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Drei uralte Freundinnen trotzen den Wundern der Technik Die Freundinnen Siiri, Irma und Anna-Liisa ziehen aus ihrer WG zurück ins frisch renovierte Altersheim. Dort glaubt man offenbar an die Wunder der Technik bei der Altenpflege. Da scheinbar nichts mehr ohne EDV und Computer geht, brauchen die drei Freundinnen eine gehörige Portion Humor und viel gesunden Menschenverstand, um das alles überleben zu können. Siiri, Irma und Anna-Liisa freuen sich, nach ein paar Monaten in ihrer Alten-WG in ihre Seniorenresidenz zurückziehen zu können. Doch die ähnelt mehr einem Versuchslabor. »Computerbasierte Altenpflege« ist der neueste Schrei – und die drei alten Freundinnen könnten wirklich den lieben langen Tag nur noch schreien. Da braucht es schon viel Selbstironie, um auch diese neue, allzu neue Situation souverän meistern zu können. Nach den großen Erfolgen der beiden Vorgängerbände ist hier der dritte Roman rund um die drei besten uralten Freundinnen.
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Seitenzahl: 332
Minna Lindgren
oderWer macht das Licht aus?
Roman
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Titelseite
Inhaltsverzeichnis
Über Minna Lindgren
Über dieses Buch
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
Inhaltsverzeichnis
Als Siiri Kettunen erwachte, fand sie sich in einem Albtraum wieder.
Sie stand auf, mit steifen Beinen, und schlüpfte in ihre Morgenpantoffeln. Ihr war durchaus bewusst, dass sie wach und am Leben war, daran bestand kein Zweifel. Auch nicht, als die Wand ihres Schlafzimmers mit ihr zu sprechen begann.
»Guten Morgen, Siiri! Der Pflegedienst ist heute nicht besetzt. Solltest du Informationen über deine Nacht benötigen, wähle bitte die Eins.«
Siiri trat näher und versuchte, die Eins leicht anzutippen. Die Wand blinkte rot auf, wie die Sirene eines Krankenwagens. Die Eins tanzte auf und ab, eine Ziffer mit dem Gesicht eines lachenden Trolls. Siiri hatte sich bereits angewöhnt, ihre neue multimediale und immer bestens informierte Schlafzimmerwand mit dem riesigen Touch-Display Smartwand zu nennen.
Siiris Hände zitterten, es wollte ihr einfach nicht gelingen, die Eins so zu berühren, dass irgendetwas passierte. Nach einer Weile versuchte sie es mit beiden Händen, mit aller Konzentration, und tatsächlich, ihr Zeigefinger kollidierte endlich mit der tanzenden Zahl. Sie verbeugte sich intuitiv dankbar, sie fühlte sich für Momente auf merkwürdige Weise auserwählt.
»Statistische Daten der Nacht – Schlaf: 8 Stunden, 25 Minuten, davon 7 Stunden, 5 Minuten Ruheschlaf; Effizienz: 88 Prozent; Schnarchen: 27 Minuten, Kategorie: gelegentlich; Registrierte Bewegungen: 229, Dauer: 1.060 Sekunden; Störungen: 0. Puls: 52; Stressreaktionen: 25.«
Nein, Siiri konnte nicht behaupten, dass sie die Mitteilungen verstand. War es beunruhigend, dass sie sich in den 8 Stunden und 25 Minuten der Nacht 229-mal bewegt oder geregt hatte? War das zu wenig oder zu viel? Die Angaben über das Schnarchen waren in jedem Fall erheiternd. Sie hatte sich ja immer über das Schnarchen ihres Mannes beklagt, und jetzt erwies sie sich als keinen Deut besser.
Ihr Mann hatte allerdings immer geschnarcht, nicht nur gelegentlich. Er war auch immer sehr schnell eingeschlafen, der Gute, sein Schnarchen hatte sofort eingesetzt und zuverlässig bis zum Morgengrauen angedauert. Dennoch war das eine schöne Erinnerung. Siiri hatte 57 Jahre lang an der Seite ihres lieben Mannes gelegen, und es waren glückliche Jahre gewesen, trotz des Schnarchens.
»Falls du weitere Informationen über dich benötigst, wähle die Eins!«
Die Smartwand riss sie aus ihren bittersüßen Erinnerungen. Sie hatte offensichtlich etwas Wichtiges mitzuteilen, denn sie blinkte ganz hektisch. Auf dem breiten Display lief zügig irgendeine Comicfigur auf und ab, vielleicht ein kleiner Bär. Oder war das eher ein Fisch? Jetzt sprang er lustig herum, und Siiri konzentrierte sich wieder darauf, die Eins anzutippen. Sie wollte jetzt wirklich wissen, was noch alles über sie zu berichten war.
»Du wirst heute siebenundneunzig Jahre alt. Der Weckdienst gratuliert.«
Als ob sie das nicht bereits gewusst hätte. Siebenundneunzig, das war fast hundert. Sie hatte mit Irma bereits fest vereinbart, dass sie beide keinesfalls hundert Jahre alt werden würden. Das würde nämlich nur Ärger mit sich bringen.
Eine Dame, die im Haus A von Abendhain gewohnt hatte, hatte einmal eine Einladung ins Gesundheitszentrum, zur frühkindlichen Vorsorgeuntersuchung, erhalten, aus Anlass ihres einhundertfünften Geburtstages. Das Computersystem der Gesundheitsbehörde hatte angenommen, sie sei gerade erst fünf geworden. Siiri hatte ihr geraten hinzugehen, diese Tests waren recht unterhaltsam. Sie hätte sicher ein Dreieck zeichnen und auf einer geraden Linie laufen müssen. Was nicht ganz einfach war für eine 105-Jährige. Aber die Dame war nicht hingegangen, nein, sie hatte eine Riesensache daraus gemacht und diverse Beschwerden geschrieben, bis sie schließlich gestorben war, noch bevor die Beschwerden hatten bearbeitet werden können.
»Herzlichen Dank«, sagte Siiri.
Auf dem Display prangte ein Foto feuerroter Rosen, vermutlich zur Feier ihres Geburtstages. Siiri strich mit ihrem Zeigefinger über die Blumen, gespannt, was passieren würde. Sie hatte noch immer nicht begriffen, wie dieses Ding eigentlich funktionierte. In Abendhain hatte die Hochtechnologie Einzug erhalten. Überall standen Bildschirme, Automaten und Displays bereit, die gestreichelt werden wollten. Künstliche Intelligenz allerorten. Siiris kleine Zweizimmerwohnung war aufwendig mit Sensoren, Detektoren, Chips, Sendern und Kameras ausgestattet worden.
