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Mynonas Grotesken verbinden das Heitere und Ernste, das Komische und das Grausige, das Tiefsinninge und Banale in paradoxem, humoristisch-ironischem Spiel. Schrankenlose Fantasie verbindet sich mit scharfer, spöttischer Zeitkritik. Die Sammlung enthält 37 Grotesken, die fünf Büchern entnommen sind, den wichtigsten Buchveröffentlichungen Mynonas aus den Jahren 1913 bis 1928, u.a. "Rosa, die schöne Schutzmannsfrau", "Goethe spricht in den Phonographen", "Gebratenes Sphinxfleisch", "Faust lacht sich ins Fäustchen".-
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Seitenzahl: 289
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Herausgegeben von Ellen Otten
Saga
Es war einmal ein Riese, der war so zart, so zart! Und nun ging er durch die Menschen. Wie sanft nur setzte er seine Schritte, wie sanft. Und noch mit seinem allersanftesten zertrat er so viele nette freundliche Menschen: Frau Direktor Buller ganz platt, ganz platt; Herrn Geheimrat Wersch; Herrn Omnibuskutscher Koppke; so nette Menschen zertrat vorsichtig der zarte Riese. Da weinte er. Wie Wolkenbrüche, aber salzig, stürzten seine Tränen auf gute, liebe Menschennaturen. Die Kinderschule, ja die Kinderschule kam ins Schwimmen, brach ein, sank. Der Riese weinte, Mütter schrieen, Versicherungsgesellschaften starben. Der schmerzlich bewegte Riese warf sich zu Boden, aber die Erde bebte: London, Madrid, Zehlendorf und Nowawes fielen zusammen wie Kartenhäuschen. Gut, gut meine ich es, beteuerte der zarte, so zarte Riese, und seine reuige Stimme erzeugte einen solchen Luftdruck, daß achtzig junge und alte Kellner des Luna-Parkes weggeweht wurden wie Papierschnitzel. Der Riese stieß einen tiefen Seufzer aus seiner grameswunden Brust, es explodierte davon ein Krematorium nebst vier Friedhöfen, ein Hagel von Asche und Gebeinen wirbelte durch die Lebendigen. Und es graute dem Riesen vor sich selber, als er, von Witwen und Waisen umgraupelt, auf flachem Felde hingestreckt lag; unter ihm ein Gutshof mit einer Meierei, alles voll verröchelnder Tiere und Menschen. Tötet, o tötet ihr kleinen, feinen Leute mich, den sanften Mörder eures Glücks, bat der Riese. Da hatte er gut bitten, sein Wimmern zerpuffte ein Wöchnerinnenheim, eine Grenadierkaserne, die natürlich in der Nähe lag, einen regierenden Herrn, der mit herrlichem Auto daherbrauste, und ein paar alternde Mädchen, die zum Postamt eilten. Aber, lächelte der Riese, und überirdische Wehmut brach aus seinem Blick – aber kann ich Sanfter, der ich nur zu groß bin, viel zu groß bin um der guten, dieser lieben, so kleinen, so niedlichen, munteren Leute willen, mich nicht selber töten? Hallelujah, lallte er ganz leise aus Furcht, jemanden zu verletzen; Heureka, lächelte er bei sich, wohlan! Er nahm einen tollen Anlauf, sprang himmelhoch, vollführte in den Wolken einen Salto mortale und fuhr kopfüber so blitzlings mit dem Schädel auf die nächste Kirchturmspitze, daß seine Seele gar nicht ohne Salbung von hinnen ging. Der Turm schlug mit dem prachtvollen Gigantenleib zwei Stadtteile in Trümmer: der Dichter Promethke starb bei dieser Gelegenheit. Und nun begann – nasus teneatis! – das Zeitalter der Verwesung, das noch bis auf die heutige Nacht fortdauert. – So kann wahre Sanftmut wirken wie höllischste Teufelei – sollte sie von einem Riesen herrühren.
Ja, sagte Ottokar, der arme flügellahme Ottokar, das da sind meine verdorrenden Blumen; das da ist mein bezaubernder Schnaps: und hier – und hier – hier ist mein nahrhaftes Evolutionsgift. Wie sollte ich das Leben hassen, dessen Unmöglichkeiten so anspornend sind? Es ist Sommer! Es ist eine Nacht mit Sternenjubel, mein Herz strahlt von der Dunkelheit aller Wünsche, der Mond ist sonnig und hüllt die Erde in goldene Schleier; und Ottokar – Ottokar ist – ist chrysalidisch. Nein, nein, dieser Sommer ist der Winter viel hehrerer Jahreszeiten, dieses blühende Leben ist die Knospe herrlicherer Blüten, die Erde ist das Grab einer himmlischeren Auferstehung. Nehmt, sagte Ottokar, ihr, welke Blumen, Tropfen für euren Durst!
