Running Back to You (»Back to You«-Reihe 1) - Lexis Able - E-Book
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Lexis Able

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Beschreibung

**Lass dich fallen. Er wird dich auffangen.**  Panikattacken, Angstzustände, Unsicherheit – Lucas Leben ist geprägt von den unsichtbaren Narben, die ein einstiger Autounfall hinterlassen hat. Um diesen im wahrsten Sinne des Wortes davonzurennen, konzentriert sie sich auf den Laufsport, wofür sie sogar ein Stipendium erhält. Wem Luca allerdings nicht davonlaufen kann, ist Brayden, Mitbewohner ihres Bruders und begnadeter Eishockeyspieler. Stück für Stück lässt Luca diesen charmanten Sportler in ihr Leben und erlaubt ihm und sich Gefühle zu entwickeln. Denn obwohl es ihm verboten wurde, kann Brayden sich nicht von Luca fernhalten. Zu sehr erinnert sie ihn an jemanden aus seiner Vergangenheit …   Gefühlvolle Sports Romance mit Tiefgang zum Dahinschmelzen! Leser*innenstimmen: »Die Vorfreude auf die weiteren Bände ist riesig!« »5/5 Sterne, ein absolutes Herzensbuch« »Eine wundervoll geschriebene Liebesgeschichte, die mich ab Seite 1 gefangen hat!« //Der Liebesroman »Running Back to You« ist der erste Band der romantischen »Back to You«-Reihe. Alle Bände der gefühlvollen Sports Romance: -- Back to You 1: Running Back to You -- Back to You 2: Crashing Back to You -- Back to You 3: Dreaming Back to You//

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Impress

Die Macht der Gefühle

Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.

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Lexis Able

Running Back to You (»Back to You«-Reihe 1)

**Lass dich fallen. Er wird dich auffangen.**Panikattacken, Angstzustände, Unsicherheit – Lucas Leben ist geprägt von den unsichtbaren Narben, die ein einstiger Autounfall hinterlassen hat. Um diesen im wahrsten Sinne des Wortes davonzurennen, konzentriert sie sich auf den Laufsport, wofür sie sogar ein Stipendium erhält. Wem Luca allerdings nicht davonlaufen kann, ist Brayden, Mitbewohner ihres Bruders und begnadeter Eishockeyspieler. Stück für Stück lässt Luca diesen charmanten Sportler in ihr Leben und erlaubt ihm und sich Gefühle zu entwickeln. Denn obwohl es ihm verboten wurde, kann Brayden sich nicht von Luca fernhalten. Zu sehr erinnert sie ihn an jemanden aus seiner Vergangenheit …

Wohin soll es gehen

Buch lesen

Vita

Danksagung

© HERZLICHT FOTOGRAFIE VON RENATE NEURAUTER

Lexis Able wurde 1986 in Österreich geboren und wohnt mit ihrem Mann, ihren drei Kindern und einigen Vierbeinern in Tirol. Aufgewachsen ist sie zwischen Bergen und Büchern, am liebsten in Kombination. Aus dem Schreiben schöpft Lexis die Kraft für ihren Beruf als Sonderkindergartenpädagogin, ihr erstes Buch hat sie selbst im Alter von sechs Jahren geschrieben. Auf langen Bergläufen entwickelt sie ihre Geschichten, die sie nun endlich mit anderen teilen darf.

Für Mia.Die Stärke ist in dir, vergiss das niemals.

Vorbemerkung für die Leser*innen

Liebe*r Leser*in,

dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte. Aus diesem Grund befindet sich hier eine Triggerwarnung. Am Romanende findest du eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler für den Roman enthält.

Entscheide bitte für dich selbst, ob du diese Warnung liest. Gehe während des Lesens achtsam mit dir um. Falls du während des Lesens auf Probleme stößt und/oder betroffen bist, bleib damit nicht allein. Wende dich an deine Familie, Freunde oder auch professionelle Hilfestellen.

Wir wünschen dir alles Gute und das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser besonderen Geschichte.

Lexis Able und das Impress-Team

Nacht

Die Nacht ist wie ein großes Haus.

Und mit der Angst der wunden Hände

Reißen sie Türen in die Wände –

Dann kommen Gänge ohne Ende,

und nirgends ist ein Tor hinaus.

Rainer Maria Rilke1

Kapitel 1

Luca

Schritt. Schritt. Blick nach vorne. Wieder auf die Füße. Schritt. Schritt. Schritt. Ich schaue nach oben und keuche angesichts des immer noch steiler werdenden Trails ermattet auf. Feines Geröll macht den lehmigen Weg zu einem rutschigen Untergrund und ich sehne mich nach dem festen Waldboden, den ich schon kurz nach Tagesanbruch hinter mir gelassen habe. Die tiefstehende Morgensonne blendet meine Augen und ich muss den Kopf senken. Nur vereinzelt wachsen noch Bäume in dieser Höhe, der steinige Boden macht es ihnen schwer, die Wurzeln zu verankern. Dennoch ragen immer wieder kleine, unförmige Fichten aus den Felsvorsprüngen und unterbrechen mit ihrem Mattgrün das ewige Grau oberhalb der Waldgrenze.

Die Kraftreserven habe ich längst aufgebraucht und einzig der starke Wille treibt mich Schritt für Schritt weiter dem Berggipfel entgegen. Ich werde durchhalten. Es ist ein Berglauf wie viele zuvor, und doch ist der heutige ein ganz besonderer.

Es ist der letzte.

Meine Finger sind eiskalt und der Sauerstoffmangel lässt sie taub pulsieren, aber ich renne weiter. Ich gebe nicht auf. Kämpfe gegen mich selbst. Weil es das letzte bisschen Selbstkontrolle ist, das mir mein Leben gelassen hat.

Ich brauche diese Kontrolle mehr als alles andere. Schon lange hat sich niemand mehr die Mühe gemacht, hinter meinen scheinbaren Ehrgeiz zu blicken. Für die Menschen hier in Northwood zählen nur meine Erfolge für unser Leichtathletikteam. Sie vergessen meine Vergangenheit und das schwache, zurückgezogene Mädchen, das hinter den aufgelisteten Titeln im Sportteil der Regionalzeitung steckt. Aber wenn Pokale und Medaillen die Leute von dem zerbrochenen Teil in mir ablenken, soll es mir recht sein. Zumindest kann ich mit dem Sportstipendium den drei Menschen in meinem Leben folgen, die mich wirklich kennen. Und die trotzdem an meiner Seite bleiben.

Ich nehme kaum die weißen Veilchen am Wegrand wahr, die hier in Northwood überall zu finden sind und jedes Stückchen Erde nutzen, um zu wachsen. Nicht mehr lange, und sie sind verblüht. Die Temperaturen sinken Tag für Tag und die ersten Blätter des Zuckerahorns im Tal beginnen bereits mit ihrem magischen Wandel in ein feuriges Blätterdach. Früher habe ich die größten Blätter mit Mom zu einer Kette gefädelt und sie über den Kaminsims im Wohnzimmer gespannt. Die Erinnerung macht mich wehmütig. Ich werde sie und Dad vermissen, aber es ist an der Zeit, zu gehen.

Während der letzten Schritte über kantigen Stein muss ich vor Erschöpfung meine Hände auf die Knie stemmen und verfluche meine Sturheit. Die Trekkingstöcke würden mir diesen Aufstieg wohl erleichtern, aber sie liegen seit meinem neunzehnten Geburtstag vor ein paar Wochen verpackt im Kleiderschrank. Nicht einmal die dicken Wurzeln nehme ich zur Hilfe, die zwischen trockenem Gras in den Pfad hereinbrechen, um mich das letzte Stück hochzuziehen. Begleitet von einem vermutlich ziemlich unschönen Laut, wuchte ich mich über den kleinen Felsabsatz und ziehe frische Luft in meine Lungen. Nur langsam schaffe ich es, meine Atmung so weit zu beruhigen, dass ich meinen Kopf heben und mich umschauen kann.

Nichts an diesem Aufstieg lässt die sanfte Wiese erahnen, die sich wie ein grüner Teppich vor mir ausbreitet und die riesige, schroffe Bergspitze in der Mitte einrahmt. Wunderschön und einsam.

Keuchend stehe ich auf und taumle wenige Schritte darauf zu. Mit ihren aufragenden Kanten erinnert der Felsen so offensichtlich an ein Ahornblatt, dass er den Namen Maple Top wirklich verdient. Unter mir reicht der Wald in üppigen Hügeln bis ins Tal und ich genieße die Weite, die mich von der Realität trennt. Ein Hauch der Zufriedenheit ergreift mich und ich drehe mich mit ausgestreckten Armen im Kreis. Die kühle Luft streichelt über meine nasse Haut und ein seltenes Glücksgefühl erwacht in meinem Inneren. Ich habe es geschafft. Bis hierher. Ich alleine.

