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Eine poetische und melancholische Liebeserklärung an die Stadt Istanbul
»Als würde ich Tabak rollen, forme ich mein Ich zu einer Geschichte, vermische mein Leben mit dem Tabak, mit Wein und mit dem Blau und dem Schwarz der Nacht, und blase den Rauch in die Leere.« Auf der Suche nach dem echten Leben, seiner Armut, seinem Lärm und seiner Pracht, schweift Aslı Erdoğans literarisches Ich durch die Welt. Die Spur führt in eine ebenso reiche wie verwüstete Seelenlandschaft, in den Kindheitswald und nicht zuletzt in die verwinkelten Gassen der Stadt Istanbul. Die poetische Reise der preisgekrönten türkischen Autorin erscheint nun erstmals auf Deutsch.
»Asli Erdogans Prosa ist wunderschön und phantasievoll, ihr wurde ein enormes Talent geschenkt und sie lehrt uns alle, wie wichtig das Schreiben ist.« Ian McEwan
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Seitenzahl: 154
»Als würde ich Tabak rollen, forme ich mein Ich zu einer Geschichte, vermische mein Leben mit dem Tabak, mit Wein und mit dem Blau und dem Schwarz der Nacht, und blase den Rauch in die Leere.« Auf der Suche nach dem echten Leben, seiner Armut, seinem Lärm und seiner Pracht, schweift Aslı Erdoğans literarisches Ich durch die Welt. Die Spur führt in eine ebenso reiche wie verwüstete Seelenlandschaft, in den Kindheitswald und nicht zuletzt in die verwinkelten Gassen der Stadt Istanbul. Die poetische Reise der preisgekrönten türkischen Autorin erscheint nun erstmals auf Deutsch.
»Aslı Erdoğans Prosa ist wunderschön und fantasievoll, ihr wurde ein enormes Talent geschenkt, und sie lehrt uns alle, wie wichtig das Schreiben ist.« Ian McEwan
Aslı Erdoğan, geboren 1967 in Istanbul, ist eine der bekanntesten Schriftstellerinnen und Kolumnistinnen der Türkei und weltweit Symbolfigur für den Widerstand gegen die Willkürherrschaft in ihrer Heimat. Ihre literarischen Werke (u.a. »Die Stadt mit der roten Pelerine« und »Das Haus aus Stein«) sind in über zwanzig Sprachen übersetzt, Erdoğans Arbeit wurde mit einer Vielzahl von Preisen geehrt: 2010 erhielt sie den Sait-Faik-Preis, den bedeutendsten Literaturpreis der Türkei, 2017 den Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis und 2018 den Prix Simone de Beauvoir. Im August 2016 wurde Aslı Erdoğan nach dem gescheiterten Militärputsch in der Türkei zusammen mit 22 anderen Journalisten verhaftet und monatelang im Gefängnis festgehalten. Erdoğan lebt im Exil in Deutschland.
»Eine außergewöhnlich feinfühlige und scharfsichtige Autorin, ihre Romane sind Meisterwerke.« Orhan Pamuk
»Erdoğan lässt sich den Mund nicht verbieten, nicht als Journalistin und nicht als literarische Autorin.« hr2 Kultur »Frühkritik«, Hadwiga Fertsch-Röver
www.penguin-verlag.de
ASLIERDOĞAN
REQUIEMFÜR
EINEVERLORENE
STADT
Aus dem Türkischen
von Gerhard Meier
Nachwort von Gerrit Wustmann
Abweichende Ausgaben dieses Werkes erschienen unter dem Titel Hayatın Sessizliğinde bei Everest Publishing, Istanbul (2005) und unter dem Titel Requiem pour une ville perdue bei Actes Sud, Arles (2021).
