Raumschiff Promet - Von Stern zu Stern 23: Das fremde Ich - Gerd Lange - E-Book

Raumschiff Promet - Von Stern zu Stern 23: Das fremde Ich E-Book

Gerd Lange

0,0

Beschreibung

Eine Urlaubsreise in das Heimatland ihrer Mutter wird für Vivien Raid zur Katastrophe. Sie gerät in die Hände einer skrupellosen Gruppierung, die das Promet-II-Mitglied auf einen todbringenden Höllentrip schickt.Ein HTO-Team aus Elitekämpfern und Freunden begibt sich auf die Suche, um Viviens Leben zu retten. Doch auf sie wartet eine schockierende Entdeckung.Die Printausgabe umfasst 136 Buchseiten.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 141

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gerd LangeDAS FREMDE ICH

In dieser Reihe bisher erschienen

5001 Christian Montillon Aufbruch

5002 Oliver Müller Sprung ins Ungewisse

5003 Vanessa Busse Dunkle Energie

5004 Vanessa Busse Angriff aus dem Nichts

5005 Oliver Müller Gefangene der Doppelsonne

5006 Achim Mehnert Das Vermächtnis der Moraner

5007 Rainer Schorm Jedermanns Feind

5008 H. W. Stein & Oliver Müller Die Sklavenwelt

5009 Achim Mehnert Todesdrohung Schwarzer Raumer

5010 Vanessa Busse Entscheidung Risiko

5011 Ben B. Black Zegastos Kinder

5012 Michael Edelbrock Fremde Seelen

5013 Achim Mehnert Böser Zwilling

5014 Achim Mehnert Sternentod

5015 Achim Mehnert Das Ende der Promet

5016 Achim Mehnert Tötet Harry T. Orell!

5017 Achim Mehnert Das galaktische Archiv

5018 H. W. Stein Der Tod und das Leben

5019 Achim Mehnert Die Delegation

5020 Achim Mehnert Das Attentat

5021 Achim Mehnert Flucht aus der Terrorstadt

5022 Achim Mehnert Die Tragödie von Gij

5023 Gerd Lange Das fremde Ich

5024 Andreas Zwengel Geheimwaffe Psychomat

5025 Andreas Zwengel Im Bann der roten Sonne

Gerd Lange

Das fremde Ich

RAUMSCHIFF PROMETBand 23

Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2019 BLITZ-VerlagRedaktion: Jörg KaegelmannExposé: Gerd LangeTitelbild: Rudolf Sieber-LonatiLogo: Mark FreierSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-583-8Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!

Kanadische Republik, Yellowknife, Samstag, 06. Januar 2091, 19 Uhr Ortszeit

Seit fast zwei Stunden analysierten drei Männer die momentane Situation und das weitere Vorgehen. Enders Payntor befürchtete, auch diese Nacht erst wieder weit nach Mitternacht ins Bett zu kommen. Aber das war der Preis, wenn er in der Führungsebene von Terra den ­Terranern, kurz TdT genannt, hier in Kanada mitmischen wollte. Der Weg bis hierher war für ihn mehr als steinig gewesen. Aber er hatte es geschafft, das notwendige Vertrauen der beiden anderen Herren zu erlangen. Jetzt gehörte er dazu.

Alles hatte vor fast einem Monat begonnen, als Enders auf einer Versammlung der Gruppe den Schritt nach vorn gewagt und das Wort ergriffen hatte. Er hielt eine feurige Rede über die Machenschaften der Terra States, die Macht der Großkonzerne wie beispielsweise HTO, World Market oder Space Rocket Company und dem Zusammenspiel aller, die zu Handlangern von außerirdischen Humanoiden geworden waren: Diesen Moranern, die aus dem Nichts aufgetaucht waren und darauf abzielten, schleichend die Erde zu übernehmen.

Als Beweis diente neben vielen anderen Behauptungen die Bildaufzeichnung eines tödlich verlaufenen Attentats auf dem Planeten Suuk, bei dem der Abgesandte des Freien Frankreichs, Serge Bonet, durch die Hand einer Moranerin ums Leben gekommen war. Dass es sich bei dieser Aufnahme um eine geschickte Fälschung handelte, wussten nur wenige. Die beiden Anwesenden neben Payntor gehörten dazu, sie hatten den Auftrag zu dieser Fälschung erteilt.

