Spätsommer ist auch noch Sommer - Minna Lindgren - E-Book

Spätsommer ist auch noch Sommer E-Book

Minna Lindgren

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Beschreibung

Mit 75 Jahren, da fängt das Leben an. Drei Damen Mitte siebzig wollen das Leben genießen – und die Männer. Kurz: im Spätsommer des Lebens noch viel Spaß haben. Weg mit den Kreuzworträtseln, jetzt wird geliebt und gelebt. Ulla ist 74 und pensionierte Zahnärztin. Als ihr Mann Olli stirbt, ein Stinkstiefel, den sie die letzten Jahre gepflegt hat, geht sie erst mal zum Friseur. Neu gefärbt und gestylt ist sie bereit, Kontakt zu ihren alten Freundinnen aufzunehmen. Leider muss sie viele ehemalige Bekannte aus ihrem Telefonverzeichnis streichen, doch Hellu und Pike sind wie sie noch quietschfidel und zu allen Schandtaten bereit. Gemeinsam starten sie neu durch: Flamencokurse, Italienisch und Yoga – endlich probiert Ulla gemeinsam mit ihren Freundinnen aus, was Spaß machen könnte. Das wird ihren Kindern schnell suspekt. Die sehen nicht die Frau in den besten Jahren, sondern die Greisin vor sich. Doch so schnell will sich Ulla den aufgezwängten Rollenklischees nicht beugen. Ein lustiger Roman, der das Alter von seiner positiven Seite sieht: Wer sagt eigentlich, dass nicht alles immer nur noch besser werden könnte?

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Seitenzahl: 316

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Minna Lindgren

Spätsommer ist auch noch Sommer

Roman

Aus dem Finnischen von Elina Kritzokat

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Minna Lindgren

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

»Lass mich dich entflammen – so jung kommen wir nicht mehr zusammen!«, grölte mir eine Frau direkt ins Ohr und nahm dabei weder Rücksicht auf ihre Stimmbänder noch auf mein Trommelfell. Die üppige Rothaarige konnte kaum stehen und ließ sich von meinem strengen Blick nicht irritieren. Entschlossen schnappte sie sich meinen alten Freund Valtonen, der sich gerade an uns vorbeischleichen wollte. »Doch erst mit einer reifen Dame blüht die Liebe richtig auf«, sang sie den alten Schlager weiter und drückte sich so schwungvoll an Valtonens Brust, dass die beiden fast umfielen. Von dem heiklen Balanceakt mal abgesehen, schien Valtonen absolut nichts gegen ihren Vorstoß zu haben, schon wenige Sekunden später verschmolz er mit der Rothaarigen in einer innigen Umarmung. Klar, dass auch das Sektglas der Dame da kein Halten kannte und seinen Inhalt auf meine Bluse ergoss. Manchmal knallte es eben gleichzeitig: puff, die Explosion der Liebe, und schepper, das Splittern von Glas. Ich spürte, wie der Fleck sich auf meiner feinen Bluse ausbreitete, die sofort unangenehm auf der Haut klebte.

»Hopsa! Machen Sie sich nichts draus, das sieht hier sowieso keiner!«, sagte ein gut erhaltener, schlanker Mann in Lederjacke, der das Missgeschick im Gegensatz zu dem turtelnden Pärchen immerhin bemerkt hatte – und mir auch gleich helfen wollte: Edelmütig legte er seine Pranke auf meine linke Brust, als könnte seine schuppige Haut den Fleck aus dem Stoff saugen. »Donnerwetter, Sie haben ja einen tollen Busen! Herrlich fest!«, lobte er und blickte versonnen in die vermeintlich idyllische Ferne – in Wahrheit kämpften am anderen Ende des Raumes zahlreiche Senioren um die Aufmerksamkeit des Thekenpersonals.

Am liebsten hätte ich dem Herrn in Lederjacke eine Ohrfeige verpasst. Aber das hätte mich prüde erscheinen lassen, und das an einem Ort, der doch gerade der gegengeschlechtlichen Annäherung dienen sollte. Man hatte offen und abenteuerlustig, witzig und forsch zu sein, wie meine Freundin Pike mir vorgebetet hatte. »Sonst gehst du leer aus!«

Also dankte ich dem Kerl für sein Kompliment – er wusste offenbar verdammt wenig über das Phänomen einer festen Brust bei älteren Frauen – und fügte hinzu: »Aber Sie können Ihre Hand dann auch gern wieder wegnehmen.« Er gehorchte, strich sich kurz übers Hörgerät, marschierte weiter zur nächsten Dame und ging auch dort sofort zum Angriff über.

Leicht irritiert hielt ich nach Pike und Hellu Ausschau, doch meine Freundinnen blieben verschwunden. Zu voll und zu trubelig war es in dem Raum, es herrschte ein einziges angeheitertes Durcheinander. Und das an einem Mittwoch! Die Schlagermusik dröhnte so laut, dass die Leute sich regelrecht anbrüllen mussten. Dass man kompliziertere Sätze dabei nicht mehr verstehen konnte, schien niemanden zu stören. Das Ziel war sowieso der Körperkontakt, die Leute begrapschten und umarmten sich, als gäbe es kein Morgen. Was man bei uns älteren Semestern ja in der Tat nie wissen konnte.

Ich musste erneut an mein peinliches Erlebnis von vor einer Woche denken – ich war doch tatsächlich bei Valtonen in Kerava aufgewacht, im Norden Helsinkis. Gut, er war ein langjähriger Freund, unternehmungslustig und sehr sympathisch, aber dieses friendship with benefits, oder wie die jungen Leute das heutzutage nannten, kam für mich wahrlich nicht infrage. Leider – oder eher zum Glück – erinnerte ich mich nur schwach an die Nacht mit ihm, in unangenehmen, kurz aufflackernden Bildern, die mich allerdings so ins Schwitzen brachten, dass ich mich fühlte wie seinerzeit in den Wechseljahren. Zu blöd, dass mich diese Geschichte nun seit einer Woche so beschäftigte und mir sogar den Nachtschlaf raubte. Ich ärgerte mich doppelt über mich; durch mein Gegrübel konnte ich den unangenehmen Ausrutscher ja erst recht nicht vergessen.

