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»Amys Eltern sagten immer, sie sei ein besonderes Kind. Das fand Amy auch. Nur besondere Menschen wohnen in einem Schloss.«
Es gibt Schlimmeres, als in einem Schloss zu wohnen, behauptet Suris Mutter. Doch Suri und ihre Brüder Bjarne und Erik sehen das anders. Das Schloss steht auf dem platten Land und der Schlossverwalter ist der Freund der Mutter, mit dem sie dort zusammenleben sollen. Dass er eine Tochter hat, macht die Sache nicht einfacher, denn Amy ist ziemlich speziell. Sie ist die Einzige, die sich wie verrückt darauf freut, Teil einer großen Patchworkfamilie zu sein. Aber zunächst sieht es nicht so aus, als würde ihr Wunsch sich erfüllen …
Eine Geschichte über das Anderssein, Freundschaft und Patchworkfamilien, erzählt aus der Sicht von Amy, einem Mädchen mit Downsyndrom, und Suri, ihrer Stiefschwester, von der SPIEGEL-Bestsellerautorin Monika Feth
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Seitenzahl: 297
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© 2022 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
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unter Verwendung mehrerer Motive von Shutterstock.com
(ShotPrime Studio, Romanova Ekaterina, Tatiana Gordievskaia)
he • Herstellung: AJ
Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss
ISBN 978-3-641-27781-9V002
www.cbj-verlag.de
»Jeder Mensch sollte etwas in sich finden,
das sich in Glück verwandeln kann.«
Opa
Kapitel 1
Manche Ereignisse fingen so harmlos an, dass man später kaum sagen konnte, wann und wie genau sie ins Rollen gekommen waren. Das hatte Suri schon oft erfahren.
»Das Leben ist ein Flickenteppich«, sagte Opa manchmal, wobei er nachdenklich nickte. »Aus den unterschiedlichsten Schnipseln zusammengesetzt.«
Doch er sprach nie darüber, wer diesen Teppich knüpfte. Und wie es bei den Milliarden von Menschen auf der Welt überhaupt möglich war, dass jeder Einzelne seinen eigenen Lebensteppich besaß.
Suri fragte sich, wie ihrer wohl aussehen mochte. Bunt, glaubte sie. In unzähligen strahlenden, zauberschönen, aber auch sanften, gedeckten, dunklen Farben.
Und sie zerbrach sich vergeblich den Kopf darüber, aus welchem Grund dem einen ein großer, prächtiger Lebensteppich zufiel und dem andern ein schmales, blasses, fadenscheiniges Exemplar.
Welche Erklärung gab es dafür, dass der kleine Miro aus der Nachbarschaft mit drei Jahren von einem Auto überfahren wurde, während der alte Herr Schwitters, der in den Abendstunden verwirrt durch die Straßen geisterte, gerade seinen zweiundneunzigsten Geburtstag gefeiert hatte?
Ein Flickenteppich.
Und jede einzelne Situation, jedes noch so unwichtig erscheinende Ereignis wurde darin verwoben.
Jedes.
• • •
Einmal hatten sie beim Essen über ihre Namen geredet.
»Was bedeutet eigentlich Bjarne?«, fragte Bjarne damals aus heiterem Himmel.
»Der Name kommt aus dem Dänischen und Norwegischen«, antwortete Mama geistesabwesend. Auf dem Stuhl neben ihr summte ihr Handy und sie schielte unauffällig auf das Display.
»Cool!«
Bjarne stopfte sich eine halbe Sandwichscheibe in den Mund und kaute wie ein Hamster mit vollen Backen.
»Er bedeutet Fresssack«, behauptete Erik grinsend.
Bjarne boxte ihn auf den Arm.
»Erik«, ging Mama dazwischen. »Hör auf, deinen Bruder zu provozieren.«
»Was bedeutet der Name denn wirklich?«, kehrte Bjarne zum Thema zurück.
»Bär«, sagte Mama und warf Erik einen warnenden Blick zu. »Außerdem steckt darin brun, ein altes deutsches Wort für Braun.«
»Brauner Bär.«
Bjarne stopfte sich die zweite Sandwichhälfte in den Mund. Er schien mit der Erklärung sehr zufrieden zu sein. »Kraft. Größe. Stärke. Wow.«
»Und mein Name?«, erkundigte sich Erik.
»Ist ebenfalls nordisch und heißt Alleinherrscher.«
Mama hatte offensichtlich keine Lust auf das Thema. Ihr Handy meldete sich erneut, und sie überflog die Nachricht, was den Kindern während der Mahlzeiten streng verboten war.
Diese beantwortete sie sofort. Ihre Daumen flogen nahezu über die Tasten.
»Das hätte unser Alleinherrscher wohl gerne«, spottete Bjarne. »Dass sich alle beeilen, seinen Befehlen zu gehorchen.«
»Blödmann«, murmelte Erik und widmete sich konzentriert seinem dreistöckigen Leberwurst-Schmierkäse-Ketchup-Sandwich.
Mama beäugte das Kunstwerk und kräuselte angewidert die Lippen. Sie hielt Erik ein Stück Paprika hin, das er mit einem knappen Kopfschütteln ablehnte.
»Und was ist mit meinem Namen?«, fragte Suri neugierig.
Seltsam, dass ihre Vornamen nie Thema gewesen waren.
Mama runzelte nachdenklich die Stirn.
»Warte mal …«
Klar, dass ihr dazu nichts einfiel. Dass sie erst lange nachdenken musste. Suri hatte nichts anderes erwartet. Trotzdem war sie enttäuscht. Immer ging es um Bjarne und Erik.
Immer, immer, immer.
»Ach«, Mama tippte sich an die Stirn, »natürlich! Jetzt weiß ich es wieder. Mit dir ist das komplizierter.«
»Logisch«, stöhnten Bjarne und Erik wie aus einem Mund.
