Qualität in Ganztag, Hort und Schulkindbetreuung - Ulrike Glöckner - E-Book

Qualität in Ganztag, Hort und Schulkindbetreuung E-Book

Ulrike Glöckner

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Beschreibung

Dieses Buch ist ein Standardwerk für alle pädagogischen Fachkräfte, die sich einen umfassenden Überblick über Ganztag, Hort und Schulkindbetreuung verschaffen möchten. Von Grundlagen, über Leitungswissen bis zur Selbstevaluation werden alle relevanten Themen behandelt. Ein Must-have für alle, die die mittlere Kindheit begleiten!

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3. ergänzte und überarbeitete Auflage 2023

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Gesamtgestaltung und Satz: Sabine Ufer, Leipzig

E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe

ISBN (Print) 978-3-451-39440-9

ISBN E-Book (PUB) 978-3-451-82906-2

ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-82907-9

Inhalt

Vorwort von Rainer Strätz

Einleitung von Manja Plehn

KAPITEL I

Begriffe, Forschung und Rahmenbedingungen

1. Horte und Formen der Ganztagsschule: Begriffe, Eckdaten zu Nutzung und Personal, Entwicklungen(Manja Plehn)

1.1 Begriffe: Hort und Ganztagsschule

1.2 Eckdaten zu Nutzung und Personal

1.3 Entwicklungen

2. Hort und Ganztagsschule als formale und non-formale Bildungsorte. Ein komplementäres Bildungsverständnis(Manja Plehn)

2.1 Ein komplementäres Bildungsverständnis für den „ganzen Tag“

2.2 Zentrale Aufgaben non-formaler Bildungsorte sozialpädagogisch konkretisiert

2.3 Herausforderungen und Empfehlungen

3. Qualität in Hort und Ganztagsgrundschule: Begriffsklärungen, Konzepte, Forschungsergebnisse(Manja Plehn)

3.1 Begriffsklärungen

3.2 Perspektiven auf Qualität

3.3 Rechtliche Rahmungen

3.4 Konzepte und Konzeptualisierungen von Qualität

3.5 Forschungsergebnisse der Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen

3.6 Fazit und Erfordernisse

4. Rechtliche Grundlagen für die Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern nach dem Kinder- und Jugendhilferecht, insbesondere im Hort(Reinhard Joachim Wabnitz)

4.1 Internationales Recht

4.2 Bundesrecht

4.3 Landes-Ausführungsrecht zum SGB VIII

4.4 Kommunale Ebene

4.5 Trägerstrukturen und Finanzierung im Hortbereich

4.6 Kooperation von Kinder- und Jugendhilfe und Schule

4.7 Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung

Exkurs: Aufsichtspflicht und Haftung in Horten nach dem BGB

5. Rechtliche Rahmenbedingungen in der Ganztagsschule – Theorie und Fragestellungen aus der Praxis(Martin Haendl)

5.1 Akteure im schulischen Ganztag – Rechtsbereiche und Themen im Überblick

5.2 Die Regelungskompetenz und die Kulturhoheit der Länder

5.3 Differenzierte Regelungen in den Bundesländern

5.4 Einführung eines Rechtsanspruches auf Ganztagsbetreuung für Schulkinder

5.5 Die Rolle der Kommunen in diesem Entwicklungskontext

5.6 Schulstrukturen und Schulaufsicht – Die Rolle des Staates

5.7 Die Betriebserlaubnis nach § 45 SGB VIII

5.8 Weisungsverhältnisse

5.9 Fragen und Antworten zu ausgewählten Problemen in der Praxis

KAPITEL II

Die Kinder im Blick: Bedürfnisse und Lebenslagen

1. Alterstypische Lebensthemen und Bedürfnisse von „Großen Kindern“ und ihre Bedeutung für die Entwicklung(Oggi Enderlein)

1.1. Bedürfnisse als Motor für die gute und gesunde Entwicklung des Menschen

1.2 Worum geht es im Alter zwischen etwa 6 und 12 Jahren und was hat das mit einer guten, gesunden Entwicklung zu tun?

1.3 Was können Betreuungs- und Bildungseinrichtungen tun?

Exkurs: Psychosexuelle Entwicklung und Sexualität im späten Kindesalter(Beate Martin)

2. Lebenslagen von Kindern in der mittleren und späten Kindheit(Frauke Mingerzahn)

2.1 Versorgungs- und Einkommensspielraum

2.2 Lern- und Erfahrungsspielraum

2.3 Kontakt- und Kooperationsspielraum

2.4 Muße- und Regenerationsspielraum

2.5 Dispositions- und Partizipationsspielraum

2.6 Sozialbindungsspielraum

2.7 Geschlechterrollenspielraum

2.8 Schutz- und Selbstbestimmungsspielraum

2.9 Fazit

3. Veränderte Kindheit unter Pandemiebedingungen – Was bedeutet das für den Ganztag?(Ursula Winklhofer)

3.1 Folgen der Corona-Pandemie

3.2 Ganztag gestalten vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Pandemie

3.3 Ausblick

4. Ganztagsschule in der Einwanderungsgesellschaft – Kinder mit Zuwanderungsgeschichte zwischen Risiko und Ressource

(Sibylle Fischer)

4.1 Bildung im Kontext von Migration

4.2 Gesellschaftliche Vorurteile

4.3 Selbstwirksamkeit stärken

4.4 Vielfalt und Verschiedenheit als Ressource begreifen

KAPITEL III

Leiten, organisieren und planen

1. Rolle und Aufgaben der Führungsperson(Ulrike Glöckner)

1.1 Die Bedeutung von Leitung und Führung in Einrichtungen zur Bildung und Betreuung von Kindern im Grundschulalter

1.2 Die Rolle der pädagogischen Fachkraft – ein Spannungsfeld

1.3 Aufgaben und Ziele erfüllen

1.4 Mitarbeitende führen

1.5 Zusammenarbeit gestalten – das Team entwickeln

1.6 Die Organisation entwickeln

1.7 Selbstführung

1.8 Fazit

Die Autorinnen und Autoren

Vorwort

von Rainer Strätz

Die Zeit zwischen der Einschulung und dem Beginn der Pubertät ist für jedes Kind ein wichtiger Lebensabschnitt mit vielen Entwicklungsschritten, Herausforderungen und auch Enttäuschungen. Ihm stellen sich zentrale Entwicklungsaufgaben, bei deren Bewältigung es Unterstützung, Bestätigung und – wenn nötig – Hilfe braucht. Das betrifft alle drei Facetten der Persönlichkeitsbildung: Die Auseinandersetzung mit den Dingen, mit anderen und mit sich selbst.

Zur Auseinandersetzung mit den Dingen gehören in diesem Alter nicht nur das Erlernen der Kulturtechniken, sondern ebenso eine andere Art des Fragens, eine neue Form der Leistungsbereitschaft und der Hartnäckigkeit sowie die Entwicklung von Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung. Zugleich beschleunigen sich die Entwicklung des moralischen Denkens und die Suche nach tragfähigen Wertvorstellungen und Begründungen für menschliches Handeln.

Die Auseinandersetzung mit den anderen wird forciert durch den deutlich größeren Stellenwert der Gruppe der Gleichaltrigen – nicht dazuzugehören ist die „Höchststrafe“. Ein gleichberechtigtes Aushandeln von Interessen mit den anderen Kindern und ein konstruktiver Umgang mit Meinungsverschiedenheiten und Konflikten müssen mühsam erlernt werden.

