Publikumsbeschimpfung und andere Sprechstücke - Peter Handke - E-Book

Publikumsbeschimpfung und andere Sprechstücke E-Book

Peter Handke

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Beschreibung

Diese drei Stücke ohne Handlung, ohne Szenenbilder und ohne Requisiten sind Sprechstücke, die, nach den Klangelementen der Beatmusik gebaut, die Sprache selbst zum Inhalt machen, es sind Versuche, auf dem Theater Wirklichkeit durch Sprache zurückzugewinnen. Sie bedienen sich der natürlichen Äußerungsform der Beschimpfung, der Selbstbezichtigung, der Beichte, der Aussage, der Frage, der Rechtfertigung, der Ausrede, der Weissagung, der Hilferufe. Dabei zerstört der Autor den Illusionscharakter auch des modernen Theaterstücks: die Spieler sind die Beobachter, das Publikum ist das Thema. Indem Handke das Theater aufhebt, macht er neues Theater.

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Seitenzahl: 106

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Peter Handke

Publikumsbeschimpfung und andere Sprechstücke

Suhrkamp Verlag

Publikumsbeschimpfung

Für

Karlheinz Braun, Claus Peymann, Basch Peymann, Wolfgang Wiens, Peter Steinbach, Michael Gruner, Ulrich Hass, Claus Dieter Reents, Rüdiger Vogler, John Lennon

VIER SPRECHER

Regeln für die Schauspieler

Die Litaneien in den katholischen Kirchen anhören.

Die Anfeuerungsrufe und die Schimpfchöre auf den Fußballplätzen anhören.

Die Sprechchöre bei Aufläufen anhören.

Die laufenden Räder eines auf den Sattel gestellten Fahrrads bis zum Ruhepunkt der Speichen anhören und die Speichen bis zu ihrem Punkt der Ruhe ansehen.

Das allmähliche Lautwerden einer Betonmischmaschine nach dem Anschalten des Motors anhören.

Das Inswortfallen bei Debatten anhören.

»Tell me« von den Rolling Stones anhören.

Die zugleich geschehenden Einfahrten und Ausfahrten von Zügen anhören.

Die Hitparade von Radio Luxemburg anhören.

Die Simultansprecher bei den Vereinten Nationen anhören.

In dem Film »Die Falle von Tula« den Dialog des Gangsterbosses (Lee J. Cobb) mit der Schönen anhören, in dem die Schöne den Gangsterboß fragt, wieviele Menschen er denn noch umbringen lassen werde, worauf der Gangsterboß, indem er sich zurücklehnt, fragt: Wieviele gibt's denn noch? und dabei den Gangsterboß ansehen.

Die Beatles-Filme ansehen.

In dem ersten Beatles-Film Ringo Starrs Lächeln ansehen, in dem Augenblick, da er, nachdem er von den andern gehänselt worden ist, sich an das Schlagzeug setzt und zu trommeln beginnt.

In dem Film »Der Mann aus dem Westen« das Gesicht Gary Coopers ansehen.

In demselben Film das Sterben des Stummen ansehen, der mit der Kugel im Leib die ganze öde Straße durch die verlassene Stadt hinunterläuft und hüpfend und springend jene schrillen Schreie ausstößt.

Die die Menschen nachäffenden Affen und die spuckenden Lamas im Zoo ansehen.

Die Gebärden der Tagediebe und Nichtstuer beim Gehen auf den Straßen und beim Spiel an den Spielautomaten ansehen.