»In Indien kommt der Name von Göttin. Im Arabischen bedeutet er … Augenblick … ja, Sonnenaufgang, im Persischen rote Rose und in Japan – entschuldige vielmals, Schatz – Taschendieb.«
Die Brüder wieherten vor Lachen. Mama beugte sich erneut über ihr Handy.
Suri fragte sich, wie man seiner Tochter bloß einen Namen geben konnte, der Taschendieb bedeutete.
»Äußerst witzig«, sagte sie und schob ihren Stuhl zurück. »Ein echter Brüller.«
Mama sah abwesend auf.
»Du hast noch nicht zu Ende …«
»Keinen Hunger.«
Ihr war der Appetit vergangen. Schnell lief sie die Treppe hoch und in ihr Zimmer. Sie warf sich aufs Bett, starrte an die Decke und träumte sich woandershin.
• • •
Suri heißt Sonnenaufgang, hatte sie damals in ihr Tagebuch geschrieben. Rote Rose.Und Göttin.
Den Taschendieb hatte sie unterschlagen.
• • •
Manchmal fiel ihr alles auf die Nerven. Das ganze Leben, von dem sie sich häufig ungerecht behandelt fühlte.
Bjarne war dreizehn und blödsinnig stolz darauf, der Älteste zu sein. Sie selbst war gerade zwölf geworden, Erik elf.
Ihre Rangordnung innerhalb der Familie war klar: Suri belegte den undankbaren Platz zwischen dem heiß geliebten Erstgeborenen und dem verhätschelten Jüngsten.
Braunbär. Alleinherrscher.
Zwischenkind.
Das sagte doch alles.
• • •
Ab und zu wünschte sie sich, sie könnte ein bisschen sein wie Bjarne und ein bisschen wie Erik. Vielleicht würde sie dann leichter Platz in sich selbst finden. Und glücklicher sein.
Das war sie nämlich schon lange nicht mehr gewesen, glücklich. Genau genommen nicht mehr, seit Papa ausgezogen war.
Nicht mehr richtig glücklich.
Nicht mehr so, dass ihr Glück fast überschwappte.
Glück hielt sich nicht lange. Es verging in dem Moment, in dem man es bemerkte. Verglühte wie ein Funke in der Luft.
»Du kannst das Glück nicht festhalten«, hatte Opa einmal gesagt, und er musste es wissen, denn er hatte es verloren, als Oma gestorben war.
Seitdem zitterte die Luft um ihn herum an manchen Tagen vor Traurigkeit.
Auch sein Haus war traurig. Meistens waren die Rollos runtergelassen und er saß im Dämmerlicht des Wohnzimmers und dachte nach.
»Über Gott und die Welt«, sagte er.
Dabei hatte er die Kirche am Tag von Omas Beerdigung das letzte Mal betreten. Und in die Welt ging er höchstens, um einzukaufen.
Opa war Papas Vater. Er war bei Papas Geburt bereits ziemlich alt gewesen. Mittlerweile hatte er feines weißes Haar, das im Luftzug wehte wie Feenhaar.
Er sprach nie über die Trennung der Eltern und nicht über Mamas Besuche. Das Foto, auf dem Mama unter einem fröhlichen Strohhut in die Kamera lachte, stand immer noch in seinem Regal.
• • •
Wär das Glück geblieben, wenn die Eltern sich nicht hätten scheiden lassen?
Das fragte Suri sich oft.
• • •
»Du bist ein Trauerkloß«, hatte Bjarne ihr vor Kurzem vorgeworfen. Dabei war er selbst nicht halb so lässig, wie er tat. Nachts konnte Suri ihn manchmal in seinem Zimmer schluchzen hören und am Morgen hatten seine Augen rote Ränder.
Denn Papa war nicht nur ausgezogen.
Er hatte auch eine neue Frau. Und die erwartete ein Baby.
Das hatte Suri endgültig die Hoffnung genommen, es würde je wieder sein, wie es früher gewesen war.
»Quatsch«, sagte Bjarne, der nicht bereit war, Papa aufzugeben. »Wer drei Kinder verlässt, kann locker ein viertes verlassen. Und zurückkommen. Wo ist das Problem?«
Suri hielt das für logisch, jedoch nicht für wahrscheinlich.
• • •
Papas neue Frau hieß Miranda. Sie war Yogalehrerin und unterrichtete in einem Studio in der Stadt. Wäre sie nicht Papas neue Frau gewesen, hätte Suri sie vielleicht sogar ganz nett gefunden.
Aber sie war Papas neue Frau, und Suri hatte ein hässliches Gefühl in der Magengrube, wenn sie beobachtete, wie zärtlich er Miranda anguckte, wie liebevoll er sie anlächelte und über ihren gewölbten Bauch strich, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt.
Jedes zweite Wochenende sollten Suri, Bjarne und Erik bei ihrem Vater verbringen. Das hatte das Gericht entschieden. Doch es machte ihnen keinen Spaß, weil sie Papa selten für sich allein hatten.
Miranda klebte an ihm wie ein Schatten. Ein paarmal hatte Bjarne schon behauptet, krank zu sein. Bloß, um nicht mitfahren zu müssen.
Erik erwähnte Miranda oder das Baby selten oder nie. Er behielt seine Gedanken meistens für sich. Erik war kein großer Redner. Er steckte die Nase lieber in Bücher über Raumfahrt, das All und die Sterne. Suri wäre nicht überrascht, wenn er einmal Forscher werden und eine zweite Erde entdecken würde.
Und Mama?
Irgendwann hatte das Streiten mit Papa aufgehört. Irgendwann hatte sie angefangen, ab und zu allein auszugehen.
Dann hatte sie sich in Klaas verliebt.
Und ihn nach einiger Zeit zum Abendessen eingeladen, damit er ihre Kinder kennenlernen konnte. Und sie ihn.
