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Alter schützt vor Scharfsinn nicht Wenn es etwas gibt, was die drei über neunzigjährigen Freundinnen Siiri, Irma und Anna-Liisa hassen, dann ist es das Gefühl, nicht für voll genommen zu werden. Als in ihrer Altenresidenz »Abendhain« seltsame Dinge vor sich gehen, steht für sie fest, dass sie handeln müssen. So beginnt ein Abenteuer, das für die drei Freundinnen bald aus dem Ruder läuft und Irma ernsthaft in Gefahr bringt. Die aufgeweckten, sehr agilen Witwen Siiri, Irma und Anna-Liisa sind Nachbarinnen in der Seniorenresidenz »Abendhain«. Die rüstigen Damen, alle Mitte neunzig, verbringen den Tag mit Kartenspielen und zu viel Rotwein. Um keine Osterhäschen basteln zu müssen, lassen sie sich gerne von der Straßenbahn kreuz und quer durch Helsinki fahren. Die fröhliche Routine endet mit einem Todesfall, doch hat es nicht etwa einen der greisen Mitbewohner dahingerafft, sondern Tero, den jungen Koch. Mit diesem Unglück beginnt eine ganze Reihe zwielichtiger Vorfälle, die das Leben der drei Freundinnen kräftig durchschütteln und alles, was als sicher galt, über den Haufen werfen. Welches böse Spiel treibt die Oberschwester, und hat die Heimleiterin tatsächlich keine Ahnung, was in »Abendhain« vor sich geht? Ein Buch über beste Freundinnen, die trotz ihres hohen Alters weder ihren Humor noch ihren Sinn für das, was im Leben zählt, verlieren und einfach nur wollen, dass man sie für voll nimmt.
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Seitenzahl: 403
Minna Lindgren
oderWarum starb der junge Koch?
Roman
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Titelseite
Inhaltsverzeichnis
Über Minna Lindgren
Über dieses Buch
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
56. Kapitel
57. Kapitel
58. Kapitel
59. Kapitel
Inhaltsverzeichnis
Siiri Kettunen erwachte, wie jeden Morgen, mit der Erkenntnis, dass sie noch immer nicht gestorben war. Sie stand auf, wusch sich, kleidete sich an und frühstückte. Es ging alles recht langsam, aber sie hatte ja Zeit. Sie las sorgfältig die Zeitung und hörte die morgendlichen Radiosendungen, was ihr in der Regel dabei half, sich der Welt zugehörig zu fühlen. Gegen elf Uhr fuhr sie häufig mit der Straßenbahn, aber heute verspürte sie dazu keine Lust und keine Kraft. Im Aufenthaltsraum des Altenpflegeheims Abendhain schufen die grellen Lichter der Lampen eine Stimmung, die an Zahnarztbesuche erinnerte. Auf den Sofas saßen einige der Bewohner vornübergebeugt und warteten auf das Mittagessen. In der Ecke am Kartentisch spielten der Botschafter, Anna-Liisa und Irma Canasta. Der Botschafter schien sich ganz auf seine Karten zu konzentrieren, Anna-Liisa kommentierte wortreich die Taktik der anderen und Irma wirkte ein wenig gelangweilt, vermutlich, weil das Spiel so langsam voranging. Als sie Siiri sah, hellte sich ihr Blick auf. »Kikerikiii!«, krähte sie in hohem Falsett und wedelte mit den Armen wie eine Zugschaffnerin am Bahnsteig. Irma Lännenleimu hatte in ihrer Jugend Gesangsunterricht genommen, und einmal hatte sie sogar Cherubinos Arie mit Klavierbegleitung während einer Matinee des Konservatoriums am Bahnhof vorgetragen. Als damals über die Auftritte der Studenten geschrieben wurde, hatte der Kritiker einer Zeitung ihre Stimme als wandelbar und durchdringend gelobt. Dieses Kikerikiii war Irmas bevorzugte Art und Weise, Siiri zu grüßen. Weil es zuverlässig funktionierte, selbst bei größtem Lärm.
»Rate mal, was …«, sagte Irma, noch bevor sich Siiri an den Kartentisch gesetzt hatte. »Die Krempenhut-Dame aus Haus C ist doch nicht gestorben. Und wir hatten schon angefangen, um sie zu trauern.« Irma lachte so ausgelassen, dass ihr runder Körper bebte. Sie trug immer Kleider, am liebsten dunkelblaue, und auch im Alltag Brillanten an den Ohren, am Hals eine Perlenkette und an der linken Hand zwei goldene Armreife. Während sie jetzt so lebhaft gestikulierte, klirrte der Schmuck lustig vor sich hin.
Als in der Woche zuvor die Fahne in Abendhain auf Halbmast gesetzt worden und die Krempenhut-Dame einige Tage lang nicht gesehen worden war, hatten die Heimbewohner angenommen, sie sei gestorben. Aber gestern war sie dann, wie üblich, mit diesem türkisfarbenen Hut zum Bingo erschienen. Sie war nur kurzzeitig abgängig gewesen, um Ersatzteile für ihr Herz in Empfang zu nehmen, und bei dieser Gelegenheit fast den Folgen eines Infarktes erlegen.
»Das bedeutet jetzt für sie vielleicht sogar noch zehn weitere Jahre«, sagte Irma. »Die arme Seele.«
Siiri lachte. Irma gelang es tatsächlich, einen letztlich gelungenen medizinischen Eingriff wie die Verlängerung einer Haftstrafe klingen zu lassen. Was es natürlich, streng genommen, auch war.
»Eigentlich ging es bei der Sache keineswegs um Ersatzteile für das Herz«, begann Anna-Liisa in diesem streng sachlichen Ton, mit dem sie gerne Fehler und Missverständnisse zu korrigieren pflegte. Das war bei ihr wie eine Art Zwang. Siiri und Irma teilten die Auffassung, dass es mit Anna-Liisas beruflicher Tätigkeit vergangener Zeiten zusammenhängen musste, Anna-Liisa war Lehrerin gewesen, für finnische Sprache und Grammatik.
»Ich habe eine rote Drei!«, unterbrach der Botschafter, aber es gelang ihm nicht, Anna-Liisa in ihren Ausführungen zu stoppen.
»Angioplastie, will sagen, Gefäßerweiterung, ist ja ein durchaus auch im Volksmund gebräuchlicher Begriff für das Verfahren, mit dem verstopfte Venen offen gehalten werden können, und zwar mit Netzschläuchen.« Anna-Liisa war eine große Frau, und sie hatte eine dunkle, tragende Stimme. Sie wusste alles Mögliche über Gefäßerweiterungen, über die Materialbeschaffenheit der Ersatzteile, über lokale Betäubung und über Arthroskopien, aber die anderen hatten keine allzu große Lust, sich auf den Vortrag zu konzentrieren. Was Anna-Liisa nicht bremste, als ehemalige Lehrerin war sie schließlich daran gewöhnt, dass niemand ihr zuhörte, während sie sprach.
»Reiner Wahnsinn, solche Eingriffe bei einer Neunzigjährigen vorzunehmen«, sagte Siiri. Alle schienen ihrer Meinung zu sein.
»Habt ihr Mädels eigentlich vor, dem Club der Hundertjährigen beizutreten?«, fragte der Botschafter und legte die Karten auf dem Tisch ab, um seine Krawatte zu richten. Er kleidete sich immer sehr seriös: mit Hemd, Schlips, einer tabakbraunen Jacke und Anzughose, was als angenehm empfunden wurde, denn die meisten Männer in Abendhain schlichen in hässlichen Jogginganzügen herum. An Sonn- und Feiertagen trug der Botschafter mit Vorliebe feinen Zwirn, mit einem Eichenblatt am Revers.
»Man hat ja keinen Einfluss darauf«, sagte Siiri. »Aber ich möchte nicht so lange leben.«
»Wenn der Todesfall der Woche nicht die Krempenhut-Dame war, wer war es dann?«, fragte Irma. Sie war sehr neugierig und geübt darin, sich und anderen Informationen über die Ereignisse in Abendhain zu beschaffen. Jetzt, als sich ihre vermeintlich sichere Information als falsch erwiesen hatte, geriet sie ein wenig in Aufregung.
