Ausgangs- und Bezugspunkt jeglicher Symbolbildung – im wirklichen Leben und in der wissenschaftlichen Forschung (vgl. Klein, R. 2004, S. 633).
Setzt noch die klassische psychoanalytische Methodik an einer sprachregulierten Konfliktfähigkeit an, so werden hier die vorsprachlichen Interaktionsformen aufgewertet. In Ergänzung seines ursprünglichen Konzepts spricht Lorenzer von einer symbolbildenden, unmittelbaren Sinnlichkeit, die »unabhängig von der Einführung von Sprache« existiert. Die sinnlich-symbolischen Interaktionsformen, wie sie uns z. B. in der Musik begegnen, bezeichnet er als erste Schritte menschlicher Subjektivität (vgl. Lorenzer 1983, S. 106; Lorenzer 1984a, S. 31 ff.). Jenseits der Sprache existiert eine »präsentative Symbolik«, die Erlebnisse zum Ausdruck bringt, welche der diskursiven Sprache unzugänglich sind, in der aber eine größere Nähe zu den Affekten deutlich wird (vgl. Lorenzer 1973, S. 110). In die präsentativen Symbole fließen noch sehr viel körper- und erlebensnähere Empfindungen ein. Sie entsprechen jenen affektgetragenen Beziehungsformen, die vor der Einführung von Sprache handlungsleitend sind. Zwar wird der sprachlich organisierten Interaktion eine entscheidende Bedeutung eingeräumt. Gleichzeitig gilt es aber zu akzeptieren, dass neben der sprachlichen Kommunikation eine dieser entwicklungspsychologisch gesehen gleichgestellte existiert. Klein hat es so gefasst: »Leibsymbolische lnteraktionsformen stehen für das körperlich verankerte und mit dem Bewusstsein nicht zu erreichende Andere im Menschen selbst« (vgl. Klein, R. 2004, S. 625).
Für die Psychoanalyse bleibt die dialektische Falle zurück, dass eine Verklammerung an ungeschichtlich-triebtheoretische Vorstellungen das Subjekt von seinen gesellschaftlich einsozialisierten Persönlichkeitsstrukturen abspaltet, aber umgekehrt durch eine Öffnung hin zum Sozialen und damit Abkehr vom Triebbegriff »das je spezifische Libido-Schicksal (historisch und individuell)« nicht mehr fassbar wird (vgl. Kleinspehn 1991, S. 409).
Was viele human- und sozialwissenschaftliche Konzepte vermissen lassen: Es gibt eine enge Verknüpfung von körperlich/leiblichen sowie seelischen Vorgängen, und kein vom Körper losgelöstes Empfinden oder Denken. In diesem Sinne sind alle seelischen und geistigen Prozesse »embodied«, also verleiblicht (vgl. Leuzinger-Bohleber 2009, S. 165). Wobei ich kurz einschieben möchte, dass das Konzept des Embodiment aus der Kognitionspsychologie herrührt, was einen gewissen Erklärungsbedarf erzeugt. Leuzinger-Bohleber beschreibt die Eingangsszene einer psychoanalytischen Behandlung:
»Bevor ich die Tür richtig öffnen kann, stürmt Frau M. in den Flur. Sie greift stürmisch nach meiner Hand, nimmt sie in einer merkwürdig sexuell stimulierenden Weise zwischen ihre eigenen Hände und tritt mir dabei sehr nahe, meine normale Intimdistanz überschreitend: ›Hallöchen … Ich bin froh, dass ich mit Ihnen sprechen kann.‹ Ich trete intuitiv zwei Schritte zurück und beobachte sogleich eine intensive negative emotionale Reaktion, verbunden mit aversiven Körperreaktionen: Was für eine überwältigende Frau! Das ist mir zu viel. Sie rückt mir zu sehr auf die Pelle … Warum habe ich Ihr einen Termin angeboten? Werde ich sie je wieder wegschicken können? Sie scheint mir so bedürftig …« (vgl. Leuzinger-Bohleber 2014, S. 925).