Meine Knie zittern so stark, dass ich mich in das Gras setze. Die spätsommerlichen Temperaturen werden den Boden erst um die Mittagszeit aufwärmen und ich spüre bereits die Kälte, die durch meine verschwitzte Kleidung dringt. Es ist mir egal. Ich habe mir vorgenommen, es zu genießen. Ein letztes Mal, bevor ich mich meiner Zukunft stelle. Ich kehre Northwood und meiner Vergangenheit den Rücken und flüchte in die Anonymität tausender Studierender an der Vancouver University.

Außer dem Vogelgezwitscher und den sanften Geräuschen des leichten Windes höre ich nichts. Ich werde die Berge hier vermissen, in denen es nur mich und die Stille um mich herum gibt. Keine Angst. Keine Schatten. Keine Dämonen.

Mit geschlossenen Augen lege ich mich nach hinten in das piksende Gras und versuche, diesen perfekten Moment festzuhalten. Fast perfekt. Für mich gibt es keine perfekten Momente mehr, nicht seit damals.

Das Vibrieren meines Telefons reißt mich aus den Gedanken und ich setze mich viel zu hastig auf. Ein heftiger Schwindel ergreift mich, der Schlafmangel der letzten Wochen hat seine Spuren hinterlassen. Ich massiere kurz meine Schläfen, bis sich der Schwindel legt, und ziehe dann das Telefon aus dem Sportgurt.

Die eingegangene Nachricht bringt mich zum Lächeln.

Sander: Rate mal, wer schon 194 Meilen gefahren ist? Halbzeit – mhm, ich kann die Schokolade schon schmecken …

Sander und ich haben gewettet, dass er es nicht schafft, vor Mittag in Northwood zu sein. Der Einsatz unserer Wetten ist seit Jahren der gleiche und da Sander Schokolade maximal halb so gern mag wie ich, muss es sein Siegeswille gewesen sein, der ihn in Vancouver in den frühen Morgenstunden aus dem Bett getrieben hat. So oder so rechne ich ihm hoch an, dass er für mich auf sein geliebtes Ausschlafen am Wochenende verzichtet hat.

Allein die Vorfreude auf ihn gibt mir die Energie, mich von allem loszureißen, was mir so vertraut ist. Die Berge und die Gewissheit, dass die Welt hier oben ihre eigenen unantastbaren Regeln hat. Freiheit, die nicht deiner Vergangenheit unterliegt, sondern einzig und allein davon abhängt, wie du dich in der Natur zurechtfindest. Nur dein Wissen und deine Erfahrung schützen dich.

Egal, wer du sonst bist oder sein musst.

Ich atme tief ein und verinnerliche den erdigen Geruch und das Kreischen des Adlers, der über mir weite Bahnen zieht. Erinnerungen für dunkle Momente, in denen ich diese Zusprache brauche.

Mit einem kräftigen Zug schnüre ich den Schnellverschluss meiner Schuhe zum Bergablaufen enger und fokussiere mich jetzt auf den unebenen, zerklüfteten Weg vor mir. Ein Sturz und eine Verletzung könnten meine Studienpläne auf einen Schlag zunichtemachen. Die einzige Perspektive, die mir bleibt, ist unabdingbar an das Laufen gebunden.

Für den Weg ins Tal lasse ich mir heute Zeit. Immer wieder schlage ich kleine Umwege ein und bleibe hinter der Waldgrenze, um die Natur so lange wie möglich auszukosten.

Erst zwei Querstraßen vor unserem Haus wechsle ich auf den breiten Gehweg und anstatt meinen Puls im Normalbereich zu halten, sprinte ich mit gesenktem Kopf nach Hause. Obwohl ich die Bewohner von Northwood kenne, fällt es mir schwer, mich auf Gespräche mit ihnen einzulassen.

Unser Vorgarten ist der einzige in der Straße, der keinen perfekt gepflegten Rasen hat. Ich liebe das hohe Gras und die Wildblumen, die den gepflasterten Zugang zum Haus auf den ersten Blick verbergen, und selbst unter unserem Türschild hängt ein Kranz aus getrockneten Blumen.

Leise schließe ich die Haustür, streife die Schuhe ab und trete aus dem Windfang. Auf Zehenspitzen schleiche ich den Gang entlang, vorbei an der Küche, aus der ich das Klappern von Geschirr höre. Außerhalb der Skisaison haben Mom und Dad viel freie Zeit. Sie kochen gemeinsam, kümmern sich um das Gemüsebeet oder machen diese riesigen Puzzles mit Naturbildern, die sie dann stolz in der Skischule aufhängen. Seit feststeht, dass ich Sander, Mason und Chase nach Vancouver folge, wollen sie mich in alle ihre Aktivitäten einbinden. Und alles, was ich will, ist, alleine zu sein.

Deshalb weiß ich genau, an welchen Stellen die Holztreppe knarzt und wie ich die besagten Stellen überspringen kann, um ungesehen in den ersten Stock zu kommen.

In meinem Zimmer schiebe ich erschöpft die beiden Kleiderstapel, die ich noch einpacken muss, zur Seite und sinke auf das Bett. Meine Beine schreien nach einem entlastenden Stretching, aber alles, was ich mache, ist, mich rücklings auf die Matratze fallen zu lassen und die Müdigkeit zu begrüßen, die mich überkommt.

»Dachte ich mir doch, dass ich was gehört habe.«

Langsam hebe ich meinen Kopf und sehe Dad durch einen kleinen Türspalt spähen. Ich war nicht leise genug. Er tritt durch die Tür und mustert mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Sein dunkler Vollbart erscheint mit jedem Tag noch dichter. Nur schwer kann ich unter seinem dichten Bart sein liebevolles Lächeln erkennen.

»Darf ich?«, fragt er und zeigt auf mein Bett.

Ich nicke, richte mich auf und rücke an die Kante, um Platz für ihn zu machen. Dad setzt sich zu mir. Der große Abstand, den er dabei zwischen uns lässt, ist kein Zufall. Mindestens drei Handbreit. Drei Handbreit, die ich früher gebraucht habe, um ruhig zu bleiben. Kein Hautkontakt. Weil er geschmerzt hat. Nicht auf der Haut, sondern in mir. Mich kalt und klar daran erinnert hat, was ich bei dem Unfall verloren habe. Seit der letzten Therapie vor zwei Jahren kann ich gut mit beiläufigen Berührungen umgehen, aber die Vorsicht meiner Familie ist trotz allem geblieben.

»Wie weit warst du oben?«, möchte Dad wissen. Es ist jedes Mal dieselbe Frage und jedes Mal dieselbe Antwort.

»Ganz oben.«

»Silver Peak?«

Ich schüttle den Kopf und presse kurz die Lippen zusammen. »Nein, Maple Top.«

»Maple Top?« Dad nickt anerkennend. »Nicht schlecht. Das letzte Mal, das ich da oben war, ist mindestens zehn Jahre her. Ist der Weg immer noch so ausgewaschen?«

»So schlimm ist es nicht, ich konnte das Tempo gut halten.«

»Hast du zumindest die Aussicht ins Tal genossen?«

Dad kennt meine Rastlosigkeit, aber heute kann ich ihn überraschen. »Ich habe mich sogar hingesetzt.«

»Das ist gut«, antwortet er sanft und reibt sich über die Oberschenkel. »In Vancouver wirst du auf Bergläufe verzichten müssen. Glaubst du, du kommst mit den Langstreckenläufen im flachen Gelände zurecht?«

»Natürlich«, antworte ich sofort. Die Wahrheit ist, dass ich nicht weiß, ob mir das Laufen rund um das Universitätsgelände reichen wird. Vancouver ist bekannt für seine ewig weiten Grünflächen und ich hoffe einfach, dass mir das genug Natur sein wird. »Ansonsten muss Sander mit mir in die North Shore Mountains fahren.«

»Sander, sicher.« Dad beginnt, seine Finger zu kneten und räuspert sich, was meine angenehme Erschöpfung von eben sofort vertreibt. Das Sprechen über meine Themen, wie er sie nennt, fällt uns beiden schwer. Vielleicht spüre ich deshalb sofort, wenn es heikel wird.