»Es war dieser junge Koch, hieß der nicht Tero?«, sagte Anna-Liisa und legte ein Canasta mit Siebenern auf den Tisch.
Siiri fühlte einen Schwindel einsetzen, ihr Hals war plötzlich ganz trocken. Sie starrte Anna-Liisa an und versuchte zu begreifen, was sie gerade gehört hatte. Dass Tero gestorben sein sollte. Irma schien sich über diese Nachricht fast zu freuen, von der Siiri, wie ihr in diesem Moment bewusst wurde, bereits gehört hatte, um sie gleich wieder zu vergessen.
»Ja, stimmt! Du mochtest Tero doch, Siiri. War sein Name eigentlich Tero oder Pasi? Habt ihr bemerkt, dass die Namen junger Männer heutzutage wie Axtschläge klingen? Tero!, Pasi!, Vesa!, Tomi! Komisch, dass ich dir das nicht sofort erzählt habe. Ich habe das gestern bei der Massage erfahren, aber ich war nach dem ganzen Kneten so hundemüde, dass ich mir gleich meinen Abendwhiskey genehmigt habe und schlafen gegangen bin. Mir hat ja der Arzt Whiskey verordnet. Also, gegen das … gegen alles. Schau mal hier, ich habe zwei Siebener für dich, Anna-Liisa!«
Siiri war traurig. Sie vermisste Tero auf eine Weise, die Bauchschmerzen bereitete. Wie war es möglich, dass ein gesunder junger Mann starb, während Vierundneunzigjährige dazu keine Anstalten machten? Sie hatte in der Zeitung gelesen, dass Menschen nach Überschreiten des neunzigsten Lebensjahres nicht mehr alterten. Ein schrecklicher Gedanke. Das bedeutete ja, dass Menschen wie sie, die über diese Zeit hinaus lebten, den Tod zu versäumen drohten.
Erst starben sie alle, die Freunde, der Gatte, und jetzt starb keiner mehr. Zwei von Siiris Kindern waren bereits gestorben, beide relativ jung. Der erste an Alkohol, der zweite an Fettleibigkeit. Ihr jüngster Sohn war ein stattlicher junger Mann gewesen und ein guter Sportler, aber dann hatte er maßlos zugenommen. Er hatte nur für die Arbeit gelebt, war immer mit dem Auto gefahren, statt zu laufen, hatte Pizza und Kartoffelchips in sich hineingestopft und geraucht. Wenn Menschen einen so hohen Lebensstandard hatten, dass sie an diesem Lebensstandard im Alter von fünfundsechzig Jahren starben, war vermutlich doch etwas dran an diesem Spruch von den Wohlstandskrankheiten.
Aber Tero, der junge Koch des Altenwohnheims, war höchstens fünfunddreißig Jahre alt gewesen und hatte keineswegs krank ausgesehen. Ganz im Gegenteil – er war immer gut gelaunt gewesen und hatte eine Energie ausgestrahlt, wie es nur ein gesunder junger Mann tun kann. Breite Schultern, starke Hände und eine gute, klare Farbe im Gesicht, das war Tero gewesen. Und wenn er gelächelt hatte, waren auf beiden Wangen Grübchen sichtbar geworden.
Mit Kartoffelbrei hatte ihre Freundschaft begonnen. In der Kantine von Abendhain kam viel zu oft Kartoffelbrei und zu selten Reis auf den Tisch. Man ging wohl davon aus, dass alte Menschen keine Zähne haben, und der Brei ging ja so leicht runter wie Babynahrung. Überdies fehlte immer Salz, und von ganzen Fleischstücken konnte man nur träumen. Siiri mochte keinen Brei, und Tero hatte irgendwann begonnen, ihr heimlich andere Beilagen zu servieren, Möhren und Rote Bete. Nach dem Mittagessen war er dann zu Siiri an den Tisch gekommen, um eine Tasse Kaffee mit ihr zu trinken, und Siiri hatte gefragt, ob Tero eine Freundin habe, und Tero hatte geantwortet, dass er keine andere Frau brauche, da er ja Siiri habe. Sie hatten sich angewöhnt, ein wenig auf diese Art zu flirten, das war schön gewesen, Gelegenheit zu solch harmloser, fröhlicher Unterhaltung ergab sich nicht allzu oft in Abendhain.
Das Kartenspiel hatte offensichtlich ein Ende gefunden. Der Botschafter fragte Irma nach ihrem Alter, Anna-Liisa blätterte im neuen Gebührenkatalog des Pflegeheims und räusperte sich auf eine Weise, die erahnen ließ, dass sie sich auf den nächsten Vortrag vorbereitete. Um den Tod des jungen Kochs schien sich niemand zu bekümmern.
»Zweiundneunzig Jahre? Du hast doch wohl keinen Führerschein mehr«, wunderte sich der Botschafter gerade. »In meinem Taxi bist du immer herzlich willkommen, liebe Irma! Ich habe jede Menge Scheine, du weißt schon, diese Taxischeine, mit denen man nichts anderes machen kann, als durch die Gegend zu fahren.«
»Natürlich habe ich einen Führerschein«, entgegnete Irma pikiert. »Meine Klassenkameradin ist Gynäkologin, und sie stellt uns bei jedem Klassentreffen Fahrtauglichkeits-Bescheinigungen aus. Aber meine Kinder haben mir das Auto weggenommen, einfach so. Nehmen einem erwachsenen Menschen das Recht, sich fortzubewegen. Ihr erinnert euch ja sicher an mein kleines rotes Auto.«
Aber außer Siiri schien sich auf Anhieb keiner zu erinnern. Sie war dabei gewesen, als Irma in der Mannerheimstraße vor dem schwedischen Theater in den Gegenverkehr geraten war und die Polizei sie gestoppt hatte. Nach Auffassung von Irmas Kindern hatte dieses Vorkommnis einen zureichenden Grund dafür geliefert, das kleine rote Auto zurück zum Händler zu bringen. Was auch der Botschafter jetzt für eine unverhältnismäßige Strafe hielt, da es wohl kaum eine große Sünde gewesen sein konnte, vor dem schwedischen Theater, bei all den Umleitungen und Bauarbeiten, mal falsch zu fahren, selbst ein Helsinkier in zehnter Generation wie Irma Lännenleimu hatte beim besten Willen nicht wissen können, in welche Richtung man da fahren musste.
»Aber so ist es«, entgegnete Irma. »Über den Kopf der Alten hinweg werden allerlei Dinge dieser Welt entschieden.«
Irmas Kinder und Enkelkinder, von denen es viele gab und die sie ihre Goldstückchen nannte, hatten Irmas Wohnung in Töölö verkauft und sie in eine Zweizimmerwohnung im Altenwohnheim Abendhain abgeschoben, ohne das Ganze ausführlicher zu verhandeln. Es sei das Beste für sie, sagten die Goldstückchen, in Abendhain sei sie sicher und behütet, und sie seien im Gegenzug von allen Sorgen befreit, etwa, ob sich Irma beizeiten daran erinnere, aufzustehen und ihre Medikamente einzunehmen oder ob sie gerade in der Stadt im Nachthemd herumrenne.
»Sie haben in meiner Wohnung Überwachungskameras installiert. Können jederzeit auf dem Computer sehen, was ich tue. Als wäre ich irgendein Faultier im Zoo! Ich strecke diesen Kameras jeden Abend vor dem Schlafengehen den Allerwertesten entgegen.«
Der Botschafter saß mit gesenkten Schultern und betrachtete betrübt die abgenutzte Oberfläche des Spieltisches.
»Du hast zumindest Verwandte, die Lust haben, dir nachzuspionieren«, sagte er. »Und jemanden, dem du den Allerwertesten entgegenstrecken kannst.«
»Keine Angst, auch uns Einsamen wird hier nachspioniert«, sagte Anna-Liisa. »Die Pfleger betreten ab und zu mit eigenen Schlüsseln unsere Wohnungen, um zu schnüffeln.«
»Stimmt! Vorgestern kam irgendein Mann morgens um sieben, als ich nackt im Bett lag«, rief Irma aus.