Die Platte des Tisches war aus rotem Glas. Dieses Glas aber wölbte sich ausgehöhlt, und in der Höhlung lagen wasserlos dürre Blumenleichen, kleine, große, weiße, bunte, zarte, tolle. Lernt fiebern! rief Ottokar und goß aus einer breiten, funkelnden Kanne den saftigen, honiggelben Schnapssaft auf die Blumen in der Höhlung. Er löschte die matte Lampe des offenen Gartenzimmers aus, der Mond glutete dämonisch, die Blumen zitterten und sangen. Sie singen, sagte Ottokar und blieb stehen, den rechten Zeigefinger unter das Kinn gebohrt; sie zittern; es wird. Es war, als ob das Mondlicht über der Blumenhöhlung brütete. Die Flüssigkeit geriet ins Wallen, die Blumen schwankten über ihre Fläche, ihr leises Singen wurde lauter, es waren Töne irrend wie von Äolsharfen. Ottokar goß die Kanne völlig über die Blumen aus – da, nach und nach erhoben sich diese über die Fläche, ihre leisen Stimmen klangen voller und harmonierten wie ein fernes Jauchzen. Jetzt stieg leuchtend auf langem Stiel aufgerichtet eine bunte Blume bis zur Zimmerdecke mit klarem Ton wie von anklingenden Weingläsern. Dieser Ton hallte von allen anderen Blumen höher und tiefer nach, sie erhoben sich, stiegen empor, vereinigten, verschlangen sich, schwebten, ein Chor, um Ottokar kreisend, der einen Antrieb zum Tanzen verspürte; die Flüssigkeit verhauchte einen betäubenden Duft, mit dem erwachenden Dufte der Blumen gemischt. Ottokar griff mit zärtlichen, verliebten Händen in die fliegenden Blumen, aber deren Gesang wurde ein hell und fein klirrendes Gelächter; etwa wie Schmetterlinge lachen würden, wenn sie könnten. Das Gelächter wurde ein Schrei, das Schweben ein fliegender Galopp, ein taumelndes Stürzen, Pendeln und Heben. Die Blumen alle waren total bezecht. Na also, konstatierte der arme Ottokar befriedigt, man kann Blumen schon in élan bringen, eure Natur wirkt auf mich so verschlafen, ich selber komme mir so flügellahm vor, – berauscht müßten wir alle werden, aber recht nachhaltig, ohne Katzenjammer. Rausch ist ein Motor, wenn man mit Flügeln ihm nachkann! Sonst natürlich bleibt man um so kriechender und lahmer hinter ihm zurück. Den Rausch vertragen, genügt nicht – man muß ihm kongenial sein. Offenbar haben diese Blumen es in sich: aber was – was? Und es antworteten die Blumen, indem sie zu phosphoreszieren begannen und sich zu leuchtenden, klingenden Zeichen mit einander verstrickten. Diese gaukelnden Hieroglyphen bildeten einen Sinn. Sie taten sich zu ihm zusammen, wirkten sich in einander, quollen in Gliederformen – wirklich, sie bildeten einen Leib, ersichtlich einen wunderschönen menschlichen Leib, das Lachen, Singen, Klingen verstummte: Vor Ottokar stand ein junges Mädchen: ich bin diese Blumen, sagte es schlicht, unornamentalisch.
Oo, so! erwiderte Ottokar, Sie sind – Sie sind diese Blumen! Er sah sie freundlich an und legte seine Rechte auf ihre linke Schulter: wie kommt das? fragte er ebenso schmucklos. Na, Theorie? lächelte sie. Liebster Ottokar, man hat Verstand oder man ist phlegmatisch. Ein Mädchen hat keinen Ursprung als – den Wunsch des Mannes. Wie wäre das doch naiv, wenn ein Mann viel danach fragte. Ein Mädchen ist immer schon eine Antwort. Und mein lieber Freund, wenn Sie in einer trunkenen Sommernacht Blumen berauschen, Welkheit zu Blut, zum Tanz und Gesang wecken – mein lieber Freund: man macht etwas sehr Liebliches niemals geweckt und trunken, ohne daß ein Mädchen daraus wird – hahaha, es gibt angenehme Tendenzen. Was schlummert nicht alles und wartet, bis man es weckt. Wie – wie – wie sehr, Ottokar, wartete ich auf dich – auf dich in diesen Blumen – ja Blumen! Ottokar nahm seine Hand von ihrer Schulter, trat zurück und fragte: wie nenne ich dich? – Nenne mich: Theo; lasse das -rie eben weg, mein Freund! Und wie, fragte Ottokar, und wie, Theo, verwandle ich dich in meine guten dürren Blumen zurück?
Theo schwieg 3½ Minuten. Dann sagte sie einfach: es ist nichts einfacher! Gieße den Schnaps aus der Tischhöhlung und lege mich hinein. Du mußt in mein Herz stechen, und wenn ich verblutet bin, ist alles getan. Ottokar führte dieses aus. Theos Blut brach wie eine leuchtende Schlange aus der Wunde, füllte purpurn das Becken, sprühte über den Rand und war auf einmal versiegt. Im Becken lagen, als wenn nichts gewesen wäre, vertrocknete Blumen.
So Mädchen sind riesig gefällig, dachte Ottokar. Die Sache ist aber die: mir ist es ja viel interessanter, zu erfahren, was in mir selber schläft, wartet, geweckt werden will. Ich bin selber eine Menge verdorrter Blumen, ein Herbarium von Erlebnissen. Was nutzen mir diese Theos, mögen sie meinethalben auf ihre Männchen warten; weiß Gott, ich bin kein Männchen. Eher selbst ein Weib, von Möglichkeiten schwanger, und doch – und doch so verzweifelt unfruchtbar? – Der Tod – halt, halt, halt! Im Tode liegt das ganze Geheimnis! Moriturus nisi mortem comederit non fit vivus. Den Tod essen, vertragen können. Das wär’s! Blausäure? Oha! Tod ist nur ein etwas komplizierterer Rausch; betäubt. Aber könnte, wenn man’s aushielte – training! – heben, elektrisieren, beflügeln, erzeugen, ganze Geschlechtlichkeit und Generation ersetzen. Grader Weg! Dieser Männer-Weiber-Kinder-Zauber ist faul, ein Schleichund Umweg.