Das Ganze diente angeblich der Sicherheit. Wer aus dem Bett fiel und nicht zügig genug wieder auf die Beine kam, hatte umgehend Sanitäter und Krankenwagen am Hals. Die Finnen waren nämlich mehrheitlich der Meinung, dass es nicht angemessen war, auf dem Boden neben dem eigenen Bett zu sterben, dann doch lieber im Krankenhaus. Über diese Fragen hatte kürzlich sogar angeregt das Parlament debattiert. Siiri sah sich die Live-Übertragungen der Nachrichtensender gerne mit Anna-Liisa und Irma an.
Das Leben in Abendhain war in jedem Fall lustiger und unterhaltsamer geworden, man musste vorbereitet sein auf die Überraschungen, die die technischen Gerätschaften bereithielten. Der Gang zum Kühlschrank war zum Beispiel immer ein Abenteuer. Siiri wusste nie genau, was die liebe Frau Kühlschrank dieses Mal zu erzählen haben würde.
»Entfernen. Umgehend. Abgelaufen. Milch. Ein halber Liter. Haltbarkeitsdatum. Endet. Heute.«
Siiris Kühlschrank hatte die Stimme einer jungen freundlichen, aber auch ein wenig wichtigtuerischen Frau. Irma hatte für ihren Kühlschrank auf die Stimme eines älteren Herrn bestanden, und das war mehr als gelungen: Sie hatten sofort den ehemaligen Radiomoderator des öffentlich-rechtlichen Senders YLE erkannt, der früher immer die Börsenkurse und das Wetter angesagt hatte.
Irma hatte sich angewöhnt, ihren Kühlschrank als ihren Kavalier zu bezeichnen, allerdings war es ihr nicht geglückt, ihm beizubringen, dass das Wort Kuchen unbedingt mit einem langen »uuu« ausgesprochen werden musste.
»Sogar ein Papagei ist schlauer als du«, hatte sie gesagt, weil ihr Unterricht keine Früchte getragen hatte.
Die sprechenden Kühlschränke waren unterhaltsam, sie brachten Schwung und gute Laune ins Leben, wenn man schon keine Katze oder keinen Partner mehr hatte. Und sie bewahrten die Bewohner von Abendhain sogar vor Vergiftungen und Durchfallerkrankungen. Wie schnell verzehrte man verdorbene Lebensmittel, wenn man nicht auf das Verfallsdatum achtete.
Manche hatten früher ja gerne im hintersten Winkel ihres Kühlschranks ein Stückchen Lachs zwei Wochen lang liegen lassen, ohne zur Kenntnis zu nehmen, wie sich der Fisch langsam in grünen Schleim verwandelte. Diese Zeiten waren vorbei, dank der intelligenten sprechenden Kühlschränke. Bei einer alten Dame hatte der Alarm so schrill geläutet, dass die Arme befürchtet hatte, auf ihre alten Tage noch einmal einen Luftangriff miterleben zu müssen.
Siiri trank, um ihren Kühlschrank zu besänftigen, zum Frühstück gleich den halben Liter Milch, der heute sein Verfallsdatum erreicht hatte. Der Kühlschrank verstand da keinen Spaß, er schimpfte und zeterte, wenn abgelaufene Lebensmittel in seine Reichweite gelangten. Insbesondere mit dem Leberauflauf gab es ständig Probleme.
»Du hast nicht die Regeln befolgt. Du hast nicht die Regeln befolgt. Du hast nicht die Regeln befolgt.« Der Schrank war durchaus imstande, Sätze wie diesen stundenlang zu wiederholen, wobei er dazu neigte, die ersten Silben zu betonen.
»Lieber höre ich den guten Ratschlägen meines Kavaliers zu als den Mitarbeitern des Pflegedienstes«, sagte Irma gerne, und tatsächlich war das eigentliche Pflegepersonal einfach verschwunden. Niemand war da, keine Gymnastik- oder Bastelanimateurinnen, kein Küchenpersonal, nicht mal ein Hausmeister, keine Schwestern, keine Praktikanten oder befristet angestellte Immigranten. Das Personal von Abendhain bestand aus Maschinen. Und aus einer ziemlich großen Zahl sogenannter Freiwilliger, die darum bemüht waren, den Bewohnern beizubringen, wie diese Maschinen funktionierten.
Abendhain war nicht mehr das ganz normale Seniorenheim für Menschen in der letzten Phase eines langen Lebens im Helsinkier Stadtteil Munkkiniemi. Nein, die Renovierungsarbeiten, die etwa zwei Jahre lang angedauert hatten, waren wesentlich umfassender gewesen, als ursprünglich angenommen. Als neuer Träger des Hochtechnologiewohnsitzes für Alte firmierte ein internationaler börsennotierter Konzern, Abendhain galt als Pilotprojekt der »technologisch überwachten Altenpflege«. Und gleich drei staatliche Ministerien beanspruchten einen Teil der Zuständigkeit für dieses aufsehenerregende Projekt.
Diese Politiker, Börsianer und Banker gingen allem Anschein nach davon aus, dass alte Menschen die perfekten Laborratten und Versuchskaninchen waren. Die gängige Einschätzung lautete, dass Finnland aller wirtschaftlichen und finanziellen Sorgen ledig sein werde, sobald diese bahnbrechende Entwicklung auf dem Gesundheits- und Pflegesektor den Weg auf den globalen Markt fand. Es galt, der Welt ein weiteres Mal zu zeigen, welche Wunder Finnen zu wirken imstande waren.
»Das ist unser letzter Dienst an der Gesellschaft«, murmelte Siiri vor sich hin, während sie nach dem Frühstück den Esstisch wischte. Sie hatte ein hart gekochtes Ei und ein Knäckebrot gegessen, eher aus Pflichtgefühl, Hunger hatte sie keinen gehabt.
Als Siiri den Blick wieder auf ihre Smartwand richtete, war das gesamte Display plötzlich mit Irmas Kopf ausgefüllt. Ihr weißes lockiges Haar stand ihr zu Berge, sie sah aus wie ein Kobold. In ihren Mundwinkeln waren noch einige Kuchenkrümel, unübersehbar hingen die großen Brillanten an ihren Ohren.
»Verdammtes Ding!«, schrie sie, ohne Siiri wahrzunehmen, sie starrte irgendeinen Punkt seitlich des Displays an. »Zum Teufel, Mann! Sag deinen Namen, streichle hier, streichle da … Pustekuchen …«
Dann verschwand Irma von der Wand, ebenso plötzlich, wie sie gekommen war. Im Hintergrund war »Figaros Hochzeit« von Mozart zu hören. Siiri lauschte für eine Weile und glaubte zu erkennen, dass es eine Passage aus dem ersten Akt war. Ja, ganz sicher, Graf Almaviva fand gerade den jungen Cherubino im Zimmer der Dienerin Susanna. Plötzlich kehrte Irma auf den Bildschirm zurück, sie sah wütend aus.