»Wirklich?«, fragte der Botschafter belustigt und griff zum Kartenstapel, offensichtlich in der Absicht, ein neues Spiel zu beginnen.
»Er hat natürlich nach meinem Testament gesucht. Döden, döden, döden, döden.«
Siiri musste unwillkürlich lächeln, als Irma mal wieder den Tod auf Schwedisch heraufbeschwor, dramatisch, mit gesenkter Stimme. Irma hatte viele dieser abgenutzten Phrasen parat, die sie bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit zu wiederholen pflegte, aber das mochte Siiri, besonders wenn Irma mal den richtigen Moment erwischte.
Anna-Liisa erzählte jetzt von ihrem verschwundenen silbernen Handspiegel. Sie war sich ganz sicher, dass er wie kürzlich auch der schöne Wandteppich des Botschafters gestohlen worden war, während sie beim Gedächtnistraining teilgenommen hatte oder bei der Stuhlgymnastik oder auch im Konzert des Harmonikatrios. Siiri ging nicht zu diesen Veranstaltungen, insbesondere nicht zu Konzerten des Harmonikatrios, obwohl die jede Woche im Altenwohnheim auftraten. Warum kam man zu alten Leuten eigentlich immer nur, um Harmonikakonzerte zu geben? Konnte man keine ordentlichen Instrumente mehr spielen?
In Abendhain standen drei Klaviere herum, auf denen niemand spielte. Und in den Gängen sammelte sich auch anderer Kram, wenn Bewohner starben und keiner die Besitztümer abholte. Pianos, Bücher und Esstische, die keiner mehr haben wollte, wurden von der Belegschaft hier und da abgestellt, vermutlich in der Hoffnung, ein wenig häusliche Atmosphäre zu schaffen. Obwohl die Möbel gar nicht in die Umgebung passten, da Abendhain ein modernes Haus war, mit niedrigen Decken, die Wände aus dünnen Gipsplatten. Wer mochte wohl diesen Kartenspieltisch aus Mahagoni hinterlassen haben, ein verlorenes altes Möbelstück, an dem sie tagtäglich Canasta spielten?
»Das ist eine wohlüberlegte Strategie«, meldete sich Anna-Liisa zu Wort. »Wenn ein Jugendstiltisch, ein paar Klaviere und sechs Meter Lexika in den Gängen stehen, kann sich natürlich keiner vorstellen, dass die Bewohner bestohlen werden. Obwohl genau das passiert.«
»Diebstahl ist es auch, dass wir für alles Mögliche bezahlen müssen, ohne erkennen zu können, wie das Geld von einem Konto zum anderen fließt«, sagte Irma. »Obwohl sich ja meine Goldstückchen um meine Geldangelegenheiten kümmern, seitdem aus den Banken Computer geworden sind. Direktabbuchung! Ich hab’s geschnitten!«
»Was meinst du in diesem Zusammenhang mit ›geschnitten‹? Hat das nicht eher etwas mit Bridge zu tun?«, fragte Anna-Liisa genervt.
»Könnt ihr Bridge?«, fragte der Botschafter mit erwachendem Interesse.
»Ich meine, dass mir das Wort wieder eingefallen ist. Nennen die diese Art von Diebstahl nicht Direktabbuchung?« Irma hegte kein großes Vertrauen in ihr Gedächtnis. Wenn sie sich zu ihrer eigenen Überraschung an irgendetwas erinnerte, das sie längst vergessen zu haben glaubte, bezeichnete sie das wahlweise als geschnitten oder merkwürdige Intuition.
Aber Irma hatte recht. Aus dem Altenwohnheim Abendhain flossen die Gelder der Bewohner tatsächlich direkt zu verschiedenen Pflege- und Serviceunternehmen, ohne dass irgendjemand das im Detail mitbekam. Allein die Miete für eine kleine Zweizimmerwohnung betrug eintausend Euro monatlich, zusätzlich fielen diverse Servicegebühren und sonstige Kosten an. Die Preise wurden flexibel angehoben und angepasst und gründeten darauf, dass die Bewohner den Wert des Geldes nicht richtig einschätzen konnten. Viele redeten immer noch über die alte FIN-Mark und meinten damit die Mark, die vor dem Jahr 1963 in Umlauf gewesen war. Die Angehörigen, ohnehin von schlechtem Gewissen geplagt, wagten es nicht, die Preise infrage zu stellen und redeten sich ein, dass die Betreuung umso besser sei, je mehr man für die Pflege zahlte.
»Hosen runter: vierzehn Euro, Hosen hoch: sechzehn Euro«, zitierte Anna-Liisa aus der Gebührenliste des Altenwohnheims. »Ein hoher Preis für ein einziges Bedürfnis.«
»Dreißig Euro. Potz Blitz, das macht ja einhundertachtzig neue Mark!«, kalkulierte Irma schnell.
»Windeln sind billiger«, sagte Siiri, obwohl sie keine Ahnung hatte, was Windeln eigentlich kosteten und wo sie verkauft wurden. In Spanien bekam man Windeln ja in normalen Supermärkten, das wusste sie, denn in Abendhain gab es einige Rückkehrer, die gleich nach der Pensionierung nach Spanien in die Sonne geflohen waren, um jetzt, als die Blasenschwäche, der graue Star und die Hüfte zu plagen begannen, schnell den Schutz und die Geborgenheit finnischer Pflegeheime zu suchen. Das neue Ehepaar aus Haus A passte genau in dieses Profil. Sie praktizierten derart lauten Nachmittagssex, dass die Nachbarn sich bereits beschwert hatten, und sie galten als sparsam, weil sie billige Supermarktwindeln aus Spanien mitgebracht hatten. Irma wusste, dass ihr Balkon voller Windelpakete war.
»Fürchterlich hässlich. Nicht mal Geranien haben da noch Platz, könnt ihr euch das vorstellen!«, rief Irma. Ihre Tochter hatte für sie über die Zentralstelle für Altenpflege Windeln auf Lebenszeit bestellt, aber Irma hatte sie alle zurückgesendet, weil sie keinen geeigneten Lagerraum hatte. Sie schmückte ihren Balkon lieber mit Blumen.
»Ich glaube, dass die Frau Margit heißt. Ist das so? Und der Name des Mannes könnte Eino sein. Eino und Margit? Was meint ihr?«
Die anderen konnten nicht mit Sicherheit sagen, wie die Namen des neuen Ehepaares lauteten.
»Warum ist das Hochziehen einer Hose eigentlich teurer als das Herunterziehen?«, fragte Anna-Liisa, um das Gespräch wieder in die richtige Bahn zu lenken, als sei sie die Erste Vorsitzende dieser brainstormenden Gesprächsrunde.
»Wäre es mit einem Rock günstiger?«, zog der Botschafter in Erwägung.
»Das hängt von der Anziehungskraft der Erde ab!«, rief der Buchdrucker Reino, der gerade vom Wasserautomaten kam. Er war ein gierig blickender Mann, der Siiri gerne als das schönste Mädchen in Abendhain bezeichnete. Irma behauptete, dass Reino sogar einmal versucht habe, sie im Aufzug zu küssen, aber Irma behauptete ja allerlei. Reino steuerte erstaunlich schnell mit seinem Rollator auf sie zu, mit Gesundheitsschlappen an den Füßen und in einer bequemen Trainingshose. Ein Lätzchen hing ihm um den Hals, obwohl noch nicht Mittagszeit war.
»Es hat wohl eher mit dem Gürtel zu tun«, sagte Siiri und beschloss, sich langsam aus dem Staub zu machen. »Knöpfe und Gürtel sind schwerer zu schließen als zu öffnen. Jedenfalls, wenn man ordentlich gekleidet ist.«
Sie verstaute ihre Sachen in der Handtasche, die Brille, ein Taschentuch und Pastillen, und Irma tat es ihr gleich. Sie fand es ein wenig abstoßend, dass Reino so unordentlich war, der Bart wie immer schlecht rasiert, zwischen den Zähnen Essensreste, die Ohren und Augenbrauen erinnerten an dichtes, stacheliges Gestrüpp.