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Copyright © Aslı Erdoğan, 2005–2020
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022
Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Dieses Buch wurde vermittelt durch: Agence littéraire Astier-Pécher
ALLRIGHTSRESERVED
Umschlaggestaltung: Sabine Kwauka
Umschlagabbildung: © Arcangel/George Cairns
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-29135-8V001
www.penguin-verlag.de
INHALT
IN DER STILLE DES LEBENS
ÜBERDIEEWIGKEIT
Das erste Verbrechen
Der Schrei
Das Dasein
Das ägyptische Totenbuch
Alle Frauen der Stadt
Die Wüste
Über die Ewigkeit
Mein Herz!
Das Wunder des Blutes
GERECHTIGKEITIMTOD
WASFEHLT
Wo doch
Das Warten I–III
Ein weltgeborenes Herz
Was fehlt
Um nicht zu schreien
Der Kindheitswald
Ein langer, nackter Ast
Aufbruch
Der lange Weg der Wörter
Abschied
ICHBINVERBORGENUNDBINESNICHT
EINMÄRCHENFÜRGALATA
DERABENDDERWÖRTER
INDERNACHTRUFEICHNACHDIR
DIEMASKENDESNARZISS
ABSCHIEDSBRIEFE
April 2003
7. Dezember 1990
Anfang Sommer 1990
11. September 2000
September 2001
LEBENSLAUFFÜREINEGEFÄNGNISMAUER
ZUDIESERSTIMMESAGEICHVORLÄUFIG »DU«
DIESESLAND, DASSIEDASLEBENNENNEN
WÖRTER
DASEIGENTLICHEWUNDERDESWORTES
Die zerknitterten Pergamente des Gedächtnisses
Das Licht, das jeglichen Anfang ermöglicht
ALLESTUNDENUNDKEINE I
STUNDEDERTRENNUNG
ALLESTUNDENUNDKEINEII
WASHÖRTDERMENSCH?
DIESTUNDEDERABWESENHEIT
DANACH
ÜBERS LEBEN REDEN – Nachwort von Gerrit Wustmann
IN DER STILLE DES LEBENS
ÜBER DIE EWIGKEIT
Das erste Verbrechen
Früher, sehr viel früher, im Goldenen Zeitalter, das niemals wiederkehrt, als die Ewigkeit noch nicht an die Zeit stieß, war das Licht. War das Wort. War das Herz, das aus dem Wort entstand. War die Erde. Die Form. All das aber genügte nicht, um die Welt der Menschen erblühen zu lassen. Die Götter erlernten das Zerschlagen. Das erste Verbrechen wurde begangen, ein Bruder erschlug seinen Bruder. Wasser vermischte sich mit Blut, das Licht mit dem Schrei … Das noch Ungeborene trennte sich auf ewig vom Sterbenden, das Wort fiel aus dem Herzen, die Form vergaß ihr Gesicht. Wie ein roter Vorhang spannte sich das Blut zwischen Leben und Tod. Daher bleibt unser Leben stets unfertig, unvollkommen, jeden Tag erdrosselt in uns ein Gott einen anderen, und jeden Tag erschaffen wir uns aus der Vermählung von Blut und Träumen aufs Neue.
Der Schrei
Manchmal sah meine Mutter mir lange ins Gesicht. Auf einmal wurde ihr Blick so leer wie ein ausgetrocknetes Flussbett. Aus jenem Blick, der niemandem mehr gehörte, zog das Leben sich ganz und gar zurück. Da musste ich plötzlich wieder an die Angst tief in mir denken. Vor der Abtreibung war meine Mutter im letzten Augenblick zurückgeschreckt, an der Tür noch. Darin besteht das Geheimnis, das Wunder eines Lebens, meines Lebens. Mir war, als läse ich aus den Sträuchern und Kieseln entlang des Flusses meine Geschichte von Anfang bis Ende. Der Schrei ihres blutenden, aufgerissenen Leibes ging auf mich über. Dieser aus den Tiefen der Erde, der frühesten Geburt stammende Schrei, der in der Stille sprießender Bäume, keimender Ähren, in der Stille des Lebens und der Worte fort und fort hallt, bis er an der Leere des Himmels zerbricht.