„Es ist erstaunlich, wie schnell sich Partnervereinigungen zu uns in anderen Ländern bilden“, warf Dan O’Leary in die Runde. „Es gibt Terra den Terranern inzwischen schon in Mittelamerika, Nordrussland, im Freien Frankreich und neuerdings sogar in Jap-Asien. Und es werden sicher bald noch mehr.“

„Woher hast du deine Informationen?“, wollte Jerome Lefuet wissen. „Mir waren bisher nur die Mittelamerikaner bekannt.“

Der Mann irischer Abstammung mit dem rot schimmernden dichten Haarschopf schaute abwechselnd Lefuet und Payntor grinsend an. „Gestern habe ich mit Chris Durgent gesprochen, und der hat mir berichtet, dass er inzwischen zu mehreren dieser Gruppen intensiven Kontakt über das Ultranet hat. Sein Video hat wie ein Katalysator gewirkt, überall herrscht reger Zulauf.“

„Sehr gut“, brummte Payntor zustimmend. „Ich sag euch: Der Junge ist Gold wert. Auch wir haben in den letzten drei Wochen fast zwei Dutzend neue Mitstreiter bei uns aufnehmen können. Daran ist Chris nicht ganz unschuldig.“

Lefuet fiel ihm fast ins Wort. „Du aber auch nicht, mein lieber Enders. Speziell deine Rede hat dafür gesorgt, dass zumindest hier in Yellowknife einige Leute zu uns gestoßen sind. Wir sind jetzt mehr als dreimal so stark als noch zu Zeiten von Kanada den Kanadiern. Das ist auch dein Verdienst. Wir müssen nur immer darauf achten, nicht wieder von so einem Maulwurf wie diesem Claude Dupuis unterwandert zu werden.“

Insgeheim dachte Enders: Den du so brutal erschlagen hast. Wenn du wüsstest, dass O’Leary mir alles gebeichtet hat. Der wird mit deinem Mord nicht so einfach fertig wie du.

Die drei Männer prosteten sich zu, aber nur Jerome trank.

Wie immer war auch diesmal dieses schmucklose Büro ihr Treffpunkt. Der 37-jährige Lefuet saß an seinem Schreibtisch. Dan O’Leary und Enders Payntor hatten ihm gegenüber Platz genommen. Gemeinsam tranken sie einen angeblich irischen Whiskey, wobei sowohl Enders als auch Dan schon gleich zu Beginn ihres Treffens lauthals gelästert hatten, weil Lefuet wohl die billigste synthetische Sorte besorgt hatte.

Während Enders’ Gedanken noch um den Mord an Dupuis kreisten, der seinen Versuch, wichtige Informationen an Harry T. Orells Sicherheitsdienst weiterzugeben, mit dem Leben bezahlt hatte, erklang das Türsignal.

„Wer zum Teu...“, setzte Lefuet fluchend an, da erkannte er auf seiner Com das Gesicht des unerwarteten Besuchers. „Wenn man vom Teufel spricht, schon steht er vor der Tür. Es ist Chris Durgent. Was will er?“

Während die zwei anderen nur mit den Schultern zuckten und sich weiterhin dem mittelmäßigen Getränk widmeten, betätigte Jerome den Türöffner. Kurz darauf stürmte der junge Mann in das Büro, begleitet von kalter Januarluft. Draußen herrschte tiefer Winter.

„Habt ihr’s schon gehört?“, platzte es ohne Gruß überschwänglich aus ihm heraus.

„Was sollen wir gehört haben?“, fragte Jerome Lefuet, während O’Leary aufsprang, um vergeblich nach einer Sitzgelegenheit für Chris zu suchen.

Der Datenspezialist der TdT blieb sichtlich aufgeregt direkt neben Jeromes Schreibtisch stehen und verkündete seine Neuigkeit. „Sie haben Vivien Raid!“

Die anderen drei sahen sich unschlüssig an. Dann setzte sich O’Leary unverrichteter Dinge zurück auf seinen eigenen Stuhl und widmete seine Aufmerksamkeit wieder Chris Durgent. „Nun beruhige dich erst mal. Wer hat Vivien Raid?“

Doch Chris brachte in seiner Euphorie nur zwei Worte heraus, mit denen die anderen nicht viel mehr als bisher anfangen konnten. „Die Russen!“

Der Ire hakte nach. „Die Russen? Wen genau meinst du damit?“

Sie alle kannten die Stammmannschaft der Promet II aus diversen Berichten und Com-Sendungen. Es bedurfte daher nicht weitreichender Erklärungen, dass es sich bei Vivien Raid um die Technische Leiterin des Schiffes handelte. Lefuet war Peet Orell und ihr sogar schon begegnet, als er noch als unbedeutender Angestellter bei der HTO gearbeitet hatte, bevor er diesen Haufen, wie er es nannte, verlassen hatte. Lange bevor er Chef der Vorgängerorganisation von Terra den Terranern geworden war.