Wenn die Besucher den für sie bestimmten Raum betreten, erwartet sie die bekannte Stimmung vor dem Beginn eines Stücks. Vielleicht ist hinter dem geschlossenen Vorhang sogar das Geräusch von irgendwelchen Gegenständen zu hören, die den Besuchern das Verschieben und Zurechtrücken von Kulissen vortäuschen. Zum Beispiel wird ein Tisch quer über die Bühne gezogen oder einige Stühle werden geräuschvoll aufgestellt und wieder beiseitegetragen. Die Zuschauer in den ersten Reihen können hinter dem Vorhang auch die geflüsterten Anweisungen vorgetäuschter Bühnenmeister und die geflüsterten Verständigungen vorgetäuschter Arbeiter hören. Vielleicht ist es zweckdienlich, dafür Tonbandaufnahmen von anderen Stücken zu verwenden, bei denen vor dem Aufgehen des Vorhangs in Wirklichkeit Gegenstände bewegt werden. Diese Geräusche werden zur besseren Hörbarkeit noch verstärkt. Man typisiert und stilisiert sie, so daß eine Ordnung oder Gesetzmäßigkeit in den Geräuschen entsteht. Auch im Zuschauerraum ist für die gewohnte Theaterstimmung zu sorgen. Die Platzanweiser vervollkommnen noch ihre gewohnte Beflissenheit, bewegen sich noch formeller und zeremonieller, dämpfen ihr gewohntes Flüstern noch stilvoller. Ihr Gehabe wirkt ansteckend. Die Programme sind in vornehmer Ausstattung gehalten. Das wiederholte Klingelsignal darf nicht vergessen werden. Es folgt in immer kürzeren Abständen. Das allmähliche Verlöschen des Lichts wird nach Möglichkeit noch hinausgezögert. Vielleicht kann es stufenweise geschehen. Die Gebärden der Platzanweiser, die die Türen nun schließen, sind besonders gravitätisch und auffallend. Dennoch sind sie nichts anderes als Platzanweiser. Es soll keine Symbolik entstehen. Zu spät Kommende haben keinen Zutritt. Besucher in unangemessener Kleidung werden abgewiesen. Der Begriff der unangemessenen Kleidung ist möglichst weit auszulegen. Niemand soll durch seine Kleidung besonders aus den Zuschauern herausstechen und das Auge verletzen. Zumindest sollen die Herren dunkel gekleidet sein, Rock, weißes Hemd und eine unauffällige Krawatte tragen. Die Damen sollen grelle Farben ihrer Garderoben tunlichst vermeiden. Es gibt keine Stehplätze. Sind die Türen geschlossen und ist das Licht allmählich erloschen, so wird es auch hinter dem Vorhang allmählich still. Die Stille hinter dem Vorhang und die Stille, die im Zuschauerraum eintritt, gleichen einander. Die Zuschauer starren noch eine kleine Weile auf den sich fast unmerklich bewegenden, von einem vorgetäuschten Huschen sich vielleicht sogar buchtenden Vorhang. Dann wird der Vorhang ruhig. Es verstreicht noch eine kurze Zeit. Dann geht der Vorhang langsam auseinander und gibt den Blick frei. Wenn die Bühne den Blicken frei ist, kommen aus dem Bühnenhintergrund die vier Sprecher nach vorn. Sie werden in ihrem Gehen durch keinen Gegenstand behindert. Die Bühne ist leer. Während sie in den Vordergrund kommen, in einem Gang, der nichts anzeigt, in einer beliebigen Kleidung, wird es wieder hell, auf der Bühne und im Zuschauerraum. Die Helligkeit hier und dort ist ungefähr gleich, von einer Stärke, die den Augen nicht weh tut. Das Licht ist das gewohnte, das einsetzt, wenn zum Beispiel die Vorstellung aus ist. Die Helligkeit bleibt auf der Bühne wie im Zuschauerraum während des ganzen Stückes unverändert. Die Sprecher schauen noch nicht ins Publikum, während sie herankommen. Sie proben noch im Gehen. Sie richten die Worte, die sie sprechen, keinesfalls an die Zuhörer. Das Publikum darf noch keinesfalls gemeint sein. Für die Sprecher ist es noch nicht vorhanden. Während sie herankommen, bewegen sie die Lippen. Allmählich werden ihre Worte verständlich und schließlich laut. Die Schimpfwörter, die sie sprechen, überschneiden sich. Die Sprecher sprechen durcheinander. Sie nehmen voneinander Wörter auf. Sie nehmen einander die Worte aus dem Mund. Sie sprechen gemeinsam. Sie sprechen alle zugleich, aber verschiedene Wörter. Sie wiederholen die Wörter. Sie sprechen lauter. Sie schreien. Sie vertauschen die geprobten Wörter untereinander. Sie proben schließlich gemeinsam ein Wort. Die Wörter, die sie zu diesem Vorspiel verwenden, sind folgende: (die Reihenfolge ist nicht zu beachten) Ihr Fratzen, ihr Kasperl, ihr Glotzaugen, ihr Jammergestalten, ihr Ohrfeigengesichter, ihr Schießbudenfiguren, ihr Maulaffenfeilhalter. Nach einer gewissen klanglichen Einheitlichkeit ist zu streben. Außer dem Klangbild soll sich aber kein anderes Bild ergeben. Die Beschimpfung ist an niemanden gerichtet. Aus ihrer Sprechweise soll sich keine Bedeutung ergeben. Die Sprecher sind vor dem Ende der Schimpfprobe im Vordergrund angelangt. Sie stellen sich zwanglos auf, bilden aber eine gewisse Formation. Sie sind nicht völlig starr, sondern bewegen sich nach der Bewegung, die ihnen die zu sprechenden Worte verleihen. Sie schauen nun ins Publikum, fassen aber niemand ins Auge. Sie bleiben noch ein wenig stumm. Sie sammeln sich. Dann beginnen sie zu sprechen. Die Reihenfolge des Sprechens ist beliebig. Alle Sprecher sind ungefähr gleich viel beschäftigt.