»Ir-ma Län-nen-lei-mu. Enter! Wie funktionierst du, verdammte Wand?! Ene, mene, miste, ich will weg! Ich komme nicht aus meiner eigenen Wohnung raus! Hallo! Helft mir! Könnte mir bitte eine Pflegekraft zu Hilfe kommen oder vielleicht so ein Mann, den man früher Hausmeister nannte? Hört mich jemand?«
Irma war inzwischen wieder aus dem Bild hinausgewandert, aber Siiri konnte ihre Tiraden noch gut hören und auch mitverfolgen, dass das Auffinden von Cherubino im falschen Zimmer am Hofe einige Verwirrung stiftete. Der Gesangslehrer, der so gerne Gerüchte in Mozarts Welt setzte, trällerte mit Wucht, und Irma geriet allmählich in Panik, sie schrie, fluchte und raufte sich die Haare.
Schlagartig verstummte die Musik. Es war ganz still, beängstigend still, bis Irma hoch und laut und verzweifelt Alessandro Stradellas »Pietà, signore« zu intonieren begann.
Siiri zog ihren Morgenmantel an und eilte auf den Flur. Es war höchste Zeit: Irma musste geholfen werden.
Inhaltsverzeichnis
Irma zuckte zusammen, als Siiri schwungvoll die Wohnung betrat, mit ihrem eigenen Wohnungsschlüssel, der eigentlich gar kein Schlüssel war, sondern ein kleiner ovaler Knopf. Dieser Knopf öffnete wie von Zauberhand alle Türen im neuen Abendhain, er diente sogar als Zahlungsmittel in der Cafeteria und am voll automatisierten Selbstbedienungskiosk.
Darüber hinaus wusste dieser Knopf alles über sie, sicher weit mehr als Siiri selbst je über sich gewusst hatte. Sie musste sich auch nicht mehr ihre Sozialversicherungsnummer oder ihre Bankkarten-PIN in Erinnerung rufen, das war immerhin eine Erleichterung. Zum Öffnen der Türen musste dieser Knopf lediglich gegen einen der Kästen gehalten werden, die neuerdings die Wände auf den Fluren schmückten.
Das System schien unfehlbar zu sein – mit der kleinen Einschränkung, dass viele Bewohner von Abendhain den kleinen Knopf in regelmäßigen Abständen verloren oder verlegten. Die Gewitzten hängten ihn sich wie einen Kettenschmuck um den Hals. Siiri hatte ihren am Band ihrer Armbanduhr befestigt, und Irma zählte zu denjenigen, die ihn die meiste Zeit suchten.
Manchmal verweigerten die Kästen oder die Knöpfe ihre Mitarbeit, dann wedelte Siiri so lange mit dem Knopf vor dem Kasten herum, bis endlich das grüne Licht leuchtete und die Tür sachte aufsprang. Ab und zu vermisste Siiri die guten alten Türgriffe und Türen, die sie mit bloßen Händen hatte öffnen können.
»Genau, und denk doch mal an die armen Leutchen, deren Job es war, diese Schilder zu schreiben. Du weißt schon, die Schilder, auf denen stand, ob man die Tür aufdrücken oder zu sich hinziehen muss. Sind die jetzt alle arbeitslos? Das ist doch merkwürdig. Ist doch dumm, Geräte zu erfinden, die den Menschen ihre Arbeit wegnehmen«, sagte Irma, während sie in der Küche herumwuselte. Siiri hatte den Eindruck, dass sie ihr irgendetwas anbieten wollte, aber nicht wusste, was.
»Kuchen wäre fein«, sagte Siiri. »Oder … hast du etwa schon alles zum Frühstück gegessen?«
Irma starrte Siiri mit weit aufgerissenen Augen an und entgegnete bissig, fast wütend: »Woher weißt du denn, dass ich Kuchen gegessen habe? Ist auch das jetzt schon aller Welt bekannt? Ich werde noch verrückt hier. Meine Wand erzählt mir was von Schlafeffizienz und 78%, obwohl ich genau weiß, dass ich die ganze Nacht wach gelegen habe.«
Irma hasste den Gedanken, ständig unter Beobachtung zu stehen. Sie war überzeugt davon, dass sämtliche dieser hochtechnischen Installationen einzig diesem Zweck dienten: sie und die anderen Bewohner des Altenpflegeheims zu observieren und komplett zu durchleuchten. Auch jetzt, in diesem Moment, saß irgendwo ein Mensch, der ihnen gelangweilt bei ihren morgendlichen Beschäftigungen zusah. Vielleicht ja einer, der früher Schilder an Türen geklebt hatte oder eine der in den frühen Ruhestand entlassenen Gymnastikanimateurinnen.
Im Übrigen betonte Irma, dass die Kosten für diesen ganzen Unsinn am Ende die Alten würden tragen müssen. Wer auch sonst? Die staatlichen Förderungen dienten nur der Anschubfinanzierung, dieser Quatsch sollte allen Ernstes global vermarktet werden. Damit auch Pflegeheime in Indien und Südamerika in den Genuss von Knöpfen und Kästen kamen, zur Freude des finnischen Finanzministers.
»Du hast Kuchenkrümel in den Mundwinkeln«, sagte Siiri lächelnd, als Irma endlich einmal Atem holen musste.
»Ach so, stört dich das? Ich hole eine Serviette, hier auf dem Tisch müsste eine … warum liegt mein hübsches Tüchlein nicht auf dem Tisch, dieses rosarote mit meinem Namen, du weißt doch, das mit meinem Namen bestickte … ein Verlobungsgeschenk, feines Leinen. Ich habe ja keine Lust, die Tücher ständig in die Wäsche zu werfen, deshalb ist ihr Platz eigentlich hier auf dem Tisch. Warum musstest du jetzt eigentlich anfangen, über Kuchenkrümel zu reden? Ich wische meinen Mund einfach mit der Hand ab, siehst du? Jetzt alles gut? Wo waren wir noch mal stehen geblieben?«
Siiri verzichtete darauf, die Sache näher zu erläutern und ihr zu sagen, dass sie versehentlich auf dem Bildschirm an der Wand mit Krümeln im Gesicht erschienen war. Die Elektronik ihrer beiden Wohnungen war über irgendeinen Satelliten miteinander verbunden worden, damit sie sich kontaktieren konnten, ohne sich vom Sofa erheben zu müssen. Durchaus praktisch, dass musste man schon zugeben. Eine solche Satellitenverbindung herzustellen, war wohl in diesen Tagen eine ganz leichte Übung für gewiefte Computertechniker.