Um die Situation zu beruhigen, füllte Lefuet inzwischen ein weiteres Glas zwei Fingerbreit mit Whiskey. Er reichte es dem jungen Mann, der das Getränk genüsslich in einem Zug leerte. Die anderen lehnten ab.

Es entstand eine kurze Pause, in der sich Durgent sammeln konnte. Schließlich hatte er sich wieder so weit im Griff, um vernünftig antworten zu können. „Ich habe gerade im verschlüsselten Teil des Ultranets Kontakt zu einem Typen mit Namen Wiktor Boronin aufgenommen. Den Kerl kenne ich seit ungefähr einer Woche. Er behauptet, seine Gruppe habe die Astronautin Vivien Raid in ihrer Gewalt.“

„Ja, und?“, drängte nun Payntor, dem das alles zu lange dauerte. Er wollte rasch herausfinden, was an der Geschichte wahr sein konnte. Und das aus gutem Grund. „Ist das glaubhaft, was dieser Boronin sagt? Und was ist das für eine Gruppe?“

„Die nennen sich jetzt auch Terra den Terranern. Obwohl das Wort Terra bisher bei denen in Nord­russland nicht so gebräuchlich ist. Die Menschen dort sind seit Jahren fast abgeschottet vom Rest der Welt. Früher hieß die GruppeNordrussische Schwarze Front oder so. Sie leben in Archangelsk, der Hauptstadt der Republik. ­Wiktor hat mir zum Beweis ein Video gesandt, dass sie die ausländische Alien-Verbündete tatsächlich festhalten. So hat er Vivien Raid genannt. Obwohl er sehr schlechtes Englisch spricht.“

Er startete das Video auf seiner Com und zeigte es den Männern. Zu sehen war eine junge Frau, die offenbar wie in Hypnose auf Russisch diverse Fragen beantwortete, die eine andere Frau außerhalb des Bildes stellte. Dabei nannte Raid deutlich ihren Namen, was nicht nötig war, denn alle im TdT-Büro erkannten sie auf Anhieb. Es war zweifelsfrei Vivien Raid!

Und im Hintergrund des Films war ein Plakat mit einer Aufschrift zu sehen, die wörtlich übersetzt Terra den ­Terranern hieß. Auch das Logo mit Kreis und Pfeil hatten sie übernommen.

Jerome Lefuet sah Chris Durgent fragend an. „Das ist doch nicht etwa ein neues von dir zusammengestückeltes Video wie das vom Attentat von Suuk, mein Lieber?“

Ein verhaltenes Lachen von O’Leary war die einzige Reaktion auf diesen Scherz.

Nach einiger Zeit schaltete Durgent seine Com ab. „Ich denke, das reicht erst mal. Die Befragung geht bestimmt noch einige Zeit so weiter. Und zum Schluss unseres Gesprächs hat mir Wiktor Boronin erklärt, dass die Ausländerin die nächsten vierundzwanzig Stunden nicht überleben wird. Jedenfalls, wenn es nach ihm geht.“

Fordernd hielt er Lefuet sein leeres Whiskyglas entgegen, worauf der es bereitwillig wieder füllte. Chris schien das Gesöff, wie O’Leary das Getränk abwertend genannt hatte, durchaus zu schmecken. „Und Wiktor ist dort der Boss. Er sagt, wo es langgeht. Vivien Raid ist so gut wie tot!“, fügte Chris nach einem weiteren kräftigen Schluck hinzu.

„Aber wie kommt Raid überhaupt nach Nordrussland?“, fragte O’Leary den jungen Mann.

Darauf hätten gerne alle im Raum eine Antwort gewusst. Sie sahen sich an und schwiegen. Das war eine Aktion, wie sie die Gruppe dringend benötigte, um weiterhin Aufmerksamkeit zu erzielen.