Und auf einmal war ich der wilden Rothaarigen dankbar. Sollten sie und Valtonen ruhig noch wilder werden! Mir konnte sein Gegrapsche jetzt egal sein. Denn leider war es vor einer Woche das reinste Gegrapsche gewesen, jedenfalls soweit ich mich erinnern konnte. Entsetzlich.

Tja, meine alte Freundin Pike war erst seit wenigen Tagen wieder in der Stadt – und hatte den Alltag schon in ein einziges Fest verwandelt. Oder, wenn ich meine derzeitige Lage betrachtete, wohl eher in ein einziges Chaos. Aber Pike hatte sich nun mal in den Kopf gesetzt, nach vier Monaten Sommerhaus-Einöde ganz bewusst mit der Isolation zu brechen und dem sommerlichen Zölibat, das sie als üble Krankheit bezeichnete, den Kampf anzusagen beziehungsweise die Krankheit schleunigst auszukurieren. Und alle sollten schön mitmachen!

Der heutige Abend hatte harmlos auf einer Caféterrasse an der Esplanade begonnen, wir wollten ein Glas Sekt trinken, das Gesicht in die Sonne halten und Touristen beobachten. Aber Pike hatte schnell aufgedreht, sich eine Zigarette nach der anderen angesteckt und derbe Witze gerissen. Meine Zerknirschtheit wegen der Nacht bei Valtonen kommentierte sie in ihrer typisch schnoddrigen Art: »Aber Ulla, das ist doch wunderbar!«, endlich wäre auch ich in die Sphären des herrlichen Vergnügens vorgedrungen, das es allabendlich in Helsinkis Zentrum zu finden gab. »Die Bars sind voll mit freien Männern! It’s raining men, hallelujah!« Pike fand außerdem, dass unsere Zeit genau jetzt sei: »Wir sind schön, intelligent, gesund – und zu haben! Das sind die Jahre unserer späten Blüte! Wir sind die Königinnen des Nachtlebens, ist dir das eigentlich klar?« Angeblich bräuchten wir uns nur ins Getümmel zu stürzen und uns die Besten herauszupicken. Wohl so jemanden wie Valtonen, ha.

Als ich Pike erzählte, wie furchtbar ich mich auf der Rückfahrt nach Helsinki gefühlt hatte und dass ich mich in dem elenden kleinen Regionalzug am liebsten übergeben, aber keine Toilette gefunden hätte, blieb sie ungerührt: »Natürlich gibt’s in den Regionalzügen von Kerava nach Helsinki Toiletten. Und an Valtonen kann ich wirklich nichts Schlechtes finden. Er ist vielleicht ein bisschen zu dick, aber ansonsten sehr charmant, verlässlich und männlich. Was will man mehr?« Pike lachte ihr heiseres Raucherlachen und patschte mir unnötig grob auf den Unterarm. Etwas Besseres als Freiheit und Zügellosigkeit gäbe es doch gar nicht! Freiheit und Zügellosigkeit, so drückte sie sich tatsächlich aus. Für mich stellten diese beiden Begriffe ein gänzlich neues Lebenskonzept dar. Ich würde eine Weile brauchen, um mich daran zu gewöhnen, sofern es mir überhaupt je gelang.

»Wir sind schließlich keine kleinen Mädchen mehr«, argumentierte Pike, »und zu verlieren haben wir auch nichts. Also schön mitmachen und genießen! Valtonen ist ein guter Anfang, aber bleib bloß nicht an ihm kleben!« Sie gackerte so kehlig, dass mir plötzlich klar wurde, warum sie den Regionalzug von Kerava nach Helsinki so gut kannte.

Als die Sonne nicht mehr auf die Caféterrasse schien und wir eine ganze Flasche Sekt intus hatten, riefen wir Hellu an und bestellten eine zweite Flasche. Irgendwann gingen wir zu dritt ins Immergrün, das zu dem Zeitpunkt noch relativ leer war. Inzwischen blickte man vor lauter Leuten im wahrsten Wortsinn nicht mehr durch, und ein wenig müde vom wieder absinkenden Alkoholpegel fühlte ich mich inmitten der Massen mutterseelenallein. Hellu war seit ihrem Gang zur Toilette nicht wieder aufgetaucht, und Pikes »nur kurz draußen eine Zigarette rauchen« dauerte schon eine halbe Ewigkeit.

Die angeheiterten Leute wogten umher und erinnerten mich an einen Schwarm dicht beieinander schwimmender Fische, sehr plumpe und ungeschickte Fische allerdings. Ich musste daran denken, wie Olli mich am Anfang unserer Ehe mit lustigen kleinen Referaten unterhalten hatte, auch mit dem zur Schwarmintelligenz und ihrer physikalischen Logik. Von Intelligenz konnte in diesem Menschenschwarm jedoch keine Rede sein.

Ich sah mir die Leute genauer an. Die meisten hatten sich tüchtig in Schale geworfen, viele Frauen trugen auffälligen Schmuck und Oberteile mit gewagtem Ausschnitt. In die Frisuren war viel Haarfestiger geflossen, und je greller der Lippenstift, umso dicker musste er anscheinend aufgetragen werden. Überall bunte Farben, kurze Röcke, enge Kleider und hohe Absätze. Die Männer dagegen hatten fast alle den obligatorischen grauen Anzug an.

So auch der Mann, in dessen Arme die Schwarmintelligenz mich jetzt trieb. Ich wurde ihm geradezu an die Brust gedrängt! Ohne mit der Wimper zu zucken, nahm er mich entgegen wie ein Geschenk, auf das er schon lange gewartet hatte. Als ich seine muskulösen Arme spürte, überkam mich leichte Panik. Ich stammelte eine Entschuldigung und zog meinen Rock gerade. Neben uns wurde ein Schlager aus den 70er-Jahren gesungen, »Glaub ja nicht, dass du mich kriegst, du Schelm« oder so ähnlich, weiter hinten sah ich Hellu ausgelassen tanzen. Bei jeder Drehung flogen ihre kinnlangen schwarzen Haare zu einem gesträhnten Fächer auf, und sie schüttelte sich so ungehemmt, als wäre sie fünfzig Jahre jünger und mehrere Kilo leichter.