Erst nach drei Jahren der Behandlung kann das nach wie vor anhaltende, extrem intrusive Verhalten der Patientin ihrer Analytikerin gegenüber allmählich mit einer von Gewalt geprägten sexuellen Missbrauchserfahrung mit einem nahen Verwandten in Verbindung gebracht werden, den sie als Jugendliche öfter besuchte. Frau M. muss zur Toilette gehen und sich übergeben. Als begleitende körperliche Regungen des Traumas brechen Ekel, Abscheu und Widerwillen hervor (vgl.ebd., S. 941).
Leuzinger-Bohleber betont den engen Zusammenhang zwischen Biologie und sozialer Erfahrung, der bis in die früheste Kindheit zurückzuverfolgen ist. Das auffallende Interaktionsverhalten der Patientin ist durch »embodied memories« ausgelöst worden, die »bisher nicht repräsentiertem seelischem Material« entsprechen und in ihren eigenen »›embodied‹ Gegenübertragungsreaktionen« aufscheinen. Die ersten Beziehungserfahrungen erhalten sich im Sinne sensomotorischer Koordinationen im Körper: »in den frühesten Beziehungen wird wie bei einer Stradivari der Klangkörper des seelischen Instruments gebaut, der in späteren Beziehungen zum Schwingen gebracht wird« (vgl. S. 925 ff.). Wenn wir also Gedächtnis als ein »Produkt komplexer, dynamischer, rekategorisierender und interaktiver Prozesse, die ›embodied‹ sind« (vgl. S. 928), verstehen, wird die Embodied Cognitive Science in meinem Sinne in Richtung Psychoanalyse ausgeweitet. Und gerade die letzte Aussage von Leuzinger-Bohleber ist doch dezidiert auch auf Vorgänge in Praxis und Forschung anzuwenden, was aber ohne Bezug zur Dimension von Leiblichkeit nicht aufzufinden sein wird.
Der Aufbau der psychischen Struktur beginnt auf der sensomotorischen Ebene über die Empfindung, wie einfühlsam sich die Pflegperson in die Beziehung einbringt. In seinem impliziten Gedächtnis bewahrt das Kind auf, wie es getragen oder auf dem Arm gehalten wurde. Hier werden die aneinandergereihten frühen Interaktionserfahrungen in Form von Bildern oder Bildfragmenten abgelegt. Diese so entstehenden Prototypen affektiv getönter Interaktionsmuster sind der Sprache nicht zugänglich, beeinflussen unbewusste die spätere Beziehungsgestaltung (vgl. Stemmer-Lück 2009, S. 44 ff.; Sandler und Sandler 1985, S. 804).
Allmählich werden dann die erlebten episodischen Sequenzen mit Bedeutung gefüllt. Die nichtsprachliche Interaktionsform enthält somit einen Namen und wird zur »symbolischen Interaktionsform« (vgl. Lorenzer 1977, S. 48). Wesentlich ist – und da nimmt Lorenzer einen modernen Diskurs vorweg –, dass sich an diesem Punkt ein enger Zusammenhang zwischen dem impliziten Gedächtnis und dem Unbewussten auftut. Das Unbewusste wird von »nicht-sprachlichen Praxiselementen« gebildet und ist mithin »ein Resultat sozialer Prozesse«. Damit wendet sich Lorenzer nicht nur gegen eine biologistische Gesellschaftsblindheit, sondern auch gegen eine kulturelle Verflachung von Persönlichkeitsentwicklung zur bloßen Milieuabhängigkeit (vgl. Lorenzer 1977, S. 42).
Die hier anschließende, neuere Sicht auf die wechselseitigen Interaktionsprozesse wird von Daniel Stern im Begriff der Affektabstimmung (attunement) komprimiert, und sie stellt für ihn den »Sprung in die intersubjektive Bezogenheit« (vgl. Stern, D. 1992, S. 191) dar. Das Empfinden des Kindes, über ein subjektives Selbst zu verfügen, ist an die Erfahrung gebunden, dass seine inneren Zustände ein Echo auslösen und von seinem primären Objekt widergespiegelt werden. Die darauf einsetzende Affektabstimmung erfolgt »überwiegend unbewusst und beinahe automatisch« und verhilft dem Kind dazu, mit »seiner eigenen Affektivität und seinem Selbstempfinden besser vertraut zu werden« (vgl. ebd., S. 206 f.). Es entsteht ein gemeinsamer Affektzustand – eine »Inter-Affektivität« (vgl. ebd., S. 198) –, wobei das Teilen dieses Zustandes mit dem Anderen etwas ganz anderes darstellt, als würde eine Verhaltensäußerung bloß exakt imitiert: »Das Verhalten, mit dem wir unsere Reaktionen auf Affekte zum Ausdruck bringen, sähe dann lächerlich aus; vielleicht hätten wir dann Ähnlichkeit mit einem Roboter« (vgl. ebd., S. 203).