»Ich finde, dass bei Frauen die Blusenknöpfe und BH-Verschlüsse leichter zu öffnen als zu schließen sind. Da geht es auch um die Anziehungskraft«, erklärte Reino.
»Unsinn, Reino«, sagte Anna-Liisa kühl. »Du hast doch noch nie einer Frau den BH zugemacht.«
»Zeit zu gehen. Kommst du mit auf meine Bude? Wir könnten vorher noch ein bisschen Aufzug fahren«, sagte Reino.
Auch Anna-Liisa hatte genug. Sie schnaubte düster und sagte, sie wolle ins Auditorium gehen, um einen Vortrag über Ausgewogene Ernährung als Grundlage körperlicher Leistungsfähigkeit bei Menschen höheren Alters zu hören. Der Botschafter zeigte sich unmittelbar interessiert und kündigte an, Anna-Liisa begleiten zu wollen. Er stand auf, schob höflich Anna-Liisas Rollator heran und bot ihr galant den Arm an wie ein echter Kavalier. Irma zwinkerte Siiri zu, und sie gingen gemeinsam zum Aufzug.
Reino blieb allein am Kartentisch zurück und wunderte sich, wohin denn alle gegangen waren und warum er ein Lätzchen um den Hals trug.
»Schwester! Schwester! Hallo, Fräulein! Hilfe!«
Aber er rief vergeblich nach den Schwestern, weil sie natürlich keine Zeit hatten, um nachzusehen, was bei einem gesunden Mann wie ihm los war. Er versuchte, das Lätzchen zu entfernen. Es war kompliziert. Der Knoten war fest und befand sich an einer schwer zugänglichen Stelle seines Nackens. Je mehr er zog, desto fester wurde der Knoten. Also stand er auf und zerriss das Lätzchen mit Gewalt, fluchte heftig und schmiss das Bündel auf den Boden.
Dann ließ er sich auf das Sofa im Aufenthaltsraum fallen, in der Hoffnung, dass Siiri bald wieder erscheinen würde oder eine andere der Königinnen von Abendhain, um ihn zu unterhalten. Und dabei schlief er ein.
Inhaltsverzeichnis
Siiri ging den Gang im Untergeschoss entlang, auf der Suche nach dem Sozialarbeiter Pasi, der in der Regel in seinem Büro anzutreffen war. Sie wollte mit Pasi über Teros Tod sprechen. Pasi und Tero waren gut miteinander ausgekommen, Siiri hatte die beiden Jungs oft in der Küche reden sehen. Aber jetzt war die Tür zu Pasis Büro abgeschlossen und auf einem Zettel an der Tür stand, dass die Aufgaben des Sozialarbeiters vorübergehend von der Stationsschwester Virpi Hiukkanen wahrgenommen würden.
Virpi arbeitete eng mit der Heimleiterin Sinikka Sundström zusammen, sie war ihre linke und rechte Hand und kümmerte sich hingebungsvoll um die Angelegenheiten des Hauses, sowohl in Hinsicht auf die Bewohner als auch auf die Mitarbeiter. Virpi war ein Segen für Abendhain, denn auch wenn die Heimleiterin eine liebenswerte, freundliche Dame war, war sie doch in praktischen Dingen gänzlich unfähig.
Es galt jetzt, schlau zu handeln. Wenn Siiri zur Heimleiterin gehen würde, um sich gezielt nach dem Tod des Kochs und der Abwesenheit des Sozialarbeiters zu erkundigen, war es denkbar, dass diese das als versteckten Vorwurf empfand. Eine sachliche Kommunikation mit ihr erwies sich nämlich manchmal als schwierig, weil sie das Elend der ganzen Welt auf ihren Schultern zu tragen schien und dazu neigte, die Schuld immer bei sich zu suchen. Siiri würde sich also etwas anderes einfallen lassen müssen.
Sie ging zurück in ihre Wohnung, schaute im Fernsehen eine Folge von Hercule Poirot und legte sich anschließend ins Bett, um zu ruhen. Sie stellte sich vor, dass sie in einem ebenso schönen Haus aus den Dreißigerjahren lebte wie Poirot in London, inmitten moderner Möbel im Bauhaus-Stil, und sie begann gerade, in einen lustigen Traum hinabzugleiten, in dem Poirot über seinen Schnurrbart strich, sie mit seinen freundlichen braunen Augen lächelnd ansah und grüßend seine Hand an den Hut hob, als das Telefon klingelte.
Siiri musste aufstehen, weil sich das Telefon im Flur auf dem kleinen Tisch befand. Viele Heimbewohner hatten ihr Telefon immer neben dem Bett liegen, aber Siiri hatte sich daran gewöhnt, dass im Flur der Telefontisch stand und daneben ein Stuhl. Es war angenehmer, sich dort zu unterhalten als im Schlafzimmer auf der Bettkante. Und aus dem Bett aufzustehen, war ja auch nicht die schlechteste gymnastische Übung. Wobei sie gerade nicht allzu schnell aufstehen konnte, sie musste eine Weile warten, bis sich der Schwindel und das Rauschen im Kopf gelegt hatten, und das Telefon genoss das Privileg, lange zu klingeln, bevor sie endlich abheben konnte.
»Tuukka hier, hallo. Du hast eine ziemlich merkwürdige Rechnung fürs Putzen bekommen.«
Siiri hatte schon vor längerer Zeit ihre Enkelkinder darum gebeten, sich um ihre Kontoführung zu kümmern, weil das inzwischen alles mit dem Computer erledigt wurde und sie sich dazu nicht in der Lage sah. Der Freund ihrer Urenkelin hatte freundlicherweise eingewilligt, das zu übernehmen. Tuukka war ein sehr angenehmer Mann, und er studierte an der Universität irgendetwas Merkwürdiges.
»Mikro- und Umweltbiotechnik«, behauptete er immer, aber das sagte natürlich niemandem etwas.
Jetzt hatte Tuukka also offenbar auf seinem Bildschirm gesehen, dass von Siiris Konto 76 Euro eingezogen worden waren fürs Putzen, obwohl sich das ganz in Schwarz gekleidete Mädchen in der Vorwoche nur einmal um die eigene Achse gedreht hatte. Das Mädchen hatte zu diesem Zweck auch die Lippen schwarz angemalt, und ihre Haare waren schwarzer gefärbt gewesen als die von Irmas asiatischer Masseurin.
»Kein Wort hat sie gesagt, während sie da gegen den Wischmopp gelehnt rumgestanden hat.«
»Also, es wurden zwei Stunden abgerechnet«, sagte Tuukka, ohne das von Siiri skizzierte Aussehen oder Verhalten der Putzfrau zu kommentieren, ein sachlicher Mann.
»Aber dieses Wesen war nur eine halbe Stunde hier, wenn überhaupt. Ich habe auf die Uhr geschaut und war die ganze Zeit dabei.«
»Sie können für den Putzservice eine Untergrenze von zwei Stunden veranschlagen, das ist durchaus üblich«, sagte Tuukka. »Aber 76 Euro sind natürlich eine Unverschämtheit.«
Nach dem Telefonat fühlte sich Siiri besser. Eine unverhältnismäßige Rechnung fürs Putzen war geradezu ein Glücksfall, genau das, was sie brauchte, um die Heimleiterin zu kontaktieren. Sie beschloss, eine Beschwerde einzureichen und diese Beschwerde zur Sicherheit schriftlich zu formulieren, um dem Ganzen einen offiziellen Anstrich zu geben. Aber leider musste sie per Hand schreiben, mit Kugelschreiber auf kariertem Papier, und es sah nicht allzu beeindruckend aus.