Der bärtige Mann, der mich aufgefangen hatte, lächelte sympathisch. Er erhob sich höflich von seinem Barhocker und bot mir seinen Platz an. Ehe ich reagieren konnte, stand plötzlich Pike vor mir, kreischte »mich kriegt hier kein einziger Schelm!« und ließ sich auf den kleinen Tisch neben uns plumpsen. Nachdem sie sich ausgekichert hatte, sagte sie »Oh, du hast jemanden am Wickel« und wuschelte mir mit ihren klebrigen Fingern durch die Haare. Ihr Atem roch nach Zigaretten und zu viel Alkohol. Sie rutschte von der Tischplatte runter, zupfte an ihrem verknitterten Rock, rubbelte auf einem klebrigen Fleck herum und sagte im Weggehen: »Viel Glück, meine Liebe, wir telefonieren morgen!«

Das einzige vertraute Gesicht war jetzt Valtonen, der das Strohfeuer mit der Rothaarigen wohl schon abgefackelt hatte und plötzlich Pike hinterherstolperte. Soso, lieber eine alte Flamme neu entfachen als gar keine Wärme mehr in dieser Nacht.

»Es ist mir sehr unangenehm«, brüllte ich verzweifelt gegen den Lärm an, schon zum wiederholten Mal, was den Mann mit den kräftigen Armen offenbar erheiterte.

Ich fühlte mich miserabel. Und bereute alles: Dass ich Pike und Hellu angerufen hatte. Dass ich so viel getrunken hatte. Und dass ich mich in diesem Zustand von ihnen auf diesen widerlichen Fleischmarkt hatte zerren lassen. Denn nichts anderes war das hier. Auch Valtonen nannte dieses zweifelhafte Ausgehvergnügen nur »den Fleischmarkt«. »Dir muss doch klar sein, was ein Mann da sucht. Gepflegte Drinks, gepflegte Damen. Und dann muss es rappeln.« Damit, also mit dem Rappeln, war er mir leider auch an dem Abend bei ihm zu Hause gekommen: Ich wolle doch wohl jetzt nicht die Spielverderberin geben. Er fragte sogar forsch, ob ich denn nicht wisse, wie teuer so eine Potenzpille sei und dass er kräftig in mich investiert habe. »Und das bezahlt die Krankenkasse nicht!«, schmollte er.

Ich bereute den Abend bei Valtonen, den Abend heute und dass ich mich wie ein Teenager von meinen Freundinnen hatte mitziehen lassen. Nun saß ich mit stinkender Bluse viel zu nah bei einem Fremden. Ich genierte mich.

»Also, das mit der nassen Bluse, dafür kann ich nichts. Das war eine betrunkene Rothaarige …«

Ich sah dem Mann zum ersten Mal richtig ins Gesicht, und meine Stimmung stieg sofort, zumindest ein bisschen. Seine freundlichen grauen Augen blickten gelassen und fröhlich. Und plötzlich musste ich lachen! Über mich, meinen Schwips und das Komische der Situation. War es nicht sowieso am besten, alles wegzulachen? Und das Allerbeste war, dass der Mann in meinen Lachanfall einstimmte! Wir schütteten uns aus vor Lachen, kicherten irgendwann nur noch heiser, und schließlich küssten wir uns. Spontan und einfach so. Es war die Art Kuss, die ich vor allem aus Romanen kannte. Eine Spur zu lang, um noch brav zu sein, aber noch kurz genug, um nicht heikel zu werden. Was jetzt? Würde ich wieder mit dem Taxi zu jemandem mit in die Wohnung fahren?

Nein. Der Mann beendete die Situation genauso schnell, wie sie begonnen hatte, stellte sich formvollendet vor und reichte mir die Hand. Richtig altmodisch, fast hätte ich geknickst. Er müsse nun leider den letzten Bus nach Hause erwischen und dann schleunigst ins Bett, sagte er und war weg. Verdattert blieb ich auf seinem Barhocker zurück. Wahrscheinlich wäre ich bis zum Lichtzeichen für die letzte Bestellrunde dort sitzen geblieben, hätte nicht Hellu mich wachgerüttelt.

»Ulla, wie siehst du denn aus? Dein Lippenstift ist ganz verschmiert.«

Tatkräftig hakte sie mich unter, ging mit mir zur Damentoilette und ließ mich erst vor dem Spiegel wieder los. Ich wühlte in meiner Handtasche, doch mein Lippenstift blieb unauffindbar. Dafür musste ich feststellen, dass meine Finger zitterten. Und mein Herz hämmerte. Komm schon, Ulla, sagte ich mir, konzentrier dich, der Lippenstift muss irgendwo sein, du hast dir doch auf dem Weg hierher noch die Lippen nachgezogen.

»Also, das mit meinem verschmierten Mund … Er heißt Kari Kirjosiipi«, platzte es aus mir heraus.

»Das ist bestimmt gelogen, so einen Nachnamen gibt’s selbst hierzulande nicht«, kommentierte Hellu trocken und versuchte, ihre Frisur zu glätten. »Wieso werden meine Haare eigentlich immer borstiger?«

Jetzt kam Pike rein, sie war also doch nicht mit Valtonen abgedampft. »Noch nicht«, betonte sie und toupierte sich die Haare nach, ohne dabei in den Spiegel zu schauen. »Besser er als keiner.«

Hellu und Pike fanden es geradezu sträflich, dass ich diesen Kari ›Buntflügel‹ hatte laufen lassen. »Gute Küsser sind rar«, wusste Pike, »wer in Schulnoten ausgedrückt besser ist als eine Zwei minus, den muss man festhalten.« Pike mit ihrem Notensystem! Sie benotete auch die Hände der Herren, deren Größe und Form ihrer Meinung nach eindeutig mit der Größe und Form des Geschlechtsorgans korrelierten, und hatte dazu eine Menge empirische Belege.

Mir schwirrte der Kopf. Ich versuchte, eine Schluckaufattacke zu unterdrücken, und staunte über meine Freundinnen, die wirkten, als wären sie noch vollkommen nüchtern.

»Unsinn, ich bin total besoffen«, widersprach Pike.

»Also bitte, in unserem Alter sollten wir das anders nennen. Beduselt vielleicht, oder angeheitert.« Hellu kicherte.

In unserem Alter – diese Formulierung konnte Pike so nicht stehen lassen.