Ich konzentriere mich auf Dads große Hände und sein rot-schwarz kariertes Hemd, um ihm nicht ins Gesicht schauen zu müssen. Seine Sorgen schwingen in jedem schweren Atemzug mit, ich will sie nicht auch noch sehen. »Mir wäre wohler dabei, wenn Sander Bescheid wüsste, Luca. Du hast ihn in dem Glauben, dass du alles weitestgehend unter Kontrolle hast, nach Vancouver gehen lassen. Glaubst du nicht, es wäre jetzt an der Zeit, es ihm zu sagen?«

»Nein«, stoße ich hervor. »Ich will nicht, dass er etwas weiß. Das ist meine Entscheidung, Dad.«

»Und was ist mit deiner neuen Mitbewohnerin? Was erzählst du ihr, wenn sie dich fragt, was in deinen Träumen passiert?« Dad seufzt und atmet zittrig aus, als würden die nächsten Worte ihre Bedrohung verlieren, wenn man sie nur vorsichtig genug ausspräche. »Warum du panisch und schreiend aus dem Schlaf hochschreckst? Jede Nacht.«

Ich ziehe mein Haarband von der Stirn und wickle es um mein Handgelenk. Wieder und wieder, bis es straff genug sitzt und mir beinahe in die Haut schneidet. »Viele Menschen haben Albträume«, sage ich leise. Dad weiß nicht, dass ich erfolglos versucht habe, ein Einzelzimmer zu bekommen.

Er beugt sich etwas zu mir. »Sander könnte …«

»Was, Dad?«, unterbreche ich ihn harsch und er schreckt zurück. »Mit seiner kleinen Schwester in einem Zimmer schlafen, damit sie Ruhe findet und nicht jede Nacht aufs Neue einen Autounfall durchleben muss, der Jahre her ist?« Ich lasse das Gummiband auf die Innenseite meines Handgelenks schnalzen. Es hilft. Ich spüre augenblicklich die sinkende Anspannung in mir. »Sander hat genug für mich getan.«

Dad gibt nicht auf. »Vielleicht reicht es schon, mit ihm über die Albträume zu reden. Warum vertraust du ihm nicht mehr? Er war immer für dich da, Luca.«

Der stille Vorwurf in Dads Worten entfacht den nagenden Druck in mir neu und das Schnalzen mit dem Haargummi reicht nicht mehr. Ich beiße mir auf die Innenseite der Wange, der scharfe Schmerz erdet mich. Nur deshalb schaffe ich es, zu antworten, anstatt davonzurennen. »Genau deswegen, weil er immer für mich da war. Deswegen sage ich es ihm nicht, Dad. Glaubst du, er wäre sonst nach Vancouver gegangen?«

Die Wahrheit ist, dass ich mich seit dem Unfall nur sicher fühle, wenn ich an Sanders Seite bin. Mason war danach ebenso für mich da, aber Sander hat mich schon immer auch ohne Worte verstanden. Er erkennt, wie ich mich fühle, bevor ich es selbst verstehe. Ohne ihn ist alles eine Bedrohung. Aufgaben. Menschen. Träume. Das schmeckt bitter, ebenso wie das Blut in meinem Mund.

»Was, glaubst du, hätte Sander getan?«, flüstere ich.

»Er wäre hiergeblieben.«

»Da hast du deine Antwort.« Meine Stimme hört sich viel zu unsicher an, verloren. Wenn ich das durchziehen will, für meinen Bruder und für mich, muss ich entschlossener sein. Ich lege meine Hände aufs Gesicht und reibe mir darüber, als könnte ich eine Maske auftragen. Eine Maske aus Stärke. »Sander hat lange genug auf mich Rücksicht genommen«, sage ich viel lauter als notwendig und schaue Dad in die Augen. »Er hat sich ein Leben aufgebaut in Vancouver, und ich folge ihm nicht, um es ihm wieder zu nehmen. Es ist an der Zeit, dass ich alleine klarkomme.«

Dad runzelt die Stirn und hebt eine Hand, als wollte er mir über die Wange streichen, lässt sie aber auf halber Strecke wieder sinken. »Du wirst nie alleine sein, Luca«, sagt er und legt seine Hand stattdessen vorsichtig auf meine. Er ignoriert mein leichtes Zucken und umfasst meine Finger. »Du wirst nie alleine sein und kannst alles schaffen. Das weißt du, oder?« Seine Augen strahlen die Zuversicht und den Glauben an mich aus, den ich mir selbst wünsche.

Ich lächle meine Angst weg, die das drohende Versagen in mir weckt, und besinne mich auf seine Worte. Wohlwissend, dass mir am Ende niemand helfen kann, wenn ich mir selbst nicht helfe.

Dad legt seine zweite Hand auf meine. »Können wir eine Vereinbarung treffen?«

Der leichte Schwindel von vorhin kehrt plötzlich zurück und ich kneife die Augen zusammen. »Eine Vereinbarung?«

Er nickt. »Ich akzeptiere es, wenn du sagst, du kommst ohne Sanders Unterstützung klar. Aber ich will, dass du mir jeden Tag schreibst. Mir oder Mom. Es reicht ein Daumen hoch, wenn es dir gut geht, aber du musst uns schreiben.«

Ich erkenne den Ernst in seinem Blick und versuche, die Fürsorge hinter seiner Forderung zu sehen. »In Ordnung«, antworte ich, mir bewusst, dass eine Nachricht am Tag ein kleiner Preis für sein Vertrauen ist. »Jeden Tag einen Daumen hoch für Dad.«

Er lächelt, drückt noch einmal meine Hand und steht auf. »Mom ist dabei, die Beilagen für den Fisch zuzubereiten. Kommst du mit nach unten? Wir könnten uns um die Salate kümmern.«

Ich ziehe an meinem schwarzen Top, das noch immer nass an meinem Körper klebt. »Ich will nur zuerst unter die Dusche.«

»Natürlich«, sagt Dad und geht zur Tür. Mit einer Hand auf der Klinke dreht er sich zu mir um und schüttelt grinsend den Kopf. »Maple Top, das ist nicht schlecht.«

Stolz erwidere ich sein Grinsen. Solange, bis er die Tür hinter sich geschlossen hat und ich alleine bin. Mit mir und meiner Angst, dass mein Plan nicht funktionieren wird und ich das Studium werde abbrechen müssen, weil ich zu schwach für eine Zukunft bin. Weil ich es nicht schaffe, die Bruchstücke in mir zusammenzuhalten.

Zittrig schäle ich mich aus der verschwitzten Kleidung und gehe ins angrenzende Badezimmer. Das kalte Wasser zieht feine Bahnen über meinen Körper und ordnet mein Chaos neu. Wieder und wieder spreche ich mir selbst Mut zu für meinen Neubeginn.

Ich lasse mich selbst nicht fallen.

Ich habe die richtige Entscheidung getroffen.

Mit dem Studium. Und mit Sander. Ich werde nach Vancouver gehen, mein Leben selbstbestimmt in die Hand nehmen und verdammt noch mal gegen meine Dämonen kämpfen. Und Sander kann weiterhin unbeschwert darauf hinarbeiten, für die AHL gedraftet zu werden. Er wird seinen Hockey-Traum leben, und ich werde alles irgendwie alleine auf die Reihe kriegen.

Mit ruhigen Gedanken steige ich aus der Dusche, ziehe das Handtuch vom Heizkörper und trockne mich ab. Anstatt meine kinnlangen dunkelblonden Haare zu föhnen, rubble ich sie mit dem Handtuch durch und gehe zurück in mein Zimmer. Der Kleiderschrank ist beinahe leer, das meiste, was ich habe, ist bereits in meinen Taschen verpackt. Den schwarzen Kuschelpullover mit dem Logo meiner Lieblingsserie The Originals finde ich an der Hakenleiste neben der Tür. Beim Anziehen bleibt mein Blick an dem hellgrünen Baldachin hängen, der die Ecke neben dem großen Fenster abgrenzt. Ich fühle der Zeit nach, in der die kleine Lichterkette aus bunten Blumen das Einzige war, was ich tagelang angesehen habe.

In den Wochen nach dem Unfall habe ich mich unter dem feinen Schleier versteckt. Eingehüllt in die vielen Kissen konnte ich den stechenden Schmerz an meinem Oberkörper besser ertragen. Dieser Rückzugsort war mein Rettungsboot im Sturm, und Sander war mein Anker. Er war einfach nur da, hat neben mir geschlafen und seine Sammlung von unzähligen Matchboxautos in einem Halbkreis um die Kissenberge herum aufgereiht. Ohne mich zu drängen, ihm auf seine Fragen zu antworten oder mit ihm zu spielen. Ich habe ihn ignoriert. Und trotzdem hat er gespürt, wie sehr er mir dabei geholfen hat, mich nicht zu verlieren. Er ist von seinem in mein Zimmer übersiedelt und hat mich beschützt, weil ich selbst zu schwach dafür war. Von da an waren wir ein Team, wobei ich ihn immer mehr gebraucht habe als er mich.