Nach Auffassung von Arfelli Galli benutzt Stern den Terminus »affect attunement (Affektabstimmung)«, um deutlich zu machen, dass die Mutter ihre Aufmerksamkeit nicht primär auf das manifeste Verhalten des Kindes richtet, »sondern die Gefühle in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit stellt: einerseits die Gefühle des Kindes, so wie sie sie interpretiert, andererseits auch die in ihren Antworten in verschiedenen Modalitäten ausgedrückten Gefühle«. Wie aus Befragungen von Müttern hervorgeht, ist es ein Prozess »mit geringer oder ohne Beteiligung kognitiver Prozesse« (vgl. Arfelli Galli 2017, S. 58; Stern, Hofer, Haft & Dore, 1984).
Beziehe ich diese fundamentalen Erkenntnisse auf die professionelle Begegnung mit Adressat/innen in Praxis und Forschung, so wird doch eines klar: Wir greifen alle unbewusst auf diese implizit bewahrten Muster zurück, um die Signale des/der Anderen zu dechiffrieren – und er/sie tut das Gleiche.
Dem emotionalen Gedächtnis, in dem dieses frühe Wissen hinterlegt ist, kommt bei der Beurteilung einer aktuellen Situation eine außerordentliche Bedeutsamkeit zu. Weil in ihm alle Beziehungserfahrungen episodenhaft aufbewahrt sind, kann es als Kern unseres Erkennens angesehen werden. Ohne die Beteiligung der entsprechend aktivierten Gefühle wären »rationale Entscheidungen und lebenspraktische Denkvorgänge« unmöglich (vgl. Schmid Noerr 2003, S. 115). Zwar mangelt es dem emotionalen Gedächtnis an Kognitionen, dafür ist es eher sensomotorisch aufgebaut und besteht aus »prä-repräsentativen Verschlüsselungen relationaler Erfahrung«. Als Kern unseres Erkennens kommt ihm ein völlig eigenständiges Gewicht zu, ist es weit mehr als ein Vorläufer symbolischer Kognition (vgl. Orange 2004, S. 151 f.).
Jede Beschränkung auf bewusst zu steuernde Anweisungen im methodischen Handeln muss zwangsläufig den tatsächlich ablaufenden Beziehungsablauf verfälschen. Vor allem wird das Moment der Leiblichkeit weit unterschätzt oder gar ganz aus den klassischen Konzeptionalisierungen eliminiert. Um sich gegen ein Wiederaufleben von schmerzlichen Erfahrungen – das Adjektiv schmerzlich verdeutlicht ja diese Nähe von körperlichen und psychischen Vorgängen – zu wappnen, werden psychische Abwehrmechanismen aktiviert, die dafür sorgen sollen, dass die Erinnerung verdrängt bleibt. Zudem kann es zu Aufspaltungen in gute und böse Objektanteile kommen, wobei die bösen Aspekte auf andere projiziert werden, um das eigene ›gute‹ Selbst zu schützen. Diese Abwehr versieht durchaus eine lebensnotwendige Bewältigungsfunktion, um uns vor einer Überflutung mit bedrohlichen Affektstürmen zu bewahren. Nur wenn sie eine übermäßig rigide Form annehmen, die unsere psychische Flexibilität über Gebühr einschränkt, neurotische und andere, etwa psychosomatische Symptomatiken hervorbringt und die Realitätswahrnehmung massiv eintrübt, müssen wir von einer pathologischen Krise sprechen.