Das Dasein
Ich bin aus tausend leuchtenden Tropfen entstanden, aus zur Erde fließendem Blut, aus Sternenstaub, der über die Wüste wehte, aus der verhallenden Melodie des Liedes von allem Anfang … Ich bin die Summe all dessen, was mir gewährt und nicht gewährt wurde, was ich verloren habe und noch verlieren werde, aus dem Blut der Worte und dem Schweigen. Ich bin, was sich in einer oft erzählten Geschichte unausgesprochen verbirgt, bin die Geduld des im Sand vergrabenen Samens, der auf den Wüstenregen wartet, bin ein langer Blick vom einen Ende des Nichts zum anderen, bin das Lied von allem Ende, das nach seiner Melodie sucht. Und noch niemand hat mein Gesicht ohne Schleier gesehen.
Das ägyptische Totenbuch
Mein Herz!
Mein Herz, das ich von meiner Mutter habe! Mein Herz, das Erbe aller Zeiten! Zeuge nicht gegen mich, verleugne mich nicht, werde mir nicht zum Feind! Lass uns nicht zu Rivalen werden. Denn du allein rettest meine Seele, hältst mich zusammen. Sei mein Führer, geh mir voraus auf jenem Weg, den alle beschreiten, auf der Suche nach dem Glück. Streich meinen Namen aus jenem furchtbaren Gemenge, das sich Menschheit nennt.
Verbreite keine Lügen über mich. Es reicht, wenn du mir zuhörst. Das allein ist mir genug.
Alle Frauen der Stadt
In dieser Nacht haben alle Frauen der Stadt geweint. Dunkle Brillen, tönendes Gelächter, Lippenstiftlächeln … Keine vermag die Spuren ihrer Tränen zu verbergen, seien diese vor ein paar Sekunden geflossen oder bereits vor Jahren, in irgendeinen unterirdischen Fluss.
Meist sah ich den Frauen vom Fenster aus zu, nach Einbruch der Dunkelheit, wenn ihre Adern im grellen Kunstlicht gleichsam durchschienen. Zu zweit saßen sie da, nebeneinander oder einander gegenüber, und steckten die Köpfe zusammen. Manchmal gesellte sich eine dritte dazu, wie Vögel versammelten sie sich um den Tisch. Darauf waren verschiedene Zigarettenmarken aufgereiht, fest verschlossene, ihren individuellen Schatz bergende Handtaschen, und Telefone. Saß eine allein da, ließ sie das Telefon nicht aus der Hand, um sicherzugehen, dass ihr Alleinsein nicht von Dauer wäre. Einsam wie sie waren, sahen die Frauen einander an. Warfen die Haare zurück, öffneten die Gesichter und zeigten, dass sie sich von ihren Wunden nicht besiegen ließen. Die Blicke, die sich in den Gläsern verfingen, färbten den blutroten Wein noch dunkler.
Manchmal seufzte eine der Frauen leicht, zwei verfielen in Schweigen, die dritte blickte in die Dunkelheit, dann lachten alle drei erneut. Mit blutleeren Worten erzählten sie sich rasch ihre Lebensgeschichte, mit vorgekauten Worten, die einen Flügelschlag lang ans Herz rührten. Womöglich ahnten sie, dass eine neue Welt nur mit Spucke herangären konnte. Dann kredenzten sie sich gegenseitig ihr Schweigen. Wie die unter Stoffschichten verborgenen Brüste nährten ihre Tränen die Wurzeln des Lebens.
Heute Abend, in dieser leeren blauen Stunde, nehme auch ich diesseits der Fensterscheibe meinen Platz unter den Frauen ein. Als würde ich Tabak rollen, forme ich mein Ich zu einer Geschichte, vermische mein Leben mit gekautem Tabak, mit Wein, dem Blau und dem Schwarz der Nacht und blase den Rauch in die Leere. Von hinter der Scheibe vernehme ich meine Stimme, doch ob ich das Ich, das ich hierlasse, eines Tages wiederfinde und auch tatsächlich zurückhaben will, weiß ich nicht.