Zu fünft hatten sie zusammen in der Küche gesessen. Wie früher. Nur dass der Mann am Tisch nicht Papa gewesen war, sondern ein Fremder.
Keiner hatte viel geredet, außer Mama. Sie hatte unentwegt eine Haarsträhne um ihren Finger gewickelt, was sie immer tat, wenn sie nervös war.
Klaas dagegen war die Ruhe selbst gewesen. Am Kinn hatte er ein lustiges Grübchen und beim Lächeln fächerten sich freundliche Fältchen um seine Augen. Suri hatte ihn auf Anhieb sympathisch gefunden, obwohl sie es niemals zugegeben hätte.
War das nicht so, als würde sie ihren Vater verraten?
• • •
An diesem Abend hatte Klaas den ersten Schritt in ihr Leben getan. Er hatte sogar ein paarmal bei ihnen übernachtet. In dem neuen Bett, das Mama gekauft hatte, nachdem Papa ausgezogen war.
Es gab Tage, an denen Suri vor Sehnsucht nach ihrem Vater fast verrückt wurde. An denen jeder Gedanke an ihn war wie ein Messerstich. An denen sie in einer Blase von Traurigkeit gefangen war, aus der sie keinen Ausweg fand.
Kapitel 2
Heute war einer dieser Tage. Obwohl sie Papa am Abend sehen würden. Es dauerte Suri einfach zu lange bis dahin. Und es würde viel zu bald wieder zu Ende sein.
Die Zeit mit Papa war jedes Mal ein Tropfen auf den heißen Stein.
Die Sonne schien. Der Himmel war von einem tiefen Blau. Am Horizont erhob sich ein watteweißes Wolkengebirge. Bjarne und Erik verbrachten den Nachmittag an der Badekuhle, wo jeder von ihnen sich mit seinen Freunden verabredet hatte.
Suri war nicht mitgefahren. Sie hatte zu gar nichts Lust.
Mama war bei der Arbeit und würde erst am Abend nach Hause kommen. Ein langer Nachmittag breitete sich vor Suri aus. Ein furchtbar langer Nachmittag. Und die trostlose Leere im Haus bedrückte sie.
Als sie es nicht länger aushielt, beschloss sie, Opa zu besuchen.
• • •
Opa war ihr Allheilmittel. Bei ihm fand sie immer Zuflucht.
Er wohnte in einem kleinen Haus, das komplett mit wildem Wein bewachsen war, der sogar übers Dach kroch. Schon als sie ihr Fahrrad abstellte, hörte Suri die Bienen zwischen den Weinblättern summen.
Früher hatte sie schreckliche Angst vor ihnen gehabt. Bis Opa ihr klargemacht hatte, dass ihr nichts passieren würde, solange sie sich ruhig und bedächtig bewegte.
»Bienen greifen nur an, wenn sie sich bedroht fühlen«, hatte er ihr erklärt.
Seitdem war es nicht gerade eine innige Freundschaft, die sie mit den Bienen verband – sie respektierten einander.
Das Haus war von einem köstlichen Duft erfüllt. Opa hatte Schokokuchen gebacken, als hätte er Suris Besuch erahnt. Er zog eine Packung Smarties und eine Tüte Marshmallows aus dem Schrank, um ihn damit zu verzieren.
»Den hast du oft für uns gebacken«, sagte Suri. »Als wir klein waren.«
»Für Lieblingsgerichte ist man nie zu alt«, brummelte er über die Schulter. »Im Übrigen bezweifle ich, dass es überhaupt sinnvoll ist, erwachsen zu werden.«
Niemand zauberte fantasievollere Kuchen und Torten als Opa.
»An dir ist wirklich ein Konditor verloren gegangen«, hatte Oma häufig gesagt und Opa verliebt angestrahlt. »Weiß der Himmel, warum es dich als Buchhalter in ein Büro verschlagen hat.«
Anfangs hatte Suri geglaubt, ein Buchhalter sei ein Mann, der Bücher hält. Eine lebende Bücherstütze gewissermaßen. Später hatte Opa ihr erklärt, dass er sein halbes Leben lang an einem Schreibtisch gesessen und Zahlen notiert, überprüft und zusammengerechnet hatte.
Mittlerweile war er pensioniert und erledigte nur noch die Aufgaben, die in Haus und Garten anfielen.
Obwohl man das kaum erkennen konnte. In den Zimmern lagen Bücher, Klaviernoten und Briefe verstreut. Mit dem Aufräumen und Putzen nahm Opa es nicht so genau.
»Leben und leben lassen«, pflegte er zu sagen.
Vielleicht galt das auch für die winzigen Staubkörnchen, die in der Sonne tanzten.
Aber er vergaß nie, den Pflanzen auf den Fensterbänken Wasser zu geben. Und denen draußen sowieso.
• • •
Der Garten war märchenhaft verwunschen. Im Laufe der Jahre hatte sich der ursprüngliche Rasen in eine bunte Wiese verwandelt. Obstbäume spendeten kühlen Schatten und zwischen blühenden Sonnenblumen, Hortensien und Lavendelbüschen wuchsen Rhabarber und Zucchini, Tomaten, Himbeeren und Paprika.
Es war Oma, die den grünen Daumen gehabt und alles zum Blühen und Gedeihen gebracht hatte. Es war Opa, der heute dafür sorgte, dass der Garten das Paradies blieb, das Oma geliebt hatte.
Suri trug das Kaffeegeschirr nach draußen und stellte es auf den wackligen Gartentisch unter dem blauen Sonnenschirm. Opa brachte den Kuchen heraus. Während er ein paar Stücke abschnitt, holte Suri seinen Becher, in dem der Kaffee dampfte. Für sich selbst hatte sie ein Glas mit kalter Milch gefüllt.