Siiri hatte jahrzehntelang im Gesundheitsamt als Sekretärin gearbeitet und war dementsprechend in der Lage gewesen, das Geschreibsel anderer im Zehn-Finger-System abzutippen. Sie hatte akkurateste Blätter erstellt, auf denen die Seitenränder, die Zeilenabstände und das Schriftbild perfekt harmonierten, und sie hatte nie eine falsche Taste angeschlagen. Sie konnte sich noch daran erinnern, wie der Bürochef einmal kurzfristig einen tadellos getippten Text hatte abändern wollen, und sie hatte die ganze Arbeit von vorn beginnen müssen. Aber heute war Maschinenschreiben ja ohnehin eine Fähigkeit, die nicht mehr gebraucht und nicht mehr geschätzt wurde.
Nachdem sie die Beschwerde endlich zu Papier gebracht hatte, dachte sie für eine Weile über eine Überschrift nach und schrieb schließlich: »Kann heutzutage keiner mehr richtig putzen?« Sie ging sofort los, um das Schreiben in Sinikka Sundströms Büro zu bringen. Schon auf dem Weg dorthin bereute sie die Überschrift, denn sie wollte sich ja über die Abrechnung und nicht über die mangelhafte Qualität des Putzens beschweren. Obwohl das natürlich bei Gelegenheit auch zum Thema gemacht werden könnte. Sie hatten sich unter den Bewohnern schon häufig darüber gewundert, dass man den Putzfrauen extra erläutern musste, dass Staub auch hinter Heizungskörpern gewischt werden konnte und ein Türrahmen mit einem feuchten Lappen.
Das Arbeitszimmer der Heimleiterin lag im Untergeschoss, ganz vorne im Gang, direkt neben dem Aufenthaltsraum. Viele im Haus teilten die Meinung, das Zimmer befinde sich dort, damit es Sinikka erleichtert würde, den Bewohnern nachzuspionieren und die Abläufe zu überwachen. Anna-Liisa etwa war überzeugt davon, dass die Mitarbeiter in Abendhain ein zwanghaftes Kontrollbedürfnis hätten. Und man munkelte, der Schlimmste von allen sei Virpi Hiukkanens Mann.
Erkki war wesentlich älter als seine Frau und ein wenig dumm. Ein fauler Mensch, der Wachtmeister genannt wurde, obwohl seine offizielle Berufsbezeichnung etwas kryptisch Referent lautete. Erkki mit dem schütteren Haar konnte ungefragt die Wohnungen betreten, um die Birnen der Deckenbeleuchtung zu wechseln, obwohl die alten Birnen noch in Ordnung waren. Oder um Abflussrohre und Lüftungsschächte zu überprüfen, die offenbar ständig Probleme bereiteten. Alle hatten gelernt, dass es sich bei überraschendem Besuch immer um Erkki Hiukkanen im blauen Handwerkeroverall handelte – der einzige kostenfreie Service in Abendhain.
Aber was auch immer unter den Bewohnern geredet werden mochte, Siiri mochte Sinikka. Sie war sich sicher, dass die Bewohner des Hauses der Heimleiterin am Herzen lagen und dass sie sich nach Kräften darum bemühte, alles gut und reibungslos zu regeln. Sinikka war eine Frau, die in ihrer Arbeit aufging und die es genoss, anderen Gutes zu tun.
Sie saß in ihrem Büro vor dem Computer, vertieft in irgendeine Angelegenheit. Das Zimmer war spärlich beleuchtet, dunkle Vorhänge waren vor das Fenster gezogen worden und auf dem Tisch brannte eine übel riechende Duftkerze. Daneben stand eine große, kreisende Salzskulptur, wohl auch eine Art Lampe. Siiri hatte den Eindruck, dass auf dem Bildschirm Spielkarten flimmerten, aber so was gab es sicherlich nicht, Kartenspiele auf dem Computer. Als die Heimleiterin Siiri bemerkte, lächelte sie freundlich und kam schnell auf sie zu, die Arme zu einer Umarmung ausgestreckt. Siiri wehrte sich nicht und spürte, dass sie unangemessen tief in den Falten des fremden Körpers und im Geruch eines würzigen Parfüms versank, und sie wurde von der plötzlichen Angst ergriffen, in Kürze niesen zu müssen. Aber Sinikka hatte Pflegewissenschaften studiert und gelernt, dass alte Menschen sich nach Berührung sehnten.
»Siiri, Schatz! Wie geht es Ihnen?«, fragte die Heimleiterin, als Siiri endlich wieder frei atmen konnte.
Siiri kam direkt zur Sache und überreichte ihre Beschwerde, wobei sie sich einleitend dafür entschuldigte, dass sie mit der Hand auf kariertes Papier hatte schreiben müssen.
»Oh, das stört doch gar nicht. Du hast eine schöne Handschrift, wie meine Oma. Sie ist natürlich schon ewig tot, sie starb, als ich noch zur Schule ging.«
Die Heimleiterin las, hob die mit Sorgfalt gezupften Augenbrauen und machte ein kummervolles Gesicht. Es tue ihr fürchterlich leid, dass Siiri etwas so Unangenehmes widerfahren sei, sagte sie, und sie versprach, sich umgehend um die Angelegenheit zu kümmern, obwohl eigentlich das Reinigen und Säubern nicht zu ihrem Aufgabenbereich gehörte, da diese Arbeiten von Externen erledigt würden. Sie bat Siiri, sich zu setzen, und erklärte in aller Ausführlichkeit, dass es sich um ein privates Reinigungsunternehmen handle, das Abendhain unter einer ganzen Reihe von Mitbewerbern ausgewählt habe, die Firma Putz und Blank aus Muhoväki nämlich, die sich unbedingt als die günstigste und zuverlässigste erwiesen habe, und für alle Fragen bezüglich der ausgelagerten Dienste sei der Leiter des Qualitätsmanagements, Pertti Sundström, zuständig.
»Sundström? Ist er mit Ihnen verwandt?«, fragte Siiri. Sie hatte noch nie von einem Leiter des Qualitätsmanagements gehört.
Pertti Sundström sei in der Tat ihr Gatte, den sie ihr liebend gerne vorstellen würde, aber bedauerlicherweise befinde er sich auf einer Dienstreise. Siiri solle deshalb ihre Beschwerde in den Feedback-Kasten im Gang werfen, also in den, auf dem eine große Rose abgebildet sei. Dies sei an dieser Stelle ohnehin das Klügste, weil Pertti sich um die Belange des Qualitätsmanagements im Rahmen einer eigenständigen Kommanditgesellschaft kümmere.
»Sein Büro liegt in Kalasatama, aber ich kann ihm die Beschwerde natürlich persönlich zukommen lassen«, schlug die Heimleiterin freundlich vor und bedankte sich bei Siiri für ihre Mühe und den damit verbundenen Beitrag zur Qualitätssicherung.
»Obwohl wir zuletzt einmal mehr die volle Punktzahl bei den Qualitätserhebungen erhalten haben, können wir immer noch besser werden!«
Siiri stützte sich am Tisch ab, während sie aufstand, und bemerkte einen Ordner, auf dem der Name des jungen Kochs stand. Was für ein wunderbarer Zufall! Fast hatte sie vergessen, dass das der eigentliche Anlass für ihren Besuch gewesen war.
»Tero Lehtinen. Ein netter Mann und ein guter Koch. Wissen Sie, woran er so plötzlich gestorben ist, ein so junger Mensch?«
Sinikka Sundström war schon auf dem Weg in Richtung Flur, Siiris Zettel schwingend, aber als sie Teros Namen hörte, blieb sie stehen, drehte sich abrupt um, schloss die Tür hinter sich und kehrte zurück, um Siiri ein weiteres Mal zu umarmen. Die große Halskette aus Holz presste unangenehm gegen Siiris Wangen.
»Wir alle trauern um Tero. Es ist tragisch. Er war so ein lieber Mensch«, murmelte sie und herzte Siiri wie ein geliebtes Haustier. Nach einer Weile des Tröstens bat sie sie schließlich zu gehen, weil sie in die Stadt in ein Meeting müsse, und half ihr beim Aufstehen. Während sie ihre Jacke anzog, fuhr sie noch fort mit den Klagen, und Siiri hatte den Eindruck, der armen Frau müsse geholfen werden. Aber sie wusste nicht, wie.