Zur Auseinandersetzung mit sich selbst gehören die Entwicklung eines angemessenen Selbstbildes, eine realistische Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und ein konstruktiver Umgang mit den eigenen Stärken und Schwächen, die Entwicklung einer psychosexuellen Identität und einer Auffassung von Geschlechtsrollen, und nicht zuletzt ein angemessener Umgang mit eigenen Gefühlen und den Gefühlen anderer. Während Kleinkinder sich selbst alle möglichen Fähigkeiten zuschreiben und zumindest Entwicklungsoptimisten sind („Später einmal werde ich alles wissen, können und haben“), fangen ältere Kinder an zu vergleichen und (selbst-)kritisch auch Grenzen zu reflektieren – und dabei können die ersten Narben entstehen. Deswegen sind sie verletzlich, deswegen brauchen und suchen sie glaubhafte Orientierungen und Vorbilder.

Es ist überraschend, dass diese entwicklungspsychologisch wie pädagogisch so interessante Lebensphase in der Forschung wie auch in der (fach-)politischen Auseinandersetzung seit jeher deutlich weniger Aufmerksamkeit erfährt als die Lebensphasen davor und danach. Das zeigen die Ausbildungs- bzw. Studienschwerpunkte, die Fortbildungsangebote und die Forschungsprojekte, aber auch sehr anschaulich ein Blick auf die verfügbare Literatur: Wenn eine Stadtbibliothek zur frühen Kindheit ein ganzes Regal gefüllt mit Literatur zum Thema bereithält und zum Jugendalter ein halbes, finden sich zur Lebenszeit zwischen sechs und zehn Jahren nur wenige Bücher – wahrscheinlich die „Klassiker“ von Dieter Baacke und Lothar Krappmann.

Die Missachtung einer ganzen Lebensphase beginnt schon mit der bislang fehlenden Namensgebung: Es gibt keinen griffigen, eingeführten Namen für diese Zeit. Während von der „frühen Kindheit“ und vom „Kleinkind“ ganz selbstverständlich gesprochen wird, gilt dies weder für „Großkind“ noch für „späte Kindheit“. Der Begriff „Schulkind“ wiederum reduziert den Fokus auf einen, wenn auch wichtigen Teilaspekt der Lebenswelt des betreffenden Kindes.

Zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind viele Eltern auf Angebote für ihre Kinder angewiesen, die über den Unterricht in der in Deutschland bisher üblichen Halbtagsschule hinausgehen; bisher gibt es auf diese Angebote aber keinen Rechtsanspruch. Ein reines Betreuungsangebot reicht zudem nicht aus, denn zur Bewältigung ihrer Entwicklungsaufgaben brauchen die Kinder darauf zugeschnittene Bildungs- und Erziehungsangebote, brauchen weit mehr als Unterricht. Das klassische Bildungsangebot der Jugendhilfe war bzw. ist der Hort, inzwischen kommt vielerorts der „Offene Ganztag“ hinzu, der an Schulen angesiedelt ist, aber von Jugendhilfeträgern durchgeführt und ausgestaltet wird. In beiden Fällen reicht ein mehr oder weniger geregeltes Nebeneinander nicht aus – es kommt auf die konzeptionelle Verzahnung und eine enge Kooperation an. Zusätzlich finden laufende Veränderungen im Selbstverständnis von Grundschulen sowie konzeptionelle Veränderungen in der Unterrichtsgestaltung und in der Gestaltung des Schullebens statt.

Das Ergebnis der bisherigen Bemühungen ist bundesweit betrachtet bisher ein Patchwork unterschiedlicher Angebots- und Organisationsformen – im Gegensatz zu den Tageseinrichtungen für Kleinkinder mit einem soliden Grundstock an konzeptionellen Gemeinsamkeiten. Deshalb ist es auch kein Wunder, dass Fragen der Qualität bei den Angeboten für Kinder zwischen sechs und zehn Jahren schwieriger zu behandeln sind: Zwar lassen sich viele Prozesse im Qualitätsmanagement ohne weiteres aus anderen Institutionsformen übernehmen, aber die Konzeptqualität lässt sich nur dann evaluieren und sichern, wenn die jeweils zugrundeliegenden Ziel- und Wertvorstellungen offengelegt und diskutiert wurden. Dies fehlt noch weitgehend und es ist kein Wunder, dass auch die Fragen der pädagogischen Qualität für diese Angebote bisher nicht so intensiv angegangen worden sind wie für andere. Deshalb ist der Herausgeberin, den Autorinnen bzw. Autoren und dem Verlag sehr dafür zu danken, dass sie dieses wenig bearbeitete Arbeits- und Problemfeld erneut angehen.

Die (selbst-)kritische Auseinandersetzung mit der pädagogischen Qualität, beginnend mit ihrer Definition, ist primär Leitungsaufgabe – die Leitung muss und soll zwar nicht alles tun, muss aber jederzeit die Fäden in der Hand behalten und die Prozesse verlässlich „managen“. Das Wort „Management“ hat zwar in vielen pädagogischen Institutionen keinen guten Klang, weil es nach schematischem Vorgehen klingt. Aber es geht in der Pädagogik nicht nur um Konzepte und um Möglichkeiten der Zielfindung und -priorisierung, sondern ebenso ganz schlicht um Fragen der Organisation, um nicht nur das Richtige zu tun, sondern das Richtige auch effizient zu tun.

Ich wünsche daher nicht nur der Reihe insgesamt, sondern speziell dem ersten Band zum Leiten, Führen und Managen eine zahlreiche Leserschaft und dieser einen großen fachlichen Gewinn bei der Lektüre.

Einleitung

von Manja Plehn

Im Jahr 2020 nutzten rund 1,6 Millionen Kinder eines der verschiedenen Angebote zur Betreuung nach dem Unterricht im Rahmen der Ganztagsgrundschule bzw. im Hort (Autorengruppe Fachkräftebarometer 2021: 91). Verlässliche Zahlen über die Anzahl der Kinder in außerunterrichtlichen Einrichtungen zur Erziehung, Bildung und Betreuung der Kinder im Grundschulalter wie auch über die Personen, die dort arbeiten, geben die Statistiken kaum her. Dennoch wird deutlich: Für das Praxisfeld „Angebote für Schulkinder in Tageseinrichtungen“ ist damit eine bedeutende quantitative Entwicklung zu verzeichnen.

Durch den Rechtsanspruch auf ganztägige Bildung und Betreuung für Kinder im Grundschulalter, der ab 2026 in den Bundesländern schrittweise umgesetzt werden soll, kommt nun Bewegung in die fachpolitische Debatte. Diese wurde bisher familienpolitisch auf die Betreuungslücke zwischen Schule und Heimkommen der Eltern reduziert und den Einrichtungen, die keine Horte sind, wurde lediglich ein Betreuungsauftrag erteilt. Doch die Trennung zwischen schulischem Lernen am Vormittag und betreutem Spaß- und Freizeitangebot am Nachmittag, die bisher das je unterschiedlich ausgeprägte Ganztagsangebot in den verschiedenen Bundesländern eint, erweist sich als defizitär. Wertvolle Chancen des Ganztags bleiben ungenutzt, wenn es nicht gelingt, ein ganztägiges Bildungsangebot zu schaffen, das Kinder in ihrer Entwicklung stärkt und begleitet. Um den umfassenden Betreuungs- und Bildungsauftrag von pädagogisch tätigen Personen im Ganztag zu unterstreichen, verwenden wir in diesem Band den Begriff Schulkindbegleitung.

Mit diesem Band soll ein Beitrag zur qualitätvollen Professionalisierung der außerunterrrichtlichen Angebote für Kinder im Grundschulalter angeboten werden. Professionalisierung erfordert die Auseinandersetzung mit theoretischen Ansätzen und Forschungsergebnissen der seriösen Kindheits- und Jugendforschung und den Transfer in das pädagogische Handeln.