Schließlich räusperte sich Lefuet. „Übersende uns das Video auf unsere Coms“, forderte er Chris Durgent auf, der seine Karriere ursprünglich als Hacker begonnen hatte. „Dieses ist ein erstklassiges Filmdokument, das möglicherweise einmal historischen Wert für alle, die sich nach und nach unter dem Signet von Terra den ­Terranern auf der ganzen Erde verbünden, haben wird. Lasst uns darauf anstoßen. Auf den Erfolg und unsere nordrussischen Freunde!“

Gemeinsam stießen sie an. Enders Payntor atmete innerlich durch und war froh, so einfach in den Besitz dieses Filmes zu kommen. Hätte er als Einziger um das Video gebeten, wäre seine Spitzeltätigkeit bei der TdT gefährdet gewesen. Jeder der anderen hätte sich zwangsläufig gefragt, wozu er es benötigte. So aber galt er weiterhin als loyales Mitglied der Gruppe. Jetzt musste er schnell einen Grund finden, Lefuets Büro zu verlassen, um seinen Auftraggeber zu informieren. Theodor Crook, der Chef des Sicherheitsdienstes der HTO, musste unbedingt sofort vom Schicksal Vivien Raids erfahren. Nur er hatte die technischen Mittel, um festzustellen, ob das Video tatsächlich echt war. Und nur er konnte bestimmen, was zu tun war.

Payntor wusste, dass er alle Hebel in Bewegung setzen musste, um Vivien Raids Leben retten.

*

18 Stunden zuvor: Erde, Unabhängige Republik ­Nordrussland, Samstag, 06. Januar 2091, gegen 9:00 Uhr Ortszeit

Endlich konnte Vivien Raid ein paar Tage ausspannen und ihre Jugendfreundin besuchen. Urlaub, drei Wochen Urlaub, und das mit Katja, dachte Vivien Raid gut gelaunt. Obwohl sie schon seit über zehn Jahren keinen Kontakt mehr zueinander gehabt hatten, wollte Katharina Korsakow ihre kanadische Freundin sofort wiedersehen. Und als Vivien sich Anfang des neuen Jahres bei Katja meldete, lud diese ihre ehemalige Schulkameradin nach Nordrussland ein. Hierher nach Archangelsk, wo sie noch immer lebte.

Vivien saß im Zug von St. Petersburg nach Archangelsk und überquerte gerade die Grenze. Rund 350 Kilometer lagen noch vor ihr, bis sie die Hauptstadt der Unabhängigen Republik Nordrussland erreichte. Auf dieser altertümlichen Bahnstrecke dauerte das noch unglaubliche fünf Stunden. Hier in der URNR hatte sich seit Jahrzehnten nicht viel verändert.

Die vorbeiziehende Winterlandschaft bot wenig Abwechslung. Verschneite Wälder, hier und da vom Schnee zugewehte Felder, in der Ferne gelegentlich ein einsames Dorf und dann erneut verschneite ­Wälder. Außerdem waren die Fensterscheiben im unteren Bereich von Eis bedeckt. Glücklicherweise funktionierte die Heizung einwandfrei. Vivien blieb genügend Zeit zum Nachdenken. Den Jahreswechsel hatte sie mit ihrem Vater in Kanada verbracht. Zwangsläufig hatte Clark ­Philip Raid irgendwann von der Zeit gesprochen, als er Prospektor einer großen Ölfirma in Nordrussland gewesen war. Damals, im Jahre 2065, hielt er sich in Archangelsk auf, als dort der Umsturz begann. Als Dolmetscherin und Fremdenführerin war ihm Ludmilla Uljanowa zur Seite gestellt worden, eine 25-jährige Russin. Zwischen ihnen blieb es allerdings nicht nur bei beruflichen Kontakten. Ohne ihre außerdienstlichen Beratungen zum ­Feierabend, wie sie beide ihre privaten Abende und Nächte scherzhaft nannten, hätte es eine Vivien Raid nie gegeben. Es gelang Viviens Vater, ihre Mutter mit einer abenteuerlichen Flucht aus dem Land zu schmuggeln. So kam Vivien im Frühjahr 2066 nicht in Nordrussland, sondern in Kanada zur Welt.

Als Vivien geboren wurde, befand sich das Land ihrer Mutter im Umbruch. Der Oligarch Grigorij Bajuschka hatte sich sehr geschickt in das Militär eingekauft und konnte mit dessen Hilfe gegen die damals im Land herrschende russische Mafia putschen. Als dann nach manipulierten Wahlen im August 2066 von ihm die Republik ausgerufen wurde, hielt es Viviens Mutter nicht mehr bei ihrem Lebenspartner und ihrem Kind in Kanada. Das Heimweh wurde größer. Und so ging Ludmilla zurück in ihr Vaterland.

Über all dies sprachen Vivien und ihr Vater vor ein paar Tagen, während sich Vivien im Auftrag der HTO auf ihre Reise nach Nordrussland vorbereitete. Nahe der Stadt Mirny beim ehemaligen Kosmodrom Plessezk sollte sie Tim Axelrod abholen, damit das neue Besatzungsmitglied pünktlich Anfang Februar den Dienst auf der ­Promet II antreten konnte.