Sie kam bei Opa an, ohne etwas zu verschütten, und sie saßen da, aßen, tranken und schwiegen und sahen dem Kater zu, der durch das hohe Gras hüpfte wie ein grauer Riesenflummi.
Das Sommerwetter machte ihn verrückt. Die Hummeln, Schmetterlinge, Bienen und Libellen tanzten ihm auf der Nase herum, und er wurde nicht müde, sie zu jagen, obwohl er selten Erfolg damit hatte.
Allerdings war er ein hervorragender Mäusefänger und legte einem die toten Mäuse gern vor die Füße, weil er es genoss, gelobt zu werden.
• • •
»Kummer?«, erkundigte sich Opa schließlich beiläufig.
»Nicht direkt«, antwortete Suri.
Im Teich sprang ein Fisch und glitzerte silbern in der Sonne. Als er mit einem leisen Platschen wieder untertauchte, liefen Wellen in kleinen zitternden Kreisen über das Wasser.
Suri genehmigte sich ein drittes Stück Kuchen.
»Indirekt?«, hakte Opa nach und rückte sich auf seinem Stuhl zurecht.
Suri hob die Schultern.
»Hmm«, machte Opa.
So war das mit ihm. In seiner Gegenwart wurde man still.
Suri hörte das Zwitschern der Vögel. Das Summen der Bienen. Das gemütliche Knarren der Stühle.
»Ich hab’s gern, wenn du mich besuchst«, sagte Opa. »Dann atmet das Haus auf und im Garten riecht es nach Sommer.«
»Weil Sommer ist«, sagte Suri.
»Seit wann bist du so besserwisserisch?«, fragte Opa.
»War ich schon immer.«
Suri grinste.
»Tatsächlich?« Opa schmunzelte und seine Augen verschwanden in lauter Falten. »Ist mir vorher nicht aufgefallen.«
Sie guckten in den Garten, und Suri kannte keinen Ort auf der Welt, an dem sie in diesem Augenblick lieber gewesen wäre.
»Danke«, sagte sie, als sie sich zwei Stunden später von Opa verabschiedete.
Er drückte sie an sich und strich ihr mit seiner schwieligen Hand übers Haar. Drehte sich um und verschwand im Haus.
• • •
Endlich war der Abend da und Papa holte sie ab. Es war Freitag und das Vaterwochenende stand an. Suri hatte ihren Rucksack längst gepackt, als Papa ihnen mitteilte, dass sie nur bis morgen Abend bleiben konnten.
Miranda war etwas dazwischengekommen.
Bjarne drückte sich wortlos an Suri vorbei, um seine Zahnbürste und sein Handy zu holen.
»Das ist alles?«, fragte Papa, wartete jedoch nicht auf Bjarnes Antwort.
Wahrscheinlich war ihm selbst klar, wie schnell ein einziger kostbarer Abend und ein einziger kostbarer Tag vorübergingen.
• • •
Miranda war noch in ihrem Studio. Freitags gab sie zwei Abendkurse. Als sie gegen neun nach Hause kam, wärmte Papa ihr das Essen auf.
Er hatte Suri und ihre Brüder gebeten, Miranda am Tisch Gesellschaft zu leisten, und so saßen sie in trauter Eintracht in der Küche und guckten ihr beim Essen zu.
Sie war nicht geschickt darin, Spaghetti um die Gabel zu wickeln, weigerte sich aber, einen Löffel zu Hilfe zu nehmen. Deshalb dauerte alles länger als nötig.
Bjarnes Finger trommelten genervt auf seinen Knien. Erik wurden vor Langweile die Augenlider schwer. Einzig Suri riss sich zusammen und redete mit Miranda.
Eigentlich hatte sie keine Lust dazu, doch Miranda entlockte ihr beharrlich jede Information, auf die sie neugierig war.
Wie es in der Schule war. Was sie in ihrer Freizeit machten. Was sie ärgerte, was sie freute und was sie später mal werden wollten.
Suri antwortete für ihre Brüder mit, denn die stellten sich tot.
»Und du?«, lenkte sie Miranda schließlich ab. »Was gibt es bei dir für Neuigkeiten?«
Bjarne zeigte mit einem kaum merklichen Nicken Anerkennung für ihr Ausweichmanöver. Erik drückte unterm Tisch ihre Hand.
Und Miranda fing tatsächlich an zu erzählen. Von Leuten, die keiner von ihnen kannte, von ihrer Arbeit, ihren Freundinnen, der Schwangerschaft.
»Die meisten Übungen kann ich nicht mehr mitmachen«, sagte sie. »Der Bauch ist mir ständig im Weg.«
In ihrer Stimme schwangen Enttäuschung, Überdruss und Vorwurf mit. Als sei sie von dem Baby in ihrem Bauch überrumpelt und ausgetrickst worden.
»Und es wird von Tag zu Tag schlimmer«, jammerte sie. »Bald werde ich aussehen wie ein Walross.«
Bjarnes Gesicht zeigte offene Schadenfreude, als er bemerkte, dass Mirandas Augen in Tränen schwammen. Sie wurde von Erbitterung abgelöst, als Papa sich zu Miranda beugte und tröstend den Arm um ihre Schultern legte.
Suri wusste, dass Frauen während der Schwangerschaft unter Gefühlsschwankungen litten, die von Hormonen ausgelöst wurden. Obwohl sie keine Ahnung hatte, worum es sich bei einem Hormon konkret handelte und wie es funktionierte.
Im Grunde interessierte es sie auch nicht.
Jedenfalls brachten die Hormone schwangere Frauen zum Lachen und zum Weinen, zum Singen und zum Fluchen und sie konnten nichts dagegen tun. Es wurde erst besser, wenn das Baby auf der Welt war.
Suri konnte sich das nicht vorstellen, ein Baby, das ihr Bruder oder ihre Schwester sein würde. Ein Baby, das ihr Papa vergöttern würde, genau so, wie er es getan hatte, als Erik auf die Welt gekommen war.