»Freundinnen, das sagt man einfach nicht. Das ist genauso schlimm wie ›ich in deinem Alter‹. Beides klingt, als wären wir schon hundert! Oder unsere eigene Mutter.«

Über so was konnte sie ernsthaft böse werden. Das Alter war doch schließlich nichts als eine Zahl, eine unbedeutende Zahl! Ehe Pike ihre kleine Predigt vertiefen konnte, schlüpfte Hellu aus der Damentoilette und zwinkerte mir entschuldigend zu. Eine Gabe, die ich leider nicht besaß: mich im richtigen Moment zu verdrücken. Jetzt war ich Pike allein ausgeliefert.

Pike mit ihren in drei Farben gesträhnten Haaren – »Glutrot und Herbstlaubtöne« –, die geschickt ihre schlaffe äußere Wangenpartie und ihre Stirnfalten kaschierten. Augenschatten und Krähenfüße verbarg sie hinter einem großen türkisen Brillengestell, ein lässig umgelegter Schal verdeckte den mit den Jahren faltiger gewordenen Truthahnhals. Pikes Kleider stammten von Hysteria oder einem anderen Laden für Hippie-Rentnerinnen, Hauptsache auffallend, flatterig und bunt, dazu trug sie hohe Stiefel. Ihre Gesamterscheinung machte was her, keine Frage. In Schummerbeleuchtung und mit schlechten Augen sah man ihr das Alter nicht an. Außerdem hielt sie sich immer sehr aufrecht und wirkte dadurch schlanker, als sie war.

»Eine Sieben und eine Fünf, was bedeutet das schon? Nichts! Es könnten genauso gut eine Fünf und eine Drei sein oder eine Neun und eine Zwei. Na ja, zweiundneunzig möchte ich besser nicht werden, da schlucke ich vorher eine Giftpille. Lieber Vollgas geben bis ins Grab, mit Schwung an die Himmelstür klopfen und mit Petrus Champagner trinken! Und wenn’s bei mir der Höllenschlund sein sollte und nicht die Himmelstür, egal, Hauptsache Schampus, und damit spritz ich Petrus richtig schön nass!«

Pike lachte viel zu laut über ihren albernen Monolog. Nun merkte man doch, dass sie getrunken hatte. Gefährlich hin und her wankend wühlte sie in ihrer Handtasche, gedanklich trat sie dabei eher auf der Stelle:

»Ach ja, der Himmel … Aber da wird gar nicht geflucht! Teufel noch mal! Und einen Teufel gibt’s da auch nicht …« Schließlich fand sie, was sie suchte. Ihren Flachmann, was sonst. »Komm, Ulla, nimm einen Schluck, das entspannt dich.«

Ich gehorchte und trank, sogar mehr als einen Schluck. Pikes Geheimdrink schmeckte würzig und bitter, sie faselte etwas von »Detox mit Schuss«, angeblich regenerierend und anregend zugleich, das ideale Rentnergetränk. Mehr wollte ich gar nicht wissen. Ich hatte beschlossen, heute nicht mehr länger die Spaßbremse zu sein, und trank ihren Flachmann leer.

»Das bringt mich hoffentlich noch mal in Fahrt. Gleitgel für den Geist, nicht wahr?«, versuchte ich zu scherzen, wobei meine Artikulation etwas nachlässig geriet. Pike hielt die Flasche mit der Öffnung nach unten übers Waschbecken und zeigte sich zufrieden, als kein einziger Tropfen mehr rauskam.

»Auch echtes Gleitgel kann ich dir jederzeit geben, meine Liebe«, giggelte sie und klopfte auf ihre Handtasche, »meine Erste-Hilfe-Tasche ist außen hui und innen pfui! Und jetzt suchen wir deinen Paradiesvogel mit den bunten Flügeln.«

»Er heißt nur so! Kari Kirjosiipi wirkte sehr seriös«, protestierte ich.

»Ach, Kirjosiipi, so heißt doch keiner. Das hat dein Verehrer sich ausgedacht. Der ist wohl doch nicht so vertrauenswürdig.«

Wir verließen die Toilette und quetschten uns einmal mehr durch die Menge. Kirjosiipi war nirgends mehr zu sehen, wie ich mir schon gedacht hatte. Dafür zeigte Pikes Rentnergetränk jetzt Wirkung, eine starke sogar. Ich begann, selig zu tanzen, ganz für mich allein, was ich in meinem bisherigen Leben nie getan hatte. Hellu kam auf die Tanzfläche gestolpert und erinnerte mich mahnend an den Italienischunterricht am nächsten Morgen, dann verabschiedete sie sich. Sie sah blass und müde aus. Ich dagegen hatte Schwung, wirbelte umher und animierte Pike, mit ihrer Männerjagd aufzuhören und stattdessen die gute Laune zwischen alten Freundinnen zu genießen. Ausgelassen tanzten wir umeinander herum.

»Ullchen, das ist fantastisch! Wir sind fantastisch!«, rief sie, »gemeinsam haben wir drei Krebsbehandlungen überstanden, und zusammengerechnet haben wir noch zwei echte Brüste!« Sie riss die Arme in die Luft und drehte sich im Kreis. Wir tanzten wie Stammesweiber bei einem heidnischen Ritual. Als Pike auf den Tisch klettern wollte, stoppte ich sie, auf dem Tisch zu tanzen, war schlicht zu gefährlich.

»Meine Hüfte, verdammt«, gab sie mir recht und wollte sich zum Trost ein frisches Bier holen. »Ich geh mich mal anstellen. Für die Hüft-OP bin ich übrigens auch in der Warteschlange. Ich will was Teures aus Titan!«

Nicht nur die OP-Termin-Schlange, auch die an der Theke war lang, und ich versuchte, Pike davon zu überzeugen, uns besser gleich draußen in die Taxischlange einzureihen. Als ich sie mitzuziehen versuchte, stieß ich vor lauter Eifer einen betagten Mann um, der beim Hinfallen seine obere Zahnprothese verlor. Schuldbewusst half ich ihm auf, wobei mir – dem Schmerz nach zu urteilen – fast eine Bandscheibe verrutschte. Vielleicht ja auch dem Mann, wer weiß; immerhin dauerte es eine Weile, bis er wieder aufrecht stand, allerdings ohne obere Zahnreihe. Die lag zu meinen Füßen. Also tauchte er nochmals ab, etwas kontrollierter dieses Mal. Pike tanzte einfach weiter, wenn man ihre Bewegungen, die mit dem Takt der Musik nur noch wenig zu tun hatten, überhaupt so nennen konnte.