Der vorliegende Band „Grundlagen zum Leiten, Führen, Managen“ versammelt einschlägiges und breites Grundlagenwissen. Fachlich versierte Autorinnen und Autoren beantworten in den Beiträgen folgende Fragen:

• Welche zentralen Begriffe werden benutzt und was bedeuten sie? Welche Eckdaten über die nutzenden Kinder, die Einrichtungsformen und das pädagogische Personal gibt es? (→ Kap. I.1, Manja Plehn)

• Wie können Hort und Ganztagsschule mit einem je eigenen und einem gemeinsamen komplementären Bildungsauftrag verstanden werden? Was bedeutet das für das Selbstverständnis des Hortes und außerunterrichtlicher ganztägiger Angebote? (→ Kap. I.2, Manja Plehn)

• Was bedeutet der Begriff Qualität? Welche Konzepte gibt es zur Qualität in Tageseinrichtungen für Schulkinder? Welche Forschungsergebnisse gibt es zur „offenen Betreuung“? (→ Kap. I.3, Manja Plehn)

• Welche rechtlichen Grundlagen für die Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern im Hort gibt es im Bundes-, Landesrecht sowie auf der kommunalen Ebene? Welches sind Rechtsgrundlagen zur Kooperation von Kinder- und Jugendhilfe mit der Schule, des Schutzauftrages bei Kindeswohlgefärdung und bei der Aufsichtspflicht in Horten? Was genau bedeutet der Gesetzesanspruch? (→ Kap. I.4, Reinhard Joachim Wabnitz)

• Welche rechtlichen Rahmenbedingungen gibt es in der Ganztagsschule, z. B. zur Struktur der Kommunen als Träger von Angeboten, zu Weisungsverhältnissen und zur Qualität der Angebote? Welche Antworten gibt es auf alltagspraktische Fragen, z. B. zu Formen der Aufsicht im schulischen Kontext? (→ Kap. I.5, Martin Haendl)

• Welche alterstypischen Lebensthemen und Bedürfnisse haben sogenannte „Große Kinder“? Welche Bedeutung hat die psychosexuelle Entwicklung in der späten Kindheit? Welche Entwicklungspotenziale haben Hort, Schule und Ganztag? (→ Kap. II.1, Oggi Enderlein & Beate Martin)

• In welchen verschiedenen Lebenslagen können sich Kinder im Grundschulalter und ihre Familien befinden? Was kann das für eine pädagogische Einrichtung bedeuten? Wie hat die Corona-Pandemie die Lebenslagen der Kinder verändert? (→ Kap. II.2, Frauke Mingerzahn)

• Wie lässt sich der Ganztag gestalten vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Pandemie? Welche Probleme und Chancen ergeben sich für das pädagogische Handeln? (→ Kap. II.3, Ursula Winklhofer)

• Welche Risiken haben Kinder mit Zuwanderungsgeschichte im deutschen Bildungssystem? Wo können pädagogische Fachkräfte konkret ansetzen, um Bildungsungleichheiten zu reduzieren? (→ Kap. II.4, Sibylle Fischer)

• Welches sind Kompetenzen zur Leitung von Einrichtungen für Grundschulkinder? Welches Grundlagenwissen befähigt zum Führen und Managen dieser Einrichtungen? (→ Kap. III.1, Ulrike Glöckner)

In diesem Band soll das Kind als Subjekt im Mittelpunkt stehen. Dieser institutionenübergreifende Anspruch ist sicherlich anspruchsvoll. Aber wenn sich Einrichtungen an den entwicklungsspezifischen Bedürfnissen und Themen der Kinder orientieren und nicht etwa an den Rahmenbedingungen und Grenzen der Institutionen, können sie viele der Chancen nutzen, die Mädchen und Jungen gemeinsam ganzheitlich zu unterstützen.

Bei den außerunterrichtlichen Angeboten für Kinder im Grundschulalter geht es nicht nur um Hausaufgabenbetreuung oder um einen Platz, der die Zeitlücke in der Beaufsichtigung des Kindes aufgrund der erwerbsbedingten Abwesenheit der Eltern schließen soll. Es geht – zumindest vom pädagogischen Anspruch her – um ein umfassendes Angebot der Entwicklungsbegleitung, Bildung und Betreuung der nachwachsenden Generation – unabhängig von der jeweiligen Form der Organisation.

Liebe Leserinnen und Leser, ich wünsche Ihnen viele Anregungen und Inspirationen, die Qualität der Rahmenbedingungen und der Angebote für Kinder neu zu betrachten und weiterzuentwickeln.

1. Horte und Formen der Ganztagsschule: Begriffe, Eckdaten zu Nutzung und Personal, Entwicklungen

von Manja Plehn

Wollen Eltern ihre Kinder im Grundschulalter über die Unterrichtszeit hinaus betreut wissen, stehen in Deutschland verschiedene Formen der Versorgung zur Verfügung. So gibt es Horte, Schulen mit freiwillig nutzbarem Ganztagsangebot und Ganztagsschulen in verpflichtender Form. Zwischen diesen Organisationsformen gibt es zahlreiche Unterschiede. Dennoch gibt es auch gemeinsame Schnittmengen: Die Bereitstellung eines hochwertigen Angebots zur institutionellen Bildung, Betreuung, Erziehung sowie der Begleitung der Entwicklung der anvertrauten Kinder im Grundschulalter.

1.1 Begriffe: Hort und Ganztagsschule

1.1.1 Hort

Definition

Tageseinrichtungen gelten als „Einrichtungen, in denen sich Kinder für einen Teil des Tages oder ganztags aufhalten“. Dazu zählen neben Kinderhorten auch Kindergärten, Kinderkrippen, Krabbelstuben und Einrichtungen mit Gruppen anderer Altersstrukturen (z. T. Einrichtungen mit altersgemischten Gruppen oder auch Kinderhäuser) sowie Integrationseinrichtungen. Entscheidend ist nicht die Bezeichnung der Einrichtung, sondern ein tägliches regelmäßiges Angebot, das nicht nur der Unterbringung (Betreuung, Verwahrung), sondern der Förderung der Entwicklung des Kindes dient und nicht der Schulverwaltung zugeordnet ist wie z. B. Schulkindergärten, Vorschulklassen, Vermittlungsgruppen oder Eingangsstufen (vgl. Münder et al. 2018: 304). Einrichtungen für Kinder im Grundschulalter gibt es eigens nur für diese Alterspanne (reine Horte), gemischt oder kombiniert mit Krippen und Kindergärten, im Verbund mit anderen Angeboten oder in der Kindertagespflege. Alle Formen gehören als Kindertagesbetreuung zum System der Kinder- und Jugendhilfe und sind dem Sozialministerium des jeweiligen Bundeslandes unterstellt. Eine Ausnahme davon bildet Thüringen, wo der „Hort an der Schule“ dem Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport unterstellt ist. Die deutsche Kinder- und Jugendhilfe soll im Wesentlichen die Lebensqualität von Kindern und ihren Familien sichern.

Der Auftrag des Hortes

→ Kap. I.4

Wozu gibt es Horte? Warum und zu welchem Zweck? Aufgaben und Auftrag von Horten basieren auf einer gesamtgesellschaftlichen Einigung, sie sind in den Gesetzen auf den verschiedenen Ebenen (Bund, Länder) formuliert.

Folgende Aufgaben des Hortes, aus denen sich sein Auftrag ergibt, sind in Deutschland übereinstimmend festgelegt:

• Die im Wesentlichen soziale, emotionale, körperliche und geistige Entwicklung des Kindes zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu fördern,

• die Erziehung und Bildung in der Familie zu unterstützen und zu ergänzen,

• den Eltern dabei zu helfen, Erwerbstätigkeit und Kindererziehung besser miteinander vereinbaren zu können.

Die Förderung muss sich dabei am Alter und am Entwicklungsstand, den sprachlichen und sonstigen Fähigkeiten, der Lebenssituation sowie den Interessen und Bedürfnissen des einzelnen Kindes orientieren und auch seine ethnische Herkunft berücksichtigen (§ 22 Absatz 2 SGB VIII).