Sie war sich nicht sicher, ob sie sich tatsächlich daran erinnerte oder ob Mama es ihr bloß erzählt hatte.
Für lange Zeit würden seine anderen Kinder kaum noch eine Rolle spielen, weil er sich um das Baby kümmern musste. Vielleicht würden sie überhaupt nie wieder eine Rolle spielen.
Womöglich würden Papa und Miranda sogar drei, vier Kinder haben.
Was dann?
In ihrem Kopf fing es an zu summen. Das Summen wurde zu einem Brummen, steigerte sich zu einem Dröhnen. Suri schloss die Augen.
Manchmal half das.
Heute nicht.
Das Klimpern von Mirandas Gabel auf dem Teller, das Geräusch, mit dem die Gläser auf dem Tisch abgesetzt wurden, Mirandas Stimme, Papas Lachen, das Scharren von Stuhlbeinen auf dem Boden, all das stürmte mit plötzlicher Gewalt auf sie ein.
»Suri?« Papas Stimme klang besorgt. »Suri? Was ist los?«
»Kopfschmerzen«, sagte Erik. »Die hat sie ab und zu.«
»Kopfschmerzen? Wieso weiß ich nichts davon?«
»Weil du hier lebst und nicht bei uns«, entgegnete Bjarne ungerührt.
»Sie muss sich hinlegen«, erklärte Erik. »Dann geht es ihr bald besser.«
Papa stützte Suri, als er sie zum Wohnzimmersofa führte, dabei konnte sie trotz Migräne sehr gut allein gehen. Sie benutzte dazu ja ihre Füße und nicht ihren Kopf. Papa breitete fürsorglich eine Decke über ihr aus, obwohl es viel zu warm dafür war.
»Was machst du denn für Sachen, Mäuschen?«
Mäuschen hatte er sie schon lange nicht mehr genannt.
Eigentlich war Suri zu jung für Migräne. Aber sie war auch zu jung, um auf ihren Vater zu verzichten. Zu jung zu sein, half einem bei gar nichts weiter, das hatte sie mittlerweile kapiert. Im Gegenteil. Eher verschlimmerte es die Dinge.
• • •
Als sie sich eben an die Kopfschmerzen gewöhnte, kam die Übelkeit.
Miranda brachte ihr einen Becher Kräutertee. Bei dem Geruch, der Suri mit dem Dampf in die Nase stieg, ballte sich die Übelkeit zu einem harten Klumpen zusammen, und sie konnte sich gerade noch zur Seite drehen, als sich der Inhalt ihres Magens bereits in einem heftigen Schwall auf den schönen Teppich ergoss.
Erik hielt ihr einen Eimer hin, der den nächsten Schwall auffing, doch da war der Schaden längst angerichtet.
Ein Sammelsurium halb verdauter Nahrung sickerte langsam in den hellen Teppichflor, sauer riechend und von rotbrauner Farbe. Wie dünne bleiche Würmer lagen Spaghettifäden darüber hingeschlängelt.
»Mein Gott«, stöhnte Miranda und stürzte aus dem Zimmer.
Bjarne legte Suri ein zusammengefaltetes feuchtes, angenehm kaltes Geschirrtuch auf die Stirn. Erik ließ das Rollo ein Stück herunter, um den Raum abzudunkeln. Wenn Suri diese schlimmen Kopfschmerzen hatte, ertrug sie weder Helligkeit noch laute Geräusche.
Hilflos stand Papa daneben, bis Miranda eine Schüssel mit Seifenlauge auf den Couchtisch stellte und einen Schwamm, ein Tuch, eine Küchenrolle und eine Abfalltüte danebenlegte.
»Ich kann nicht«, sagte sie. »Sorry.«
Und schon war sie weg.
Papa nahm das Erbrochene vorsichtig mit Küchenpapier auf und ließ es in die Tüte fallen. Dann tupfte er die Flüssigkeit aus dem Teppich und bearbeitete den Fleck mit Schwamm und Tuch.
Danach zogen sie sich leise zurück und Suri schlief erschöpft ein.
Sie träumte von Hormonen, die aussahen wie kleine schwarze Holunderbeeren mit winzigen Ärmchen und Beinchen. Sie flitzten in einem Wahnsinnstempo hin und her und stießen mit hauchdünnen Stimmchen helle Rufe aus. Einige von ihnen kletterten an Mirandas Haaren hoch wie an Seilen in einem Kletterpark.
Miranda rückte ihnen mit einer großen Bürste zu Leibe und sie purzelten zu Boden und rollten protestierend davon.
• • •
Als sie den Teppich später begutachteten, sahen sie, dass ein großer Fleck zurückgeblieben war, der ungefähr die Form von Italien auf der Landkarte hatte.
»Da müssen wir noch mal ran«, sagte Miranda und seufzte. Das gute Stück sah edel aus und hatte wahrscheinlich eine Stange Geld gekostet. »Schade«, jammerte sie in einem fort, »schade, schade, schade.«
»Ist doch bloß ein Teppich«, versuchte Papa sie zu trösten.
Noch so ein Blick wie der, den Miranda ihm zuwarf, und es wären Eisblumen an den Fensterscheiben gesprossen.
• • •
»War’s schön?«, fragte Mama, nachdem Papa sie wieder zu Hause abgesetzt hatte.
Er kam selten mit rein.
»Große Klasse«, antwortete Erik mit beißender Ironie.
Bjarne öffnete die Kühlschranktür. Er war ständig hungrig und behauptete steif und fest, das liege an seinen Wachstumsschüben.
»Suri hat den Teppich vollgekotzt«, sagte er.
»Wieder Kopfschmerzen?« Mama legte Suri die Hand auf die Stirn. »Schlimm?«
»Geht schon.«
Suri schob ihre Hand weg. Die Migräne belästigte sie in letzter Zeit häufiger. Aber jetzt hatte sie nicht die Nerven, lang und breit darüber zu reden.