Aber Training? Desgleichen eine kriechende Verlangsamung, man könnte springen. Leben ist nichts als gut verdauter Tod. Gift ist das idealste Nahrungsmittel, wenn man’s vertragen kann. – Das Mondlicht stand mitten im Zimmer wie ein Gespenst, grau dorrten die Blumen im gläsernen Tische.
Die Temperatur fieberte; draußen im Garten verfehlte eine Fledermaus nicht zu schwirren. Wie stimmungsvoll! ironisierte sie Ottokar, er holte ein kleines Fläschchen aus seiner Westentasche und stieg die Altantreppe nach dem Garten hinunter. Bleiche Helle, der Mond hoch über ihm, der Sand fahl wie Gewitterwolken, eine gespannte Stille, die Gebüsche und Bäume starrten wie hypnotisiert; aber die Sterne blitzten, brannten verlangend.
Schmerz und Ohnmacht offenbar, sagte Ottokar, verhindern uns am Wollen. Bin ich ein Optimist, wenn ich Tod, Schmerz und Ohnmacht nur für Feuerproben des Willens und unsern Willen für gelähmt halte? Mir scheint, Optimisten sind genügsamer? Gleichviel. Mucius Scävola ließ nur seine Hand verbrennen. Halloh, ich denke, der Stoffwechsel hat sein ganzes Geheimnis noch nicht offenbart! Mir soll er’s! Dieser mein Leib soll seinen Stoff recht gründlich wechseln, indessen ich meinem Willen seine Form untertan mache. Mit diesen Worten trank Ottokar das Fläschchen aus (ach du liebe Zeit)!
Eine Zeitlang widerstand der Leib, dann wurde er von einem so höllischen Schmerzensfeuer durchrast, daß er vorzog, zu weichen. Ottokars Geistesgegenwart, enorm angespannt und erhöht, wohnte nur sehr kurze Zeit dieser Art Leib inne, dann verließ sie mit unmerklicher Plötzlichkeit ihren Körper, sah ihn, während ein neuer sie sacht umgab, außen vor sich liegen und fühlte sich eigen in diesem neuen; der alte lag wie eine abgeworfene Schlangenhaut auf dem gelben Gartensandweg im Mondlicht. Und Ottokar fühlte Flügelarme und -beine an seinem neuen Leib. Er erinnerte sich seines früheren Selbstes wie eines anderen. So hatte ich recht, argumentierte Ottokar, als ich den Menschen für ein gelähmtes Flügelwesen hielt. Es hat wehgetan, und eigentlich bin ich gestorben, da liegt mein Kadaver und meine erstarrte Patsche hält noch das Giftfläschchen. Das ist mir einmal ein amüsanter Selbstmord! «Stirb und werde!» pflegte Goethe zu sagen. Übrigens haben nicht bloß die Schmerzen des Sterbens etwas Betäubendes, zum Vergessen Verführendes – sondern, vor allem hat das unsagbar süße Einströmen des neuen Leibes etwas so unerhört Entzückendes, daß nur eine rasende Selbstsucht den Zusammenhang des Gedächtnisses wollen, erzwingen wird – sonst wird man vorziehen, «einen neuen Adam anziehend», den alten abrupt abzutun. Ja, ja, ja, die Selbstvergessenheit ist der wahre Tod! Und wie sagt immer wieder Goethe: «Die höchste Rettung – Gegenwart des Geists.»
Der Mond hatte sich gesenkt, die ersten schwachen Sonnenstrahlen brachten ihn zum Verblassen. Am Himmel haben wir die Allegorien, deutete Ottokar mit erhobenen Flügeln hinauf. Jenseits des Gartens erhob sich Geräusch, der Tag brach an, man hörte Wagengerassel, vereinzelte Schritte und Menschenstimmen. Im Hause wurde es lebendig. Es soll mich gelüsten, dachte Ottokar, jetzt meinen Triumph über Menschen auszukosten – hah!
Stimmengewirr, Schreckensrufe, von einigen Fenstern aus hatte man die Leiche bemerkt; man stürzte herbei: Polizei erschien: – Ottokar trat flügelbrausend dazwischen – aber man achtete garnicht auf ihn.
Da habe ich doch wohl vergessen, ärgerte sich Ottokar, daß diese Leute – Teufel auch! – mit ihrem lahmen Sinnesapparat mich garnicht wahrnehmen können – und Gedanken machen die sich keine! Wartet, meine Braven, ihr sollt einmal doch welche kriegen! Er schwebte mitten durch das ordinäre rohe Mitleidspack auf seine Leiche zu und richtete sie auf – seltsamerweise fiel es ihm sehr schwer, seine Leibesorgane hatten ein zu zartes Verhältnis zu den vorigen Zuständen. Aber die Leute schrien: er zappelt ja noch! Und ein Arzt, namens Mathesius Maier, den er gut kannte, flößte der Leiche etwas zwischen die Zähne. Im selben Augenblick fühlte der geflügelte Ottokar Todesangst und Schmerzen in seinem neuen Leibe, Bewußtlosigkeit wandelte ihn an, er sank neben seiner Leiche nieder; und ehe er sich’s recht versah, empfand er sich wieder in seiner alten Haut. Bravo, rief Mathesius. Verdammter Hund, ächzte Ottokar, griff in seine Hosentasche, holte den Revolver hervor – und ehe jemand ihn hindern konnte, hatte er sich durchschossen.
Aber dieses Mal durch das gänzliche Fehlen der experimentellen Bedachtsamkeit büßte er mit dem alten Leib auch seinen geistigen Zusammenhang ein; und er weiß nicht mehr, was aus ihm geworden ist.