Innere, durch Angst ausgelöste Widerstände sorgen also dafür, dass die schmerzlichen Erinnerungen an frühe, in jeder Hinsicht unzureichende Beziehungserfahrungen nicht ins Bewusstsein aufgenommen oder aus diesem wieder ausgeschlossen werden. Allerdings bleiben diese Reminiszenzen unbewusst wirksam. In den Fällen, um die es mir hier geht, ist die Verfügungsgewalt über die früh erlebten Traumen verloren gegangen. Es existiert keine Sprache, um sich mitzuteilen oder zu erklären. Alles, was an Reaktionen geblieben ist, sind sprachlos agierte, oft exzessive Verhaltensweisen, ohne dass aber dem Betroffenen diese Zusammenhänge gegenwärtig wären. Im Rahmen einer neuen professionellen pädagogischen Beziehung, die nicht retraumatisierend wirkt, wird es jedoch möglich gemacht, die Erinnerungen wie die Widerstände erlebbar und damit einer nachträglichen Bearbeitung zugänglich machen, so dass sie in Wahrnehmung, Fühlen, Denken und Handeln wieder berücksichtigt werden können. Damit dies gelingt, muss diese Beziehung von einer empathischen Haltung und einem darauf fußenden Verstehen der psychodynamischen und zum großen Teil unbewussten Prozesse getragen sein (vgl. Leber 1985, S. 152 f.).
Indessen sei vor einem gewissen ideologischen verengten Elitarismus gewarnt, den Göppel wie folgt persifliert:
»Ich glaube an Sigmund Freud, den genialen Schöpfer der Theorie und Praxis der Psychoanalyse, und an seine Tochter Anna Freud, sowie an seine eingeschworenen Schüler August Aichhorn, Siegfried Bernfeld und Hans Zulliger, die Begründer der Psychoanalytischen Pädagogik. (…) Ich glaube an die Macht des Triebes, die Wichtigkeit der Kindheit, Übertragung und Widerstand, Wiederkehr des Verdrängten, Kraft der Bewusstmachung und das unbewusste Seelenleben. Amen« (vgl. Göppel 2015, S. 59 f.).
Mit Blick auf den bedrohten Status der Psychoanalytischen Pädagogik im Rahmen der erziehungswissenschaftlichen Forschung wie pädagogischen Praxis verlangen Zimmermann u. a. deshalb danach, die durchaus divergenten Forschungszugriffe und oft nur punktuellen Anknüpfungspunkte an die psychoanalytische Theoriebildung intern wertzuschätzen und dies entsprechend nach außen zu vertreten (vgl. Zimmermann u. a. 2019, S. 13). Die Psychoanalytische Pädagogik ist zu einer wissenschaftlichen Disziplin geworden, und sie hat ihren Platz im Wissenschaftssystem gefunden. Die Suche nach ihrer Identität, d. h. vor allem nach einem angemessenen Verhältnis von Psychoanalyse und Pädagogik, bleibt indessen ihre Daueraufgabe (vgl. Hierdeis 2016, S. 110).
Vor allem muss in diesem Zusammengang die psychoanalytische Grundregel der gleichschwebenden Aufmerksamkeit bedacht werden. Diesem Prinzip folgend soll auf die eigene Zensur verzichtet und keine vorab wertende Auswahl wahrgenommener Eindrücke vorgenommen werden, und so lässt sich auch und gerade in der Pädagogik ein »durch Routine eingespielter Horizont« transzendieren (vgl. Hirblinger 2011, S. 51).