In ihrem Zimmer holte sie ihr Tagebuch hervor. Das stellte keine neugierigen Fragen und behielt ihre Geheimnisse für sich. Sie konnte ihm bedenkenlos alles anvertrauen.
• • •
Ich strenge mich wirklich an, nett zu Miranda zu sein. Papa zuliebe.
Es ist verflucht schwer, sie zu mögen. Sie ist eine schreckliche Nervensäge.
Und: Sie hat uns Papa weggenommen. Das werde ich ihr in tausend Jahren nicht verzeihen.
Kapitel 3
In ein paar Tagen begannen die Ferien. Suri freute sich wahnsinnig darauf. Obwohl Mama keinen Urlaub gebucht hatte. Sie wollte spontan entscheiden, wann sie fuhren, wohin und ob überhaupt.
Mama plante nicht gern. Sie musste sich bereits in ihrem Beruf ständig an Termine halten, da hasste sie es, zusätzlich ihre Freizeit damit zu verplempern.
Früher, in der Zeit vor Miranda, waren sie regelmäßig in die Ferien gefahren. Abwechselnd ans Meer und in die Berge.
Sie alle zusammen.
Bei einem Gebrauchtwagenhändler hatte Papa ein altes Wohnmobil aufgetrieben, in das die komplette Familie reingepasst hatte, einschließlich Lulu, bevor sie auf einem Rastplatz von einem Lastwagen überfahren worden war.
Zwei Jahre war das her. Seitdem hatten sie sich nicht überwinden können, einen neuen Hund aus dem Tierheim zu holen.
Nie mehr werde ich einen Hund so lieb haben wie Lulu, hatte Suri damals in ihr Tagebuch geschrieben. Nie, nie mehr.
Oft träumte sie von Lulu und am Morgen war ihr Gesicht nass von Tränen.
Das Leben im Wohnmobil war aufregend gewesen. Sie fuhren herum, verbrachten einige Tage auf irgendeinem Campingplatz, der ihnen gefiel, bevor sie wieder abreisten und zum nächsten Ort aufbrachen.
Es gab keine geregelten Schlafens- und Essenszeiten. Sie aßen, wenn sie hungrig waren, und schliefen, wenn sie vor Müdigkeit fast umkippten. Sie hatten lediglich das Nötigste an Kleidung eingepackt, hauptsächlich Shorts, T-Shirts und Badesachen, Zeug, das schnell gewaschen und in der Sonne getrocknet werden konnte.
Mama und Papa waren fröhlich und ausgelassen. Sie liefen barfuß, kuschelten miteinander, lachten und guckten sich mit leuchtenden Augen an, als hätten sie sich eben erst ineinander verliebt.
Alles war gewesen, wie es sein sollte.
Der Streit kam ganz allmählich in ihr Leben geschlichen. Wie ein Einbrecher, der still und leise in ein nächtliches Haus eindrang. Unmerklich nistete er sich in sämtlichen Ecken und Winkeln ein und versprühte heimlich sein Gift.
Suri wusste nicht, was aus dem Wohnmobil geworden war. Sie hatte Papa nicht danach gefragt.
Wahrscheinlich aus Angst davor, dass er sagen könnte, er hätte es verkauft. Denn das würde bedeuten, dass die Trennung der Eltern endgültig war.
• • •
In diesem Jahr hatte Mama ihnen angeboten, mit einer Schülergruppe nach Österreich zu fahren, doch keiner von ihnen konnte sich dafür begeistern.
Suri liebte es, ab und zu allein zu sein.
Sie brauchte das.
Es tat ihr gut.
»Jeder Mensch sollte etwas in sich finden, das sich in Glück verwandeln kann«, sagte Opa. »Besitzt ein Mensch keinen inneren Reichtum, ist er wirklich ein armer Tropf. Dann kann er keine Sekunde mit sich allein sein.«
Suri hatte keine Ahnung, ob sie in ihrem Innern reich war. Vermutlich nicht, denn an manchen Tagen wurde ihr alles zuviel, und es half nur, das Schild NICHT STÖREN an ihre Tür zu hängen und sich auszuklinken.
An solchen Tagen nervte sie die Fliege an der Wand. Da ertrug sie nicht mal ihre Brüder. Oder Mama, die sich zum hundertsten Mal besorgt erkundigte, ob sie vielleicht krank war.
An solchen Tagen hätte es geholfen, sich zu Lulu auf den Boden zu legen und sich an sie zu schmiegen. Wie früher.
• • •
Es half aber auch, mit Pam zusammen zu sein. Sie war Suris beste Freundin. Die Schwester, die sie sich oft gewünscht hatte.
Allerdings hatte Pam wenig Zeit. Sie war ausgebucht mit Klavierunterricht, Reitstunden, Gymnastik und Tanz.
Als kleines Kind hatte sie einen schweren Autounfall gehabt. Danach musste sie lange im Krankenhaus liegen und eine fast ebenso lange Zeit in einer Rehaklinik im Schwarzwald verbringen. Sie musste wieder lernen zu gehen, die Arme und den Kopf zu bewegen, sogar das Sprechen funktionierte nicht wie zuvor.
Die Unterrichtsstunden halfen ihr noch immer.
Klavierspielen hielt ihre Finger geschmeidig und trainierte ihr Gehirn. Reiten und Tanzen stärkten ihr Gleichgewicht. Gymnastik machte sie gelenkig und kräftigte ihre Muskeln.
Suri beschloss, heute einfach unangemeldet bei ihr aufzukreuzen. Sie schickte Mama schnell eine kurze Nachricht – Bin bei Pam – und holte ihr Fahrrad aus dem Geräteschuppen.