Seit ich denken kann, waren er, mein zweiter Bruder Mason und unser Nachbar Chase die einzigen Freunde, die ich hatte. Als Mason und Chase vor zwei Jahren nach Vancouver gegangen sind und mir klar wurde, wie wichtig es für Sander war, ihnen zu folgen, habe ich mich zurückgezogen. Er hat gedacht, es ginge mir besser und die Therapien würden endlich greifen, dabei habe ich einfach Stein für Stein eine Mauer um mich herum aufgebaut und ihn ausgeschlossen. Mich eingesperrt, um ihn zu befreien.

Ich schüttle meine ewigen Gedankenkreise ab und packe die beiden Kleiderstapel vom Bett in den großen Koffer. Das Letzte, was ich morgen einpacken muss, ist mein alter Kuschelhase. Er will mich daran erinnern, dass das Leben anders sein kann. Dass es anders war: unkompliziert, wundervoll, furchtlos. Mit fantastischen Überraschungen. Frei von Ängsten und Flashbacks, die mir das Leben eines Teenagers verwehren und mir Nacht für Nacht die Kehle zuschnüren. In seiner kleinen Latzhose birgt der gehäkelte Hase ein Geheimnis.

Der abgegriffene Zettel hilft mir, mich an den Zielen für eine sichere Zukunft festzuhalten. Es ist eine Löffelliste für das Leben, nicht für den Tod. Deswegen habe ich aus ihr eine Gabelliste gemacht und die Dinge notiert, die mich in der Spur halten sollen. Alles, was ich mir wünsche, ist Normalität. Ich will sämtliche Abenteuer aufgabeln, die ein Studierendenleben bereithält.

Einen Notfallplan für meinen Neuanfang habe ich nicht.

Das schrille Hupen eines Autos lässt mich erschrocken zusammenfahren und ich stürme zum Fenster. Sanders blauer Jeep biegt in unsere Auffahrt ein und mein Schock weicht schnell einer unbändigen Euphorie.

»Aus dem Weg«, rufe ich, als ich die Treppen hinunterrenne und Dad gerade die Haustür öffnet. Er hebt ergeben die Hände und tritt schnell zur Seite, um mir Platz zu machen. Ich schlüpfe in die erstbesten Schuhe und springe über den Holzabsatz am Eingang.

Sander steht bereits in der offenen Autotür und beginnt zu lächeln, als er mich kommen sieht. Seine braunen Haare sind zerzaust und er sieht müde aus. Ich kann kaum glauben, dass er das schwarze Shirt mit dem aufgedruckten Vampirgebiss anhat, das ich ihm letztes Weihnachten geschenkt habe und von dem ich bei Gott nicht angenommen habe, dass er es irgendwann tragen würde. Es sollte lediglich eine Erinnerung an unsere Vampire-Diaries-Marathon-Nächte sein.

Der Weg über den Kies in den offensichtlich viel zu großen Gartenschlappen von Dad wird zu einer echten Herausforderung, weil mir die kleinen Steine in die Schuhe rutschen und bei jedem Auftreten in die Haut bohren. Schon nach wenigen Schritten humple und hüpfe ich mehr, als ich laufe, halte aber tapfer durch. Mit einer Mischung aus Lachen und Jammern falle ich meinem Bruder in die Arme, der mich hochhebt und an sich drückt.

»Sander«, begrüße ich ihn außer Atem und erwidere die Umarmung. Sein vertrauter Geruch hüllt mich in Geborgenheit.

»Hey, Luca«, sagt er und lacht leise. »Genau auf diese Begrüßung habe ich mich gefreut.«

»Bist du deswegen schon so früh losgefahren?«

Er lässt mich wieder runter und ich muss meinen Kopf heben, um ihm ins Gesicht schauen zu können. Lange Zeit waren wir gleich groß und ich konnte seine Shirts tragen, weil unverwundbare Superhelden das waren, was ich gebraucht habe. Mittlerweile überragt er mich um mehr als einen Kopf und Shirts mit Superhelden hat er keine mehr. Nur solche mit Vampirgebissen.

»Nein, definitiv einzig und allein wegen der vielen Schokolade, die du mir jetzt schuldest.«

Ich versuche, mein Gewicht so zu verlagern, dass mich keine Kiesel in den Schuhen piksen. Amüsiert verschränkt er die Arme vor der Brust. »Aber für deinen kleinen Slalomlauf eben würde ich jederzeit wieder auf Schlaf verzichten.«

»Sehr witzig«, antworte ich und schlurfe neben Sander auf unser Haus zu. Er legt den Arm um meine Schultern und drückt mich noch einmal an sich und ich verspüre nichts als Freude und Erleichterung darüber, dass mein Bruder wieder an meiner Seite ist.

Einen Wimpernschlag lang erlaube ich mir die Hoffnung, dass von jetzt an alles gut wird. Mein neues Leben, das endlich starten kann. Ich bin bereit für Vancouver.

***

Brayden

Für diesen einen unwirklichen Moment in meinem Traum ist es Josie. Es ist Josies Kopf, der sich im ersten Morgengrauen durch meine Atmung sachte auf und ab bewegt. Ihr warmer Rücken schmiegt sich perfekt in meinen Arm und Josie wärmt ihre kalten Zehen irgendwo zwischen meinen Beinen. Ich wünsche mir nichts außer mein Mädchen hier bei mir. Aber je klarer meine Gedanken werden, desto schneller verliere ich sie.

Ein tiefer Atemzug und ich werde wacher. Es ist nicht Josies Duft nach Honig, der mich umgibt. Nicht Josies Haar, das mich im Gesicht kitzelt. Und nicht ihr Körper, der in den letzten Stunden mit meinem eins wurde.

Denn Josephine ist weg.

Mit der Erkenntnis kommt das Erwachen, und ich fahre hoch. Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, schiebe ich das falsche Mädchen an meiner Seite von mir weg, und sie schläft seufzend weiter. Mein Schädel pocht und der herbe Geschmack von Bier auf meiner Zunge erinnert mich an den gestrigen Abend im Jardins, der im Bett dieser Blondine ein Ende fand. Das Licht der Straßenlaternen vor dem Gebäude erhellt das Studierendenzimmer genug, dass ich mich orientieren kann. Ich bin nackt. Logisch bin ich nackt.

Verdammt.

Hektisch springe ich auf und taste am Boden zwischen den Kleidungsstücken nach meiner Jeans. Sie kann nur hier sein, das weiß ich. Trotzdem muss ich mich augenblicklich davon überzeugen, dass ich das Letzte, was mir von Josie geblieben ist, nicht verloren habe. Ich reiße die Jeans panisch an mich und versuche, eine Hosentasche zu finden. Mein Herz hämmert alarmiert in meiner Brust. Dann, endlich, ertaste ich den Ring und stolpere erleichtert rückwärts, bis ich gegen das Bett stoße.

Hinter mir raschelt die Bettdecke. »Gehst du etwa schon, Brayden?«

»Ja«, sage ich mit belegter Stimme, ohne mich zu dem Mädchen umzudrehen.

Natürlich gehe ich. Ich bleibe nie.

Es ist noch fast ganz dunkel. Die kalte Luft der frühen Morgenstunden schlägt mir wenige Minuten später ins Gesicht und lässt den Restalkohol in mir aufleben. Speichel sammelt sich unter meiner Zunge und mein Magen zieht sich ruckartig zusammen. Ein Baum am Wegrand stützt mich, als ich mich zielsicher in einen Busch übergebe. Nicht nur vom Alkohol. Wie nach jedem One-Night-Stand bin ich angeekelt von mir selbst. Ich hasse diese Bedeutungslosigkeit. Ich hasse sie. Und brauche sie.

Nachdem das Würgen ein Ende findet, wische ich mir mit dem Ärmel über den Mund. Wieder greife ich nach Josies Ring in meiner Tasche und schließe die Augen.

Ich lasse mir auf dem Nachhauseweg Zeit, niemand wartet auf mich. Mein Mitbewohner und ich frühstücken jeden Tag gemeinsam, aber er ist über das Wochenende ausgeflogen und ich habe die Wohneinheit für mich alleine.