Das Zuhören- und ein Gespräch-führen-Können gewinnen durch die psychoanalytische Grundregel der gleichschwebenden Aufmerksamkeit an Gewicht. Diese eher unkonventionelle Haltung dem Anderen gegenüber, ohne vorschnell ein Gespräch strukturieren zu müssen, bietet den Vorteil, sich vor der Anstrengung einer fokussierenden Aufmerksamkeit zu schützen, »die man doch nicht durch viele Stunden täglich festhalten könnte«. Man sollte die eigene unbewusste Aktivität so frei wie möglich funktionieren lassen und dem »gebenden Unbewussten« des Gegenübers »sein eigenes Unbewusstes als empfangendes Organ zuwenden« (vgl. Freud, S. 1912e, 376 ff.). An anderer Stelle heißt es: »(…) jeder Mensch besitzt in seinem eigenen Unbewussten ein Instrument, mit dem er die Äußerungen des Unbewussten beim Anderen zu deuten vermag« (vgl. Freud, S. 1913i, S. 445). Reik sprach diesbezüglich vom »Hören mit dem dritten Ohr«: »Es stimmt nicht, dass man schreien muss, um verstanden zu werden. Wenn man gehört werden will, dann flüstert man« (vgl. Reik 1990, S. 165). Ohne die Beachtung der eigenen Gegenübertragungsreaktionen kann dieses Instrument aber kaum sinnvoll genutzt werden. Ich werde später auf Forschungssituationen bezogen noch einige Erwägungen zur gleichschwebenden Aufmerksamkeit aufnehmen (Kap. 3.1).
Wir sollten jetzt sogar noch einen Schritt weiter gehen. Seit geraumer Zeit richtet sich das Interesse an der entwicklungsbestimmenden Kraft von Objektbeziehungen bereits auf die pränatale Zeit. Vorgeburtliche Erfahrungen hinterlassen nämlich Spuren, wie zahlreiche Übersichtarbeiten zeigen. Die Wechselseitigkeit einer gegenseitigen Abstimmung (attunement) entwickelt sich bereits in der Fetalzeit, lange bevor dieser Prozess bewusst wahrgenommen werden kann. Die Maxima der fetalen Bewegung wechseln sich zum Beispiel mit Traumphasen der Mutter in einem rhythmischen Muster ab (vgl. von Lüpke 2007, S. 118 ff.). Darüber hinaus befindet von Lüpke: »Wird pränatale Entwicklung unter dem Aspekt der Beziehung gesehen, so ist das Kind immer schon ein Gegenüber, ein anderer Mensch, der seinen Anteil am Zusammenspiel und damit an Chancen oder Risiken für die weitere Entwicklung beisteuert«. Es gibt also eine Kontinuität über die Geburt hinaus (vgl. von Lüpke 2003, S. 134 ff.). Vor allem wird auf diese Weise in unseren Vorstellungen das Repertoire von Kommunikationskanälen und -formen auf ganzheitlich-amodale, rhythmische sowie nichtsprachlich-mimische Dimensionen hin ausgeweitet (vgl. von Lüpke 2018, S. 34 f.).
Kratz und Ruth bezeichnen das Es, »das sich im Wechselspiel zwischen Embryo und Mutter ausformt«, als die Grundstruktur der Persönlichkeit (vgl. Kratz, Ruth 2016, S. 245). Der ›späte‹ Lorenzer wird noch deutlicher, wenn er sagt:
»Das Fundament der Persönlichkeit bilden soziale Erfahrungen, die in einem quasi anthropoiden, nämlich intrauterinen vorsprachlichen Status erworben werden. Vorsprachlich, ja nichtsprachlich insofern, als diese Erfahrungen ein eigenes, von späteren sprachorientierten Phasen abweichendes Sinnsystem bilden. Unbewusst im buchstäblichen Sinn, d. h.: vor jeder bewussten Erinnerung gebildet. Dennoch aber als soziale Erfahrung gewonnen und in bewussten Lebensentwürfen wirksam« (vgl. Lorenzer 2006, S. 142).
Die implizite Kommunikation – jetzt sehr real genommen – beginnt im eingeschlossenen Raum der Bauchhöhle als Beziehung von austragender Mutter und Fötus, also im »Beziehungsraum Mutterleib« (vgl. Vonholdt 2017). Hüther und Krens weisen darauf hin, dass der Fötus über die Nabelschnur »auch an das emotionale Erleben der Mutter angeschlossen« ist (vgl. Hüther, Krens 2010, S. 111). Wir beginnen also zu einem ausgesprochen frühen Zeitpunkt damit, unsere Wahrnehmungs- und Interaktionsfähigkeiten differenziert auszubauen. Dieser Erfahrungsschatz fließt in alle späteren Beziehungen ein, ganz gleich ob sie privater oder professioneller Natur sind. Ja schon bevor eine solche Beziehung zustande kommt, werden bestimmte Erwartungshaltungen, die aus diesem Fundus stammen, aktiviert. Die Art und Weise dieser Disposition ist von der impliziten frühen Erinnerung eingefärbt, was bedeutet, dass wir mit Offenheit oder mit Misstrauen gegenüber anderen Menschen auftreten, je nachdem wie diese ersten Interaktionen beschaffen waren. Ich möchte beileibe keinem Determinismus das Wort reden, aber nur über eine eingehende Selbstreflexion können wir einer möglicherweise unzureichenden Eintrübung aktueller Beziehungen, die auf einer verfälschten Wahrnehmung aufruht, vorbeugen.