Auch Anna-Liisas Wohnung war angeschlossen worden, sodass einem virtuellen Kaffeekränzchen nichts im Wege stand. Und natürlich konnte diese Verbindung auch in ernsten Momenten ein Segen sein, für den Fall, dass die Sensoren unter dem Kopfkissen mal den Dienst verweigern und eine von ihnen gerade in diesem Moment sterben würde. Jeder Bewohner war verpflichtet worden, zwei sogenannte »Notfallfreunde« zu benennen, im Fall von Siiri waren das also Irma und Anna-Liisa. Das war im wahrsten Wortsinn »interaktive Altenpflege«.
Aber jetzt, und das war zur Abwechslung doch sehr schön, saßen Siiri und Irma ganz real, in Fleisch und Blut, an deren Frühstückstisch, in Echtzeit. Sie unterhielten sich, anknüpfend an Irmas Krümel-Malheur, darüber, dass es recht unangenehm war, an den Kinnpartien und Hälsen vieler Heimbewohner den Speiseplan der vergangenen drei Wochen ablesen zu können. Siiri fragte sich immer, warum die armen Leute das nicht bemerkten. Und seitdem es keine Pfleger mehr gab, gab es auch niemanden, der die Lätzchen bereithielt oder dafür sorgte, dass allwöchentlich einmal das Pyjama-Oberteil gewechselt wurde.
Irma erinnerte sich an ihre Cousine, die zuletzt bedauerlicherweise im Gesicht einseitig gelähmt gewesen war, sodass ihr das Essen immer seitlich aus dem Mund getropft war. Und das, obwohl sie ein riesiges Lätzchen getragen hatte. Das war immer ein wenig peinlich gewesen, besonders bei Familienfesten, die damals gelegentlich noch stattgefunden hatten. Irma schweifte ab und erzählte, zunehmend fröhlich, von ihren lustigen Cousinen und Cousins, gut gelaunte, gastfreundliche Menschen waren das gewesen, die das Kartenspielen und das Trinken geliebt hatten.
»Ach ja, gute Güte, ich habe doch ein lustiges Leben gehabt«, sagte sie und klatschte in die Hände. Dann sah sie Siiri an, unvermittelt wieder ernst. »Aber sie sind ja alle gestorben, meine fröhlichen Cousinen und Cousins.« Sie seufzte auf. »Ich habe niemanden mehr, nur noch dich, liebe Siiri.«
»Oh, du Ärmste«, sagte Siiri. Sie hatte das dumpfe Gefühl, dass sie zumindest in diesem Moment ein eher schwacher Trost war.
Sie aßen ihren Kuchen und tranken Kaffee und schwiegen. Beide vermissten ihre Zeitung, aber sie spürten schon gar nicht mehr den Drang, sich darüber zu beschweren. Sie waren lange genug wütend darüber gewesen, dass viele Zeitungen nur noch online verfügbar waren. Sie hatten sogar bittere Briefe an den Chefredakteur der größten finnischen Tageszeitung, Helsingin Sanomat, geschrieben, und an den Konzernchef und die Geschäftsführer. Sogar nach Holland, wo aus unerfindlichen Gründen der Kundenservice saß, hatten sie eine Beschwerde gesendet, und auch der Vorsitzende des Verwaltungsrates und der Leiter der Abteilung »Gesamtgesellschaftlicher Auftrag« waren nicht verschont geblieben. Aber nur einer der Briefe war beantwortet worden, mit den Worten: »Zu Ihrem Kundenfeedback haben wir einen Twitter-Tweet erstellt unter #nachrichten #feedback #lobundbeschwerde #zufriedenekunden. Vielen Dank.«
Irma hatte auf ihrem Rechteck, diesem Tablet-Computer, natürlich Zeitungen abonniert, und jede Menge Zeug war ja angeblich in irgendwelchen Wolken verfügbar, aber sosehr sie sich auch bemühten, das Zeitunglesen machte auf dem Bildschirm einfach keinen Spaß. Das kleine Gerät wurde auch immer schmutzig, wenn man mit Kuchenkrümelfingern von einer Seite zur nächsten wischte. Und es waren ja eigentlich gar keine echten Seiten, sondern nur flimmernde Bilder, grafische Mogeleien, die so aussehen sollten, als seien sie Zeitungsseiten.
»Grafisch, das ist ein schönes Wort«, sagte Irma. »Da steckt irgendwie etwas Großes drin, etwas Massives. Grafisch wie ein Grabstein. Oder so.
»Jesus, Maria und Josef!«, schrie Irma plötzlich so laut, dass Siiri zusammenzuckte.
Hinter einem Vorhang schaute eine Ratte hervor, eine muntere, ganz lebendige Ratte, mit glänzendem Fell. Sie sah sich für einen Moment um und rannte dann zielstrebig los, auf leise trippelnden Pfötchen. Siiri und Irma schnappten nach Luft. Siiri spürte ein Stechen in der Schläfe, und Irma verschüttete Kaffee, der an ihrem blauen Kleid hinabtropfte. Als die Ratte zwischen ihren Beinen herumraste, schrien beide so ohrenbetäubend, dass das Tier umgehend wieder hinter dem Vorhang verschwand. Die Smartwand meldete sich aufgeregt zu Wort. »Der Alarm wurde ausgelöst! Kontrollieren Sie bitte umgehend den Feuermelder!«
Siiris Atmung beruhigte sich langsam. Sie hatte das Gefühl, 800 Meter rückwärtsgelaufen zu sein und zwischendurch einige Purzelbäume geschlagen zu haben. Ihr Herz pochte wild, setzte für einen beängstigend langen Moment aus und fing wieder an, heftig zu schlagen.
»Sie ist da lang gelaufen!«, schrie Irma und zeigte Richtung Küche.
»Die Gefahr ist gebannt! Keine Rauchentwicklung!«, teilte die Smartwand mit.
Irma stand auf und eilte entschlossen in die Küche. Sie rief laut und klapperte mit dem Geschirr, um der Ratte Angst zu machen, aber die war spurlos verschwunden. Siiri erhob sich mühsam von ihrem Stuhl. In ihren Ohren war ein stetiges Rauschen, es kam ihr vor, als würde sie neben einem Wasserfall stehen. Ihr wurde schwarz vor Augen.
»Nicht ohnmächtig werden! Bitte, Siiri, nicht … hallo …«
Irma fing Siiri auf, als sie zu Boden sank. Sie hievte sie auf das kleine, blumengemusterte Sofa, hob Siiris Füße an und legte sie sanft auf die Armlehne. Irma war jetzt erstaunlich gelassen, ganz Herrin der Situation. Sie ging in die Küche, um für Siiri etwas zu trinken zu holen. Im Vorbeigehen schlug sie mit der Faust fest und wütend und ohne Rücksicht auf Verluste gegen das große Display an der Wand.