Als der Betagte seine Zähne wieder an Ort und Stelle hatte, krächzte er: »Kommen die Mädels noch mit auf einen Absacker?« Abwartend stützte er sich auf seinen dreibeinigen Gehstock. »Aus welchem Heim seid ihr eigentlich?«

»Aus gar keinem!«, zischte Pike beleidigt. Als der Mann nuschelte, er wohne im Lebensabend mit Sinn, horchte sie auf, weil sie ›Lebensabend mit Gin‹ verstanden hatte. Ich beendete die Unterhaltung, indem ich Pike entschlossen Richtung Garderobe schob.

»Wir können ja ein gemeinsames Taxi nehmen, und ich fahr noch kurz mit bei dir vorbei.«

»Prima. Aber du weißt, Ulla, die Taxischlange ist die letzte Chance, um sich noch jemanden zu schnappen!«

Pike warf sich eine kurze bunte Stola über, konnte aber die Ärmel nicht finden und machte die seltsamsten Verrenkungen. Irgendwann brach sie in ihr lautestes Hyänenlachen aus. Ich stand in meinem praktischen grauen Übergangsmantel, den ich falsch zugeknöpft hatte, tatenlos daneben und ging irgendwann raus. Dort erwartete mich eine beeindruckend lange Schlange müde gewordener Immergrün-Besucher.

»Hier wartet man ja länger aufs Taxi als im Labor auf den Termin«, meckerte eine Frau mit Perücke und erzählte mir von ihrer komplikationsreichen Krebserkrankung und dass es ihr derzeit wieder besser ging. Ich verabschiedete mich freundlich und ging Pike suchen. Aber ich kam nicht weit: Ein Taxi fuhr langsam vor, die hintere Tür öffnete sich, und eine große Männerhand zog mich auf die Rückbank. »Nach Kerava!«, donnerte eine vertraute Bassstimme.

Mein guter alter Freund. Seine kräftigen weißen Haare, die er in einem strengen Zopf trug, leuchteten im Dunkeln. Das Taxi schlug den mir bekannten Kurs ein. Valtonen fingerte eine Tablettenpackung aus seiner Brusttasche, lächelte mich entwaffnend an und schluckte eine Dosis Viagra.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 2

Mein neues Leben hatte damit begonnen, dass ich ganz unten in einem Karton meine alte Adressliste für die alljährlichen Weihnachtspostkarten und ein Büchlein mit Telefonnummern fand. In der Zeit, als ich die Liste und das Buch angelegt hatte, konnten die Telefone sich die Nummern und Adressen noch nicht merken. Verdattert blätterte ich durch die vollgeschriebenen Seiten und stieß auf erstaunlich viele alte Freunde, Bekannte und Verwandte, von denen ich seit Urzeiten nichts mehr gehört hatte. War ich wirklich mal mit so vielen Menschen befreundet gewesen?

Zuletzt hatte ich mich höchstens mal auf Facebook getummelt, meinem einzigen Fenster zur Außenwelt. Allerdings war ich eine passive Nutzerin, die lediglich beobachtete und auf dem eigenen Profil kein einziges Foto zeigte. Ich verfolgte die Wichtigtuerei von Bekannten und Prominenten, begutachtete ihre Urlaubs-, Kinder- und Essensfotos, und ihren hübschen Sommerhäusern und üppig blühenden Gärten gab ich manchmal ein »Gefällt mir«. Aber die Menschen aus meinem Telefonbüchlein waren nicht bei Facebook, die wenigsten jedenfalls. Mit ihnen hatte der Kontakt auf echten Treffen, Telefonaten und den jährlichen Weihnachtskarten basiert.

Einige waren inzwischen tot, das wusste ich. Manche Namen hatte ich sogar bereits mit einem kleinen Kreuz versehen, um zu vermeiden, dass ich Tote anrief und ihnen Weihnachtspostkarten schickte. Ein paar Leute fand ich bei genauerem Nachdenken gar nicht mehr so interessant, bei manch anderen konnte ich dem Namen keine Person mehr zuordnen. Nach einer halben Stunde hatte ich eine recht überschaubare Zahl von Personen zusammen, die ich gerne wiedersehen wollte. Ich schrieb eine alphabetisch geordnete Liste, recherchierte im Internet nach den Kontaktdaten, schickte den wenigen, die ich doch auf Facebook fand, eine Freundschaftsanfrage, und beschloss, die besonders Wichtigen kurzerhand anzurufen.

Und dann bekam ich Angst. Mein Herz klopfte, meine Hände wurden feucht. Der letzte Kontakt zu diesen Menschen lag erschreckend lange zurück. Ich würde allen von Ollis Tod erzählen müssen, was nur aufs Neue die elendige Litanei der Beileidsbekundungen nach sich zöge. Obendrein war ich nicht mehr in Übung – in den letzten Jahren hatten meine Kontakte vor allem aus Gesprächen mit ambulanten Krankenpflegerinnen, Sozialamtsangestellten, Supermarktkassiererinnen und den Fahrern von Behindertentaxis bestanden, und diese Gespräche waren immer kurz gewesen. Manche Leute hatten zudem eine andere Muttersprache, was den Austausch zusätzlich begrenzte.

Wie verlief eine normale Plauderei? Und was dachten die Menschen nach all den Jahren über mich? Würden wir uns noch immer als Freunde begegnen?

Ollis Krankheit hat sich so lange hingezogen, dass irgendwann alle verschwunden waren. Kein Wunder, dass die Beerdigung klein ausfiel. Ein Publikumsmagnet ist was anderes. Nur ein paar treue Verwandte und eine neugierige Nachbarin ließen sich blicken. Dafür durfte ich die ganzen nächsten Wochen geschmacklose Beileidsbekundungen ertragen: »Viel Kraft, liebe Ulla« und so weiter, so was von schmierig das Ganze, und dann fällt den Leuten doch glatt ein, dass ja der süße Nachbarhund auch gerade begraben wurde, und dann schluchzen sie los! Bilden sich ein, wir würden Ähnliches durchmachen, durch das gleiche verdammte Tal wandern! Aber die widerwärtigste Beileidsbekundung war diese: »Ich weiß genau, wie du dich fühlst.« Da hätte ich am liebsten gekotzt. Woher will ein vollkommen anderer Mensch auch nur annähernd wissen, wie das alles für mich ist? Dass Olli jahrelang schwer krank war und dann gestorben ist?