«’s ist Etwas faul...» (Hamlet)
Also Herr Doktor van der Krendelen, ein Mann von hoher Statur, mit mächtigen Augen von sanfter Schärfe, und einem hellblonden exakten Spitzbart – hatte das Mittel gefunden: Luft, Luft.
Ja es handelte sich um die Möglichkeit einer chemischen Reinigung der gesamten planetarischen Atmosphäre; und dadurch der Lungen; und dadurch des Blutes; und dadurch des Lebens.
Van der Krendelen ging mit federnden Schritten in sein Versuchslaboratorium, einen haushohen Saal aus nietenlosem Metall, der luftleer gepumpt werden konnte und Oberlicht hatte. Das Versuchstier war der Doktor in eigener Person. Diesen Saal hatte v. d. K. vom Erdklima sorgsamst isoliert; er konnte ihm von sich aus jedes beliebige verleihen, die Luft im Saal war geographisch regulierbar geworden. Herr van der Krendelen nahm die heutige Wetterkarte zur Hand, studierte sie mit träumerischer Konzentration und entschied sich für Nizza; d. h. er stellte künstlich in seinem Saale das Klima von Nizza her (durch ein paar äußerst einfache Manipulationen). Und sodann seufzte er in dieser wonnigen Witterung sehr tief auf. Denn er grämte sich über diese Künstlichkeit seiner Versuche. Und doch! Und doch!
Van der Krendelen konnte nicht anders. Wehe dem, dessen Gewissenhaftigkeit älter ist als sein Wissen! Hat nicht auch Darwin... aber lassen wir den Darwin. Das Bessere ist der Feind des Guten. Wenn Herr Dr. v. d. K. die Erde klimatisch revolutionierte – und wahrlich, das tat ihr not! –, so mußte er den bestehenden Zustand und mit ihm alle diesem angepaßten Lebewesen abschaffen: und das brachte er nicht über sein altmodisches Herz! Schon seine engere Familie, sein Papa, seine Mama, seine Amme Klelia, seine Schwester Margrith brauchten geradezu die schlechte und rechte Gesundheit; eine bessere würde Gift für sie werden. Daß nun so viele Leute – von anderen Organismen zu schweigen – auch nach oben, nach günstigeren Bedingungen hin so sehr begrenzt waren, das deprimierte Herrn v. d. K.s Gewissen derartig, daß er schon manchmal daran gedacht hatte, das Laboratorium luftleer zu machen, um sich der Mühe des Weiteratmens zu überheben. Du mein! wie wunderlich sind doch die Hemmungen gerade der erstaunlichsten Förderer des Menschengeschlechts! Und wie mancher Pythagoras ist vor seiner Wahrheit desertiert, bloß weil er zu viel Mitleid mit der Hekatombe Ochsen hatte, die dafür geopfert werden mußte...
Krendelen ging in seiner Laboratoriumsluft von Nizza, die linke Hand auf dem Rücken, die rechte um den Spitzbart gekrallt, auf und ab, auf und ab, und alles zitterte mit metallischem Klingen. Der Abend dämmerte herein. Und als es ganz dunkel geworden war, stand Krendelen still und hob den Kopf. Er hatte einen Entschluß gefaßt: und zwar G. m. b. H.
Jawohl, dies war der Ausweg. An sein Laboratorium als Zentrale sollten sich Freiwillige mit ihren Privatwohnungen oder Kasernen oder Fabrikräumen oder Ställen usw. usw. anschließen. Und so ließ er sich denn das Patent sichern und verkaufte es einer Gesellschaft Aktionäre, die ihn als wissenschaftlichen Leiter des Unternehmens anstellten und besoldeten. Je nun, mindestens waren seine Skrupel jetzt schwächer geworden; besonders zumal durch die Zuversicht, wie sehr bald die Menschheit mit ihrem robusteren Gewissen rücksichtslos von selber die Folgerungen von der Künstlichkeit auf die Natur ziehen würde! Gewiß, eine solche Verantwortung lastet zu schwer auf der einzelnen Person – hinaus, hinaus damit in alle, alle Menschenseelen!
So wurde es nun ruchbar, daß man, wenn man nur wollte, das Paradies der Lungen etablieren konnte – und Monarchen, Bankiers, Poeten und viele andere Existenzen suchten vorsichtig, indem sie die Ärzte zu Rate zogen, um Anschluß an die Kr.’sche Zentrale nach.
Die Wirkung dieser Hygiene läßt sich gar nicht beschreiben. Tatsächlich sind wir ja «ein Spiel von jedem Druck der Luft». Wer daher die Luft wenigstens ihrer Reinheit nach in willkürliche Gewalt bekam wie v. d. K., der konnte schließlich den Menschen zu einem Freudensprung der Natur machen. Schlechte Luft ist nämlich das ganze Unglück der Menschen; ja es ist am Ende der Mensch selber. Luftverbesserung bedeutet die gewisseste Menschenveredelung, mehr als alle philosophische Moralisterei!
Nun muß man sich aber diese Luftreinigung recht radikal vorstellen! Und hierin lag eben die ganze Gefahr: wer etwas auf dieser kranken Erde ganz und gar gesund macht, der steckt von diesem Punkte aus alles und jedes mit solcher Gesundheit an. Zuletzt konnte sich keiner der künstlich Gesundeten mehr nach außen begeben, ohne tot umzufallen. Es war eine zu tiefe Kluft zwischen der gewohnten und der ungewöhnlichen Gesundheit von der Zentrale aus aufgerissen worden. Selbst Krendelen, der noch das beste Amphibium beider Gesundheiten zu sein schien, drohte zu versagen. Und die obenerwähnten Herrschaften begannen sich durch ein langsames Training auf die alte Gesundheit zurückzuschrauben. Ein paar kränkelnde Monarchen hetzten ihre Polizei auf die G. m. b. H... Kurzum, Krendelen sah den Zeitpunkt heranrücken, an dem seine große Tat wirkungslos zunichte werden sollte. Nochmals hielt er in seinem Laboratorium eine Stunde der tiefsten Einkehr und Versenkung in sich selber. Dann hieb er sich mit der Faust auf den Schädel, daß er ihm dröhnte.