»Wir werden eine Therapiegruppe anbieten für alle, die Beistand suchen nach Teros Tod. Möchten Sie teilnehmen, liebe Siiri?«
Sinikka warf sich den bunten Schal so schwungvoll um den Hals, dass dessen Fransen Siiris Gesicht streiften.
»Nein, danke. Wir Alten brauchen keinen Beistand, aber den Mitarbeitern wird das sicher helfen«, sagte Siiri und schenkte der Heimleiterin ein aufmunterndes Lächeln.
»Oh, nennen Sie sich bitte nicht alt, das ist ein hässliches Wort. Also, ich muss los. Tschüsschen!«
Inhaltsverzeichnis
Irma und Siiri wohnten in nebeneinanderliegenden Zweizimmerwohnungen im dritten Stock von Haus 3 in Abendhain. Die Wohnungen waren sich ähnlich und gleichzeitig ganz verschieden, denn Siiri hatte ihre eigene spärlich eingerichtet, während Irma alle geliebten Gegenstände aus ihrer großen Wohnung in Töölö mitgenommen hatte. Die Fußböden waren dementsprechend voller Teppiche, die Wände voller Wandbehänge und Bilder, die Regale voller Bücher, im Wohnzimmer stand ein Sofa und vor dem Sofa ein flacher Porzellantisch, den sie mit einer eigenen, im Rahmen eines Kurses an der Volkshochschule hergestellten Blumenmalerei verziert hatte. Dazu kamen noch ein Schaukelstuhl, ein Klavierstuhl als Erinnerung an das Klavier, das sie besessen hatte, ein paar lustige Hocker und natürlich eine Essecke sowie ein Fernseher, und überdies befand sich überall Rosenstoff von Sanderson: auf den Kissen, auf Vorhängen, an der Wand, auf Stuhlbezügen.
Sie trafen sich fast jeden Tag auf einen Instantkaffee und einen Sandkuchen bei Irma. Irma saß auf dem Lehnstuhl, im Licht der Stehlampe, und Siiri auf dem Sofa, wohin das zarte Licht der aus Irmas Elternhaus stammenden Lampen nicht ganz reichte. Manchmal besuchten sie sich aus einer Laune heraus auch im Nachthemd. Das war das Gute am Altwerden. Man durfte in Schlafanzügen oder Bademänteln herumlaufen, essen, was man wollte, und tun, worauf man gerade Lust hatte. Vor allem Kuchen essen. Sie hatten ja in ihrer Jugend niemals genug Kuchen bekommen.
»Kuuuuchen«, korrigierte Irma. »Da müssen jede Menge uuuus drin sein, damit es ebenso gut klingt, wie es schmeckt. Nimm du doch noch ein Stück von dem Kuuuuchen, während ich eine Amaryl-Pastille lutsche.«
Irma glaubte fest daran, dass sie sich keine Sorgen um die Blutzuckerwerte machen müsse, wenn sie das Diabetesmedikament zeitgleich mit einem Stück Kuchen einnahm. Manchmal aß sie auch drei Portionen Eis und trank ein wenig Whiskey, bevor sie die Tablette einwarf. Siiri hatte ohnehin keine Veranlassung, sich Sorgen um ihren Blutzucker zu machen, und wenig Lust, allzu viel darüber zu sinnieren, ob Irmas Methoden, den Blutzucker zu stabilisieren, Sinn ergaben.
»Was meinst du, hat Pasi Sonderurlaub bekommen, weil Tero gestorben ist?«, schlug Siiri vor, aber Irma war anderer Meinung. Sie glaubte nicht daran, dass in Abendhain irgendjemand Urlaub bekommen könnte, weil ein anderer starb. Irma zufolge führte Stationsschwester Virpi ein strenges Regiment. Sie ließ die Mitarbeiter etliche schlecht bezahlte Schichten hintereinander schieben, ohne sich je zu bedanken. Deswegen waren die jungen Menschen natürlich erschöpft von ihrer Arbeit, von dem ganzen Pflegen und Bei-Laune-Halten der Senioren. Die Mitarbeiter sorgten in gewisser Weise für Eile an einem Ort, an dem es keiner eilig hatte. Die Pfleger und Schwestern arbeiteten bis zur Erschöpfung und kündigten dann oder suchten sich eine amüsantere Arbeit oder nahmen ein Sabbatical. Siiri hatte keine Ahnung, was ein Sabbatical überhaupt sein sollte.
»Da bezahlt der Arbeitgeber dafür, dass der Arbeitnehmer ein Jahr lang nicht arbeitet«, erklärte Irma. Siiri konnte das nicht recht glauben. Auf das, was Irma erzählte, konnte man sich nicht immer verlassen, sie war manchmal ein wenig wirr.
»Ja, das ist so. Der Arbeitgeber engagiert dann stattdessen einen Arbeitslosen oder einen Flüchtling und erhält vom Staat Zuschüsse«, behauptete Irma, und Siiri nahm sich vor, der Sache irgendwann später auf den Grund zu gehen.
Irma war effektiv gewesen und hatte herausgefunden, dass Teros Beerdigung zwei Wochen später am Samstag in der Alten Kapelle in Hietaniemi stattfinden sollte. Sie hatten beide vor, an der Beerdigung und der Trauerfeier teilzunehmen, auch in der Hoffnung, bei dieser Gelegenheit einige offene Fragen klären zu können. Siiri mochte Beerdigungen nicht, aber Irma erfreute sich an jeder Form von Festivität.
»Lass uns die anderen fragen, ob sie mitkommen wollen. Wir machen daraus einen richtigen Herbstausflug«, begeisterte sie sich. »Wir können mit der Straßenbahn fahren, dann hast du auch deinen Spaß. Wohin bist du denn in letzter Zeit so mit deiner Monatskarte gereist?«
Siiri berichtete, dass sie am Vortag mit der Linie 3 und der Linie 7 unterwegs gewesen sei, und natürlich, wie immer zu Beginn und am Ende ihres Ausflugs, mit der Linie 4. An der Haltestelle auf Höhe des Aurora-Krankenhauses war wieder ein sich selbst anschreiender Irrer in den Waggon eingestiegen, und weil die Häuser in Pasila so hässlich sind, war das ein wenig beklemmend gewesen. Aber bei der Ankunft in der Mäkelästraße und in Vallila hatte sie schon wieder bessere Laune gehabt. Siiri erzählte, dass sie an der Ecke zur Sturestraße ein Restaurant entdeckt habe, in dem für drei Euro das Frühstück auch nachmittags angeboten wurde. Das belustigte sie beide.
»Wir könnten doch irgendwann mal da hingehen, anstatt hier unseren Blümchenkaffee zu trinken«, schlug Irma vor.
»Eigentlich gibt es keine Ecke an der Ecke Mäkelä-Sturestraße, sondern eine Rundung. Wie in mitteleuropäischen Städten. Aber du verstehst bestimmt nicht, was ich meine, weil du ja noch nicht da gewesen bist.«
Irma gehörte zu der Art von Frauen, die so gut wie nie etwas im Norden der Stadt zu erledigen hatte. Aber natürlich hatte sogar sie manchmal nach Vallila fahren müssen, wo es wunderbar nach Kaffee gerochen hatte.
»Veikko hat mir mal erzählt, dass es in Vallila große Stadtviertel mit Steinhäusern aus den Zwanzigerjahren gibt, und ein Blick in die Innenhöfe würde sich sehr lohnen, weil man da mit etwas Glück wunderbare Gärten entdecken könne.«
Veikko war Irmas Mann gewesen. Er war vor recht langer Zeit verstorben, an Lungenkrebs, nachdem er jeden Tag zwei Päckchen Zigaretten geraucht hatte. Irma sprach selten über ihren Mann und schien ihn nicht in derselben Weise zu vermissen wie Siiri ihren. Heute noch immer wie am ersten Tag.
»Fürchterlich wäre es ja, wenn Veikko noch leben würde. Er wäre sicherlich sehr krank, und ich müsste ihn pflegen. Oder er wäre wirr und würde auf der geschlossenen Abteilung liegen«, pflegte Irma zu sagen.