Das Subjekt der Psychoanalyse ist eben nicht bis ins letzte bestimmbar, »da das Unbewusste etwas ist, was man wirklich nicht weiß« (vgl. Langnickel, Link 2018, S. 126). Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass es – gerade in der Begegnung mit neuen Patienten – vor allem darum geht, das »›Nicht-Wissen‹ auszuhalten« und ihm mit einer Grundhaltung von Anfängergeist und Expertengeist zu begegnen (vgl. Leuzinger-Bohleber 2007, S. 968). »Im Verstehen, Halten, auch Containen wird die Bedingung geschaffen, die es dem Analysanden ermöglicht, sein dynamisches Unbewusstes zu lösen und zu entfalten«.
Dabei führt die interpersonale, »tief unbewusst verbundene zweite Psyche« jene Differenzen ein, die den Patienten nötigen, »Unbekanntes zu entdecken und Bekanntes als Unbekanntes erneut zu denken« (vgl. Nissen 2009, S. 373). Immer wieder bin ich erstaunt über die große Nähe der beiden Disziplinen Psychoanalyse und Pädagogik, die genau an diesem Punkt einer professionellen, dialogisch begriffenen Beziehung aufscheint. Hier hat man sich – ungewollt und vielleicht noch unverstanden – aufeinander zubewegt.
Vor allem begegnen mir hier Formulierungen über das Unbekannte und Nicht-Gewusste, die mittlerweile geradezu irritierend ›unwissenschaftlich‹ klingen und die sich bruchlos in ein psychoanalytisch-pädagogisches Konzept einpassen lassen
»Was heute fast ausschließlich zählt, sind harte Daten, durch möglichst wenig theoretische Komplikationen verstellte Befunde (…) Übersehen wird dabei allerdings leicht, dass die evidenzbasierte Forschung häufig Komplexitätsreduktionen vornimmt, die von einem erheblichen Mut zur Vergröberung zeugen« (vgl. Ahrbeck 2007, S. 38 f.; Gerspach 2009, S. 58 f.).
Diese Haltung des vorsichtigen Herantastens an das noch Unverstandene liefert auch und gerade der Pädagogik eine ausgezeichnete Basis für ein beziehungsgestütztes Arbeitsbündnis. Alle darauf aufruhenden Forschungsaktivitäten und Theoriedebatten haben die Psychoanalytische Pädagogik in den letzten Jahren und Jahrzehnten entscheidend vorangebracht und stabilisiert.
Vor allem Siegfried Bernfelds weitreichende Erkenntnis vom »sozialen Ort«, der gänzlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Entwicklung von Neurose und Verwahrlosdung nimmt, muss hier mitgedacht werden. Das seelische Geschehen ist gerahmt von den gesellschaftlichen Lebensbedingungen, und die »Triebe selbst mitsamt ihren Eigenschaften und Zielen sind der Niederschlag« dieses historischen Geschehens. Deshalb gilt: »Die ›Schwere‹ einer Erkrankung ist oft geradezu von ihrem sozialen Ort abhängig« (vgl. Bernfeld 1970, S. 198 f.).