Sogleich ging er an die Arbeit. Er präparierte eine große Menge des von ihm erfundenen luftreinigenden Stoffes Atoxomyolyomulpollambixohoptotachylamolinovolmanombosusilotanbolinoxylpyramidolinoferosambulonolasinolins.
Den brauchte er jetzt nur durch ein elektrisches Verfahren zur Verdampfung zu bringen – und die Erdatmosphäre war nur noch für Kerngesunde atembar geworden. So machte er denn sein Herz stählern gegen alle auflösende Weichmut, und am Donnerstag vollzog er das Schicksal, zu dem er nun einmal ausersehen war – als der große Vakuumreiniger der Lebendigen.
Bereits Freitag Nacht wüteten Seuchen schrecklich dezimierend auf der gesamten Erdoberfläche. Herr v. d. K. hielt sich nur durch die Macht seines Gedankens aufrecht und mußte trotz allem über das große Sterben lächeln. Er wußte, was niemand wußte: daß die Seuche das anzeigende Symptom ihres noch latenten Gegenteils war; und daß dieses jetzt, von ihm heraufbeschworen, sich endlich leuchtend genug offenbaren werde. Außerdem verbrannten die Leichen in der prächtigen Luft – es war Vorfrühling – ohne allen Verwesungsgestank.
Oho! Nichts mehr von etwelchem faulen Rest. Sondern sieghaft wurde alles bald vertrieben und überduftet von der jungen Reinheit, welche jetzt förmlich eklatierte! Und merkwürdig, während die sog. Normalen, der «gesunde Durchschnitt» aller Orten rasch krepierte, korrigierten sich die Extreme, die Überstumpfen, die Überzarten, die Blöden und die Hypersensiblen zu einem ganz anderen Durchschnitt von ungemeiner Strenge und Präzision, wie wenn in ihre Leiber Mathematik und Musik gefahren wäre: sie paßten und stimmten plötzlich zur Natur; wogegen die Früheren sich wie zufällig in ihr ausgenommen hatten. Die allerersten, die buchstäblich aufatmeten, waren Frauen und Kinder, die Jugend überhaupt. Ferner trat bereits am Sonnabend eine sichtliche Verjüngung aller Greise ein. Was in der Vollkraft der mittleren Jahre gewesen war, ging aber dahin. Und es formte sich aus Kindheit und Greisentum eine ganz neue wie überirdische Jugend. Von Krendelens Familie florierte nur noch seine Schwester Margrith; Eltern und Amme waren unter den ersten Toten – juhu! Beim besten Willen, die Toten zu beklagen, mußte man doch lachen und frohlocken, weil die ganze Natur ein Feiergewand anzuziehen begonnen hatte; und weil die Menschen das feierlichste und festlichste geworden waren: weil sie viel festlicher und lieblicher wirkten als früher die Blüten. Und sonderbar, durch die strahlende Reinheit der Luft sah auch alles ätherischer aus: irdischer! Das Licht schien lichter. Man sah wohl, wie sehr die Erde an ihrer schlechten Luft gelitten hatte. Alles tat seine tieferen Atemzüge, und das Antlitz der Natur geriet in ein immer innigeres Lächeln – bis daß es am 27. März 1932 lachte: da nämlich tat die Natur ihren Freudensprung! Und Krendelens Operation war gelungen. Als das letzte peinliche Erdenrestchen aus der Atmosphäre getilgt war – dank Krendelens Kathartikon –, geschah es, daß die ganze Erde einen goldenen Klang tat wie ein gedrückter Ball, der sich, frei gegeben, rundet: jetzt erst schien alles zu stehen und zu dauern. Krendelen wußte in diesem Augenblick, der auch sein eigenes Herz richtig einstellte, daß das ganze vormalige Erdbebengeknurr und -gebrumm nur den schwer ächzenden Willen ausgedrückt hatte, richtig zu werden.
Am 28. cr. blieb die Sonne stehen – und alle Leute spürten das Erdgewicht als etwas frei Beherrschbares in den eigenen Gliedern, so daß sie mit der Erde um die Sonne spielten wie sie wollten; und in ihrem Willen war von selbst ein Unisono. So setzten sich, als der Frühling sich vom Winter getrennt hatte, und die Jahreszeit ebenfalls selbständig geworden war, auch Sterben und Werden wie Schlafen und Wachen sauber auseinander und verunreinigten nicht mehr ihren Mittelstand, so daß in jeder Beziehung das Aus und Ein exakt funktionierte, und alles und alle jetzt wußten, wo aus und wo ein.
Aber das allerbeste: an Stelle des Todes war das aus- und einatmende, zusammenhängende, nicht mehr unterbrochene Leben getreten; das Sterben hatte sich mit dem Werden jetzt lebendig und leibhaftig verständigt. Und nun vergaß alle Welt das vorige – und Krendelen vergaß es auch, so daß er nicht einmal berühmt wurde! In dieser einen Hinsicht war es vormals herrlicher.