Ich fing oben an.

Statt meiner Cousine Ritva Aaltonen antwortete eine automatische Frauenstimme; die Nummer war nicht mehr gültig. Ritva war also höchstwahrscheinlich tot. Dem würde ich später nachgehen. Ich markierte ihren Namen mit einem dünnen Bleistiftkreuz und beeilte mich mit dem nächsten Anruf; bloß nicht zögern, sonst verließ mich noch der Mut.

»Altenpflegeheim Climax, Harusha Aramduti am Apparat.«

Harusha verstand zwar leider nicht, was ich von meiner ehemaligen Schwimmfreundin Raija Erkkilä wollte, konnte mir aber immerhin sagen, dass Raija gerade an der ›Gymnastik mit dem Stock‹ teilnahm. Unklar blieb, in welcher Verfassung Raija sich befand – eine wirklich rüstige Dame würde wohl eher nicht im Pflegeheim leben und Stockgymnastik machen. Ich markierte ihren Namen mit einem Fragezeichen.

Die Patentante von meinem Sohn Marko, Riitta-Leena, war so frisch unter der Erde, dass ihr Handy noch an und der Akku noch nicht alle war: Klarer Fall für ein Kreuz, wie ich von ihrem Mann Risto hören musste. Wir bezeugten uns gegenseitig unser Beileid und ließen uns zu weiteren dummen Phrasen hinreißen. In solchen Fällen sollte man sich einfach für ein stummes Hinterbliebenen-Kaffeekränzchen verabreden. Riitta-Leena war an einem aggressiven Leberkrebs gestorben, der auch ins Gehirn gestreut hatte, aber ganz ohne Schmerzen. »Das war das Gute daran. Ein kaputtes Gehirn kann keinen Schmerz empfinden«, sagte Risto pragmatisch und verschaffte sich mit diesem Fazit auch selbst Linderung. Wir unterhielten uns noch eine Weile über Pflegedienste und verschiedene Medikamente, dann behauptete ich, es hätte an der Tür geklingelt und ich müsse auflegen. In Wahrheit würde das nie passieren. Seit keine Krankenschwestern mehr ins Haus kamen, klingelte niemand mehr bei mir.

Meine Cousine Kirsti Hirvonen wusste nicht mehr, wer ich war. Und auch bei sich selbst kam sie ins Schwimmen:

»Ich muss Schluss machen, meine Klasse wartet auf mich.«

Kirsti hatte in ihrem gesamten Leben nicht einmal als Lehrerin gearbeitet, dafür jahrzehntelang als Physiotherapeutin Kranke durchmassiert. Traurig, dass sie dement war, und traurig ebenfalls, dass sie mich abwimmelte.

Meine frühere Nachbarin Liisa Hulkkonen riss ich in Thailand aus dem Schlaf, auch dieses Telefonat war schnell zu Ende. Ich entschuldigte mich, dass ich sie aufgeweckt hatte, und berichtete, dass Olli gestorben war. Bei Liisa blieb das Beileid aus. »Herrlich, Ulla, jetzt kannst du ein zweites Leben beginnen!«

Ich war sprachlos. Mir war neu, dass man es auch so sehen und dementsprechend reagieren konnte. Liisa versprach, sich bei mir zu melden, sobald sie aus Thailand zurückkäme, wobei unklar war, wann das sein würde. Aus den ursprünglichen zwei Wochen waren schon drei Jahre geworden. »Weißt du, ich habe hier am Strand einen tollen Mann getroffen, der fünfzehn Jahre jünger ist. Schön, dass du dich gemeldet hast, aber jetzt muss ich wieder zurück ins Bett zu Jimmy. Tschüss, Ulla!«

Neben Liisas Namen malte ich eine Sonne. Als ich die Hälfte der Liste durchhatte, fühlte ich mich wie eine Hundertjährige: umgeben von Greisen und Toten. Mit Ausnahme von Liisa hatten sich die Leute in den zwölf Jahren, die ich Olli gepflegt hatte, in Kranke und Demente oder eben auch in Tote verwandelt. Verfall überall. Und diese Pflegefälle waren meine Altersgenossen?

Ich setzte mir die Brille auf und marschierte vor den Spiegel. Furchtlos schaute ich der Wahrheit ins Gesicht – und das durchs vergrößernde Glas meiner Lesebrille. Das hatte ich seit Ewigkeiten nicht getan. In der schweren Zeit mit Olli war mir mein Aussehen schlichtweg schnuppe gewesen. Außerdem war das Licht im Badezimmer schummrig, und ich hatte morgens nie die Brille aufgesetzt. Was für eine Selbsttäuschung, wie mir jetzt klar wurde. Mein Gesicht war eine Landschaft aus Falten, aus Furchen geradezu! Manche überlappten sich, andere hatten breite Gräben in die Haut gezogen. Leben! Pralles, gelebtes Leben, Tausende von Erinnerungen.

Ach ja?

Ich fühle mich eher wie eine Maschine. Ja, verdammt, ich friste das Dasein einer hocheffektiven Maschine! Mein Alltag ist schon seit Ewigkeiten kein Leben mehr, sondern ein einziges Aushalten und Erledigen! Ich habe mich in einen hocheffektiven Automaten verwandelt. Aber anders hätte ich das alles nicht durchstehen können. Das, was das Leben mir entgegengeschleudert hat. Den Brustkrebs und das Geracker an Ollis Krankenbett! Einen Angehörigen »pflegen« … pah! Eine Sklavin war ich. Erst meine OP und die Chemo, und dann sofort die Ärmel hochkrempeln und nichts als Füttern, Waschen und Windeln wechseln, und immer schön regelmäßig den klapprigen Körper wenden! Verflucht noch mal, mein Leben ist wirklich kein Zuckerschlecken. Aber ich habe nun mal getan, was getan werden muss.

Doch innerlich war ich die ganze Zeit wie tot. Und jetzt ist Olli tot. Und ich will wieder leben! Aber wie soll das gehen, bitte schön? Ich bin jetzt frei, zum allerersten Mal. Ich könnte tun und lassen, was ich will. Aber mit wem denn, bitte schön?