• • •
Es war nicht weit bis zu dem Haus, in dem Pam mit ihren Eltern wohnte. Und mit Diva, einer bildschönen, verrückten Mischlingskatze, zum Teil Perserdame, zum Teil Hauskatze, mit vielleicht einem Hauch Kartäuser.
Im Vorgarten stand eine weiße Bank, auf der nie jemand saß, obwohl ein romantisches kleines Seerosenbecken dazu einlud. Lediglich Diva lag bisweilen darauf und rekelte sich auch heute genüsslich in der Nachmittagssonne.
Mit lautem Schnurren forderte sie Suri dazu auf, sie zu streicheln – um im nächsten Augenblick blitzschnell die Krallen auszufahren.
»Mistvieh«, schimpfte Suri liebevoll, nachdem sie ihre Hand in Sicherheit gebracht hatte.
Sie hing an Diva, die ihr selbst ein bisschen ähnlich war. Die Zärtlichkeit mehr brauchte als alles andere und sich bei zu großer Nähe urplötzlich fürchtete.
Pam strahlte, als sie die Tür aufmachte und unerwartet Suri vor sich sah. Mit einem Freudenschrei fielen sich die Freundinnen in die Arme. Wenige Minuten später saßen sie mit einem Schoko-Kirsch-Eis im Garten.
Suri merkte, wie sich ein Gefühl von Frieden auf sie herabsenkte.
Sie konnten ohne Punkt und Komma reden. Zwei Stunden nonstop chatten oder am Handy quasseln und ganze Abende lang und komplette Nächte hindurch, wenn sie zusammen übernachteten. Ebenso gut konnten sie schweigen. Nicht jede für sich allein, sondern miteinander.
»Gibt es wohl«, fragte Suri und leckte sich einen klebrigen Finger ab, »gibt es wohl Menschen, die sich ohne ein einziges Wort, ohne Zeichensprache und ohne andere Hilfsmittel unterhalten können? Einfach so?«
»Klar.« Pam hatte einen Schokoladenmund und wirkte vollkommen zufrieden. »Tun wir doch. Dauernd.«
Als wäre das total selbstverständlich.
Pam glaubte fest an Geister, Aliens und fliegende Untertassen. Warum also nicht an Gedankenübertragung?
Diva, der es im Vorgarten langweilig geworden war, ließ sich elegant zwischen ihnen im Gras nieder und begann sich zu putzen.
»Allerdings kann ich das nur mit dir«, sagte Pam. »Und mit Diva.«
Die hob nicht einmal den Kopf, als sie ihren Namen hörte. Sie war völlig in ihre Katzenwäsche versunken und verbog und verrenkte sich mühelos, um jede Stelle ihres Körpers mit der Zunge zu erreichen. Als wären ihre Knochen aus Gummi.
»Mit Lulu konnte ich das auch«, sagte Suri und spürte, wie die Traurigkeit angekrochen kam.
»Mit Lulu sowieso«, bestätigte Pam. »Ruhe in Frieden, lovely old lady.«
Manche Menschen fanden Pam sonderbar, weil sie oft sonderbare Dinge von sich gab. Suri war vor einiger Zeit unfreiwillig Zeugin geworden, als zwei Frauen in der Bäckerei über sie getuschelt hatten.
Altklug hatte die eine sie genannt, und die andere hatte genickt und gemurmelt: Ja, schrecklich …das arme Kind.
Pam? Ein armes Kind?
Ihre Eltern waren sogar ziemlich reich. Das Haus war groß und herrschaftlich. In dem prächtigen Garten, der eher ein Park war, gab es einen riesigen Schwimmteich, ein hübsches altmodisches Badehaus und stylishe Sonnenliegen auf einer Holzterrasse.
Pams Eltern beschäftigten eine Reinigungskraft, einen Fensterputzer und einen Gärtner, der das Draußen in Schuss hielt.
Pam war das Gegenteil von einem armen Kind.
Suri berichtete vom letzten Vaterwochenende.
»Du hast den Teppich vollgekotzt?« Pam lachte so laut, dass Diva erschrocken fauchte und sich beleidigt zurückzog. »Hättest du Miranda nicht anders ärgern können?«
»Ich will sie nicht ärgern«, sagte Suri. »Ich will, dass sie sich in Luft auflöst.«
Pam hörte abrupt auf zu lachen.
»Und wenn wir sie verfluchen?«, fragte sie mit gedämpfter Stimme, obwohl niemand in der Nähe war.
»Verfluchen?«
»Genau. Wir müssen bloß rausfinden, wie das geht.«
»Mit Kröteneiern, Rattenbärten und Blutegelschleim«, schlug Suri vor. »Dazu eine Prise Pferdemist und einen frisch geschnittenen Zehennagel von Mirandas linkem Fuß.«
»Musst du immer alles ins Lächerliche ziehen?«, ereiferte sich Pam. »Es gibt wirklich Zauberer und Hexen, selbst heute noch. Nur hängen sie es nicht unbedingt an die große Glocke.«
»Man kann auch mit dem Fahrrad zum Mond fliegen«, entgegnete Suri mit einem breiten Grinsen.
Pam ging nicht darauf ein.
»Meine Mutter kennt einen Schamanen«, sagte sie und warf einen raschen Blick über die Schulter, als hätte sie Angst, jemand könnte sie belauschen.
»Einen was?«
»Schamanen haben magische Fähigkeiten und können Kontakt mit der Geisterwelt aufnehmen.«
Mitten im hellsten Sommersonnenschein rieselte es Suri kalt über den Rücken.
»Sie können kranke Menschen heilen.« Wieder blickte Pam sich verschwörerisch um. »Wieso sollten sie nicht ebenso das Gegenteil können: gesunde Menschen krank werden lassen?«
Suri musterte das Gesicht der Freundin.
»Woher weißt du das?«
»Der Schamane meiner Mutter hat sie von ihren ewigen Rückenschmerzen geheilt.«
Suri setzte sich kerzengerade hin.