In der Praxis allerdings waren und sind die jeweils gewünschten Anteile von Bildung, Erziehung und Betreuung strittig und der Hort zeigt sich unentschieden zwischen Schutzfunktion (Bewahrung, Betreuung), Integrationsfunktion (Erziehung) und Qualifikationsfunktion (Bildung) (vgl. MBJS 2016: 8–11).

Dennoch: Der Hort erfüllt seinen Auftrag zum Wohle der Kinder. Der Hort ist somit parteiisch – in erster Linie für das Kind.

Der sozialpädagogische Förderauftrag des Horts

Zusammen bilden die oben genannten zentralen Aufgaben den speziellen Förderauftrag des Hortes. Dieser ist sozialpädagogisch – und unterscheidet sich somit vom schulpädagogischen Bildungsauftrag und ist von diesem abzugrenzen.

Der Hort unterliegt dem Gebot der Anwendung eigener sozialpädagogisch begründeter Fachlichkeit, verfügt über eigene Grundlagen, eigene Aufgaben, eigene Inhalte und eigene Methoden – einschließlich der darin enthaltenen Abgrenzung von schulpädagogischer Fachlichkeit (vgl. MBJS 2016: 11). Der Hort erfüllt seinen spezifisch sozialpädagogischen eigenen Auftrag als Teil der Jugendhilfe. Dieser ergänzt den Auftrag der Familie und den der Grundschule. Der Hort tritt daher als dritte Institution neben Schule und Familie mit einem eigenen Auftrag (vgl. MBJS 2016: 8–11).

Pädagogisches Handeln im Hort

Merkmale und Voraussetzungen

Das pädagogische professionelle Handeln allgemein, aber auch im Hort, ist von folgenden Merkmalen gekennzeichnet (vgl. Hof 2009: 147–161). Es

• bezieht sich auf eine gesellschaftlich als notwendig erachtete, abgegrenzte Aufgabe,

• orientiert sich systematisch am fachlichen Wissen,

• verwendet spezifische Handlungsweisen und Methoden,

• beruht auf einer klaren Rollendefinition,

• ist definiert durch ein institutionelles Handlungsmuster,

• beruht auf angemessenen, individuellen Voraussetzungen (Dispositionen), Haltungen, personalen Kompetenzen und Verhaltensweisen.

Dies erfordert

• Kenntnis der aktuellen Fachdiskurse einschließlich ihrer Grundlagen aus verschiedenen Fachdisziplinen und dem Recht,

• Fähigkeit zur Integration der verschiedenen Anforderungen zu ihrer organisatorischen Umsetzung und in ihrem Handeln (vgl. Pesch 2015).

Orientierungspunkte: Die Bildungs- und Erziehungspläne der Bundesländer

In allen Bundesländern sind (unterschiedlich verbindlich geregelte) Orientierungen zur Arbeit mit Kindern in Tageseinrichtungen vorgegeben, die sogenannten Bildungs- und Erziehungspläne, Leitlinien, Grundsätze – die Namen variieren je nach Bundesland. Diese enthalten Hinweise auf pädagogische Grundsätze, das Verständnis z. B. von Entwicklung oder Bildung, das Bild vom Kind etc. Die Bildungs- und Erziehungsleitlinien sind unterschiedlich ausdifferenziert – die unten aufgeführten (7 von insgesamt 16, Stand November 2020) beziehen sich explizit auf Kinder im Grundschulalter:

• Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder von 0 bis 10 Jahren in Hessen (20199)

• Thüringer Bildungsplan bis 18 Jahre. Bildungsansprüche von Kindern und Jugendlichen (2015)

• Bausteine für die Konzeption der Horte im Land Brandenburg (2016)

• Bildungskonzeption für 0- bis 10-jährige Kinder in Mecklenburg-Vorpommern (2011)

• Grundsätze zur Bildungsförderung für Kinder von 0 bis 10 Jahren in Kindertagesbetreuung und Schulen im Primarbereich in Nordrhein-Westfalen (20182)

• Der sächsische Bildungsplan. Ein Leitfaden für pädagogische Fachkräfte in Krippen, Kindergärten und Horten sowie für Kindertagespflege (2012)

• Bildungsprogramm für Kindertageseinrichtungen in Sachsen-Anhalt (2014)

Die Rahmenpläne sind keine abgeschlossenen Werke, sondern werden gelegentlich überarbeitet.

Diese Rahmenpläne haben meist zum Ziel, den Bildungs- und Erziehungsauftrag zu konkretisieren, Bereiche, in denen Kinder sich bilden, zu beschreiben und drittens Anforderungen zu beschreiben, die der Bildungsarbeit zugrunde liegen. Die Umsetzung der Pläne kann und muss jede Einrichtung selbst spezifizieren.

Es ist positiv zu betonen, dass die Ministerien einiger Bundesländer schulpädagogische und sozialpädagogische Einrichtungen für Kinder im Grundschulalter in ihren Bildungsplänen berücksichtigen. Damit erkennen sie das Recht der Kinder auf Bildung an und unterstützen die Praxis bei deren Umsetzung. Wünschenswert, ja gar erforderlich ist dies für alle Bundesländer.

1.1.2 Ganztagsschulen

Rasanter Schulentwicklungsprozess

Seit Beginn der 2000er-Jahre entstanden zunehmend mehr Schulen mit Formaten ganztägiger Betreuung. Denn die Bundesregierung forcierte mit dem Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ (2003–2009) den bundesweiten Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen mit 4 Milliarden Euro. Hintergrund waren zwei Entwicklungslinien: der steigende Bedarf von Eltern nach ganztägiger Betreuung sowie die insbesondere durch die Ergebnisse der OECD-Studie PISA angeregte Diskussion über die besten Rahmenbedingungen für schulisches Lernen (vgl. KMK 2010: 4). Damit begann ein Schulentwicklungsprozess, der das deutsche Schulsystem und so auch die Bedingungen des Aufwachsens von Kindern nachhaltig verändert hat. Bereits im Jahr 2007 kam Oelerich zu der Einschätzung, dass „kaum ein anderes Thema […] innerhalb der Schule wie der Jugendhilfe durch eine derartige Entwicklungsdynamik gekennzeichnet [ist], wie sie sich zurzeit unter der Überschrift Ganztagsschule bzw. Ganztagsangebote entfaltet“ (Oelerich 2007: 13).

Die Bundesländer Berlin, Hamburg und Nordrhein-Westfalen haben sich politisch für den Ausbau der Ganztagsschulen und gegen den Ausbau der Horte entschieden. Insbesondere in ostdeutschen Ländern erfolgte in der Tradition der DDR ein starker Ausbau der Horte – zum Teil allein, zum Teil in konzeptioneller Verknüpfung mit den Schulen. In den übrigen Ländern fand ein gleichzeitiger Ausbau beider Angebotsformen statt (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016: 84).

Ausbau von Ganztagsschulen in allen Bundesländern

Zwischen 2006 und 2020 wurden die Ganztagsschulen in allen Schularten und allen Ländern ausgebaut. Die Mehrheit der Schulen stellt inzwischen Ganztagsangebote bereit. Die Formate dieser Angebote (offen oder [teil]gebunden), der Anteil der Ganztagsschulen sowie die Inanspruchnahme dieser Angebote variieren sowohl zwischen den Schularten als auch zwischen den Ländern deutlich. Der für den Grundschulbereich geringe Anteil an Ganztagsschulen, der im Ländervergleich deutlich variiert (siehe Abb. 1), hängt vor allem damit zusammen, dass einige Länder weiterhin eigenständige Hortangebote ohne Anbindung an Schulen unterbreiten. Diese werden der Kinder- und Jugendhilfe zugerechnet und eigenständig ausgewiesen, also nicht den Schulen zugeordnet (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2022: 139)

Abb. 1: Ganztagsschulen im Primarbereich und Sekundarbereich in den Schuljahren 2005/2006 und 2020/2021 nach Organisationsmodell (in %)

Quelle: Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2022: 134

Definition

Bei ihrer Definition von Ganztagsschulen berücksichtigt die Kultusministerkonferenz sowohl den Gesichtspunkt der ganztägigen Beschulung als auch den der (vormittäglichen Beschulung plus angehängter) Betreuung. Ganztagsschulen sind Schulen, bei denen

• „an mindestens drei Tagen in der Woche ein ganztägiges Angebot für die Schülerinnen und Schüler bereitgestellt wird, das täglich mindestens sieben Zeitstunden umfasst,

• an allen Tagen des Ganztagsschulbetriebs den teilnehmenden Schülerinnen und Schülern ein Mittagessen bereitgestellt wird,

• die Ganztagsangebote unter der Aufsicht und Verantwortung der Schulleitung organisiert und in enger Kooperation mit der Schulleitung durchgeführt werden sowie in einem konzeptionellen Zusammenhang mit dem Unterricht stehen“ (KMK 2021: 4–5).