Schon nach wenigen Häuserreihen sehe ich unser Wohnheim. In dem grauen Neubau teilen Sander und ich uns seit unserem Studienbeginn letztes Jahr die Küche, ein Gemeinschaftszimmer und das Bad. Aus einer WG ist eine Freundschaft geworden, was nicht zuletzt daran liegt, dass wir beide Sportmanagement studieren und mit den Vancouver Black Panthers denselben Traum verfolgen.

Die doppelte Glastür steht offen und ich nehme den Aufzug nach oben, für die Treppen bin ich eindeutig zu müde. Das grelle Licht im Fahrstuhl schickt Blitze durch meinen vernebelten Kopf und beinahe blind muss ich, im dritten Stockwerk angekommen, den Türrahmen nach meinem Schlüssel abtasten. Nicht das einfallsreichste Versteck, ich weiß.

Kaum schließe ich die Wohnungstür hinter mir, sticht mir der Geruch von kaltem Zigarettenrauch und verschüttetem Alkohol in die Nase, der aus dem Jardins an mir haftet. Erst nach einer Dusche gehe ich auf mein Zimmer, öffne den Kleiderschrank und halte inne.

Nur ganz kurz. Ich werde sie nur ganz kurz zu mir zurückholen.

Unter dem Stapel meiner Eishockey-Pullover ziehe ich das alte Foto hervor. Josies kurze dunkelblonde Haare stehen wirr von ihrem Kopf ab und ihre Wangen sind gerötet. Mit ihrem leicht einseitigen Lächeln sieht sie mich an, während ich das Foto von uns mache. Wir lagen stundenlang im Garten auf einer Decke und fantasierten darüber, wo wir in uns in zehn Jahren sahen. Eine Idee jagte die andere und nur eines hatten alle Vorstellungen gemeinsam: Wir waren zusammen. Aber das ist vorbei, die Zukunftsschmiede hat sich nicht rentiert.

Der Draht um mein Leben schneidet immer enger, und langsam, mit aller Kraft, die ich aufbringen kann, schiebe ich das Foto zurück an seinen Platz. Ich brauche keine gerahmten Bilder an den Wänden, die mich ständig an sie erinnern. Auch so werde ich mit Erinnerungen an Josie überflutet, sobald ich meine Augen schließe. Ihre Brauen, die sie leicht nach oben zieht, wenn sie sich freut. Ihre Finger verwoben mit meinen, wenn wir gemeinsam einschlafen.

Mit ihrem Ring in der Hand lasse ich mich auf mein Bett fallen und warte geduldig, bis mein Zimmer aufhört, sich zu drehen. Ihr siebzehnter Geburtstag war unser letzter. Für den Ring habe ich all mein Erspartes zusammengekratzt, und dann durfte sie ihn nicht einmal behalten.

»Kein Schmuck in Gräbern«, hat der Bestatter trocken gesagt.

Meine Faust brennt, so fest schließe ich meine Finger um den Ring.

Ich muss das lassen. Nicht die Bettgeschichten. Nein, mit dem Alkohol muss ich aufhören. Der verträgt sich nicht mit dem Schmerz meiner Vergangenheit.

Kapitel 2

Luca

Alles sieht gleich aus und der Campus wirkt wie ein Ameisenhaufen, den man am liebsten von oben bestaunen möchte. Mit leicht gesenktem Kopf versuche ich, den schwirrenden Trubel um mich herum auszublenden, und konzentriere mich nur auf Sander vor mir, der mir zielsicher den Weg von der zentralen Verwaltung zu meinem Wohnheim zeigt. Er hat es sich nicht nehmen lassen, mich einmal beinahe quer über den Campus zu führen, anstatt die Strecke mit dem Auto zu fahren.

»Wenn du zwischen dem dunkelroten und dem gelben Haus da drüben durchgehst«, erklärt er geduldig und wartet, bis ich neben ihm stehen bleibe, »kommst du direkt zum Sportareal. Diese Abkürzung spart dir Minuten um den ganzen Häuserblock. Wann hast du dein erstes Training?«

»Morgen, aber erst am Dienstag bin ich für den medizinischen Check eingeteilt, und am Mittwoch beginnt die Leistungsbeurteilung mit der konkreten Trainingsplanung«, hasple ich mehr, als dass ich es sage.

Mein Mund ist immer noch staubtrocken und ich klammere mich an den Studierendenausweis in meiner Jackentasche, den ich bei der Einschreibung eben bekommen habe. So viel wie möglich hatte ich bereits online erledigt, trotzdem haben mich die wenigen Unterschriften an meine Grenzen gebracht. Unterhaltungen mit fremden Menschen verunsichern mich, selbst wenn es nur für Papierkram ist.

Sander muss meine Nervosität gespürt haben. Er hat mir mehrmals angeboten, mich in das Verwaltungsgebäude zu begleiten, aber ich habe dankend abgelehnt. Und ich habe es geschafft. Ohne ihn. Mit einem Schweißausbruch und zitternden Händen, aber immerhin. Den Beweis dafür halte ich jetzt in meiner Hand, eingeschweißt in einer matten Plastikfolie.

Aus den Augenwinkeln erkenne ich, wie Sander mich beobachtet. »Soll ich mitkommen?« Seine Stimme wird ruhiger. »Zu den medizinischen Checks, meine ich. Ich weiß doch, wie ungern du …«

»Nein danke«, prescht es aus mir hervor. Als hätte ich darauf gewartet, ein weiteres Hilfsangebot von ihm abzulehnen. Was ich auch habe, da mache ich mir nichts vor. Ich will nicht mehr von seiner Zeit beanspruchen als unbedingt notwendig. »Das ist lieb von dir, Sander. Aber die Zeiten, in denen du im Wartezimmer am Handy Tetris spielen musstest, sind vorbei.« Ich schiebe ein bemüht echt aussehendes Lächeln hinterher.

»Ich liebe Tetris.«

»Und ich liebe meine Privatsphäre.«

»Privatsphäre?« Er zieht einen Schmollmund und legt eine Hand auf seine Brust. »Das tut weh.«

Mir noch mehr als dir, denke ich, und erwidere seinen Schmollmund.

»Privatsphäre schließt aber keine Serien-Marathon-Nächte aus, oder?«

Ich schüttle den Kopf. Gemeinsame Abende mit Sander oder den anderen beiden Jungs waren meine einzige Abwechslung. Die meiste Zeit habe ich alleine verbracht und wenn ich nicht gelaufen bin, habe ich gelesen. Als Kind habe ich mir noch selbst laut aus Märchenbüchern vorgelesen, später habe ich mir Abenteuerromane aus der kleinen Bücherei in Northwood geliehen. Mrs Willburry rief jedes Mal bei uns zu Hause an, wenn sie ein neues Buch für mich hatte.

»Wie sieht es mit gemeinsamem Kochen aus?«

»Nein?«

Seine Augen leuchten auf. »Oder dass du dir als meine ganz persönliche Cheerleaderin ein Hockeyspiel ansiehst?«

Ich schlucke gegen den Widerstand an, den der Gedanke an vollgestopfte Zuschauerränge in mir heraufbeschwört. Dann erkenne ich die Bitte in seinem Gesicht und ein schlechtes Gewissen mischt sich zu meiner instinktiven Gegenwehr, die ich so gerne beherrschen möchte. Nicht nur, weil neue Erfahrungen ein Punkt auf meiner Gabelliste sind.

»Natürlich will ich dich spielen sehen«, setze ich an. Sander verengt die Augen, als er sieht, wie meine Finger das Haarband um mein Handgelenk suchen. Unauffällig ziehe ich die Hand zurück. »Ich wollte es ja, letztes Jahr, das weißt du, …«

Er streift mir über den Oberarm und unterbricht damit meinen lächerlichen Versuch einer Entschuldigung. »Alles gut, Luca. Sag mir einfach, wann ich dir eine Karte besorgen soll, ja? Es muss nicht jetzt sofort sein. Oder nächsten Monat. Mir reicht ein Irgendwann.«

Ein erleichtertes Lächeln ist meine einzige Antwort. Erbärmlich. Nicht einmal ein Hockeyspiel kann ich mir geben. Und kein Minihauch der Stärke, die ich zeigen wollte, ist zu erkennen.

Früher hätte ich Sander meine Angst erklärt. Und er hätte mir keinen jämmerlichen Trostpreis anbieten müssen, sondern mich in den Arm genommen und mir versprochen, Dad würde das Spiel für mich aufzeichnen.

»Also gut«, sagt er und setzt sich in Bewegung, »die neueren Wohnheime wie die unseren sind da die Straße runter.« Weder seine lockere Körperhaltung noch seine ausgelassene Stimmfarbe lassen erkennen, ob er den Kampf in mir durchschaut hat. Also straffe ich meine Schultern, folge ihm und versuche, den Campus auf mich wirken zu lassen.