Sie sind willkommen.

Dieses Stück ist eine Vorrede.

Sie werden hier nichts hören, was Sie nicht schon gehört haben.

Sie werden hier nichts sehen, was Sie nicht schon gesehen haben.

Sie werden hier nichts von dem sehen, was Sie hier immer gesehen haben. Sie werden hier nichts von dem hören, was Sie hier immer gehört haben.

Sie werden hören, was Sie sonst gesehen haben.

Sie werden hören, was Sie hier sonst nicht gesehen haben.

Sie werden kein Schauspiel sehen.

Ihre Schaulust wird nicht befriedigt werden.

Sie werden kein Spiel sehen.

Hier wird nicht gespielt werden.

Sie werden ein Schauspiel ohne Bilder sehen.

Sie haben sich etwas erwartet.

Sie haben sich vielleicht etwas anderes erwartet.

Sie haben sich Gegenstände erwartet.

Sie haben sich keine Gegenstände erwartet.

Sie haben sich eine Atmosphäre erwartet.

Sie haben sich eine andere Welt erwartet.

Sie haben sich keine andere Welt erwartet.

Jedenfalls haben Sie sich etwas erwartet.

Allenfalls haben Sie sich das erwartet, was Sie hier hören.

Aber auch in diesem Fall haben Sie sich etwas anderes erwartet.

Sie sitzen in Reihen. Sie bilden ein Muster. Sie sitzen in einer gewissen Ordnung. Ihre Gesichter zeigen in eine gewisse Richtung. Sie sitzen im gleichen Abstand voneinander. Sie sind ein Auditorium. Sie bilden eine Einheit. Sie sind eine Zuhörerschaft, die sich im Zuschauerraum befindet. Ihre Gedanken sind frei. Sie machen sich noch Ihre eigenen Gedanken. Sie sehen uns sprechen und Sie hören uns sprechen. Ihre Atemzüge werden einander ähnlich. Ihre Atemzüge passen sich den Atemzügen an, mit denen wir sprechen. Sie atmen, wie wir sprechen. Wir und Sie bilden allmählich eine Einheit.

Sie denken nichts. Sie denken an nichts. Sie denken mit. Sie denken nicht mit. Sie sind unbefangen. Ihre Gedanken sind frei. Indem wir das sagen, schleichen wir uns in Ihre Gedanken. Sie haben Hintergedanken. Indem wir das sagen, schleichen wir uns in Ihre Hintergedanken. Sie denken mit. Sie hören. Sie vollziehen nach. Sie vollziehen nicht nach. Sie denken nicht. Ihre Gedanken sind nicht frei. Sie sind befangen.

Sie schauen uns an, wenn wir mit Ihnen sprechen. Sie schauen uns nicht zu. Sie schauen uns an. Sie werden angeschaut. Sie sind ungeschützt. Sie haben nicht mehr den Vorteil derer, die aus dem Dunkeln ins Licht schauen. Wir haben nicht mehr den Nachteil derer, die vom Licht in das Dunkle schauen. Sie schauen nicht zu. Sie schauen an und Sie werden angeschaut. Auf diese Weise bilden wir und Sie allmählich eine Einheit. Statt Sie könnten wir unter gewissen Voraussetzungen auch wir sagen. Wir befinden uns unter einem Dach. Wir sind eine geschlossene Gesellschaft.