»Was starrst du uns so an? Und was willst du immer mit diesen dämlichen Ausrufezeichen?!«
»Wähle die Eins für: Notruf, die Zwei für: Zentrale, die Drei für: Verwaltung«, entgegnete die Wand freundlich und versöhnlich. Alle Ausrufezeichen verschwanden. Hinter der Eins, der Zwei und der Drei blinkten jetzt sogar kleine gelbe Smileys auf.
Siiri kam langsam wieder zur Besinnung. Sie roch Irmas süßliches Parfüm, mit diesem Hauch von Menthol und frischer Minze. Sie öffnete die Augen und sah sich auf Irmas altem Sofa liegen, ein wirklich schönes Möbelstück aus den 30er-Jahren, mit diesem unverwechselbaren Blumenmuster von Sanderson, Irma hatte es bei Stockmann gekauft. Sie sah Irma, die eine Pastille lutschte und eine Zigarette zwischen den Fingern hielt. Sie rauchte ja angeblich nur, um Nasenverstopfungen zu lösen.
Siiri spürte ein beharrliches Pochen in der Schläfe und eine merkwürdig beiläufige Übelkeit. Ob das alles mit dieser Ratte zusammenhing? Aber warum? Sie hatte eigentlich nie Panik empfunden beim Anblick von Ratten und Mäusen, die in ihrer Kindheit und Jugend ganz normale Bewohner der Straßen von Helsinki, der Höfe und Keller gewesen waren. Es war damals sogar das Gerücht umgegangen, dass nicht wenige während der Nachkriegsjahre Jagd auf Ratten gemacht hatten, in der Hoffnung, ein Stück Fleisch auf den Teller zu bekommen.
»Trink nur, du leicht erregbare Städterin«, sagte Irma humorig und reichte Siiri eine mit rosafarbenen kleinen Vögelchen bemalte Kaffeetasse, die randvoll mit Rotwein gefüllt war. »Das wird dir guttun! Skål!«
Irma hatte ihr eigenes Glas ebenso randvoll befüllt, schlürfte den Wein aber sehr geschickt, ohne das Blumensofa oder ihr blaues Kleid zu bekleckern. Siiri trank auch einen Schluck und dachte, dass Irma mal wieder die richtige Idee gehabt hatte. Der säuerliche Wein machte sie gleich munter. Siiri spürte, wie ihr Blut wieder zu kreisen begann, vom schummrigen Kopf bis hinab in die steifen Beine. Sie setzte sich aufrecht, und Irma sang einen ihrer liebsten alten Schlager, »Siribiribim«.
»Also, da haben wir doch hier tatsächlich Ratten«, sagte sie dann. Sie wirkte zufrieden, als sei das ein erfreuliches Resümee und der Tag doch nicht so langweilig wie befürchtet. Langweilige Tage gab es ja zu viele, die brauchte längst niemand mehr. »Meinst du, liebe Siiri, dass wir gerade den Anfang vom Ende erleben? Du weißt schon, wie in diesem Pest-Roman von Camus?«
Nun ja, die Ratte in Irmas Wohnung war natürlich sehr lebendig und augenscheinlich kerngesund gewesen, anders als bei Camus, in dessen Geschichte die Ratten Blut gespuckt und die todbringende Pest verbreitet hatten. Sie dachten für eine Weile darüber nach, ob das Tierchen in der Hoffnung auf Leckereien gekommen sein könnte, hielten das aber für unwahrscheinlich. Verlockende Speisen waren in den Müllcontainern von Abendhain und Umgebung in Hülle und Fülle zu finden. Hatte die Ratte vielleicht eine Leiche gerochen? War wieder mal jemand gestorben?
»Eine gut ausgebildete Ratte könnte die Lösung für dieses Problem sein, also, für Todesfälle, die niemand bemerkt. Die alten Leute sitzen manchmal lange in ihrer Wohnung, bevor irgendjemand bemerkt, dass sie nicht mehr leben«, sagte Siiri. Tatsächlich war immer wieder in der Zeitung zu lesen, dass irgendeine Putzkraft oder ein Glühbirnenwechsler die alten Leute nach Wochen oder Monaten in ihrer Wohnung tot aufgefunden hatte. Ein Stadtverordneter hatte kürzlich vorgeschlagen, dass auch in Altenpflegeheimen Mitarbeiter mindestens einmal wöchentlich sicherstellen sollten, dass die Bewohner noch am Leben waren.
»Ein toller Job«, sagte Irma lachend. Sie wischte sich die Tränen mit ihrem feinen Spitzentüchlein aus den Augen und hatte Mühe, sich zu beruhigen. »Wenn du mich fragst, ob diese Aufgabe eine Praktikantin oder eine intelligente Ratte erledigen soll, dann wähle ich ganz sicher die Ratte. Oder ich übernehme das selbst, das könnte mir Spaß machen, einmal wöchentlich an alle Türen zu klopfen und nach dem Rechten zu sehen«, sagte sie.
Irma leerte den Inhalt ihrer Handtasche auf dem Porzellantisch aus, den sie eigenhändig mit bunten Blumen bemalt hatte. Irma liebte Blumen. Sie fand ihren Tabak und hatte gerade ihre Zigarette angezündet, als aus dem Flur ein lautes Räuspern zu vernehmen war.
»Wir leben noch!«, rief Irma.
Eine hochgewachsene, schlanke Frau stand auf der Schwelle zum Wohnzimmer. Ihr Alter war schwer einzuschätzen: Sie war nicht jung, aber sicher auch nicht so alt wie Siiri und Irma. Sie hatte glänzende schwarz gefärbte Haare und trug eine große Brille mit Plastikgestell. Sie sah sich um.
»Ich bin Sirkka, hallo.«
Sie hatte offenbar keinen Nachnamen, das war heutzutage ja nicht mehr üblich. Einfach nur Sirkka. Siiri und Irma betrachteten erstaunt die fremde Dame, die keine Anstalten machte zu erläutern, warum sie plötzlich in Irmas Wohnung stand. Sie trug einen weiten, schlabbrigen türkisfarbenen Pulli, enge Hosen und grellgrüne Stöckelschuhe.
»Die sind zehn Zentimeter hoch. Oder mehr. Wie kann sie sich damit auf den Beinen halten?«, flüsterte Irma.
»Sind Sie gekommen, um zu kontrollieren, ob wir gestorben sind?«, fragte Siiri. Sie ging ein paar Schritte auf die Dame zu, um höflich guten Tag zu sagen. Der Händedruck der Frau war kalt, die Hand knochig.