Diese Definition ist kritisch zu sehen, denn sie definiert die Ganztagsschule vor allem über strukturell organisatorische Merkmale. Aussagen zu einem erweiterten Bildungsverständnis, zu inhaltlichen Gestaltungsprinzipien wie Inhalte des Angebots, sozialräumliche Einbindung der Schule, fehlen.

Formen

Offiziell werden drei Formen von Ganztagsschulen definiert (KMK 2021: 5):

• „In der voll gebundenen Form sind alle Schülerinnen und Schüler verpflichtet, an mindestens drei Wochentagen für jeweils mindestens sieben Zeitstunden an den ganztägigen Angeboten der Schule teilzunehmen.“ Unterricht und Freizeit sind über den gesamten Tag rhythmisiert und Vor- und Nachmittag stehen in einem konzeptionellen Zusammenhang. Dazu können Elemente wie z. B. ein offener Tagesanfang, Übungs- und Projektzeiten, aktive Pausenangebote, Nachmittagsangebote und freiere Lernphasen gehören.

• „In der teilweise gebundenen Form verpflichtet sich ein Teil der Schülerinnen und Schüler (z. B. einzelne Klassen oder Klassenstufen), an mindestens drei Wochentagen für jeweils mindestens sieben Zeitstunden an den ganztägigen Angeboten der Schule teilzunehmen.“ Eltern melden ihr Kind verbindlich dafür an.

• „In der offenen Form können einzelne Schülerinnen und Schüler auf Wunsch an den ganztägigen Angeboten dieser Schulform teilnehmen. Für die Schülerinnen und Schüler ist ein Aufenthalt, verbunden mit einem Bildungs- und Betreuungsangebot in der Schule, an mindestens drei Wochentagen im Umfang von täglich mindestens sieben Zeitstunden möglich“. Die offene Ganztagsschule ist eine Schule mit einem Mittagessen und einem Angebot verschiedener Elemente im Anschluss an einen unveränderten Unterrichtsvormittag (vgl. Nordt 2013: 23–26). Daher wird die offene Ganztagsschule auch als additives Modell bezeichnet, weil der übliche Unterricht kaum mit dem Nachmittagsangebot verzahnt ist und im Wesentlichen eine Betreuungsfunktion zum Auftrag hat. Das Nachmittagsangebot wird vollständig oder in Teilen von Kooperationspartnern, z. B. der Jugendhilfe oder freien Trägern der Jugendhilfe, übernommen.

Wie dieser Rahmen in der Praxis ausgestaltet wird, ist sehr unterschiedlich. Darauf verweist bereits die Vielzahl der mittlerweile verwendeten Bezeichnungen: ganztägig arbeitende Schule, Schule mit pädagogischer Mittagsbetreuung (beide Hessen), Ganztagsschulen in Angebotsform (Rheinland-Pfalz), die Tagesheimschule (z. B. in Bayern) oder auch schlicht GanzTag, die offene Ganztagsschule (NRW). Diese Einrichtungen werden in der Praxis auch schlicht als „Betreuung“ bezeichnet (Plehn 2018: 30).

Im Bildungsbericht (2022: 133) wird aufgezeigt, dass die Mehrheit der Schulen inzwischen Ganztagsangebote bereitstellt. Bei den Grundschulen halten insgesamt 70 % ganztägige Angebote bereit. Schaut man genauer hin, wird deutlich, dass 61 % dieser Angebote als Offene Ganztagsschulangebote fungieren. Echte, also gebundene und damit verbindliche und rhythmisierte Ganztagsschulen, gibt es bei 2 % aller Grundschulen im Bundesgebiet (siehe Abb. 2).

Der Bildungs- und Erziehungsauftrag der Grundschule

Wie sozialpädagogische Einrichtungen ihren Auftrag über ein Gesetz erhalten (SGB VIII), so erhält auch die Grundschule ihren Auftrag über ein Gesetz: die in den jeweiligen Bundesländern gültigen Schulgesetze. Im Folgenden wird beispielhaft der Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule nach dem Hessischen Schulgesetz (HSchG) vorgestellt:

Schulen sind demnach Bildungseinrichtungen, in denen allgemeinbildender Unterricht erteilt wird und Erziehungsziele verfolgt werden. Sie erfüllen einen Bildungsauftrag. Sie tragen dazu bei, dass Kinder ihre Persönlichkeit in der Gemeinschaft entfalten können.

Abb. 2: Ganztagsschulen in der Grundschule in öffentlicher und freier Trägerschaft 2006 und 2021 nach Organisationsmodell

Quelle: Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2022: 133 f. und Tabelle D 3-1 im web

Bildungs- und Erziehungsauftrag der Grundschule nach dem HSchG

Die Schulen sollen die Schülerinnen und Schüler befähigen,

1. die Grundrechte für sich und andere wirksam werden zu lassen, eigene Rechte zu wahren und die Rechte anderer auch gegen sich selbst gelten zu lassen,

2. staatsbürgerliche Verantwortung zu übernehmen und sowohl durch individuelles Handeln als auch durch die Wahrnehmung gemeinsamer Interessen mit anderen zur demokratischen Gestaltung des Staates und einer gerechten und freien Gesellschaft beizutragen,

3. die christlichen und humanistischen Traditionen zu erfahren, nach ethischen Grundsätzen zu handeln und religiöse und kulturelle Werte zu achten,

4. die Beziehungen zu anderen Menschen nach den Grundsätzen der Achtung und Toleranz, der Gerechtigkeit und der Solidarität zu gestalten,

5. die Gleichberechtigung von Mann und Frau auch über die Anerkennung der Leistungen der Frauen in Geschichte, Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft zu erfahren,

6. andere Kulturen in ihren Leistungen kennenzulernen und zu verstehen,

7. Menschen anderer Herkunft, Religion und Weltanschauung vorurteilsfrei zu begegnen und somit zum friedlichen Zusammenleben verschiedener Kulturen beizutragen sowie für die Gleichheit und das Lebensrecht aller Menschen einzutreten,

8. die Auswirkungen des eigenen und gesellschaftlichen Handelns auf die natürlichen Lebensgrundlagen zu erkennen und die Notwendigkeit einzusehen, diese Lebensgrundlagen für die folgenden Generationen zu erhalten, um der gemeinsamen Verantwortung dafür gerecht werden zu können,

9. ihr zukünftiges privates und öffentliches Leben sowie durch Maßnahmen der Berufsorientierung ihr berufliches Leben auszufüllen, bei fortschreitender Veränderung wachsende Anforderungen zu bewältigen und die Freizeit sinnvoll zu nutzen.