Ach! Wie zufrieden war die Welt. Gelber Sonnenschein lag wie Eiersauce überall ausgegossen. Die Kühe grasten, der Himmel war ein einziges breites Lachen. Eine Menge Rosenlauben plauderten mit der leichten Luft ins Gelage hinein. Greise wandelten mit sanften grauen Köpfen. Alte Frauen falteten die Hände überm Schoß und saßen da, wie aus Lebkuchenteig gebacken. Und ein ganz kleines, unschuldiges Kind nieste in einer so allerliebsten Weise, daß ein Huhn in die Höhe flog und nervös zu gackern begann, alles war im Einklang, selbst ein Trunkener, der hin und her torkelte, wirkte so verzeihlich, so glücklich, so idyllisch, daß ohne ihn an allem noch das Beste gefehlt hätte.
Da zog hinterm Berge leise und langsam, wie sich selber besinnend und halb zögernd, von einem zahmen Winde getrieben, eine lose hellgraue Wolke auf. Sie warf ihren matten Schatten über alle die fröhlichen Dinge unmerklich mißmutig hin, und mit diesem Schatten dachte sie selbst über das ganze Glück dieser schönen Gegend nach. Ihre Gedanken liefen aber alle darauf hinaus: Wo könnte ich am passendsten niedergehen? Mit gleichgültiger Trauer in ihrem suchenden Blick streifte sie über alles weg; der Wind stieß sie aufreizend an und blies in ihre hohlen Ohren: hier, hier, hier! Aber sie ließ sich nicht beirren, sondern suchte, suchte. Selten gab es eine so zweifelnde, so überaus gewissenhaft abwägende Wolke. Soll ich oder soll ich nicht, schwankte sie fortwährend und wurde bald dünner, bald dichter. Unten streckte Rentner Lebehoch seine kluge Hand aus und rief dem Bäcker Dudelsack mit wohlsituierter Stimme zu: Herr Nachbar, das gibt keinen Zuckerguß. Die Wolke versuchte, wie man an ihrem Schatten merkte, flüchtig zu lächeln; sie putzte gerade der Sonne die herrliche Nase; wobei die Sonne mit den Augen blinzte, so daß die ganze Gegend mit einem Male aussah, wie wenn sie einen geistreichen Einfall hätte; bald darauf war sie wieder glücklich wie das Schlaraffenland. Nur unglücklich fühlte sich die Wolke mit ihrem zaudernden Willen, niederzuregnen. Eine nachdenkliche Wolke ist sehr selten. Das ganze Geheimnis, zu regnen, besteht ja eben bloß darin, daß man resolut, so stark man gerade kann, niederregnet, ohne sich – das ist die Hauptsache! – aus der Wirkung auf das zu Beregnende etwas anderes zu machen als eine lustige Kurzweil oder einen lustigen Zorn. Gekitzelt wurde wohl die Wolke zu jenem, gestachelt zu diesem; aber mit ihrem Schatten alles Untere zart berührend und prüfend, erhielt sie sich in ihrem grämlichen Gleichgewicht. Weder die glatten, schimmernden Rücken der Kühe, die sie sanft mit ihrem Dämmer streichelte, noch das kleine Kindchen im Wagen, dem sie die helle Stirn ein wenig trübte, noch Pastor Blotegel, der stets ein wahrer Festschmaus für hungrige Wolken war, lockten sie zur Auflösung. Sondern, angesteckt vom allgemeinen Frieden, begann die Wolke sentimental zu werden: sie genoß und sog in sich ein dieses ganze Idyllische allenthalben und empfand als den einzigen Störenfried allein nur sich. Sie sah die Kuh Klaudine und erschrak bei dem bloßen Gedanken, diesem ehrwürdigen Tier die Douche geben zu sollen. Der Wind, der Mephistopheles der Wolken, war außer sich: Gemüt bei einer Wolke, zischelte er, ist wie Käse in Form eines Maiglöckchens. Die arme Wolke wurde düster und ließ aus Zerstreutheit dem Blotegel einen Tropfen auf die Nase fallen, so daß dieser aufsah und salbungsvoll sprach:
«Oh himmlisches Naß, verschone noch deinen Diener, bis daß er den Fußsteig über den Bach zu seinem Hause zurückgelegt!»
Sie ließ ihn hinübergehen und stand eine Weile still, ein kleiner Blitz fuhr in ihr Auge und verschwand, sanftmütig setzte sie ihren trostlosen Weg fort. Man glaubt ja immer, die Sonne kümmere sich um nichts und lasse ihr Licht leuchten, ohne sich viel Gedanken darüber zu machen, wohin es falle. Das ist Aberglaube. Zum Beispiel die Wolken kennt die Sonne alle beim Namen. Wie oft macht sie sich ein Vergnügen daraus, sie an den Haaren zu sich emporzuheben, sie zu küssen, um sich an ihrem Naß den Durst zu löschen und sie dann wieder loszulassen. Die Sonne, die sich heute besonders wohl fühlte, faßte die Wolke zart an, aber durch diese ging ein Schauern, sie schmiegte sich dicht an sie an und bat: liebste Tante, du bist vielleicht mit daran interessiert, daß ich diese glückliche Gegend unten nicht einmansche. Bitte, darf ich ausnahmsweise einmal nach oben regnen?
Da lächelte die Sonne so sehr, daß der Wind seine Flügel faltete und still wie eine Eule am Tage dasaß. Und holte aus ihrer Tasche einen strahlenden Kamm: Frisiert mußt du werden, mein Töchterchen, ehe du in den Himmel hinaufgehst. Und sie kräuselte ihr das feuchte Haar in zierlich rieselnde Wellen, streute auch das feinste Flimmern darauf aus, von unten war es so schön anzusehen, daß alle Schulkinder die Nasen sehr hoch hoben: dies war der letzte Anblick, den die Wolke hatte, der sie auch zu Tränen rührte: so geriet sie denn in immer tieferes Weinen, löste sich ganz darin auf, tat noch einen himmlischen Atemzug und floß in diesem durch das Sonnenlicht ganz verklärt in den blauesten Himmel hinauf. – Wolken sind sehr selten so gefühlvoll.