Die bunten Reihen aus Backsteinhäusern erinnern mich mehr an die Bilder aus dem Fernsehen von Gastown, der Altstadt von Vancouver, und weniger an ein Universitätsgelände. Die hohen Messinglaternen geben dem Ganzen einen altertümlichen Touch und ich freue mich schon darauf zu sehen, wie das alles hier im Dunkeln wirkt.

Der Gehweg aus unebenen Pflastersteinen wird von knorpeligen Bäumen mit unglaublich dicken Stämmen eingerahmt. Ich strecke meine Hand aus, um ihre ungewöhnliche Rinde zu berühren, und zucke ehrfürchtig zurück, als mir bewusst wird, wie alt sie sein müssen. Die Pflastersteine laufen vor uns im Asphalt aus und die Wege verschwinden zwischen den viereckigen betonfarbenen Neubauten.

»Was für ein Unterscheid«, stoße ich hervor und Sander bleibt stehen.

»Das hab ich mir letztes Jahr auch gedacht. Zuerst ein Blick in die Vergangenheit von Vancouver«, er zeigt zurück zu den bunten Backsteinhäusern, »und dann ein Zeitsprung in die schlichte Bauweise der Gegenwart. Dafür ist der Pacific Spirit Regional Park gleich hinter den Neubauten.« Ich folge Sanders Wink die Straße hinunter und kann in der Ferne die ersten dunkelgrünen Baumwipfel erkennen.

Ich lächle, dieses Mal ehrlich und aus Freude.

Er erwidert mein Lächeln. »Dein Wohnheim ist fast ganz vorne am Park. Ich wohne in die entgegengesetzte Richtung. Mason und Chase auch, was aber kein Grund sein wird, dich nicht jeden Tag zu besuchen.«

Ich stöhne gespielt auf. »Dein Ernst?«

Sander grinst. »Natürlich. Irgendwer muss deine geheimen Schokoladenvorräte plündern und deinen Kühlschrank leeressen.«

Das bringt mich zum Schmunzeln. »Erstens kommt es nie so weit, dass sich die Schokolade zu einem Vorrat anhäufen könnte, und zweitens ist das nicht nur mein Kühlschrank.«

»Ach, Aley wird das nicht stören.«

»Aley?«, frage ich verwundert.

Jetzt ist es Sander, der schmunzelt. »Aley ist deine Mitbewohnerin. Chase und ich haben uns vor dem Trainingslager dein Zimmer angeschaut, um zu sehen, was an Möbeln noch fehlt. Die Wohnraumverwaltung wollte uns die Schlüssel nicht geben, da haben wir auf gut Glück geklopft und sie hat uns reingelassen.« Er zuckt mit den Schultern. »Aley ist freundlich und hilfsbereit, aber nicht aufdringlich. Ich kann mir vorstellen, dass ihr euch verstehen werdet.«

Der Gedanke, bald auf eine Fremde zu treffen, mit der ich mir ab jetzt das Badezimmer teilen muss, lässt mich tief einatmen. Dabei ist das Bad grundsätzlich mein kleinstes Problem.

Sander lacht los, als könnte er meine Gedanken lesen, und legt mir den Arm um die Schultern.

»So schlimm ist das Leben in einer Wohngemeinschaft nicht, glaub mir.«

»Muss ich wohl«, antworte ich und versuche, mich nicht in die Vorstellung reinzusteigern, wie ich meine Zimmertür verbarrikadiere, um meine Ruhe zu haben.

Wir überqueren die Straße. »Und wenn es doch schlimm wird, bekommen wir das auch geregelt.«

Ich höre, wie er das Wir betont. Und anstatt mich darüber zu freuen, wird das Wir innerlich zu einem Ich. Dann bekomme ich das hin. Weil ich es muss. Alleine. Irgendwie.

»Ist das Chase da vorne?«, frage ich und zeige mit zusammengekniffenen Augen auf den fluchenden Mann, der gerade einen Schreibtisch durch die Eingangstür des Wohnheimes bugsiert, in das ich einziehen soll.

Sander bleibt stehen und fährt sich durch die dunklen Haare. »Ich dachte, das hätte er schon längst erledigt.«

Die schwere Glastür des hellgrau gestrichenen Gebäudes fällt langsam zu und klemmt den Tisch samt Chase ein, der unbeholfen versucht, die Tür mit seinem ausgestreckten Bein aufzuhalten. Je näher wir kommen, desto auswegloser scheint seine Situation und ich muss unweigerlich daran denken, wie Chase zu meinem elften Geburtstag um Mitternacht an unser Fenster geklopft hat, weil er der Erste sein wollte, der mir gratuliert. Dabei hat er sich in Dads Efeu verfangen und Sander musste ihn von den Ranken losschneiden.

Jetzt bleibt er vor Chase stehen und verschränkt grinsend seine Arme.

»Dieses verdammte Scheißding«, schreit Chase und rüttelt an dem Tisch.

Ich remple Sander an und bedeute ihm, Chase zu helfen. Doch er geht lediglich einen Schritt auf Chase zu, der uns immer noch nicht bemerkt hat, und schmunzelt. Er genießt das. Und lässt sich Zeit. »Gib einfach Bescheid, wenn du Hilfe brauchst.«

Chase schreckt zusammen und dreht sich im Türstock so weit er kann zu uns um. »Was zum …«, setzt er an und sieht überrascht von Sander zu mir. Mir schenkt er ein breites Lächeln und schüttelt sich in einer jahrelang perfektionierten Bewegung die Haare aus der Stirn. »Hey, der Schreibtisch sollte eine Überraschung für dich sein.«

»Ist er auch«, antworte ich, gehe auf ihn zu und versuche, die nach innen schwingende Tür aufzudrücken. Ich kann sie gerade so weit bewegen, dass der Schreibtisch nicht mehr eingekeilt wird.

Chase nimmt stöhnend seinen Fuß herunter und Sander schiebt den Tisch mit einem Ruck über die Schwelle.

»Ist das wirklich der beste Schreibtisch, den du auftreiben konntest?«, schnaubt mein Bruder, geht in die Knie und rüttelt an einem abgeschlagenen Tischbein. »Ich meine, sieh ihn dir an. Dass er noch alle vier Beine hat, ist der einzige Pluspunkt.«

Chase verdreht die Augen. »Du warst in Northwood und unser DJ Maze ist diese Woche für Studioaufnahmen in Seattle und hat für die ersten Tage eine Freistellung vom Studium. Ich musste also unter all dem Gerümpel am Freshman Court einen Schreibtisch aussuchen, den ich allein hierherschleppen konnte.«

Ich bleibe leise in der Tür stehen und unterdrücke ein Lachen. Sander ist ein Perfektionist – wir alle wissen das und leiden ab und an darunter.

»Und wieso hast du nicht in der Hockeymannschaft gefragt, ob sie dir helfen?«

»Weil die Panthers ihren Kater auskurieren. Ich wünsche mir mehr Dankbarkeit von dir für eine seltene Antiquität wie diese, du Arsch. Abgesehen davon«, Chase drängt meinen Bruder zur Seite und präsentiert mir besagte Antiquität, »wie gefällt dir dein neuer Schreibtisch, Luca? Deine ist die einzige Meinung, die für mich zählt.«

Sander verdreht die Augen, aber ich beachte die beiden nicht weiter und begutachte den Tisch.

Unzählige Stunden der Arbeit haben ihre Spuren an dem Holz hinterlassen und ich versuche, den Schreibtisch als Ansporn zu sehen, ebenfalls meine Ziele zu erreichen. Auch wenn ich hauptsächlich mit Sprachaufzeichnungen beim Laufen lerne und der Tisch nicht mehr als eine Ablagefläche sein wird.

»Ich mag ihn. Er wirkt irgendwie …«

»Alt? Abgenutzt? Hinüber?« Sander rüttelt wieder an dem Tischbein.

»Nein, er ist – unperfekt.« Ich lasse die Fingerspitzen über die ausgefransten Unebenheiten und die eingedrückten Stellen auf der Oberfläche gleiten. Chase hat gut gewählt, der Tisch und ich passen perfekt zusammen. »Unperfekt fühlt sich gut an.«

»Das ist meine Luca«, sagt Chase und kommt einen Schritt auf mich zu, seine Arme geöffnet. Er bleibt stehen und wartet ab. Noch vor ein paar Jahren hatte eine Umarmung nichts Freundliches oder Wärmendes für mich und ich bin davor zurückgewichen. Jetzt lege ich meinen Kopf an Chase’ breite Brust und versuche, die Nähe zu genießen. Ich kann das.