»Mein Name ist Siiri Kettunen, ich wohne in der Wohnung nebenan«, sagte Siiri freundlich. »Können wir Ihnen irgendwie helfen?«
»Falls Sie Geld sammeln, ich habe keines. Meine Bankkarte habe ich noch, aber ich weiß nicht, ob auf dem Konto überhaupt noch ein einziger Cent ist, und das kann mir auch meine schlaue Computerwand im Moment nicht verraten«, sagte Irma. Sie saß immer noch auf dem Sofa, entspannt ihre Zigarette paffend.
Geld für gute Zwecke zu sammeln, für das Rote Kreuz oder den Bund der Kriegsveteranen, war in der Tat ein schwieriges Unterfangen geworden, seitdem Bargeld aus der Mode gekommen war.
»Ich komme, weil hier der Alarm ausgelöst wurde. Sie befinden sich in einer Notfallsituation?«, fragte die Dame. Ihre Stimme war schrill und aufdringlich, sie passte zum dezent überschminkten Gesicht, vor allem zu den künstlich wirkenden Augenbrauen der Frau.
»Ach nein, das war ich, das war ein Irrtum«, sagte Irma. Sie wedelte den Zigarettenqualm aus ihrem Blickfeld, ihre goldenen Armreifen klirrten. Dieses Geräusch liebte Siiri. Sie betrachtete ihre Freundin lächelnd, während Irma erklärte, dass sie besonders hoch und laut schreien konnte, vermutlich habe das den Alarm besonders dringend erscheinen lassen. Sie gab einige Kostproben ihres Könnens, und als sie anhob, »Die Königin der Nacht« zu singen, lärmte der Alarm wieder, ein Feuer in der Küche wurde vermeldet.
»Hört euch das an! Diese Wand hat doch den Verstand verloren!«
Irma deutete vorwurfsvoll auf das Display, das für das Problem drei Lösungen parat hatte: Erstens: Löschdecke, zweitens: Notruf 112, drittens: Hausverwaltung. Die unbekannte Frau namens Sirkka legte ihre Stirn in Falten.
»Ja, möchten Sie vielleicht etwas über den Heiligen Geist erfahren?«, sagte sie schließlich.
Irma und Siiri starrten sie an. Der Heilige Geist war das Einzige, was ihnen ihre smarten Wände an diesem Vormittag noch nicht angeboten hatten.
Irma lachte, aber Siiri versuchte, aus reiner anerzogener Höflichkeit, Interesse zu signalisieren. Niemand sollte wegen seines Glaubens verurteilt werden. Und vielleicht hatte diese Sirkka etwas Interessantes zu erzählen, das war immerhin möglich.
Sirkka wartete ohnehin nicht auf eine Antwort, sie hatte ihre Broschüren und Flyer bereits aus ihrer grünen Handtasche gefischt und warf sie schwungvoll auf Irmas Porzellantisch. Es schien in diesen Textwerken um irgendeine christliche Klinik zu gehen, die auf Basis von Buße und Beten ein lebenswertes Leben versprach.
Irma fand das alles wenig amüsant, sie wurde sogar ziemlich sauer. Sie erhob sich vom Sofa und stand ganz aufrecht, während sie sich zukünftiges unerwünschtes Eindringen in ihre Wohnung verbat. Ihr Gesang sei kein Feueralarm, und sie habe auch keine Lust mehr darauf, ständig ausspioniert und überwacht zu werden.
»Sind Sie das also, die im Keller sitzt und uns beobachtet? Ich weiß sehr wohl, dass ihr da eine Überwachungszentrale habt, ihr seid schlimmer als Stasi und KGB zusammen! Ich kann so viel singen und schreien, wie ich will, Sie müssen sich nicht hierherbemühen. Und was soll dieser Quatsch mit dem Heiligen Geist? Sind Sie vollkommen bescheuert?«
Sirkka stand jetzt ebenfalls aufrecht, sie strich sich über ihre glänzenden Haare, und Siiri hoffte insgeheim sehr, dass der ungebetene Gast nicht beginnen würde, über den Sinn des Lebens zu referieren. Irma und sie waren zu alt, um sich noch für diesen Schnickschnack zu interessieren.
»Ich bin eine Heilerin im Namen Jesu, ich treibe böse Geister aus. Wenn ihr den Heiligen Geist zur Kraftquelle erhebt, wird euer Selbst erneuert, es wird euch nicht mehr beherrschen. So einfach ist das. Ihr könnt Teil der göttlichen Natur werden, sobald ihr eins seid mit Jesus. Ich befreie euch von der Macht des Satans. Ich höre euch zu und werde für euch beten. So einfach ist das.«
Irma machte einen Schritt zurück. Siiri sah, dass sie sehr wütend war und nach Worten suchte, um dieser Wut Ausdruck zu verleihen. Diese Sirkka sah inzwischen ziemlich merkwürdig aus, ihre Augen funkelten zornig.
»Dann beten Sie doch bitte darum, dass uns die Ratten hier in Ruhe lassen«, sagte Siiri beschwichtigend.
Diese neue Wendung schien Sirkka zu überraschen. Sie war sicher eine erfahrene Predigerin und daran gewöhnt, von Gewalt, Vergewaltigungen, Alkoholismus, Schlaflosigkeit, Drogen, Arbeitslosigkeit, Einsamkeit und Pädophilie zu hören, aber vielleicht hatte sich noch nie jemand wegen Ratten an sie gewendet.
Während die Frau noch erstaunt innehielt, polterte Irma los: »Ja, das wäre fein. Beten Sie für die Ratten, und lassen Sie uns in Ruhe! Sie haben die Wahl, Sie können uns oder den Ratten den Teufel austreiben. Nehmen Sie die Ratten, ja?! So einfach ist das!«
Irma lief in den Flur, um den dubiosen Eindringling hinauszugeleiten, aber Sirkka verharrte wie erstarrt auf der Stelle. Siiri trat näher, hakte sich unter und führte sie behutsam zur Tür, an der Irma schon wartete. Sie betätigte den automatischen Öffner, und während sich die Tür langsam öffnete, huschte eine dicke Ratte vorüber. Sie blieb stehen und spähte neugierig in die Wohnung hinein.
»Kikeriki!«, krächzte Irma. Das kam ganz intuitiv, das war ihr bevorzugter Morgengruß.
Die Ratte zuckte zusammen und rannte schnell weg, die Smartwand löste dröhnend den Alarm aus, und Sirkka, die Teufelsaustreiberin, wurde von einer plötzlichen Ohnmacht heimgesucht.
Inhaltsverzeichnis
Die ohnmächtige Predigerin erhielt die wohlverdiente Aufmerksamkeit. Nachdem sie wieder zu sich gekommen war, begleiteten Siiri und Irma sie nach unten ins Erdgeschoss und betteten sie auf einem Sofa im Aufenthaltsraum von Abendhain zur Ruhe. Sirkka schien sehr benommen und hatte die Augen geschlossen.