Mein Sohn, ein gewisser Herr Lehmann, dem ich vom Tage seiner Geburt an ein mir verwunderliches Interesse gewidmet hatte, ist heute ein dicker, melancholischer Mann von rund dreißig Jahren, der mir unsympathisch ist, weil er ungesetzlich verfährt. Er rechtfertigte sich mir gegenüber mit der Einwendung, man müsse sich beweisen, daß man nicht bloß aus Gutmütigkeit bei der Stange bleibe. «Du sollst nicht töten», sprach ich zu ihm mit väterlicher Stimme. Siehe da! Er fiel mir zu Füßen, zog aus seiner inneren Rocktasche ein braunes seidenes Tuch, darin lagen wohl eingewickelt mehrere Revolver, ein Fläschchen Gift, ein Strick, ein Döschen Pfeffer, kurz lauter Sachen, die Argwohn erregten. «Ich soll nicht», schluchzte mein Sohn, «allein ich muß es erst können.» Er tat die Sachen wieder in seinen Rock und vollführte einen Freudensprung. Bald darauf ermordete er meine Frau, eine schöne Matrone, die ihn mir geboren hatte. Ich hielt es ihm ernstlich vor. Aber mein Sohn, bei aller Zartheit ein harter Charakter, mißhandelte mich auf das roheste, so daß ich zum bösen Spiel gute Miene machte. Versteht sich, daß mein Sohn dem Gericht jedesmal ein Schnippchen schlägt. Bloß mir hat er es angeboten, daß ich der Mitwisser seiner Schändlichkeiten sei; und schließlich muß ein rechter Vater seinem Kinde auch ein paar mal durch die Finger sehen können. Ich billigte seine eigentümliche Methode, sich zu einem gesitteten Menschen zu erziehen, keineswegs: aber sie imponierte mir. Es genügte, daß er jemanden liebte, alsbald sann er auf die grausamsten Mittel, Partei gegen sich zu nehmen: er zwang sich zur Ermordung aller Triebe und Gegenstände seines Herzens. «Nur so», argumentierte er, «bekommt man sich in eigene Gewalt.» Bei diesen Worten weinte ich laut auf: «Du liebst mich nicht, mein Sohn», stöhnte ich, «denn ich lebe noch.» «Hoho!» lachte er: «ich bedarf eines Mitwissenden, es ist eine Schwäche – wer weiß, du hast etwa Hoffnung.» Am vorigen Mittwoch ertränkte mein Sohn seine Braut, er teilte mir es brühwarm mit: «Ich kann darüber weinen oder lachen – wie ich eben will», frohlockte er, «ich habe eine vollkommene Freiheit über alle Bewegungen meines Gemütes erlangt.» «Dann laß es doch endlich!» raunte ich ungeduldig. «Jetzt», sagte er, «wo es mir Spiel geworden ist, ein liebliches Spiel der Selbstfolterung, nicht zu vergessen, wie es dich quält, Papa? – Geduld, alter Herr! Du bist noch nicht an der Reihe.» –
Hierauf schoß er mir unversehens mit dem Revolver meinen Nasenknorpel weg und schickte unsere Dienstmagd zum Arzt. Ich tröstete mich mit einem Rückschluß auf die Stärke seiner Sohnesliebe. In der folgenden Nacht erdrosselte er meine Lieblingstochter Angelika. «Das räche der Himmel!» rief ich aus, ich verlor alle Selbstbeherrschung, mir graute. Lehmann wurde mir vollkommen unheimlich. War dieses Ungeheuer wirklich mein Sohn? «Alterchen, du bist ein drolliger Kerl», amüsierte er sich. «Ich gebe übrigens zu, daß die Möglichkeit des Todes schrecklich ist: aber wie, wann, wo wir sterben, ist recht sehr – Nebensache und sollte niemanden ernstlich aufregen.» «Du bist irrsinnig», schrie ich ihn an. «Deine Vernunft ist beim Teufel; wenn du jetzt kein Ende mit deinen Mordübungen machst, geh ich zum Gericht, ich hätte es schon beim Tode deiner Mama tun sollen.» – «Vater», sagte mein Sohn und sah mich auf eine unbeschreibliche Weise an, «Sie werden sofort Gift kriegen. Zuvor jedoch töte ich Ihre alberne Logik, welche die unendliche Vernünftigkeit des Wahnsinns lästert.» Er gab mir, so viel ich weiß, einen furchtbaren Klaps auf die Schädelkapsel. «Jetzt schweige, Idiot, der du nun bist», brüllte er, rauchte, in meiner Stube hin und her gehend, eine Zigarre, und entfernte sich verdrossen. Inzwischen kam ich wieder zur Besinnung, in meinem Speisezimmer fand ich die Dienstmagd in Gestalt einer Leiche, ein Anblick, der, trotzdem ich durch meinen Sohn abgehärtet dagegen war, mir doch dermaßen zusetzte, daß ich zu pfeifen aufhörte, ich hatte gerade eine Verdische Arie zwischen den Lippen gehabt. Ich kam mehr und mehr in eine wehmütige Stimmung. Plötzlich geriet mein Herzschlag in immer rasenderen Galopp, zugleich machte mir das Atmen Schwierigkeiten, und glühende Nadelspitzen stachen in meinen ganzen Körper. Kein Zweifel! Ich war während meiner Geistesabwesenheit vergiftet worden. Mit dem letzten Aufgebot meiner Kraft nahm ich ein Brechmittel, es wirkte, und ich begann, mich zu erholen. Da kehrte mein Sohn zurück. «Du lebst?» fragte er ungläubig lächelnd. «Ich lebe», antwortete ich fest und würdig. Das schien ihn nicht einzuschüchtern. Er zog ein Blatt aus der Tasche und rechnete einige Minuten. «Vater», verkündete er mir sein Resultat, «du hast die Lebenskraft von vier Rossen. Theoretisch bist du tot, und moralisch bist du es für mich längst. Hierauf schickte er zum Arzt. «Herr Doktor», erklärte er diesem, «mein Papa, der alte Herr, den Sie dort pfeifen hören, ist vor etwa einer halben Stunde gestorben; bitte konstatieren Sie das und fertigen Sie einen Schein aus.»