Meine Haare waren noch dick und gesund. Doch die ungepflegte Länge und das scheckige Grau störten mich; ich gehörte nun mal leider nicht zu den Frauen, die man für ihr elegantes Naturgrau bewunderte. Meine Wangen und Schläfen waren von Altersflecken übersät, um die wohl keiner herumkam. Ein kleines Muttermal auf der Stirn ließ mich erschrocken an Hautkrebs denken, aber dann fiel mir ein, dass es schon immer dort gewesen war und auch genau so ausgesehen hatte. Mein Hals war eine Zumutung, Truthahn hoch zwei, aber auch das war normal. Und meine Augen waren nur gerade eben noch zu sehen, immerhin konnte ich gucken. Fragte sich, für wie lange. Ich schob meine Hängelider mit den Zeigefingern nach oben und überlegte, ob eine Lidkorrektur von der Krankenkasse bezahlt würde. Immerhin stellte eine eingeschränkte Sicht ein ernsthaftes Unfallrisiko dar. Und das nicht nur für mich! Was, wenn ich beim Autofahren ein Kind überfuhr?

Dass das Alter nichts als eine Zahl sein sollte, war der reinste Unfug. Das Alter war das, was ich im Spiegel sah! Und für etliche Altersgenossen war es leider noch viel mehr: Demenz, unheilbarer Krebs, andere schwere Erkrankungen, Verschleiß, Gicht, Grauer Star. Je länger ich mein Spiegelbild musterte, umso klarer wurde mir: Ich gehörte zu denen, die gut alterten – und Glück hatten! Ich war gesund und fit, kam ohne Hilfe zurecht und wusste genau, wen ich da vor mir hatte und in wessen Badezimmer ich stand.

Flugs reservierte ich im Internet einen Friseurtermin – in zwei Wochen würde ich besser aussehen – und nahm mir erneut meine Liste vor. So leicht würde ich nicht aufgeben! Die nächste Person war meine alte Freundin Hellu, Helena Kaakkuri, mit der ich zusammen die Schulbank gedrückt hatte. Nach dem Abitur hatten wir gemeinsam unser kleines Heimatdorf Koutua verlassen und an der Uni Helsinki einen neuen Lebensabschnitt begonnen.

»Ulla, wie schön, dass du dich meldest! Ich habe so ein schlechtes Gewissen.«

Es tat ihr furchtbar leid, dass auch sie mich irgendwann hatte hängen lassen. Doch ich konnte sie beruhigen – es war wirklich nicht allein ihre Schuld; ich hatte ja während Ollis Krankheit selber alle Kontakte auf Eis gelegt, hatte niemanden mehr angerufen und war nicht mal zu unserer fünfzigjährigen Abifeier gegangen.

»Ach, Ulla, von Feiern konnte da keine Rede sein«, tröstete Hellu mich und lachte, »was soll man da schon groß feiern, wenn die schöne Jugendzeit über fünf Jahrzehnte zurückliegt.«

Meine Freundin war ganz die Alte, humorvoll und gesprächig. Es waren ganze sieben Leute erschienen, die alte Schule war längst abgerissen, und das Abitreffen hatte in einem Neubau im Nachbarort stattgefunden – gleichzeitig mit der Abifeier des dortigen Jahrgangs, weshalb man also auch auf fremde Greisengesichter stieß. Am Nachmittag fuhren die sieben aus unserem Jahrgang in zwei Autos rüber ins alte Dorf, oder in das, was davon übrig geblieben war.

»Die haben fünf schrumpfende Orte zu einer neuen Gemeinde zusammengelegt! Koutua heißt jetzt Groß-Muukkola, nach dem Nachbardorf Klein-Muukkola, weißt du noch? Eine Bibliothekarin aus Klein-Muukkola hatte mit ihrer Idee den öffentlichen Namenswettbewerb gewonnen.«

Auf unserem alten Schulgrundstück stand seit den 90er-Jahren ein Rathaus, das mittlerweile ebenfalls überflüssig geworden war. Ein winziges Krankenkassenbüro war dort eingezogen, doch ansonsten stand das Gebäude leer und diente als Untergrund für Graffiti. Nach der Rundfahrt hatte die Gruppe im vermeintlichen Zentrum von Groß-Muukkola im Restaurant Zur Post das Festtagsmenü gegessen, ein eher maues Geschmackserlebnis. »Aber es hätte keine Alternativen gegeben.«

Hellu erzählte, dass die anderen alte Omas geworden seien, beige gekleidet und zwei von ihnen nur noch mit Rollator unterwegs, eine sogar leider schon im Rollstuhl. Nur ein einziger Mann war gekommen, Hellu wusste seinen Namen nicht mehr. »Der, dessen Vater im Krieg gefallen war, und der sich in die Hose gepinkelt hat, als er an der Tafel aufs Ural-Gebirge zeigen sollte.«

»Pertti Korhonen!«

»Genau! Er wohnt jetzt in Helsinki-Vantaa und betreibt Ahnenforschung.«

Nach einer Stunde regen Austauschs war mein Telefon heiß und schwitzig. Ich wusste von Hellus Knie-Endoskopie und kannte ihre Schilddrüsenwerte, war im Bilde über ihre Hobbys und die Scheidung ihrer Nachbarn. Sie selbst hatte sich schon vor vielen Jahren von ihrem Mann getrennt, der sich eine Jüngere geschnappt hatte. Aber selbst die Jüngere wurde mit den Jahren älter, und als Hellus Ex-Mann fand, dass nun auch ihre Zeit abgelaufen war, wechselte er erneut zu einer Jüngeren, und da hatte Hellu sich dann mit der Ex ihres Ex angefreundet.

»Ein gemeinsamer Feind verbindet. Tuula und ich haben jede Menge schöne Sachen unternommen, waren im Kino und in Kunstausstellungen.«

»Und jetzt nicht mehr?«, frage ich.

»Sie ist leider schon gestorben.«

Damit endete das Telefonat abrupt. Vermutlich war Hellus Akku alle; als ich sie anzurufen versuchte, hieß es, »der Anschluss ist vorübergehend nicht erreichbar«.

Ich beließ es dabei und schnaufte kurz durch. Dann machte ich mit dem einzigen Mann auf meiner Liste weiter, Ollis Studienfreund Heikki Kukkonen. Ich hatte ihn immer gern gemocht. Leider zeigte er sich über meinen Anruf ziemlich irritiert. Er wurde wohl nicht gern mit der Tatsache konfrontiert, dass ein enger Freund gestorben war und man dazu eben nicht mehr sagen konnte: ›Wie schrecklich, wie tragisch, viel zu früh aus dem Leben gerissen.‹ Oder aber er befürchtete, ich könnte Hintergedanken hegen und mit unanständigen Vorschlägen kommen. Möglicherweise fiel ihm die Mittsommerparty von anno dazumal ein, bei der wir uns zu fortgeschrittener Stunde, als alle anderen schon schliefen, kurz aneinandergelehnt hatten.