In Abendhain wurde die Abteilung für schwer demente Patienten das »Gruppenheim« genannt. Ein flaches Gebäude im Seitenflügel der Anlage, das an den Aufenthaltsraum angrenzte und dessen Türen immer verschlossen blieben. Deswegen bezeichneten die anderen, die von schwerer Demenz noch verschont blieben, diesen Teil des Heims zuweilen auch als geschlossene Abteilung. Keiner der Bewohner hatte die Erlaubnis, dorthin zu gehen, ein Hauch von Mystik und Mysterium schien auf diesem Ort zu lasten, der gleichzeitig Angst und Neugier auslöste. Die Pfleger und Schwestern liefen zügig mit klirrenden Schlüsseln durch diese geheimnisumwobene Tür hinein und wieder heraus, und erweckten immer den Eindruck, in Eile zu sein, Kummerfalten auf der Stirn.
Insbesondere die Krempenhutdame wurde nie müde, wortreich Mitteilung zu machen, sobald ein ihr bekannter Bewohner des Heims in die geschlossene Abteilung verlegt worden war. Und als es die dicke Frau aus dem ersten Stock von Haus A erwischt hatte, hatte Irma vorgeschlagen, dass man sie doch mal besuchen könne, um ihr etwas vorzusingen und ihr Märchen vorzulesen, aber Virpi Hiukkanen hatte diese Art von Unsinn strengstens untersagt. Das Pflegen der schwer dementen Menschen erfordere besondere Kenntnisse und eine professionelle Ausbildung, dort könne nicht jeder einfach mal reinschauen, um Unfug zu treiben.
»Das ist fürchterlich da«, sagte Irma. »Abends wird man um acht geweckt, dann wird ein Schlafmittel verabreicht. Und morgens wird man um acht geweckt, um Stimmungsaufheller einzunehmen. Das ist doch kein Leben. Also hat Veikko alles richtig gemacht, er hat jede Menge Tabak eingeatmet und hat sich aus dem Staub gemacht. Was glaubst du, würde es sich lohnen, wenn wir mit dem Rauchen anfangen? Sonst sterben wir vielleicht nie! Döden, döden, döden.«
Siiri erzählte, dass der Arzt ihr kürzlich empfohlen habe, jeden Abend um halb neun ein Schlafmittel einzunehmen, mit der Begründung, dass Senioren um diese Zeit schlafen sollten.
»Um halb neun? Wenn gerade die Nachrichten im Fernsehen laufen?«, rief Irma aus, wobei ihr einige Kuchenkrümel in den falschen Hals gerieten und sie zu husten begann.
»Erstick nicht! Ich hole dir was zu trinken!«, sagte Siiri.
Sie ging schnell in die Küche und fand einen Karton mit Rotwein, der neben der Spüle und der Spülmittelflasche stand. Irma hatte es sich zum Prinzip gemacht, nach Möglichkeit nichts anderes zu trinken als Rotwein. Wasser war ihrer Auffassung nach zum Waschen da und Milch ein Getränk für Kinder. Sie trank häufig schon gegen Mittag einige Gläser Wein und abends dann natürlich den Whiskey, den der Arzt ihr verordnet hatte. Manchmal wusste sie allerdings nicht genau, ob gerade Abend, Tag oder Nachmittag war, dann konnte es auch vorkommen, dass sie Rotwein und Whiskey durcheinandertrank.
Der Wein, den Siiri brachte, bewirkte Wunder. Nachdem sie einige lange Schlucke getrunken hatte, konnte sie wieder sprechen.
»Ich habe nur gerade gedacht, dass man bei den Fernsehnachrichten ja ohne Weiteres auch ohne Medikamente einschlafen könnte.«
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Es war ein ganz ruhiger, mit anderen Worten, ein durchaus gewöhnlicher Nachmittag. Nach dem Essen hatten sich alle zur Mittagsruhe begeben, und etwa um drei kamen sie herunter in den Aufenthaltsraum, um Canasta zu spielen. Das nachmittägliche Kartenspielen gehörte nicht explizit zu den in Abendhain angebotenen Dienstleistungen, sondern es war als fester Programmpunkt von den Bewohnern ins Leben gerufen worden.
Irma mischte die Stapel und verteilte elf Karten an jeden, das war ihrer Meinung nach eine fürchterlich lustige Beschäftigung, und sie war sehr gut im Mischen und zügig beim Verteilen. Sie spielten nicht in Teams, weil das erfahrungsgemäß nur Streit brachte. Sobald die Karten verteilt waren, wiederholte sich immer dasselbe Ritual. Irma präsentierte ihr Blatt und erfreute sich an ihren Zweiern und Jokern, Anna-Liisa ging Irmas Getue auf die Nerven, und Siiri, Reino und der Botschafter ordneten ihre Karten in aller Ruhe. Der Botschafter saß an Irmas linker Seite, wohlwissend, an diesem Platz das Spiel beginnen zu dürfen.
»Ich komme schon raus«, sagte er jetzt und legte drei Buben vor sich auf dem Tisch ab. Irma gab ihrer Bewunderung Ausdruck, und Anna-Liisa räusperte sich nervös, vermutlich hatte sie ebenfalls vorgehabt, Buben zu sammeln. Siiri hob, als sie an der Reihe war, vom Stapel einen Joker ab, versuchte, nicht zu lächeln, und entledigte sich einer Karo-Vier.
»Hast du was Feines bekommen?«, fragte Irma. »Reino, du bist dran.«
Aber Reino nahm keine Karte, und er schien dem Spiel gar nicht zu folgen, er starrte geradeaus und murmelte vor sich hin. Alle sahen ihn erwartungsvoll an.
»Olavi Raudanheimo … im Rollstuhl und Kriegsveteran! Wenn Olavi es nicht selbst erzählt hätte … Gott im Himmel, und zum Teufel, dass so etwas passieren kann!!«
Reino schüttelte den Kopf und brüllte plötzlich los, der Speichel spritzte, die Karten fielen auf den Boden. Er wedelte mit den Armen und gab winselnde Geräusche von sich, bis er kraftlos zusammensackte und zu weinen begann. Der große, in der Regel gut gelaunte Reino weinte wie ein kleines Kind, prustend, in sich gekehrt, der ganze Körper bebte. Es war beängstigend. Irma bot ihm ihr Taschentuch an, Siiri hielt seine Hand, beugte sich zu ihm vor und bat ihn zu erzählen, was los sei. Anna-Liisa schob ihren Stuhl einen halben Meter weit weg und musterte mit strengem Blick den schniefenden, stammelnden Mann.
»Sprich deutlich«, sagte Anna-Liisa. »Wir können dir nicht folgen.« Anna-Liisa hatte natürlich recht. Keiner verstand, worüber er sprach.
Olavi Raudanheimo war Reinos Nachbar in Haus C. Er wohnte in einer Einzimmerwohnung und saß im Rollstuhl, man sah ihn selten. Manchmal brachte Reino ihn zum nahe gelegenen Park, aber bei den Veranstaltungen von Abendhain schien er sich nicht wohlzufühlen, er gehörte eher zu den Lesenden, löste Kreuzworträtsel und lauschte den Nachrichten im Radio. Olavi hatte beide Beine im Krieg verloren, sein Aufenthalt in Abendhain wurde staatlich bezuschusst.
»Ist Olavi gestorben?«, fragte Irma fröhlich.
»Nein, nein, nein, wäre er bestimmt gerne …«, sagte Reino, kratzte sich und schnäuzte sich lautstark die Nase in Irmas Spitzentüchlein. »So etwas muss ein alter Mann dann auch noch ertragen, zum Henker!«
»Das ist ein Tuch meiner Mutter«, sagte Irma und betrachtete sorgenvoll den nassen Haufen. »Ach, nicht so wichtig«, fuhr sie lächelnd fort. Irma war immer darum bemüht, die Stimmung aufzuhellen, wie traurig und bedrückend die Situation auch sein mochte. »Wir sterben ja leider nie! Döden, döden, döden. Schau mal, da liegt eine Karte – ein ganz trauriger König! Ist Olavi in der Wohnung gestürzt? Hat er einen Hirnschlag erlitten? Oder ist eines seiner Kinder gestorben? Bin ich jetzt dran? Also, in unserem Spiel, meine ich.«
»Vergewaltigung! Olavi wurde gestern Abend in seiner Wohnung vergewaltigt!«, rief Reino so laut, dass es umgehend sehr leise wurde. Dann sackte er wieder in sich zusammen und fuhr fort, still zu weinen. Irma ließ die Spielkarten in ihren Schoß sinken, Siiri suchte ratlos Anna-Liisas Blick und hielt immer noch Reinos Hand. Der Botschafter saß entspannt, auf seine Karten konzentriert, als sei nichts Bemerkenswertes vorgefallen.