Die Schule soll den Schülerinnen und Schülern die dem Bildungs- und Erziehungsauftrag entsprechenden Kenntnisse, Fähigkeiten und Werthaltungen vermitteln. Die Schülerinnen und Schüler sollen insbesondere lernen,

1. sowohl den Willen, für sich und andere zu lernen und Leistungen zu erbringen, als auch die Fähigkeit zur Zusammenarbeit und zum sozialen Handeln zu entwickeln,

2. eine gleichberechtigte Beziehung zwischen den Geschlechtern zu entwickeln,

3. Konflikte vernünftig und friedlich zu lösen, aber auch Konflikte zu ertragen,

4. sich Informationen zu verschaffen, sich ihrer kritisch zu bedienen, um sich eine eigenständige Meinung zu bilden und sich mit den Auffassungen anderer unvoreingenommen auseinandersetzen zu können,

5. ihre Wahrnehmungs-, Empfindungs- und Ausdrucksfähigkeiten zu entfalten und

6. Kreativität und Eigeninitiative zu entwickeln.

Zur Verwirklichung ihres Bildungs- und Erziehungsauftrags entwickeln die Schulen ihr eigenes pädagogisches Konzept. Jede Schule legt die besonderen Ziele und Schwerpunkte ihrer Arbeit in einem Schulprogramm fest (vgl. HSchG, § 2).

Hinweis

Auch für Einrichtungen, die Kinder im Grundschulalter entsprechend dem sozialpädagogischen Förderauftrag aufnehmen, lohnt sich ein Blick in das Schulgesetz Ihres Bundeslandes. Wollen oder müssen Sie gar die Kooperation mit der Grundschule entwickeln, ist eine zumindest kursorische Lektüre des Gesetzes unabdingbar.

Über Spezifika der Ganztagsschule in den Bundesländern informiert der deutsche Bildungsserver auf seiner Website unter dem Suchbegriff „Ganztagsschule in den Bundesländern“.

1.1.3 Schulkindbetreuung – Eine Grauzone

Neben dem traditionellen Hort und den Formen von Ganztagsangeboten gibt es Einrichtungsformen, die weder den Vorschriften des SGB VIII noch den Schulgesetzen unterliegen. Denn sie sind weder Hort noch Ganztagsschulangebot. Sie werden bezeichnet als Schulbetreuung, Schulkindbetreuung oder schlicht Betreuung. Ihr Auftrag erstreckt sich eher auf die Beaufsichtigung und Versorgung der Kinder (Schutzfunktion). Einen gesetzlichen Bildungsauftrag haben diese Einrichtungsformen nicht. Die Träger sind z. B. Kirchen, Wohlfahrtsverbände oder kleinere und größere Träger der freien Wohlfahrt, die Schule oder der Schulträger oder Vereine (Schulfördervereine, Elternvereine).

Eltern schließen direkt mit dem Träger einen Vertrag über die Betreuung ihres Kindes ab. Gemäß § 45 Abs. 2 Nr. 1 SGB VIII braucht jeder Träger einer Einrichtung, in der Kinder ganztägig oder für einen Teil des Tages betreut werden, eine Betriebserlaubnis, um den Schutz der betreuten Kinder sicherzustellen. In der Praxis jedoch wird von diesen Einrichtungen keine Betriebserlaubnis verlangt. Der Standard des SGB VIII ist für die Formen der Schulkindbetreuung nicht verbindlich – auch nicht die Qualitätsvorgaben der Ganztagsschulen. Insofern befinden sie sich in einer „Grauzone“ (Plehn 2018: 30).

Welche Betreuung vor Ort jeweils angeboten wird, hängt auch von den Schulträgern ab, also von Landkreisen, Städten und Gemeinden. Diese Vielfalt wird zuweilen als „Dickicht“ (Schmidt-Lunau 2017: 3) oder als „Chaos“ (Handke 2016: 1) bezeichnet.

1.2 Eckdaten zu Nutzung und Personal

1.2.1 Nutzung durch die Kinder

Der Ausbau schulischer und schulnaher Ganztagsangebote wurde von der Annahme getragen, dass die zuvor bereits bestehenden Hortangebote in den ganztagsschulischen Angeboten aufgehen oder durch schulnahe Angebote ersetzt werden. Diese Entwicklung hat sich jedoch nicht in allen Ländern vollzogen – vielmehr stiegen Ausbau und Inanspruchnahme in beiden Angebotsformen (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2022: 135). Mit dem Ausbau von Ganztagsangeboten hat sich deren Nutzung und die von Horten deutlich verschoben, wenn auch sehr unterschiedlich, je nach Bundesland. Die aktuellsten Daten zeigen, dass im Schuljahr 2020/21 mehr als 1,6 Millionen Kinder Grundschulen mit ganztagsschulischen Angeboten oder einer Übermittagsbetreuung besuchten. Also nutzen seit dem Schuljahr 2005/06 etwa eine Million zusätzliche Grundschulkinder ein entsprechendes Angebot – bei deutlichen Länderunterschieden. Zudem besuchten mehr als 488.000 Grundschulkinder im März 2021 einen Hort. Fünfzehn Jahre vorher waren es noch ca. 340.000 Kinder. Inzwischen nutzt mehr als jedes zweite Grundschulkind ein Ganztagsangebot (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2022: 133). Die Abbildung 3 gibt einen Überblick über die Anteile von Kindern im Grundschulalter in Hortund Ganztagsschulangeboten 2020/21.

Bislang liegt der in der KMK-Statistik festgeschriebene Mindestumfang eines Ganztagsangebots bei drei Werktagen à sieben Zeitstunden (KMK 2021: 19–21). Der 2021 verabschiedete künftige Rechtsanspruch (GaFög 2021) sieht einen Zeitrahmen von acht Zeitstunden an fünf Werktagen pro Woche vor (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2022: 134 f.).

Wenn immer mehr Mädchen und Jungen ganztägig (sozial-)pädagogische Institutionen besuchen, bringt dies neue Herausforderungen sowohl für das Aufwachsen von Kindern als auch für die Einrichtungen mit sich.

Abb. 3: Überblick über die Anteile von Kindern im Grundschulalter in Hortund Ganztagsschulangeboten 2020/21 nach Ländern (in %)

Quelle: vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2022: 135, D3-4web

1.2.2 Personal in Hort und Ganztagsschule

Statistiken fehlen

Das Bildungspersonal nimmt eine Schlüsselrolle bei der erfolgreichen Gestaltung von Bildungsprozessen ein (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2022: 61).

Für die Ganztagsschulen ist allerdings bislang nicht bekannt, wie viele und welche Fachkräfte neben den Lehrkräften in den außerunterrichtlichen Angeboten tätig sind. Dafür stehen weder entsprechende Statistiken zur Verfügung, noch wurden in der Regel Mindeststandards formuliert (ebd.: 256). Laut Fachkräftebarometer Frühe Bildung 2021 arbeiteten im Jahr 2020 schätzungsweise rund 96.000 Personen in Horten, altersgemischten Kindertageseinrichtungen und Grundschulen im Ganztag für Grundschulkinder (Autorengruppe Fachkräftebarometer 2021: 93).

In Ganztagsschulen lässt sich das Personal in drei Gruppen unterteilen: in Kräfte, die neben dem Unterricht auch in den Ganztagsbetrieb eingebunden sind, in weitere, nichtunterrichtende pädagogisch Tätige sowie in ehrenamtlich Engagierte. Nach der Schulleitungsbefragung in StEG 2015 sind Lehrkräfte bundesweit in mehr als vier von fünf Ganztagsgrundschulen in den Ganztagsbetrieb eingebunden. Das weitere pädagogische Personal, das in 92 % der Ganztagsgrundschulen eingesetzt wird, ist viel heterogener. Aber über die Art und den Grad der Qualifikationen dieser Personen gibt es keine Statistik. Dabei darf nicht ignoriert werden, dass ein hoher Anteil nicht-pädagogisch qualifizierter Kräfte in den Einrichtungen zu einer „schleichenden pädagogischen Deprofessionalisierung“ führt (Neuß 2017: 16).