Die starken Sportler-Arme schließen sich gefährlich fest um mich. Aus der Nähe wird Enge und ich atme scharf ein. Augenblicklich lockert Chase seine Berührung, und was bleibt, ist der Schemen eines Kusses an meiner Wange.

»Willkommen in Vancouver, hier bei uns, Luca. Ich bin stolz auf dich. Und jetzt geben wir erst recht nicht auf, verstanden?«

»Tun wir nicht«, flüstere ich und wende meinen Blick ab. Sein Glaube an mich sollte mich stärken, und doch löst er die unweigerliche Angst in mir aus, sie alle zu enttäuschen. Chase, meine Brüder, meine Eltern. Mich.

Sander hält mir einen Schlüssel vor die Nase. »Zweiter Stock, Einheit 204, dir gebührt die Ehre.«

Mit dem Schlüssel kehrt meine Aufregung zurück und auf wackeligen Beinen gehe ich an Sander vorbei zum Treppenaufgang.

Für die beiden Muskelprotze ist es ein Leichtes, den Schreibtisch gemeinsam die Treppen bis in den zweiten Stock zu tragen. Ich finde die richtige Wohneinheit sofort und stecke den Schlüssel mit zittrigen Fingern ins Schloss. Unentschlossen lasse ich den Schlüssel los und will gerade anklopfen, als Chase hinter mich tritt. »Aley ist mir vorhin entgegengekommen, es ist also niemand da, der dir die Tür öffnen wird. Und das ist ebenso deine Wohnung, du brauchst nicht anzuklopfen.«

Ich schenke ihm ein schwaches Lächeln, atme wieder tief durch und drehe den Schlüssel.

Sofort hüllt mich der Duft von Vanille ein und mein Blick fällt auf das bunte Gemälde vor der kleinen Essgruppe, die den Wohnraum von der Küchenzeile trennt.

Sander und Chase tragen den Schreibtisch an mir vorbei und steuern die Tür neben der Küchenzeile an – auf der ein Holzschild mit meinem Namen hängt. Die Buchstaben sind passend zum dunklen Boden in Erdfarben gehalten, nur eine Blume mit bunten Blütenblättern schließt meinen Namen ab.

Sander erkennt meine Verwunderung und lächelt. »Aley studiert Kunst«, erklärt er und zeigt mit dem Kopf zur geschlossenen Tür. »Möbel werden ziemlich schwer, wenn man damit herumsteht und darauf wartet, dass die Hausherrin den Weg freigibt.«

»Tut mir leid«, sage ich und öffne die Tür zu meinem Zimmer, das viel heller und größer ist, als ich es mir vorgestellt habe. Die Jungs tragen den Schreibtisch herein und stellen ihn in der Mitte des Raumes ab.

Chase zeigt auf das schmale Bett, dessen weißer Rahmen zur Kommode und dem Kleiderschrank passt. »Wir können das Bett zum Fenster schieben. Dann hat diese besondere Antiquität an der Wand da drüben Platz und du siehst beim Schlafen sogar die Sterne.«

Ich lächle. Chase ist Masons bester Freund, seit ich denken kann, und kennt mich ebenso gut wie meine Brüder. Er weiß, wie sehr ich die Natur liebe. Und brauche.

Die beiden platzieren meinen neuen Tisch und während sie das Auto holen und das Gepäck herauftragen, sehe ich mich im Wohnraum um. Auf dem runden Esstisch entdecke ich eine kleine Nachricht.

»Willkommen. Schön, dass du da bist, Luca«, lese ich mir selbst leise vor und berühre den Schmetterling, den Aley mit schwarzem Stift darunter gemalt hat. Es sind nur diese wenigen Worte, die mir die Angst vor unserem ersten Treffen nehmen. Der Schmetterling symbolisiert für mich Leichtigkeit und Freude, und wenn das der Grundsatz unseres Zusammenlebens sein soll, bin ich mehr als glücklich.

Aleys Nachricht lege ich auf meinen neuen alten Schreibtisch und nehme mir vor, irgendwann eine Pinnwand für mein Zimmer zu besorgen. Es wäre unhöflich, sie einfach so wegzuschmeißen.

Eine halbe Stunde später haben Sander und Chase meine wenigen Taschen und Kartons um mein Bett herum abgestellt und ich packe die vorab besorgten Bücher aus. Sander versucht, sie nach der Größe zu stapeln, und Chase spielt auf seinem Handy herum, bis einer meiner absoluten Lieblingssongs ertönt.

Everybody von den Backstreet Boys haben wir im Baumhaus bestimmt an die tausend Mal gespielt und ich sehe immer noch die Bilder von lauen Sommerabenden, Glühwürmchen und Marshmallows vor mir, wenn ich ihn höre.

Chase legt sein Handy auf die Kommode und beginnt, zwischen den Kartons und Taschen zu tanzen. Als ich ihn erstaunt ansehe, zeigt er auf sein Shirt mit der Aufschrift ›Let’s dance, baby‹ und grinst mich auffordernd an. »Einstandsparty, würde ich sagen.«

Sander gibt mir einen leichten Schubs gegen die Schulter und ich muss einen Schritt Richtung imaginärer Tanzfläche machen. Etwas verhalten schaukle ich mich zum Refrain, als Sander johlend hinter mir hervorspringt und auf mein Bett hüpft, um den Mumientanz aus dem Musikvideo nachzuahmen. Ein Lachen bricht aus mir hervor und ich schaffe es endlich, der Anspannung nachzugeben und die Musik zu fühlen. Und mit der Musik kommt die Entspannung. Noch bevor die letzten Töne verklingen, tanzt Chase Richtung Kommode und spielt den Song erneut ab.

Mein zweiter Bruder Mason studiert hier in Vancouver Musikwissenschaften. Er feiert gerade seine ersten Erfolge als DJ und ist nur mehr selten zu Hause. Früher haben wir in unserem Keller oft gemeinsam zu seiner Musik getanzt und mir wird erst jetzt bewusst, wie sehr ich das vermisst habe. Erst nach vier Wiederholungen sinke ich lachend auf den Stuhl und Chase und Sander sehen zumindest annähernd verschwitzt aus.

»Keine Party ohne Essen. Wer kommt mit? Ich habe Hunger auf Curry«, sagt Chase und lehnt sich an meinen Türrahmen. Ich bin mir sicher, dass ein paar der Tattoos auf seinen Unterarmen neu sind. »Oder sollen wir uns was hierherholen, zur Feier unserer Wiedervereinigung?«

»Danke«, antworte ich und hebe die erste Tasche auf das Bett. »Kein Hunger. Aber ihr könnt ruhig essen gehen. Irgendwie muss ich das Chaos hier beseitigen.«

»Sicher?« Sander hebt eine andere Tasche auf mein Bett und sieht mich kritisch an. »Coach Walker hat für später ein Training eingeschoben und kein Mensch kann sagen, wie lange seine Extra-Einheiten dauern.«

»Ein Training, am Sonntag?«

Er greift nach seiner Jacke. »Das wird seine letzte Saison, die möchte er unbedingt erfolgreich abschließen. Und da müssen wir mitziehen. Wir können auch zum Italiener gehen, wenn dir das lieber ist.«

»Geht, ich komme klar«, erwidere ich in der Hoffnung, dass sie mir Zeit geben, die vielen Eindrücke sacken zu lassen. »Ich bekomme jetzt keinen Bissen hinunter.«

Mein Bruder legt den Kopf schief. »Wenn du später …«

»Gott, Sander, lass Luca doch erst mal ankommen. Sie wird sich am Campus kaum verlaufen, jeder verdammte Weg ist ausgeschildert.« Chase stößt sich vom Türrahmen ab und flüstert. »Und wenn du dich doch verläufst, ruf mich an, und er hier wird es nie erfahren.« Er packt Sander an der Schulter und zieht ihn in Richtung Tür. »Sag ›Bis später, Luca.‹«

Dieser stolpert hinter Chase her und winkt mir zu. »Bis später, Luca.«

Ich warte, bis die Wohnungstür ins Schloss fällt und sinke auf mein neues Bett.

Alleine. Zum ersten Mal. In meinem eigenen Zimmer.

Im Moment bin ich mir nicht sicher, ob ich mich freue oder Angst habe. Vermutlich beides. Und das ist in Ordnung, solange die Furcht nicht die Oberhand gewinnt und mich die Kontrolle verlieren lässt.