Sie hören uns nicht zu. Sie hören uns an. Sie sind nicht mehr die Lauscher hinter der Wand. Wir sprechen offen zu Ihnen. Unsere Gespräche gehen nicht mehr im rechten Winkel zu Ihren Blicken. Unsere Gespräche werden von Ihren Blicken nicht mehr geschnitten. Unsere Worte und Ihre Blicke bilden keinen Winkel mehr miteinander. Sie werden nicht mißachtet. Sie werden nicht als bloße Zwischenrufer behandelt. Sie brauchen sich über kein Geschehen hier aus der Perspektive von Fröschen und Vögeln ein Urteil zu bilden. Sie brauchen nicht Schiedsrichter zu spielen. Sie werden nicht mehr als eine Zuschauerschaft behandelt, an die wir uns zwischendurch wenden können. Das ist kein Spiel. Hier gibt es kein Zwischendurch. Hier gibt es kein Geschehen, das Sie ansprechen soll. Das ist kein Spiel. Wir treten aus keinem Spiel heraus, um uns an Sie zu wenden. Wir haben keine Illusionen nötig, um Sie desillusionieren zu können. Wir zeigen Ihnen nichts. Wir spielen keine Schicksale. Wir spielen keine Träume. Das ist kein Tatsachenbericht. Das ist keine Dokumentation. Das ist kein Ausschnitt der Wirklichkeit. Wir erzählen Ihnen nichts. Wir handeln nicht. Wir spielen Ihnen keine Handlung vor. Wir stellen nichts dar. Wir machen Ihnen nichts vor. Wir sprechen nur. Wir spielen, indem wir Sie ansprechen. Wenn wir wir sagen, können wir auch Sie meinen. Wir stellen nicht Ihre Situation dar. In uns können Sie nicht sich selber erkennen. Wir spielen keine Situation. Sie brauchen sich nicht betroffen zu fühlen. Sie können sich nicht betroffen fühlen. Ihnen wird kein Spiegel vorgehalten. Sie sind nicht gemeint. Sie sind angesprochen. Sie werden angesprochen. Sie werden angesprochen werden. Sie werden sich langweilen, wenn Sie nicht angesprochen sein wollen.

Sie leben nicht mit. Sie gehen nicht mit. Sie vollziehen nichts nach. Sie erleben hier keine Intrigen. Sie erleben nichts. Sie stellen sich nichts vor. Sie brauchen sich nichts vorzustellen. Sie brauchen keine Voraussetzung. Sie brauchen nicht zu wissen, daß dies hier eine Bühne ist. Sie brauchen keine Erwartung. Sie brauchen sich nicht erwartungsvoll zurückzulehnen. Sie brauchen nicht zu wissen, daß hier nur gespielt wird. Wir machen keine Geschichten. Sie verfolgen kein Geschehen. Sie spielen nicht mit. Hier wird Ihnen mitgespielt. Das ist ein Wortspiel.

Hier wird nicht dem Theater gegeben, was des Theaters ist. Hier kommen Sie nicht auf Ihre Rechnung. Ihre Schaulust bleibt ungestillt. Es wird kein Funken von uns zu Ihnen überspringen. Es wird nicht knistern vor Spannung. Diese Bretter bedeuten keine Welt. Sie gehören zur Welt. Diese Bretter dienen dazu, daß wir darauf stehen. Dies ist keine andre Welt als die Ihre. Sie sind keine Zaungäste mehr. Sie sind das Thema. Sie sind im Blickpunkt. Sie sind im Brennpunkt unserer Worte.

Ihnen wird nichts vorgespielt. Sie sehen keine Wände, die wackeln. Sie hören nicht das falsche Geräusch einer ins Schloß fallenden Tür. Sie hören keine Sofa knarren. Sie sehen keine Erscheinungen. Sie haben keine Geschichte. Sie sehen kein Bild von etwas. Sie sehen auch nicht die Andeutung eines Bildes. Sie sehen keine Bilderrätsel. Sie sehen auch kein leeres Bild. Die Leere dieser Bühne ist kein Bild von einer anderen Leere. Die Leere dieser Bühne bedeutet nichts. Diese Bühne ist leer, weil Gegenstände uns im Weg wären. Sie ist leer, weil wir keine Gegenstände brauchen. Diese Bühne stellt nichts dar. Sie stellt keine andere Leere dar. Die Bühne ist