Von Terr, ein Mensch, der sich, er wußte selbst nicht, wie lange, seines Todes erfreute, hatte das gespenstische Spuken, das bekanntlich Gestorbenen selten erspart zu werden pflegt, redlich satt. Über das Wiedergeborenwerden dachte er viel zu skeptisch, als daß er Anstalten dazu getroffen hätte. Auch war es, selbst wenn es glückte, mit viel zu vielen Beschwerden für Mutter und Kind verbunden. Von Terr zog es vor, sich so kräftig wie möglich zu verstellen und sich durchaus den Anschein des blühendsten Jünglings zu geben. «Da das Menschenleben» meinte er ziemlich griesgrämig, «so wie so eine Tartüfferie zu sein scheint – warum sollte ein toter Herr nicht den echtesten Tartüff des Lebens vorstellen können?»
Von Terr ging die lange Allee hinaus, die nach der Stadt führte. Das hagere, unfrohe Skelett, das er war, bewegte sich knöchern und blechern über die Erde, und die Morgensonne skizzierte die spinnenartige Arabeske seines Schattens auf die von Pferdespuren verunglimpfte Chaussee. Gar mancher Bauer sah ihm verwundert nach, auch verfehlte kein Tier, seine Haare ziemlich zu sträuben. Aber die energische Selbstverständlichkeit, mit der hier eine tote Paradoxie wie eine lebendige Trivialität daher schritt, hypnotisierte Bauern und Tiere dermaßen, daß Terr sich der Unauffälligkeit seiner Erscheinung gemächlich erfreute. «Der Tod», schnatterte er gräßlich laut mit seinen Schädelkiefern, «bedarf gar keines besonderen Übermaßes von Verstellung, um im Leben als Leben zu erscheinen. Fast fragt er sich: bin ich wirklich tot?» Erst zwei weibliche Wesen, offenbar Mutter und Kind, blieben, als sie seiner ansichtig wurden, wie vom Donner gerührt stehen. Das Weib jedes Jahrgangs hat kolossale Instinkte, Leben von Tod zu unterscheiden – und hier witterte es, trotz der rasselndsten Lebendigkeit, den Tod. Von Terr sah nicht so bald sein Inkognito gelüftet, als er die Notwendigkeit fühlte, sich besser zu verstellen. Anstatt eines Skelettes stand also jetzt ein charmanter Stadtherr vor den Erschrockenen, ordentlich zivil gekleidet, faßte an die Hutkrempe und fragte höflich, wie weit es noch nach der Stadt wäre. Das kleine Mädchen schlug, während die Mutter verdutzt dastand, heftig nach der fein behandschuhten Totenhand und schrie: «Mutter, komm weiter, der tut nur so, das ist ein Schelm, der ist gar nicht richtig.» Die Mutter, ein dralles hübsches Landweib, verwies das dem Kinde, gab dem Fremden mit ängstlicher Stimme Auskunft und nahm dankend die kleine Münze in Empfang, die von Terr ihr bot. «Es ist unglaublich», sagte Terr weiterpromenierend, «wie Kinder jede Verstellung zu durchschauen wissen; glücklicherweise gibt es keine reinen Kinder; sonst könnte ich nur grade wieder weiterverwesen – und was man auch sagen möge: totsein langweilt!» Bekanntlich braucht ein Toter, der sich verstellen will, vermöge der intensiven suggestiven Illusionskraft, die er ausübt, keinerlei äußeren Behelf; sondern eben bloß die allerdings recht anstrengende und erschöpfende Fähigkeit der Verstellung. Der Tote zum Beispiel kann dir, wenn du Kellner bist, sein Trinkgeld von o, o so treuherzig massiv in die Hand drücken, daß du schwörst, es seien allermindestens fünfzig Pfennig. Das bleibt natürlich individuell: der tote Goethe täuscht stichhaltiger als der tote Kulike. Von Terr mietete sich in der Residenz eine elegant möblierte Etage und ging auf Abenteuer aus, die alle durch seine Unbesonnenheit und Zerstreutheit geschmacklos endeten. In dem Bestreben, seinen Tod zu vergessen, tat er oft des Guten zu viel, bis er zur Unzeit und zum nicht geringen Befremden der Lebendigen skelettartige Intermezzi spielte. Zu spuken, zu gespenstern ist für Tote freilich Kinderspiel, fällt aber auch so schwach aus, daß fast kein Lebender was davon merkt; und merkt einer was, zum Beispiel die Amme Lehmann oder das Pferd Sirius, so glauben es ihm wieder bloß Ammen und Pferde. Das ist ja die Tragödie des Wunderbaren, daß es vom Gewöhnlichen ersehnt, aber nie erlebt werden kann! Um von ihm erlebt zu werden, muß es ihm gleichen, aber dadurch wird es unauffällig.