Die Wüste
Zwischen die Steine in der endlosen Wüste der Einsamkeit fährt auf einmal der Wind, eine Fackel flammt auf und beleuchtet die leeren Gräber … Auf den Särgen erscheinen flackernde Bilder, ein verhängnisvoller Buchstabe reiht sich an den nächsten, und der glänzende Tanz der Kobra beginnt. Die erloschenen Gesichter der Mumien beginnen zu leuchten. Das Licht aus ihren Augen zeichnet die verschlungenen Wege der Ewigkeit nach und öffnet die Türen, die sich hinter den Toten verschlossen hatten. Die Flügel der steinernen Frau heben sich, erstrecken sich vom einen Ende des Lebens zum anderen, und die schwere, stumme Zunge aus Stein kündet von der Wahrheit der menschlichen Seele. Da erlischt das Feuer, folgt wie alles andere dem Ruf des Schlafes. Die Nacht umfasst die Nacht. Die Dunkelheit wird zur Finsternis.
Über die Ewigkeit
Wir, die getöteten, bei filigranen Verbrechen zerfetzten Frauen der Stadt, sind im Keller des herrlichen Palastes versammelt, der für uns errichtet wurde. Schulter an Schulter, Rücken an Rücken stehen wir dicht an dicht beisammen, wie trunken tanzende Engel, denen es nicht gelingt, ihre Flügel zu entfalten. So eng ist alles, dass die Träne der einen auf der Wange der anderen herabläuft und dort Spuren in den Farben des Lebens hinterlässt. Wimperntusche vermischt sich mit Lidschatten und Staub. »Wir können fliegen«, sagen wir wie aus einem Mund, »wir haben uns auf den Weg gemacht, dem rotglühenden Ruf des Horizontes folgend. Wir sind am Himmel, den wir so lang nicht gesehen haben.« Wenn wir einst beschließen zurückzukehren, werden unsere Gesichter völlig ausgelöscht sein. Zug um Zug, Buchstabe um Buchstabe werden wir uns auflösen. Wir werden die Wörter und die Gläser füllen und dunkel färben, werden wie Samen in der Wüste zerstreut, werden zu Regen werden und die Legende von der Ewigkeit aufführen.
Mein Herz!
Mein Herz, das die Wüste und das Blut meiner Mutter in sich trägt! Mein Herz, geformt von den Messerstichen der Zeit. Weder du noch ich waren einsamer als Gott, auch nicht unschuldiger als er. Wir teilten ein Glas tiefschwarzen Wein, von jenem furchtbaren Gebräu, das sich Menschheit nennt. Wie zusammengebundene blinde Bettler schleifte man uns dem Glück hinterher. Nun bin ich noch weiter unten als du in deinen Abgründen. Ich umschlinge dich wie einen Toten, der auf sein Begräbnis wartet. »Lass mich nicht allein«, rufe ich, »lass mich ja nicht allein!« Vom einen Ende der ewigen Einsamkeit rufe ich zum anderen, und du wirst immer kleiner und versteinerst und bist nur mehr eine graue trauernde Statue, das Überbleibsel einer langen Vergangenheit, und du weinst im Morgengrauen. Dann wächst du ins Unendliche und regnest auf die Wüste herab, durchsichtig wie ein Wassertropfen. Weder einsamer noch schuldiger als Gott war ich, als ich den letzten Messerstich versetzte. Da hast du die Augen geschlossen und meinen Namen geflüstert. Mein Herz! Hörtest du mich etwa? Hörtest du mich die ganze Zeit?
Man tritt vor Osiris, der über die Toten richtet. In der einen Waagschale ein Herz, in der anderen eine Feder. »Ein Toter muss durch siebzig Tore«, heißt es bei den alten Ägyptern. Vor dem Losgehen muss man tief Atem holen.