Jüngst haben Brunner u. a. diese Perspektive noch einmal aufgegriffen. Sie betonen, dass es nur eine eingehende »Reflexion auf die klassen- und milieuspezifische Lage der Individuen« ermöglicht, sowohl das Hervorbringen innerpsychischer Konflikte als auch die Reduktion oder Kanalisation spezifischer Konfliktlösungsstrategien zu verstehen und damit unterscheiden zu können, ob »ein Verhalten als ›pathologisch‹ eingeschätzt oder eine Sublimierung als ›gelungen‹ wahrgenommen wird« (vgl. Brunner u. a. 2012, S. 23). Ob unbewusste Wünsche und Phantasien innerpsychische Konflikte hervorbringen, ist davon abhängig, »was innerhalb des sozialen Ortes als verpönt« gilt. Damit ist auch apodiktisch festgelegt, dass Forscher/innen den sozialen Ort ihrer Forschungssubjekte zur Kenntnis nehmen und reflektieren müssen (vgl. Thoen-McGeehan 2020, S. 44).
Bernfeld war also sehr weitsichtig. Mit einem sozusagen professionstheoretischen Blick auf fundamentale Unterschiede lautet seine Conclusio, der Psychoanalytiker sei imstande, dem sozialen Ort gegenüber neutral zu sein, »der Pädagoge kann diese grundsätzliche Toleranz nicht üben« (vgl. Bernfeld 1970, S. 203; Fickler-Stang 2019, S. 132).
Die sich hier abzeichnende frühe Ausdifferenzierung in Psychoanalytische Pädagogik und Psychoanalytischer Sozialarbeit bringt aber nur vordergründig Unterschiede hervor, die wohl vor allem dem der tendenziellen Andersartigkeit der Arbeitsfelder geschuldet sind. Das ›Kerngeschäft‹ der Pädagogik sind noch immer primär Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen, und da ist selbstverständlich Nähe zur Psychoanalyse als einer Sozialisationstheorie einerseits und einem Therapieverfahren zur Behandlung des in diesem Kontext entstandenen seelischen Leidens andererseits quasi naturgegeben. Das Aufgabengebiet der Sozialarbeit ist viel heterogener beschaffen, und oftmals scheint der sozialisatorische Aspekt nur mittelbar durch. Vielleicht ist der Arbeitsauftrag der Psychoanalytischen Sozialarbeit sogar noch um einiges diffuser als jener der Psychoanalytischen Pädagogik. Perner jedenfalls sieht diese Schwierigkeit:
»Wenn er [der psychoanalytische Sozialarbeiter; M.G.] sich auf die unaufdringliche, passive, abwartende und rezeptive Haltung des Analytikers beschränken würde, könnte er ewig warten und hätte nichts zu tun, weil seine Klienten dann gar nicht kämen oder nach wenigen Sitzungen wegbleiben würden. Er kann darum die Entwicklung einer positiven und tragfähigen Übertragung nicht ruhig und gelassen abwarten sondern muss aktiv für ihre Herstellung sorgen (…)« (vgl. Perner 2010, S. 68).
Erziehung und Bildung auf der einen Seite weisen eine gewisse Verzahnung auf, verbunden mit einem eher klaren Auftrag zur allgemeinen Wissensvermittlung. Die Aufgabenzuteilung der Sozialen Arbeit auf der anderen Seite erfolgt in der Regel durch das Aktivwerden von Jugend- und Sozialämtern, wenn sich vor Ort überdeutlich Problemlagen artikulieren. Das bringt die Zielgruppen, die zumeist den randständigen Milieus angehören, auf doppelte Weise in eine defensive Position. Die Umgebung – nicht zuletzt die Schule – wird aufmerksam und verlangt nach staatlicher Intervention. Die Beschämung auf Seiten der Betroffenen wird somit potenziert und erschwert den Aufbau eines soliden Arbeits- und Entwicklungsbündnisses. Dass das professionelle Scheitern bei Sozialarbeiter/innen damit quasi vorprogrammiert ist – und also das Beschämungsstigma am Ende auf sie zurückfällt –, macht eine jüngst erschienene Publikation überdeutlich sichtbar. Sie zeigt aber auch auf, wie und unter welchen Bedingungen helfende Beziehungen erfolgreich und nachhaltige Wirkungen bei den »Fällen« generierend verlaufen können (vgl. Fischer u. a. 2019). Überdies ist einzuräumen, dass auf dem Feld der Pädagogik wie der Sozialarbeit der gern verwendete Begriff der »Beziehungsarbeit« von einem nicht unbedeutenden diffusen Anteil mitgeprägt wird (vgl. Pollak 2002, S. 81 f.).