Das Heimatland ihrer Mutter hatte sich in den letzten fünfundzwanzig Jahren unter der Herrschaft von ­Grigorij Bajuschka ständig nach außen abgeschottet. Es gab immer wieder Berichte über Mangelwirtschaft und politische Gefangene in der URNR. In den Jahren nach dem Tode ihrer Mutter war die strikte Abgrenzungs­politik Nordrusslands noch radikaler geworden. Reisen in dieses Land waren nur mit speziellen Einreisegenehmigungen erlaubt. Aber als Präsident Bajuschka vor einigen Wochen gestorben war, hatte sein Sohn Nikolai die Macht übernommen. Seitdem gab es erste zaghafte Veränderungen für eine bessere Zukunft der Bürger im Land.

Nach Jahren des Stillstands, gab es ohne Probleme Visa für die Ein- und Ausreise. Und so hatte Clark Raid die Idee, seine Tochter könne vielleicht noch einmal das Grab ihrer Mutter in Archangelsk besuchen. Dabei erinnerte sich Vivien auch an ihre russische Freundin ­Katharina Korsakow. Vivien fand schnell über ihre Com heraus, dass Katharina, zusammen mit ihrem Lebenspartner, noch immer in Archangelsk lebte.

Also meldete sich Vivien bei ihrer Freundin, die Zeit für sie hatte. Sie schoben ihr Treffen nicht auf die lange Bank und verabredeten sich in Archangelsk für den heutigen Abend. Dann begann dort das russisch-orthodoxe Weihnachtsfest. Anders als in den meisten Teilen der Welt, wurde es hier dreizehn Tage später gefeiert, denn um diese Zeitspanne unterschied sich der geltende, alte julianische Kalender von anderen Kalendern. In diesem Land war heute Heiliger Abend. Den wollten die beiden jungen Frauen zusammen feiern. In wenigen Stunden wollte Vivien nach Jahren wieder mal am Grab ihrer Mutter und bei Katharina sein.

*

Ein eisiger Wind mit heftigen Schneeverwehungen schlug Vivien Raid entgegen, als sie die Stadtbahn-­Station Ulitsa Gagarina verließ. Die Fahrt mit dieser innerstädtischen Röhrenbahn von Archangelsk, die in den 2070er Jahren weiträumig ausgebaut worden war, hatte nicht mal zwanzig Minuten gedauert. Hier herrschten tiefste Minusgrade. Schnell schlang sich Vivien den dicken Schal um Mund und Nase und drehte die Heizfäden ihrer Unterkleidung höher. Dann schob sie ihren Koffer mit der eingebauten Antigrav-Funktion vor sich her auf ihrem Weg zum Hotel. Zum Glück waren es nur wenige Minuten bis dorthin. Schon bei der Hotel­buchung hatte sie auch einen Gleiter bestellt, den sie hier in Archangelsk und Umgebung nutzen wollte. Als sie vor dem Eingang des Hotels stand, sah sie schon das Gefährt. Es fiel hier auf, vermutlich war es der einzige Flug­gleiter in der Ulitsa Gagarina. So hieß die Straße, in der sich sowohl das Hotel und der Friedhof mit der letzten Ruhestätte von Viviens Mutter als auch der Treffpunkt mit Katharina und ihrem Freund Stjephan befanden. Hier in Nordrussland war es noch immer sehr ungewöhnlich, ein Gleiterfahrzeug zu benutzen. Man merkte, dass dieses Land in den letzten Jahrzehnten abgeschottet von der Entwicklung der Industriestaaten existiert hatte. Und das nicht nur in Bezug auf den technischen Fortschritt. Umso bemerkenswerter wirkte die gut ausgebaute Röhrenbahn, deren Netz seit den 2070er Jahren in der rund eine halbe Million Einwohner zählenden Landeshauptstadt ständig erweitert worden war.

„Frohe Weihnachten“, grüßte Vivien Raid, als sie die kleine Lobby des Hotel Gagarin betrat.

Die Dame am Empfang des Hotels war verblüfft, als vor ihr eine Kanadierin stand, die russisch sprach. Wenn auch mit einem deutlichen Akzent und nicht immer mit der richtigen Betonung. Ihre übliche Klientel hatte wohl in den Jahren der Abschottung mehr aus den Matrosen der landeseigenen Flotte bestanden, wenn sie im Hafen festlagen, weil ihre Schiffe weder Fracht noch Aufträge hatten. Die Matrosen redeten ohnehin nicht viel, wenn sie mit ihren weiblichen, manchmal auch männlichen Begleitungen auf ihre Zimmer verschwanden.