Das Wunder des Blutes
Auch das ist meine Geschichte. Meine Geburt, mein Tod und alles dazwischen. Zwischen so vielen Geschichten noch eine Geschichte, die an der Stille zerschellt … Zwischen so vielen Seiten noch eine Seite, die schnell gelesen und, kaum umgeblättert, schon vergessen ist. Vielleicht nur ein Komma zwischen zwei gleich langen Sätzen, zwischen gestern und heute.
Das Wunder des Wassers besteht darin, die von Jägern abgeschossenen Vögel wieder an die Oberfläche zu bringen, sie zwischen den Widerschein der Wolken zu schicken, den so lange angelegten Flügeln einen neuen Himmel zu versprechen. Und das Wunder des Blutes wird darin bestehen, meine Worte ins Leben zu schicken und meiner Zerfetztheit einen neuen Leib zu versprechen. Deshalb streife ich nachts auf dem Friedhof der Worte umher und rufe den Toten verzweifelt zu: »Wacht auf! Wacht auf!« Und mein Gedächtnis wartet als irdenes Gefäß unter dem Kreuz, es wartet und wartet …
GERECHTIGKEIT IM TOD
Eine Person wird ausgewählt, nur eine einzige, sie darf zurückkommen. Am wieder und wieder benutzten Kreuz mischt junges Blut sich mit altem. Das blinde Holz saugt alles auf, denn sein Gedächtnis ist das Reich der Bäume. Bedächtig umarmt es jeden Leib. Wie in die Adern eindringender Rost kehrt die Einsamkeit über die Handgelenke ins Herz zurück.
In der endlosen Kälte der Wüstennacht reihen sich die Toten um ein Freudenfeuer. Das Wasser und das Brot des Sandes werden in aller Stille verteilt. Niemand spricht. Niemand fürchtet sich. Niemand hofft. Einer nach dem anderen erlöschen die Sterne und fallen wie Regen auf die Augen herab, die nichts mehr sehen. Das Licht ist ein Augenblick, der jeden wärmt.
Einer sucht nach seinem Kind, dreht jede Leiche um und verschließt ihr mit einem Totenlied die Augen. Durch und durch geht uns dieses Lied in der Stille des dahinfließenden Lebens. Das Totenlied entspricht unserem verrosteten Schweigen, wenn wir zu den Sternen emporblicken oder auf Friedhöfen nach geliebten Menschen suchen. Oder Wasser ins Meer gießen, damit die Ertrunkenen ihren Durst stillen.
WAS FEHLT
Wo doch
Wo ich doch der Körper bin, in dem die Zeit sich entfaltet, die Erinnerung an die Geheimnisse des Wassers und des Lichts, das sich mit dem Dunkel vereint, wo ich die Melodie bin, mit der alles beginnt, die Gebärmutter, die mit Milch gefüllten Brüste, die Erde, die aus tiefem Schlaf erwacht: Warum kann ich dann nicht geboren werden? Wo ich doch all das bin und zugleich ich selbst: Warum gehört mir dann nichts in mir drin, nicht einmal der Schmerz? Wo es doch tausend Jahre gedauert hat, bis ich aus Legenden, Bildern, Begriffen und Sprachen entstanden bin: Warum habe ich dann bis heute keinen Ort und kein Wort gefunden, in dem ich sein dürfte? Wo doch unter dem Himmel nichts Neues zu sagen ist und jeder Satz, jeder Vers, jede Geschichte schon unzählige Male ausgesprochen wurde: Welches Schreies Echo bin ich dann? Welches Schweigens? Wäre ich der Mond, der endlos stirbt und wiederaufersteht, der aus dem Nichts geboren wird, wächst und die Wasser der Ozeane hinter sich her schleift, wie könnte ich dann das Weite und das Ende so gut kennen?
Wo doch meine Kraft für die Hölle reicht … Was besiegt mich dann stets?