Das Erste, was ich aus meiner Tasche nehme, ist das Foto von Sander und mir vom letzten Sommer. Der Bilderrahmen war sein Abschiedsgeschenk für mich, ich habe ihn auf unserem Bett gefunden, nachdem er nach Vancouver aufgebrochen ist. Der Rahmen hat die gleiche dunkle Farbe wie mein neuer Schreibtisch und zusammen sehen die beiden wirklich hübsch aus.

Unschlüssig, wie ich die Kleidung im Schrank einordnen soll, lege ich die Stapel aufs Bett. Die ersten beiden Taschen sind leer und mein Blick fällt auf das Fenster. Ich ziehe den weißen Vorhang zur Seite und freue mich über den Ahornbaum, dessen Äste beinahe das Glas erreichen. Ein klein bisschen Northwood hier zu haben, tut gut.

Das unverkennbare Klicken des Türschlosses durchbricht die Stille und schickt Stromschläge durch meinen Körper. Bevor sich meine Nerven beruhigen können, steht ein Mädchen mit blondem Pferdeschwanz in meiner Tür.

»Ich hab gerade Sander und Chase weggehen sehen und dachte mir, du könntest frischen Kaffee vertragen«, sagt sie und hält einen Becher in die Höhe. Ihr Lächeln spiegelt meine Nervosität wider. »Hi, ich bin Aley.«

Ich lächle zurück und räuspere mich. »Kaffee klingt gut.«

»Darf ich?«, fragt meine Mitbewohnerin und zeigt in mein Zimmer. An ihrem Handgelenk klimpern dünne Silberreifen.

»Natürlich. Entschuldige«, antworte ich schnell und bedeute ihr, einzutreten. »Ich wollte nicht unhöflich sein.«

Aley schüttelt den Kopf. »Alles gut. Und ich will dich nicht überrumpeln. Eigentlich übernachte ich heute bei meiner Mom und war schon fast auf dem Weg zu ihr, aber es hätte sich komisch angefühlt, dir nicht zumindest Hallo zu sagen. Und dich willkommen zu heißen.«

Sofort spüre ich Erleichterung, weil sie diese Nacht nicht hier verbringt. »Danke«, sage ich. Und meine das wirklich ehrlich. Sie hat mir eine Nachricht geschrieben und ist vorbeigekommen, um mir Hallo zu sagen. In Northwood kenne ich niemanden, der sich diese Mühe für mich gemacht hätte. »Und danke für deine Begrüßung.« Ich zeige auf ihren Zettel auf dem Schreibtisch.

Aley schaut zum Tisch und wieder zu mir. »Team Damon oder Team Stefan?«

Ich runzle die Stirn. »Wie bitte?«

Sie zeigt auf meine Büchersammlung von Vampire Diaries auf meinem Schreibtisch. »Stefan oder Damon?«

Ich ziehe entschuldigend die Schultern nach oben. »Damon?«

»Das war die richtige Antwort.« Sie grinst. »Denn egal, was wir bei unseren Filmeabenden schauen – es ist wichtig, dass wir auf derselben Seite kämpfen.«

Ich habe noch nie mit jemandem außer den Jungs Serien angeschaut, aber die Aussicht auf Zeit vor dem Fernseher mit Aley lässt mich lächeln. »Dann haben wir die wichtigen Dinge schon mal geklärt.«

Aley nickt und ihr blonder Pferdeschwanz wippt dabei leicht auf und ab. »So ist es. Und wenn du Hilfe beim Einsortieren deiner Kleidung brauchst, warte damit auf mich. Wir finden in den nächsten Tagen bestimmt Zeit dafür, ich kenne ein paar echt gute Ordnungshacks.« Sie verstummt so abrupt, dass ich mir nicht sicher bin, ob das wirklich alles ist, was sie sagen will.

»Wenn du all das hier«, sage ich, als die kurze Pause unangenehm wird, und zeige auf die kleinen und großen Kleiderstapel, »in diesen Schrank hier so einordnen kannst, dass ich es wiederfinde, hast du etwas gut bei mir.«

Aley macht eine wegwerfende Handbewegung, wieder klimpern ihre Silberreifen. »Das schaffe ich mit Leichtigkeit.« Sie reicht mir den Kaffeebecher. »An der Pinnwand in der Küche hängt meine Nummer, wenn du irgendetwas brauchst. Vielleicht sehe ich dich morgen ja am Campus.«

Ich nippe an meinem Getränk. »Danke. Für den Kaffee. Und das Türschild. Und die Nachricht. Und die Hilfe.«

Aley lacht auf. »Ich bin einfach nur froh, eine Mitbewohnerin zu haben, die mich nicht vom ersten Moment an ignoriert und mir verbietet, sie anzusprechen.«

Verwirrt runzle ich meine Stirn.

»Nicht so wichtig«, meint Aley und verabschiedet sich von mir.

Mit meinem Becher in der Hand lehne ich mich an meinem neuen Lieblingsschreibtisch an, atme tief durch und seufze zufrieden. Das hier könnte wirklich funktionieren.

Ich habe die richtige Entscheidung getroffen.

***

Brayden

Die gleichmäßigen Schläge haben den Takt meiner Gedanken übernommen. Jedes Mal, wenn meine Fäuste den Punchingball abwechselnd mit voller Wucht treffen, fährt mir der Schmerz über meine Arme und Schultern direkt in den Schädel. Meine Beine stemmen sich in den Boden. Nur so halte ich die Körperspannung aufrecht, die mir Treffer um Treffer verloren zu gehen droht. Ich weiß nicht, wie oft ich mir in die Wangen gebissen habe. Die bleischweren Arme und der Geschmack von Blut vertreiben meine Erinnerungen jedenfalls nicht.

Ein bestialischer Laut erfüllt den leeren Kraftraum, als ich mich den Grenzen meines Körpers endlich ergebe. Und sich die Erinnerungen wieder zurück in mein Herz drängen.

Verloren taumle ich zur Bank und lehne mich mit dem Kopf gegen die kalte Wand. Schweiß läuft von meinem Gesicht und vermischt sich mit den wenigen Tränen, die mir geblieben sind.

Ich vermisse dich so sehr.

Meine nasse Haut trocknet ebenso schnell, wie sich meine Gedanken sortieren.

Der Refrain von Who Let the Dogs Out durchbricht diesen seltenen Moment der Ruhe in mir und ich hole mein Telefon aus dem Sportrucksack und hebe ab.

»Sander«, sage ich atemlos zur Begrüßung.

»Bro, wo steckst du?« Ich verstehe ihn kaum, so leise spricht er.

»Warum?«

»Zusatztraining mit dem Head Coach in zehn Minuten.«

Fuck. Ich darf nicht zu spät kommen. Nicht schon wieder. »Ich bin sofort da.«

»Mach schnell, Mann. Ich weiß nicht, wie lange ich dich noch decken kann.«

»Bis gleich«, beende ich das Telefonat. Ich warte nicht, bis Sander sich verabschiedet hat, sondern stecke das Telefon zurück in die Seitentasche und schultere meinen Rucksack.

Panik jagt durch meine Adern und lässt mich über das Gelände spurten. Zweimal remple ich Studierende an, die mir im Gedränge nicht schnell genug ausweichen können. Ich bleibe nicht stehen, um mich zu entschuldigen. Eine erhobene Hand muss reichen, immerhin trage ich das Shirt der Vancouver Black Panthers.

Die silberweiße Kuppel der Eishalle ist endlich in Sichtweite und erleichtert werde ich langsamer. Meine Seiten stechen bei jedem Atemzug und ich habe keine Ahnung, wie ich mit den zitternden Händen gleich meine Hockeyschuhe schnüren soll.

Gequält komme ich meinem Ziel näher. Schritt für Schritt. Da sehe ich sie.

Ich. Sehe. Sie.

Kapitel 3

Brayden

Es sind ihre kurzen Haare. Es ist ihr emporgerecktes Kinn. Es ist ihre gerade Haltung. Es ist die Stärke ihres Seins.

Josie.

Meine Josie.

Das Einzige, was uns trennt, ist die Laufbahn der Leichtathleten. Alle meine Sinne richten sich sofort auf sie aus und für einen Augenblick gibt es nur uns.

Meine Finger krallen sich in den Maschendrahtzaun, vergeblich suche ich nach meiner Stimme. Ich möchte sie rufen. Ihr zeigen, dass ich immer noch da bin. Mit den Augen beschwöre ich sie, einen Blick in meine Richtung zu werfen.

Und tatsächlich: Sie dreht sich um. Sie spürt mich und sucht nach mir.

Hier. Ich bin hier!

Meine Seele schreit nach ihr, doch sie hört mich nicht. Sie … läuft weg.

Wie sie das tut, irritiert mich.

Fremd.