»Und du meinst, er könnte Miranda …«
»Er soll sie ja nicht gleich umbringen«, sagte Pam nachdenklich. »Vielleicht schafft er es, dass sie sich in einen anderen Mann verliebt und deinen Vater verlässt.«
Suri war wie elektrisiert.
Im nächsten Moment sackte sie in sich zusammen.
»Und das Baby?«
»Bleibt bei Miranda und besucht deinen Vater regelmäßig. Wie ihr es heute tut.«
Pams Überlegungen hatten was. Warum sollte Suri sich über ein ungeborenes Baby den Kopf zerbrechen? Mit dem brauchte sie kein Mitleid zu haben. Außerdem – wer bemitleidete denn sie und ihre Brüder?
Nicht mal Papa.
»Sobald ich rausgekriegt habe, wo der Schamane wohnt«, schlug Pam vor, »suchen wir ihn auf. Einen Rückzieher können wir immer noch machen.«
Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, hatte sie es sich in den Kopf gesetzt, und Rückzieher war bloß ein Wort. Deshalb versuchte Suri gar nicht erst, Pam von der Idee abzubringen.
Außerdem klang sie zu vielversprechend, um es nicht zu versuchen.
Kapitel 4
Es fiel Suri schwer, das Geheimnis für sich zu behalten. Bei den Mahlzeiten vermied sie es, ihre Brüder anzugucken, damit ihr Gesicht nichts verriet.
Fünf Seiten hatte sie in ihrem Tagebuch vollgeschrieben. Und vorsichtshalber erneut das Versteck gewechselt. Sie glaubte zwar nicht, dass ihre Brüder sich für das interessierten, was sie ihrem Tagebuch anvertraute, aber man konnte ja nie wissen.
Nachdem Papa ausgezogen war, hatte es in Suri kaum Worte gegeben, um ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Es war, als hätte die Traurigkeit die ganze Welt mit ihren grauen, klebrigen Netzen umsponnen.
All seine Sachen waren verschwunden. Nur ab und zu stieß man noch auf etwas, das ihm gehörte. Einen Pulli. Eine Zeitschrift. Einen Kugelschreiber. Ein Feuerzeug.
Mama hatte sämtliche Gegenstände aus dem Haus verbannt, die sie an Papa erinnerten. Zumindest hatte Pam das so erklärt.
Pam wollte Pianistin werden. Tierpflegerin. Oder Psychologin, wie Frau Hirsch. Sie hatte sich bisher nicht entschieden.
Neben den Ärzten war es hauptsächlich Frau Hirsch gewesen, die sie in der schweren Zeit nach dem Unfall gerettet hatte. Damals, sagte Pam, hatte sie viel über die Arbeit einer Psychologin gelernt.
»Psychologen«, sagte sie, »versuchen zu verstehen, warum Menschen tun, was sie tun. Und aus welchem Grund manche mit ihrem Leben nicht zurechtkommen.«
Suri wollte später vielleicht Häuser bauen. Oder Bundeskanzlerin werden. Warum ihre Mutter tat, was sie tat, wollte sie gar nicht wissen. Erst recht nicht, was Bjarne und Erik antrieb, wenn sie sich aufführten wie Neandertaler.
Sie wollte begreifen, wie es passieren konnte, dass Papa sich in eine andere Frau verliebt hatte und Mama in einen anderen Mann.
Ein Psychologe konnte das möglicherweise erklären.
Ändern konnte er es nicht.
• • •
An ihrem freien Nachmittag spendierte Mama ein Eis. Das kam zu selten vor, als dass Suri nicht misstrauisch geworden wäre. Auch Bjarne witterte einen Hinterhalt in dem spontanen Ausflug.
Sie fuhren mit den Rädern zu Leonardo, der Eisdiele im Nachbarort, wo es das beste Eis im weiten Umkreis gab.
Erik, der den Weg bestimmt dreimal zurücklegte, weil er ständig ein Stück vorausfuhr, umkehrte und wieder vorausfuhr, strich sich das schweißnasse Haar aus der Stirn und klappte die Karte auf.
Jeder durfte sich einen Eisbecher aussuchen. Jeder versenkte sich in den Anblick der Hochglanzfotos, bei dem einem das Wasser im Mund zusammenlief. Und schließlich nahm jeder, was er immer nahm.
Erik bestellte ein Spaghetti-Eis, Suri einen Erdbeerbecher, Bjarne entschied sich für ein Bananensplit, Mama für Joghurteis mit Früchten.
»Sollten wir öfter machen«, sagte Bjarne und leckte sich Sahne aus den Mundwinkeln.
Erik nickte. Er verschlang sein Eis in einem olympiaverdächtigen Tempo.
Mama antwortete nicht. Gedankenverloren stocherte sie in ihrem Becher herum, in dem das Eis langsam zerschmolz.
Okay, dachte Suri. Sag es halt.
Denn dass ihre Mutter sie nicht ohne Grund ausgeführt hatte, war sonnenklar. Suri hatte keine Ahnung, worum es ging, spürte jedoch, dass sich etwas Unangenehmes anbahnte. Sie besaß Antennen für Schwingungen und ahnte oft, was jemand sagen würde, bevor er es tatsächlich aussprach.
Oder sag es lieber nicht, dachte sie so inbrünstig, dass es fast war wie ein Gebet. Lass uns einfach hier sitzen und unser Eis genießen.
Eine Erdbeere hüpfte ihr vom Löffel und landete auf Mamas weißer Leinenhose, wo sie eine rote Spur über den Oberschenkel bis zum Knie zog.
Wie Blut, dachte Suri, fing die Erdbeere auf, bevor sie auf die Erde fallen konnte, und steckte sie in den Mund.
Mama regte sich nicht auf.
Das war ein Alarmsignal.
Suri schluckte die Erdbeere halb zerkaut runter und hielt die Luft an.