Jedenfalls rief er übertrieben laut: »Ah, Sirkka-Liisa kommt gerade nach Hause, mittwochs singt sie immer im Chor! Wir gehen übrigens jeden Tag schwimmen, mein Schatz und ich, und anschließend gehen wir von der Schwimmhalle zu Fuß nach Hause. Und freitags spielen wir in einer Seniorengruppe Theater!«

Blieb nur noch ein Name: meine Studienfreundin Pirkko Suikkari, genannt Pike. Ich fand sie auf Facebook und erkannte sie mühelos wieder, auf ihrem Profilbild war sie höchstens fünfzig. Tja, wollten wir nicht alle erwachsen und weise werden, aber dabei niemals alt aussehen?

Pikes Antwort kam spät am Abend und quoll über vor Emoticons.

»Heiliger Strohsack, du bist’s, Ullchen! Ich bin seit dem ersten Mai im Sommerhaus und bleibe wie immer tapfer bis zum Herbst. (Emoticons: Panikgesicht, Wildschwein, fliegender Adler.) Ehrlich, ich harre aus, bis der erste Schnee fällt! (Traktor, Grinsegesicht.) Aber dann gilt: Der Frost treibt selbst die Schweine heim, oder wie heißt es noch mal? (Schweinegesicht, Grinsegesicht mit Lachtränen.) Oder vielleicht doch eher der Geschlechtstrieb? (Aubergine, hysterisches Lachgesicht.)«

Ich fand Emoticons albern.

Kurz und knapp antwortete ich: »Olli ist unter der Erde, und ich bin gerade dabei, ein neues Leben zu beginnen.«

Im Gegensatz zu mir war Pike facebook-geübt, formulierte flüssig und betont mündlich. Sprechdurchfall in Schriftform.

»Oh je! Aha! Arme Ulla. Aber du schaffst das! Wirklich! Hier ist das Leben lustig und entspannt, ich quatsche mit den Dachsen und Maulwürfen. (Zwinkerndes Grinsegesicht.) Einmal pro Woche hol ich im Dorfladen Würstchen und Wein (drei Herzen), an den anderen Tagen zieh ich mich gar nicht erst an (Gesicht mit Heiligenschein). Im Juli ist Hellu kurz vorbeigekommen, war hier aber wohl nicht nach ihrem Geschmack. (Heulendes Gesicht, Affe mit Händen vor den Augen.)«

Hellu und Pike hatten also Kontakt gehalten – während ich darauf aufpasste, dass Olli nicht aus dem Bett fiel oder an seinem Erbrochenen erstickte. Der Gedanke an das, was meine Freundinnen in dieser Zeit alles erlebt haben mochten, machte mich ein wenig eifersüchtig. Ohne mich hätten die beiden sich nie kennengelernt, ich hatte sie bei irgendeiner Gelegenheit einander vorgestellt.

Ich reagierte nicht. Pike schrieb unerschrocken weiter.

»Ullchen, du bist also wieder im Boot! Weißt du was? Ich glaube, ich komme sofort zurück in die Stadt! (Ein Taxi und viele Gesichter auf einmal.) Wir müssen unbedingt zusammen ausgehen! (Zwei Gläser, eine Flasche mit herausploppendem Korken, ein lachendes Gesicht mit Sonnenbrille.) Da gibt es einen riesigen Markt! (Stiletto-Schuhe, Kussmund.) Du bist weiß Gott nicht die einzige Witwe in Helsinki, und von Geschiedenen wimmelt es geradezu. (Tanzendes Paar, fünf pochende Herzen.) Jetzt ist unsere beste Zeit! (Diverse lachende Gesichter, dazwischen ein Pinguin.)« Das letzte Emoticon war höchstwahrscheinlich ein Versehen.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 3

Ich hetzte aus Kerava in Helsinkis gutbürgerlichen Stadtteil Töölö. Die Eile hätte ich mir sparen können, aus unserem Trio war ich die einzige Pünktliche im Klassenzimmer. Pike schickte mir eine Absage aufs Handy, Hellu kam zu spät und sah elend aus. Die Werte auf ihrem Fitness-Armband seien erschreckend schlecht, klagte sie und wollte wissen, wie der Abend für mich und Pike weitergegangen sei. Statt zu antworten, tat ich, als würde ich noch schnell Vokabeln lernen.

Unsere Lehrerin war sehr nett, jedoch das reinste Kind, so jung wie der Arzt im Gesundheitszentrum, fast minderjährig also. Ihr Name klang entsprechend jugendlich und für meine Ohren fremd; Miisa oder Yannika oder so was in der Art, ich hatte es schon wieder vergessen. Sie war lustig und schwungvoll, farbenfroh gekleidet und entsprach ganz dem Bild der idealen Sprachlehrerin.

Hellu liebte Fremdsprachenunterricht, egal welche Sprache. Ihr Motto lautete: Wer Neues lernt, bleibt vital. Aus dem gleichen Grund besuchte Pike nun schon zum fünften Mal den Kurs ›Spanisch für Touristen‹, hatte sich diesen Herbst aber auch noch spontan unserer Italienischgruppe angeschlossen. Sie wollte doch ihren Traum von der Weinverkostungsreise durch die Toskana wahrmachen! Als Expertinnen für romanische Sprachen vertraten Hellu und Pike klare Prinzipien:

»Wenn du beim Subjuntivo ankommst, lass die Hände davon! Lieber einfach wieder von vorn anfangen.«

Unsere Lehrerin kämpfte mit dem Laptop, was uns eine willkommene Verschnaufpause bescherte; das Begrüßen und der kleine Small Talk zum Aufwärmen hatten uns nach der gestrigen Nacht schon genug abverlangt.

»Das waren die Dehnübungen fürs Gehirn«, kommentierte Hellu, »wer in diesem Alter nicht aktiv bleibt, baut ab und kapiert irgendwann gar nichts mehr! Schwups, schon bist du eine Oma.«