Spätestens über die auch auf dem Gebiet der Sozialarbeit virulent werdenden Prozesse von Übertragung und Gegenübertragung und die Einsatzmöglichkeiten des szenischen Verstehens, das ich sogleich noch eingehender behandeln will, wird die Unterschiedlichkeit also wieder vernachlässigbar. Von viel größerem Interesse sind die großen Gemeinsamkeiten, und es machen sich auch nur wenige inhaltliche oder methodische Divergenzen bemerkbar (vgl. Günter, Bruns 2010, S. 36 ff.).
Zudem springt ins Auge, dass es eine Reihe von Schnittmengen zwischen den beiden Arbeitsfeldern gibt. So verwundert es nicht, dass gerade die Kinder und Jugendlichen, die mit den normativ-mittelständisch gewirkten Anforderungen der Regelschule nicht ohne weiteres zurechtkommen und in den Fokus besonderer pädagogischer Bemühungen geraten, mehrheitlich aus sozialen Randlagen stammen. Meist stoßen wir auf von massiven seelischen Erschütterungen bedrohte Lebenswelten der jeweiligen Adressat/innen, und dies verlangt zwingend nach einer gesellschaftlichen Verortung unseres Tuns, um der erlebten – aber nicht verstandenen – Entfremdung unserer Adressat/innen nicht noch eine weitere Unterwerfungsgeste zuzumuten.
In beiden Professionen ist zudem Aufklärung zu leisten über ihre institutionelle Rahmung. Gesellschaftliche Institutionen neigen zur Idealisierung ihrer eigenen Vorstellungen und verteidigen sie gegen Angriffe (vgl. Ludin 2013, S. 127). Ein Wissen über diese im Innern wirkende Dynamik wird eher aus Gründen des Selbstschutzes massiv abgewehrt. Die Institution und ihre Repräsentant/innen fürchten um Prestige- und Machverlust, die Mitarbeiter/innen fürchten die ihren Narzissmus kränkende Gewissheit, in ihrer untergeordneten Rolle depotenziert zu sein. Hier kommt der Latenzschutz zum Tragen. Zum ersten gibt es den »Strukturschutz durch Latenz«: Institutionen schützen ihre Strukturen und damit ihre Stabilität, indem sie alles, was diese Strukturen unkontrolliert verändern könnte, latent zu halten suchen. Zum zweiten den »Schutz der Latenz« selber: Institutionen versuchen zu verhindern, dass die Latenz als solche überhaupt aufgedeckt und zur Sprache gebracht wird (vgl. Haubl 2011, S. 202; Gerspach 2020a, S. 31).
Ähnliches gilt für Vorgänge in sozialen Gruppen. Dem Sog der Gemeinschaft, sich auf eine Idee zu verpflichten, haftet ein regressives Element an, welches das Reflexionsvermögen infiltriert. Die Individuen sehen sich genötigt, ihren Wunsch nach autonomem Denken und Handeln einzuschränken oder ganz aufzugeben. So unterwerfen sie sich der allgemein geteilten Ideologie aus Angst, Liebe und Schutz der Gemeinschaft zu verlieren, oder sie tun es gar freiwillig, ganz im Dienste der »Identifikation mit dem Aggressor« (Freud, A. 1980, S. 298). Diese Vorgänge verhindern die (Selbst-)Aufklärung. Eggert-Schmid Noerr hat aufgezeigt, dass Reflexion am geeignetsten auf der Basis psychoanalytischer Theorie erfolgt (vgl. Eggert-Schmid Noerr 2010, S. 27). Dabei gilt: »Keine psychoanalytische Zeitdiagnose kommt ohne Gesellschaftstheorie aus; die Annahme, das bräuchte man nicht, ist im Übrigen auch eine Gesellschaftstheorie, wenn auch keine elaborierte.« Die »Deutungsangebote«, die sie parat hält, weisen der Realität einen bestimmten Sinn zu, sind daher nur reflexiv zugänglich und zwangsläufig von einer gewissen Befangenheit begleitet (vgl. Kirchhoff 2019, S. 31; Brede 1997, S. 876).