Das Warten
I
Warten. Auf den Jüngsten Tag, den Messias, auf von der Grenze zurückkehrende Boten, auf das Schmelzen des Schnees, auf besseres Wetter … Auf das erste Zucken des Ungeborenen, auf einen Ruf, ein Gerichtsurteil. Auf das Ende der Stunden, den Schlaf, die Wiedergeburt. Auf ein Wort, das – in die Leere geworfen – diese in ihrer Gänze durchmisst und sich in tausendfachen Glanz verwandelt.
Mein Körper sackt auf das lakenlose Bett, als würde er zu Boden sinken, doch sogleich springe ich wieder auf. Sehe auf die Uhr. Blicke prüfend auf mein Handy. Bevor das Lied zu Ende ist, spiele ich es noch einmal von vorne ab. Ich zünde mir eine weitere Zigarette an. Greife wieder zu meinen Amuletten und erschaudere, wie zerbrechlich sie doch sind. Ein Gesicht, das dem meinen nicht mehr gleicht, schminke ich, damit es ihm noch weniger gleicht, dann wische ich alles wieder ab.
Ist etwa das meine Art, mich zu lieben? Dass ich mich noch schlechter behandle, als Gott es tut?
»Worauf warten wir hier alle zusammen?« Auf alles und nichts. Auf wärmere, auf kühlere Zeiten, auf die schönsten Jahre unseres Lebens, auf die Barbaren, auf Kommende und Gehende. Auf ein Wunder. In meiner müden, verbrauchten Stimme scheint sich ein uralter Schmerz ausdrücken zu wollen, gleich einer vor langer Zeit vergrabenen Gebärmutter. Schweigend falle ich von einem Wort ins andere, erlebe meinen Körper jedes Mal wie einen Fleischklumpen zwischen Leben und Tod.
Ich gehe zwischen den Wänden hin und her, zwischen Wänden und Spiegeln, Spiegeln und Fenstern, und finde immer einen Vorwand, um auf die Straße zu sehen. Steht an der Ecke ein Fremder, fühle ich sofort Hass in mir emporsteigen, denn nichts lindert das unerträgliche Gefühl, mit mir selbst eingesperrt zu sein, alles gleicht tosendem Wasser, das an einen Felsen prallt: die Augenblicke, die Sätze, die Melodien. Ich reiße ein neues Päckchen Zigaretten auf. Könnte ich doch bloß ein wenig schlafen! Selbst das Bett verschmäht mich, und die Gegenstände, die mir in meiner Einsamkeit Gesellschaft leisteten, wenden sich frech von mir ab. »Wann kommt er zurück? Frage nicht!« Jeder Augenblick ist wie ein Nadelöhr, durch das ich hindurchmuss, ich, mit meiner langen Vergangenheit, meinem Durcheinander an Identitäten, einmal, und dann noch einmal, und ein ganzes Leben lang. Ich bin ins Jetzt gepfercht, in eine mühselige, eifersüchtige, schwere Zeit. »Du musst schlafen«, sage ich mir, »du musst vom Fenster weg.« Ich gehe auf und ab, hin und her, doch mein Körper vermag die Stunden nicht auszufüllen; nur wenn er sich in eine steinerne Statue verwandelte, könnte er der gierigen Zeit gerecht werden; es wäre dann viel leichter, auf jemanden zu warten, von dem man weiß, dass er nicht kommt; »Sei stark«, sage ich mir. Nein, nicht jetzt. Jetzt ist jedes Wort, jeder Augenblick, jedes an der Ecke auftauchende neue Gesicht, jeder Spiegel, in den ich blicke, nichts weiter als eine leere Schablone, geformt aus deiner Abwesenheit. Nein, nicht jetzt, später werde ich stark sein!
Wie lange dauert es, in den harten Felsen des Gedächtnisses einen Platz für sich zu fräsen? Wie lang kann dieses Warten dauern? Wie viele Wörter braucht es noch, damit ich in eine Zukunft geboren werde, die ich nicht ersonnen habe, und sie auch nicht mich?
Wie viel Zeit verbleibt mir noch?
II