Anna-Liisa eilte herbei. Sie erwies sich als besonders eifrige Helferin, legte einige Kissen in Sirkkas Rücken und sah sehr würdevoll aus in ihrem schwarzen Kleid, kerzengerade und anmutig wie immer. Sie stellte der Patientin einige seltsam klingende Fragen, auf die Sirkka keine Antworten fand.
»Ich versuche, den neurologischen Status der Dame zu evaluieren«, erklärte Anna-Liisa. »Können Sie Ihre Zunge herausstrecken? Eine Grimasse schneiden? Was ist Ihre Lieblingsfarbe?«
Auch Tauno war hilfsbereit, er wuselte herum, mit seiner Schirmmütze auf dem Kopf, und erteilte Befehle, so wie nur ein altgedienter, mit Notsituationen vertrauter Offizier das tun kann. »Wasser! Bringt Wasser! Hebt die Füße an – macht Platz, ich taste den Puls.«
Tauno fand allerdings keinen Puls. Vielleicht war das normal, so kühl und ablehnend diese Sirkka war. In Wallung geriet sie vermutlich nur, wenn es um den Teufel und den rechten Glauben ging.
Margit saß etwas abseits in einem der neuen Massagestühle. Siiri war nicht ganz sicher, ob sie vielleicht Schwierigkeiten hatte, wieder aufzustehen. Eigentlich musste sie Routine darin haben, verbrachte sie doch täglich einige Zeit in dem hässlichen schwarzen Kunstlederstuhl und ließ sich ihre Knochen und Muskeln durchkneten. Siiri hatte es einmal ausprobiert und Tage gebraucht, um sich von dieser vermeintlichen Wohltat, die immerhin fünf Euro kostete, zu erholen. Margit dagegen investierte gerne in die Höllenmaschine und stöhnte dann so laut und wohlig, dass Siiri unwillkürlich an Margits verstorbenen Gatten Eino denken musste und an die Liebesspiele der beiden, die bis auf die Flure von Abendhain zu hören gewesen waren.
»Heiliger Geist … Gnade … Gottes Kraft in mir …«, murmelte Sirkka.
Tauno tätschelte ihre blassen Wangen, und tatsächlich, sie öffnete die Augen.
»Der Heilige Geist hat mich berührt! Der Moment der Klarheit ist da!« Die Frau richtete sich auf, ein entrückter, verzückter Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Sie wirkte gar nicht mehr wackelig. »Ich bin seit Dienstag, dem 29. April 2007, in gutem Glauben gewesen. Endlich ist mein Gebet erhört worden. Danke, mein guter Gott, danke!«
Sie ließ sich zurücksinken und schien erst jetzt die Neunzigjährigen zu bemerken, die um sie herumstanden und sie mit besorgten Blicken musterten. Sie machte große Augen und fragte mit der Stimme eines verschüchterten Mädchens:
»Erzählt bitte, habe ich in Zungen sprechen können?«
Die Gute wollte nicht wahrhaben, dass sie lediglich ohnmächtig geworden war. Sie wähnte sich als Empfängerin eines Gnadengeschenks, ja, sie fantasierte etwas von einer Balsamierung, von einem Zeichen für die Kraft des Glaubens.
»Sie haben jedenfalls kein Schwedisch gesprochen«, sagte Irma. »Sie waren einfach nur ohnmächtig. Ihr Heiliger Geist ist eine kleine Ratte gewesen, ein recht pummeliges Tierchen. Ich habe viele Ratten gesehen, in den Nachkriegsjahren, in Kellern und Mülltonnen, die waren leider meistens fürchterlich ausgehungert, damals gab es ja nicht genügend zu essen, weder für uns Menschen noch für die Ratten. Das Fell der Ratten war ganz zottelig, und der Schwanz war lustig, der war ja länger als die arme Ratte selbst. Aber diese von heute, also unsere Ratte, war kerngesund, das Fell hat geglänzt.«
Sirkka schien nicht zu hören, was Irma sagte, sie streckte beide Hände dem Himmel oder der Zimmerdecke entgegen, und ihre Stimme nahm eine beängstigende Lautstärke an: »Die Zeichen aber, die da folgen werden denen, die da glauben, sind die: In meinem Namen werden sie Teufel austreiben, in neuen Zungen reden, Schlangen vertreiben, und so sie etwas Tödliches trinken, wird’s ihnen nicht schaden; auf die Kranken werden sie die Hände legen, so wird es besser mit ihnen werden. Markus, 17, 18. Kapitel 16.«
»Ja, trinken Sie, meine Liebe, bitte«, sagte Anna-Liisa ruhig und bestimmt, und Sirkka senkte ihre Hände und nahm das Glas entgegen. Sie leerte es in einem Zug, denn was immer in dem Glas war, es würde ihr nichts anhaben können.
Anna-Liisa musterte die Frau inzwischen streng und kritisch. Sie stützte sich mit der rechten Hand auf ihrem Stock ab und sah fast Furcht einflößend aus mit ihren dunklen Augen und dem Trauerkleid. Seit dem Tod ihres Mannes, des Botschafters Onni, trug Anna-Liisa ausschließlich Schwarz, bei Tag und Nacht, sogar, wenn es brütend heiß war. Das war irrsinnig, aber Anna-Liisa blieb standhaft und ließ sich auf keinerlei Diskussion ein. Das Schwarz verlieh ihr neben der Düsternis auch eine merkwürdige Blässe und Fragilität.
Sirkka reichte Anna-Liisa das Glas und wischte sich ihren Mund am Ärmel ihres schlabbrigen Pullovers ab. Siiri dachte unwillkürlich, dass der Fleck, der zurückblieb, schwer herauszuwaschen sein würde.
»Lobe den Herrn, meine Seele! Und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat. Psalm 103, Vers 2.«
»Sie brauchen keinem Herrn danken, ich habe Ihnen das Getränk gebracht. Vielleicht sind Sie inzwischen auch schon in der Lage, auf eigenen Füßen zu stehen. So wie ich die Sache sehe, werden wir Ihre Hilfe heute nicht mehr benötigen«, sagte Anna-Liisa. Sie deutete mit ihrem Stock in Richtung Ausgang.
Die Predigerin betastete ihre schwarzen Haare, stand überraschend munter auf und ging. Ihre hohen Absätze schlugen laut gegen den Boden. »Gott segne euch alle«, rief sie noch, bevor sie ins Freie trat. Sie lächelte so glücklich, als sei sie die Braut Jesu am Tag der Traumhochzeit.
»Na, sind wir die endlich los?«, fragte Ritva, die tätowierte, alkoholkranke ehemalige Ärztin, die ständig alle fragte, ob sie mit ihr auf ein Bier in den »Alten Mönch«, die Kneipe gegenüber, gehen wollten. Und an heißen Sommertagen saß sie aufreizend nackt auf ihrem Balkon, was Siiri als unangenehm empfand, weil sie von ihrem Balkon aus eine besonders gute Sicht auf den von Ritva hatte.