Aufgrund der demografischen Entwicklung, der noch nicht erfüllten Elternwünsche und angesichts des inzwischen beschlossenen Rechtsanspruchs ergeben aktuelle Schätzungen bis zum Schuljahr 2029/30 einen zusätzlichen Personalbedarf für Ganztagsangebote im Grundschulalter von bundesweit zwischen 43.500 und 58.200 Fachkräften (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2022: 318).

1.3 Entwicklungen

1.3.1 Betreuungsbedarfe von Eltern

In der Kinderbetreuungsstudie U15 des Deutschen Jugendinstituts gaben 2021 mehr als die Hälfte der befragten Eltern mit Grundschulkindern an, dass ihr Kind einen Hort, eine Ganztagsschule oder eine Übermittagsbetreuung nutzt. Allerdings weicht das verfügbare Betreuungsangebot in der Mehrzahl der Länder von den Elternwünschen ab: Nur in Sachsen, Thüringen, Brandenburg und Hamburg stimmt es mit den Betreuungswünschen überein. Deutschlandweit gaben 9 % der Eltern an, eine institutionelle Betreuung ihrer Kinder zu wünschen, aber keinen Platz erhalten zu haben. Das sind derzeit immerhin etwa 200.000 fehlende Plätze für Grundschulkinder. Aufgrund der mangelnden Datenlage bleibt unklar, ob die aktuell genutzten Angebote in ihrem jeweiligen zeitlichen Umfang und in ihrer Verlässlichkeit für die Eltern ausreichend sind. In jedem Fall sind weitere Ausbaubemühungen erforderlich (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2022: 136 f.).

1.3.2 Rechtsanspruch auf ganztägige Bildung und Betreuung

Im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD (2018) war festgehalten worden, dass für alle Kinder im Grundschulalter ganztägige Bildungs- und Betreuungsangebote ermöglicht werden sollen. Im Oktober 2021 wurde das Gesetz zur ganztägigen Förderung von Kindern im Grundschulalter (Ganztagsförderungsgesetz – GaFöG) verabschiedet und ein Rechtsanspruch im SGB VIII geschaffen. Der Anspruch soll ab 2026 stufenweise umgesetzt werden. Die Bundesregierung stellt für Investitionen an den Schulen und eine laufende Beteiligung an den Betriebskosten 3,5 Milliarden Euro zur Verfügung.

2018 war im Koalitionsvertrag festgehalten worden, der Bund wolle „auf Flexibilität achten, bedarfsgerecht vorgehen und die Vielfalt der in den Ländern und Kommunen bestehenden Betreuungsmöglichkeiten der Kinder- und Jugendhilfe und die schulischen Angebote berücksichtigen und darauf aufbauen“ (Koalitionsvertrag 2018: Zeilen 1147–1161). Außerdem findet sich der Hinweis, die Ganztagsbetreuung von Grundschulkindern sei „nur umsetzbar, wenn die erforderlichen Fachkräfte zur Verfügung stehen“ (Koalitionsvertrag 2018: Zeilen 744 f.). Doch im GaFöG sind keine (Mindest)Anforderungen an die Qualifikation des Personals festgeschrieben. Auch die bestehenden Betreuungsmöglichkeiten der Kinder- und Jugendhilfe und die schulischen Angebote finden keine Berücksichtigung. Damit wurde die Chance vertan, Untergrenzen für die Qualität festzulegen (vgl. Autorengruppe Fachkräftebarometer 2021: 104).

Festzuhalten ist, dass ein Anspruch auf „ganztägige Bildung und Betreuung“ gesetzlich festgeschrieben ist (GaFöG 2021: Art. 1), es also nicht nur um einen Anspruch auf Betreuung geht. Das Thema Qualität findet im Gesetz keine Berücksichtigung. Geldmittel sind allein für den quantitativen Ausbau der Angebote vorgesehen.

Literatur

(Letzter Zugriff auf alle URLs in diesem Band: 22.11.2022)

Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2016): Bildung in Deutschland 2016. Ein indikatorgestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration, Bielefeld

Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2022): Bildung in Deutschland 2022. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zum Bildungspersonal, Bielefeld

Autorengruppe Fachkräftebarometer (2021): Fachkräftebarometer Frühe Bildung 2021. Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte. München

Ganztagsförderungsgesetz – GaFöG (2021): Bundesgesetzblatt Jahrgang 2021 Teil I Nr. 71

Handke, T. (2016): Einladung zum Aktionsbündnis: „Schulkindbetreuung – nur mit Qualitätsstandard!“ (https://schuelerbetreuunghessen.webnode.page/aktionsbundnis-schulkindbetreuung-nur-mit-qualitatsstandard/)

Hof, C. (2009): Lebenslanges Lernen. Eine Einführung, Stuttgart

HSchG. Hessisches Kultusministerium: Hessisches Schulgesetz (https://www.rv.hessenrecht.hessen.de/bshe/document/jlr-SchulGHE2017V5IVZ)

KMK (2010): Allgemein bildende Schulen in Ganztagsform in den Ländern in der Bundesrepublik Deutschland. Statistik 2004 bis 2008, hrsg. vom Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland: IV D – DST 1933-4(20) (https://www.kmk.org/fileadmin/pdf/Statistik/GTS_2008.pdf)

KMK (2021): Allgemeinbildende Schulen in Ganztagsform in den Ländern in der Bundesrepublik Deutschland. Statistik 2016 bis 2020, hrsg. vom Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland: IV C – DST 1933-4(20) (https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/Statistik/Dokumentationen/GTS_2020_Bericht.pdf)

Koalitionsvertrag (2018): Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, Berlin (https://www.cdu.de/system/tdf/media/dokumente/koalitionsvertrag_2018.pdf?file=1)

MBJS – Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg (Hrsg.) (2016): Bausteine für die Konzeption der Horte im Land Brandenburg, Weimar

Münder, J.; Meysen, T. & Trenczek, T. (Hrsg.) (2018): Frankfurter Kommentar SGB VIII. Kinder- und Jugendhilfe, 8. vollständig überarbeitete Auflage, Baden-Baden

Neuß, N. (2017): Ganztagsschule und Hort heute. In: Ders. (Hrsg.): Hort und Ganztagsschule. Grundlagen für den pädagogischen Alltag und die Ausbildung, Berlin, 11–32

Nordt, G. (2013): Lernen und Fördern in der Hausaufgabenpraxis der offenen Ganztagsgrundschule in Nordrhein-Westfalen. Eine qualitative Studie aus der Perspektive der pädagogischen Kräfte und der Kinder, Internationale Hochschulschriften Bd. 583, Münster u. a.

Oelerich, G. (2007): Ganztagsschulen und Ganztagsangebote in Deutschland – Schwerpunkte, Entwicklungen und Diskurse. In: Bettmer, F.; Maykus, S.; Prüß, P; Richter, A. (Hrsg.): Ganztagsschule als Forschungsfeld. Theoretische Klärungen, Forschungsdesigns und Konsequenzen für die Praxisentwicklung, Wiesbaden, 13–43

Pesch, L. (2015): Der angebundene Drahtesel. oder: Große Kinder stets Auf Sicht! In: Theorie und Praxis der Sozialpädagogik (5), 39

Plehn, M. (2018): Hort, Schulkindbetreuung, Ganztagsangebote. Gegenwärtige und zukünftig notwendige Veränderungen. In: Durchblick. Evangelischer KITA-Verband Bayern e.V., 29–31

Schmidt-Lunau, C. (2017): Beispiel Hessen: Wie soll man sich da zurechtfinden? In: taz, Nr. 11479, 15.11.2017, 3

2. Hort und Ganztagsschule als formale und non-formale Bildungsorte. Ein komplementäres Bildungsverständnis

von Manja Plehn

Rahmenbedingungen des Aufwachsens

Traditionell war das deutsche Schulsystem durch die Halbtagsschule am Vormittag gekennzeichnet. An den Nachmittagen mussten zwar noch die Hausaufgaben erledigt werden, aber in der Regel stand den Kindern viel Freizeit zur individuellen Gestaltung zur Verfügung (Göppel 2017: 41). Mit dem Ausbau der Ganztagsschulen verändern sich die Schulen und gleichzeitig auch die Rahmenbedingungen des Aufwachsens. „Aus traditionell halbtags geöffneten Institutionen mit starker Orientierung auf die Vermittlung kulturell-wissensbasierter Kompetenzen werden Institutionen, in denen Kinder große Teile jener Zeit verbringen, die früher als Freizeit charakterisiert war“ (Deutscher Bundestag 2013: 38). Diese Entwicklung beeinflusst die Zeitstrukturen, in denen Kinder leben. Sie erhöht den Organisationsgrad ihres Lebens.