»Man kann doch einen Mann nicht vergewaltigen«, sagte Siiri schließlich.
»Heißt nicht ein Buch von Märta Tikkanen so?«, sagte Irma nachdenklich, während sie die Finger durch ihr Perlenhalsband gleiten ließ. »Ich glaube, es heißt: Männer können nicht vergewaltigt werden, oder so ähnlich. Habt ihr das Buch gelesen? Ich kann mich nicht entsinnen, ob ich es gelesen habe. Die Bücher von Hendrik Tikkanen habe ich sehr wohl gelesen, Marianstraße und Majavaweg und dieses andere, weil Henrik Tikkanen ein Schulkamerad meines Bruders gewesen ist. Hieß deine Putzfrau nicht Tikkanen? Die vor einiger Zeit an Krebs gestorben ist? Meine Schwägerin mochte das gar nicht, wenn Tikkanen allerlei Intimes über andere Leute schrieb, also Henrik Tikkanen, nicht deine Putzfrau. Starb er nicht auch an Krebs? Ich meine, Henrik Tikkanen? In diesem Kulosaarenweg-Roman ging es um dieses schon verstorbene Mädchen, das in die Klasse meiner Schwägerin ging und bald nach der Schulzeit an Krebs gestorben ist, und dann …«
»Sei doch still«, unterbrach Anna-Liisa ziemlich schroff, obwohl Siiri gerne gehört hätte, über welche Verstorbene Irma gesprochen hatte, diese Geschichte kannte sie noch nicht. Reino erhob sich so abrupt, dass sein Stuhl krachend umfiel.
»Olavi Raudanheimo wurde gestern in der Dusche vergewaltigt!«, brüllte er noch lauter als zuvor. Er sah furchterregend aus, das Gesicht voller Tränen, hasserfüllt, der Bart nur in Teilen rasiert. Ein großer Mann in Jogginghosen, der verschmutzte Saum seines Hemds flatterte in der Luft.
»Wir müssen uns jetzt Klarheit verschaffen«, sagte Anna-Liisa ruhig. »Also, was genau meinst du in diesem Zusammenhang mit Vergewaltigung? Eine Vergewaltigung hat ja immer mit Machtausübung zu tun. Dazu gehört nicht unbedingt Lust oder Verlangen, wenn ihr versteht, worauf ich hinausmöchte. Eine Vergewaltigung ist mit Erniedrigung, mit Demütigung verbunden.«
»Wer ist jetzt dran?«, fragte der Botschafter. Er war daran interessiert, das Spiel zeitnah fortzusetzen, weil er gute Karten hatte.
Reino fing wieder an zu schreien. »Dieser verdammte Pfleger … diese Schwuchtel, verdammt! Am Morgen, als er duschen sollte … Olavi hat es mir selbst erzählt!«
»Reino, setzt dich hin. War es am Abend oder am Morgen? Könnte ihm bitte mal jemand mit dem Stuhl helfen?«, sagte Anna-Liisa. Sie war als ehemalige Lehrerin selbstverständlich daran gewöhnt, krakeelende Störenfriede zu bändigen. Irma gehorchte als Erste, hob Reinos Stuhl auf und versuchte, ihn darauf zu platzieren. Das war nicht leicht, Reino wehrte sich, er zitterte und rieb zwanghaft sein Gesicht am Ärmel seines Hemds.
»Eene meene, ha, ha – ich habe eine rote Drei bekommen«, trällerte der Botschafter, der allein weitergespielt hatte. Irmas und Reinos Karten waren auf den Boden gefallen, aber Siiri hielt ihre so fest in der Hand, dass es schmerzte.
»Ich kann mich nicht erinnern, ich weiß es nicht, aber das spielt ja auch keine Rolle«, sagte Reino und setzte sich endlich hin, er schien ein wenig zur Ruhe zu kommen. Er versuchte, tief einzuatmen, und schnäuzte wieder in Irmas Spitzentuch, das anschließend noch zerknüllter aussah als zuvor. »Aber Gott im Himmel, ein Kriegsveteran … kann sich selbst nicht waschen.«
»Was ist denn mit Herrn Reino los?«
Die Stationsleiterin Virpi Hiukkanen kam auf sie zu. Keiner hatte sie zuvor jemals rennen sehen, aber jetzt war sie so sehr in Eile, dass ihre Krankenschwestersandalen hörbar über den Boden schlappten. Virpi fasste Reino fest an der Schulter, woraufhin dieser erst so richtig böse wurde und außer sich geriet. Der Rollator ging alleine auf Fahrt, die Spielkarten flogen durch die Luft, der Stuhl fiel wieder zu Boden und selbst Virpi zuckte zusammen. Um sie herum versammelten sich erstaunlich schnell einige Mitarbeiterinnen des Heims, fremde Menschen, denen Virpi mit scharfer Stimme Anweisungen gab.
»Diesen Patienten zur Demenzabteilung verbringen, sofortige Medikation!«
»Izvinite! Ostorozno!«
Vier russischstämmige Schwestern griffen nach Reino, der vom Bewohner zum Patienten geworden war und eine Spritze erhielt. Er schrie und tobte und prustete. Seine Stimme hallte noch lange vom Gang der geschlossenen Abteilung nach, bis in den Aufenthaltsraum. Irma fing an, die Spielkarten vom Boden aufzuheben, obwohl es ihr schwerfiel, sich zu bücken, denn sie war ein wenig füllig und hatte einen ausladenden Busen. Der Botschafter half eifrig mit, um in Irmas Dekolleté schauen zu können.
Sie begannen auf Anregung des Botschafters ein neues Spiel. Irma mischte und verteilte die Karten. Der Botschafter war noch ein wenig verärgert, er hatte wegen Reinos Tobsuchtsanfall zwei lupenreine Canasta nicht angemessen ausspielen können.
Inhaltsverzeichnis
Seitdem Siiri von Teros Tod gehört hatte, war sie nicht mehr in die Kantine des Heims zum Essen gegangen. In ihrem Alter musste man nicht mehr allzu viel essen, wenn man daran dachte, auch etwas anderes als Rotwein zu trinken. Und Leberauflauf, dessen Haltbarkeit zeitnah ablief, bekam man mit dreißig Prozent Rabatt im Supermarkt. Siiri bezahlte grundsätzlich alle ihre Einkäufe in bar, weil sie sich nicht auf die Lesegeräte an den Ladenkassen verlassen wollte. Sie ging also zum Geldautomaten, um sich Scheine zu holen, das war einfach. Für ihre Geheimzahl hatte sie eine Gedächtnisregel entwickelt, die erste Zahl war die dritte Potenz der zweiten, die dritte war das Ergebnis derselben durch drei geteilt, und die vierte resultierte aus der Summe der beiden ersten, subtrahiert um die dritte. Irma dagegen erinnerte sich an ihre Geheimzahl nur in seltenen Fällen.
»Gebe ich jetzt hier diese 0668 ein?«, fragte Irma, als sie gerade den preisgünstigen Leberauflauf im Alepa-Markt bezahlen wollten. Die Verkäuferin hatte Irmas Geldkarte in ein kleines Gerät eingeschoben.
»Sie müssen den PIN-Code eingeben«, sagte die Kassiererin hilfsbereit, ohne Irma damit weiterzuhelfen.
»Ist mein Code denn 0668? Oder ist das meine Sozialversicherungsnummer?«