Ritva Lehtinen, so hieß sie. Sie trug mit Vorliebe Sandalen, luftige Shirts, löchrige Jeans und einen Sonnenhut, Letzteren ganz unabhängig davon, ob es regnete oder die Sonne schien. Wobei in letzter Zeit natürlich sehr häufig die Sonne schien. Ritva war eilig auf den Hof geflüchtet, um eine Zigarette zu rauchen, statt der ohnmächtigen Predigerin Hilfe zu leisten.
»Sag mal, wo warst du? Du bist doch Ärztin, richtig?«, sagte Anna-Liisa.
»Gerichtsmedizinerin bin ich gewesen, merk dir das doch endlich. Für mich bitte nur Leichen«, entgegnete Ritva, und sie lachte das raue, hüstelnde Lachen einer langjährigen Raucherin.
Immer wenn Siiri Ritva begegnete, dachte sie unwillkürlich darüber nach, wie jung diese Frau doch war, keine siebzig Jahre alt. Sie hätte ihre Tochter sein können. Siiris zwei Söhne waren schon vor langer Zeit gestorben, sie wusste schon gar nicht mehr, wie viele Jahre das her war. Und ihre Tochter war unerreichbar, in irgendein Nonnenkloster in Frankreich war sie abgewandert. So war Siiri auf ihre alten Tage eigentlich kinderlos geworden. Ritva hätte sie allerdings um nichts in der Welt adoptiert, sie war ein wirklich allzu seltsamer Mensch.
»Diese Frau ist aber schnell wieder zu sich gekommen«, sagte Tauno verwundert. Er ließ sich auf das Sofa fallen, das schon seit vielen Jahren der Blickfang im Aufenthaltsraum war, ein großes, ziemlich unbequemes, antik aussehendes Ungetüm, das die Angehörigen eines verstorbenen Bewohners dem Heim sicher gerne zurückgelassen hatten. Immerhin waren die Möbel in den Gemeinschaftsräumen von Abendhain noch nicht durch virtuelles Mobiliar ersetzt worden. Sogar der Kartenspieltisch stand noch an seinem Platz, in einer Ecke des Raums, umgeben von klapprigen Stühlen, die den Erben Verstorbener ebenfalls nicht gut genug gewesen waren.
»Der Heilige Geist hat sie geheilt«, stellte Irma fest, sie faltete fröhlich lachend ihre Hände zum Gebet. »Vielleicht kann mich dieser Geist auch von meinem Reizmagen befreien. Ich habe manchmal so üble Blähungen, dass ich fürchte, daran zu sterben. Kennt ihr das?«
»Mein Magen funktioniert bestens«, rief Margit, ihre Wangen glühten noch nach ihrer Massagestuhlbehandlung. »Du solltest auch mal diesen Massagestuhl ausprobieren.«
»In deinem Magen hat sich der Teufel eingenistet. Ein böser Geist des Übelgeruchs!«, sagte Siiri. Alle lachten ausgelassen.
»Dieser gewalttätige Stuhl da hält also deine Verdauung stabil, Margit?«, fragte Irma. Sie suchte währenddessen schon in ihrer Handtasche nach den Spielkarten.
»Diese Massage ist sicher gut für die Ausstülpungen, die sogenannten Divertikel«, sagte Ritva ungewohnt wichtigtuerisch. Dann verschluckte sie sich heftig und schniefte so ausgiebig, dass Irma sich schließlich erbarmte und ihr eines ihrer Spitzentücher reichte.
»Ich kann es ja nachher noch in die Waschmaschine werfen«, flüsterte sie Siiri zu, laut genug, um Tauno, der entspannt auf dem Sofa lag, ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern.
»Wir haben übrigens eine Ratte gesehen«, sagte Siiri.
Alle Anwesenden waren sehr interessiert an diesem Tierchen, Siiri erzählte also noch mal in aller Ausführlichkeit, wie die Ratte aus dem Nichts hervorgeschossen war – womöglich ja wirklich im Auftrag des Messias, um die tiefgläubige Sirkka in den Zustand der glückseligen Trance zu versetzen.
»Hm. Ratten gibt es hier jede Menge«, murmelte Tauno.
»Ja? Ich habe hier aber noch nie zuvor eine gesehen!«, sagte Irma entsetzt.
»Ich spreche von denen, die hier alltäglich herumlungern, um uns zu bekehren und uns unser letztes Geld aus der Tasche zu ziehen. Nach jedem Gebet wird die Kontonummer durchgesagt, ha!«, sagte Tauno.
»Einen Moment mal, bitte!« Das war Anna-Liisa, deren Stimme einschlug wie ein Peitschenhieb. Erst jetzt fiel Siiri auf, dass Anna-Liisa für eine Weile geschwiegen hatte. Und sie registrierte erfreut, dass sie wieder die Kraft hatte, sich wie in alten Zeiten zu echauffieren. »Wollen wir jetzt über Ratten palavern oder mal über die wichtigen Dinge, die hier anstehen?«
Ritva schien sich angesprochen zu fühlen. Sie beschrieb noch ein wenig detaillierter das Aussehen und die Beschaffenheit von Divertikeln, die vor allem bei Frauen üblich, aber operativ gut behandelbar seien. Irma zog überraschend behände ihre Pflegeverfügung aus der Handtasche und setzte alle darüber in Kenntnis, dass sie gewillt sei, im Fall der Fälle an ihren Blähungen zu sterben, ein operativer Eingriff komme gar nicht infrage. Tauno, auf dem Sofa gegen einen Kissenhaufen gelehnt, wirkte inzwischen abwesend und müde, er schien dem Gespräch nicht mehr zu folgen. Das Sitzen bereitete ihm ohnehin Schmerzen, trotz der Kissen, sein Rückgrat war im Krieg schlimm geschädigt worden. Anna-Liisa runzelte zunehmend ungeduldig und angesäuert die Stirn und wies Irma an, endlich die Karten auszuteilen.
»Jetzt wird gespielt, eine Runde Canasta«, sagte sie und schlug mit der Faust auf die Tischplatte.
»Ich hatte gestern ein sehr interessantes Gespräch mit einem dieser freiwilligen Helfer«, sagte Margit, während sie ihre Karten begutachtete. »Er war etwa in unserem Alter, na ja, ein wenig jünger, hatte einen dicken Schnurrbart, wie ein Walross hat der ausgesehen, und hatte so eine Brille wie Präsident Paasikivi damals in den Fünfzigern. Habt ihr ihn schon mal gesehen?«
»Den Präsidenten Paasikivi?«