Den „ganzen“ Tag in Institutionen

Zu jenen Bedingungen des Aufwachsens, die sich in den letzten Jahren deutlich verändert haben, zählt auch die Institutionalisierung von Kindheit. Damit ist gemeint, dass Kinder heute deutlich mehr Lebenszeit in Einrichtungen verbringen, die speziell unter pädagogischen Gesichtspunkten und mit pädagogischen Zielsetzungen und Ansprüchen eingerichtet wurden. Inzwischen nutzt mehr als jedes zweite Grundschulkind ein Ganztagsangebot (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2022: 134). Das bedeutet, Kinder sind heute deutlich häufiger und intensiver als früher in Interaktion mit Personen verwickelt, die das pädagogische Geschäft berufsmäßig betreiben und die deshalb ihren Umgang mit dem Kind an pädagogischen Überlegungen, Konzepten, Leitlinien und Standards ausrichten.

Die Institutionalisierung des Aufwachsens von Kindern bringt folgende Aspekte mit sich (vgl. Neuß 2017: 15 f.):

• Die Möglichkeiten zur selbstbestimmten Zeit und für selbstbestimmte Aktivitäten der Kinder nehmen ab.

• Die Möglichkeit, in der Nachbarschaft, auf der Straße, in der Umgebung zu entdecken, sich zu entspannen, die Umwelt zu entdecken, selbst gesteckte Ziele anzugehen, wird zeitlich stark eingeschränkt.

• Kinder halten sich ohne Unterbrechung in Gruppen auf. Möglichkeiten zum Alleinsein, in Ruhe, in Stille sind rar.

• Aufgrund des permanenten Gruppenkontextes und der räumlichen Konstellationen haben Kinder weniger Rückzugsräume.

• Die Möglichkeiten der Kinder, ihre Kontakte zu Peers selbstbestimmt aufzunehmen, nimmt ab.

• Individuelle Hobbys der Kinder lassen sich – je nach Angebot der Einrichtung – nur noch eingeschränkt aufrechterhalten.

• Durch den längeren Aufenthalt unter dem Dach der Schule und in der Rolle eines Schulkindes reduziert sich der Pädagogik-freie Raum. Die Kinder stehen unter permanenter Aufsicht eines beruflich agierenden Erwachsenen.

• Diese Dominanz von pädagogischen Institutionen vermindert die Möglichkeiten der Selbstständigkeit, des selbstbestimmten Entscheidens, was, wann, wo ein Kind mit wem macht.

• Die Zeit außerhalb einer gesellschaftlichen Institution zur Bildung, Betreuung und Erziehung ist gering. Die Kinder haben folglich weniger Zeit mit ihrer Familie.

• Erziehung und Bildung wird in bedeutendem Umfang an eine professionelle Institution delegiert. Dies kann zu einer falsch verstandenen Entlastung und Verantwortungsabgabe bei den Eltern führen.

Positiver Fortschritt oder Problem?

Diese Tendenz hat zwei Seiten: Einerseits mag dies als Fortschritt und Segen bewertet werden, da nun endlich mehr Professionalität, Rationalität, Expertise, Planung, Reflexion und Dokumentation in dieses Feld kommt, zumindest kommen könnte. Andererseits mag dies als Problem betrachtet werden, da damit die Natürlichkeit, Urwüchsigkeit, Unbefangenheit und Spontanität des zwischenmenschlichen Umgangs unterlaufen wird. Damit können von Erwachsenen unkontrollierte, eigenständige Freiheits- und Entdeckungsmöglichkeiten der Kinder verloren gehen. Kinder sind somit letztlich immer mehr in pädagogisch-didaktischen Schonräumen untergebracht und werden gleichzeitig vom realen Leben ausgegrenzt (vgl. Neuß 2017: 15 f.).

Durch die umfangreichere Verweildauer in pädagogischen Einrichtungen wie Hort, Schulbetreuung, Ganztagsschule werden diese Institutionen rein praktisch bereits zum Lebensraum der Kinder – weil die Kinder sich einfach dort aufhalten. Daher muss sich jede Einrichtung fragen:

• Inwieweit unterstützen wir das Leben der uns anvertrauten Kinder?

• Inwieweit orientieren wir unsere Arbeit an den Bedürfnissen der Kinder?

Ein weiterer wichtiger, nicht zu vernachlässigender Aspekt ist in der Corona-Pandemie in aller Brisanz deutlich zutage getreten: Schule und psychische Gesundheit stehen in einem deutlichen Zusammenhang (Bujard et al. 2021).

→ Kap. II. 3

Im Vordergrund sollte daher folgende Frage stehen:

Wie muss der „ganze Tag“ beschaffen sein, damit die Leistungsfähigkeit, Entwicklung und psychische Gesundheit von Kindern erstens sichergestellt und zweitens gefördert werden kann?

Kontextressourcen

Individuelle Ressourcen

Jede schul- und sozialpädagogische Einrichtung zeichnet sich durch ein Set an sogenannten „Kontextressourcen“ aus, die im Zusammenwirken mit „individuellen Ressourcen“ des Kindes eine positive Einflussnahme auf seine Entwicklung und psychische Gesundheit ermöglichen. Der gezielte Ausbau und die Förderung von Entwicklungskontexten hat vermutlich einen positiven Einfluss auf die psychische Gesundheit der Kinder (aber auch der Pädagogen!). Es ist also zu prüfen, in welchem Umfang die schul- und sozialpädagogischen Einrichtungen den Entwicklungsbedürfnissen der Kinder entsprechen. Für die psychische Gesundheit und schulische Leistungsfähigkeit ist ein Gleichgewicht zwischen Entwicklungsbedürfnissen und Realitäten wichtig. Kommt es zu einer Dysbalance, kann sich das in Form von reduzierter Schulmotivation, Schulleistung sowie einem höheren Ausmaß psychischer Belastungen äußern. Selbstverständlich muss berücksichtigt werden, dass die psychische Gesundheit sowie auch die Schulleistung natürlich durch eine Reihe weiterer Variablen beeinflusst werden, z. B. das sozial-gesellschaftliche Umfeld, familiäre Einflüsse, Freunde, Nachbarschaft, kommunale Infrastruktur sowie politische Regelvorgaben (vgl. Paulus & Dadaczynski 2010: 40 f.).

Kinder, die an einer Ganztagsschule fast ihren ganzen Tag verbringen, können letztlich hiervon nur dann einen Gewinn haben, wenn sie sich wohl fühlen und die ihnen angebotenen Möglichkeiten als für ihre Entfaltung bereichernd aufnehmen können (vgl. World Vision Deutschland 2013: 122). Die pädagogischen Einrichtungen und ihr pädagogisches Personal tragen somit eine große Verantwortung für die Entwicklung der ihnen anvertrauten Kinder.

2.1 Ein komplementäres Bildungsverständnis für den „ganzen Tag“

Bildungsbezogene Organisationsformen vs Orte für formale und non-formale Bildung