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Die Sterne in unseren Händen Rina, Shane und Caden: Die drei verbindet eine jahrelange Freundschaft. Als Caden nach einem Sturm in seine Heimatstadt San Diego zurückkehrt, um beim Wiederaufbau der zerstörten Rettungsstation für Seehunde zu helfen, fällt Rina die Nähe zu ihm schwer. Stabil und vertraut – das ist sie mit Shane, denn sie sind inzwischen ein Paar. Intensiv und magnetisch, das fühlt sie plötzlich mit Caden. Aber verzichten kann sie auf keinen der beiden. Je tiefer die Gefühle werden, desto stärker muss sie sich der Frage stellen, ob Liebe wirklich so begrenzt ist … Lexis Able hat mein Herz im Sturm erobert.« – SPIEGEL-Bestseller-Autorin Kate Corell //Dies ist der zweite Band der emotional mitreißenden New Adult Romance »Westcoast Skies«. Alle Romane der fesselnden Reihe: -- Band 1: Wo sich Licht im Wasser bricht -- Band 2: Wo Wind und Wellen sich berühren Diese Reihe ist abgeschlossen.//
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ImpressDie Macht der Gefühle
Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.
Wer nach Geschichten zum Mitverlieben in den beliebten Genres Romantasy, Coming-of-Age oder New Adult Romance sucht, ist bei uns genau richtig. Mit viel Gefühl, bittersüßer Stimmung und starken Heldinnen entführen wir unsere Leser*innen in die grenzenlosen Weiten fesselnder Buchwelten.
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Lexis Able
Wo Wind und Wellen sich berühren
Die Sterne in unseren Händen
Rina, Shane und Caden: Die drei verbindet eine jahrelange Freundschaft. Als Caden nach einem Sturm in seine Heimatstadt San Diego zurückkehrt, um beim Wiederaufbau der zerstörten Rettungsstation für Seehunde zu helfen, fällt Rina die Nähe zu ihm schwer. Stabil und vertraut – das ist sie mit Shane, denn sie sind inzwischen ein Paar. Intensiv und magnetisch, das fühlt sie plötzlich mit Caden. Aber verzichten kann sie auf keinen der beiden. Je tiefer die Gefühle werden, desto stärker muss sie sich der Frage stellen, ob Liebe wirklich so begrenzt ist …
Wohin soll es gehen?
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Vorbemerkung
Playlist
Vita
© HERZLICHT FOTOGRAFIE VON RENATE NEURAUTER
Lexis Able wurde 1986 in Österreich geboren und wohnt mit ihrem Mann, ihren drei Kindern und einigen Vierbeinern in Tirol. Aufgewachsen ist sie zwischen Bergen und Büchern, am liebsten in Kombination. Aus dem Schreiben schöpft Lexis die Kraft für ihren Beruf als Sonderkindergartenpädagogin, ihr erstes Buch hat sie selbst im Alter von sechs Jahren geschrieben. Auf langen Bergläufen entwickelt sie ihre Geschichten, die sie nun endlich mit anderen teilen darf.
VORBEMERKUNG FÜR DIE LESER*INNEN
Liebe*r Leser*in,
dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte. Aus diesem Grund befindet sich hier eine Triggerwarnung. Am Romanende findest du eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler für den Roman enthält.
Entscheide bitte für dich selbst, ob du diese Warnung liest. Gehe während des Lesens achtsam mit dir um. Falls du während des Lesens auf Probleme stößt und/oder betroffen bist, bleib damit nicht allein. Wende dich an deine Familie, Freunde oder auch professionelle Hilfestellen.
Wir wünschen dir alles Gute und das bestmögliche Erlebnis beim Lesen dieser besonderen Geschichte.
Lexis und das Carlsen-Team
Für Rina, Shane und Caden.
Drei besondere Menschen in diesem Buch.
Für Larissa, Janina und Vroni.
Drei besondere Menschen in meinem Leben.
PLAYLIST
L-O-V-E – JOSEPH VINCENT
STAND BY ME (ACOUSTIC) – MATT JOHNSON
COASTLINE – HOLLOW COVES
TALKING TO THE MOON – BRUNO MARS
HEAD IN THE CLOUDS – HAYD
CAN’T HELP FALLING IN LOVE – JOSEPH VINCENT
PLAY PRETEND – ALEX SAMPSON
ALONE – SHANE BYRNES
MR BRIGHTSIDE (ACOUSTIC) – MATT JOHNSON
FALLE FÜR DICH – TOM TWERS
AND THEN SOME – ALEX SAMPSON
LIVING IN A HAZE – MILKY CHANCE
ONE CALL AWAY – CHARLIE PUTH
TRUSTFALL – PINK
WEIT WEG – WINCENT WEISS
ONE MORE LIGHT – LINKIN PARK
BELIEVER – IMAGE DRAGONS
NO MATTER WHAT – BOYZONE
MAKE YOU MINE – PUBLIC
DON’T LET ME GO – SEM EISINGER
LEAVE ME ALONE (I’M LONELY) – PINK
ICH WILL NUR – PHILIPP POISEL
PICK UP THE PHONE – HENRY MOODIE
PROLOG
CADEN
»Wo bist du so lange gewesen, Caden?« Rina macht die letzten Schritte durch den Sand auf mich zu und bleibt vor mir stehen. Der abendliche Wind fährt durch ihr Haar und wirbelt die rötlich schimmernden Locken auf.
»Ich habe hier auf dich gewartet«, gebe ich zurück und fange diese eine Haarsträhne, die ihr ins Gesicht fällt, mit meinen Fingern auf.
»Das wusste ich nicht.« Als Rina lächelt, erkenne ich den Schneidezahn, von dem seit unserem Skateboardunfall in der dritten Klasse ein kleines Stück fehlt. »Du hättest etwas sagen müssen.«
Ihr Haar ist samtig und weich, und ich beuge mich leicht nach vorne, weil ich mich nach ihrem Duft sehne, so lange schon. »Ich habe es dir gesagt.« Mein Herz klopft schneller. »Ich habe dir gesagt, dass ich auf dich warte.«
»Bist du dir sicher?«
Ein Keuchen entkommt mir. »Seit Jahren habe ich nichts anderes getan, Rina.« Als ich meine Hand an ihre Wange lege, spürt sie mit geschlossenen Augen meiner Berührung nach. »Nur gewartet. Auf dich.«
Mit beiden Händen fasse ich in ihr Haar und beuge mich tiefer zu ihr. Rina öffnet die Augen, die Sonne lässt die grünen Sprenkel darin leuchten. Sie lächelt, sobald mein nächster Atemzug ihre Haut streift.
»Rina. Endlich.« Die Erleichterung, die ich fühle, lässt mich glücklich lächeln.
In der Sekunde, bevor sich unsere Lippen berühren, blinzelt Rina plötzlich. Es wirkt fremd. Ein einzelner Wimpernschlag und sie schaut an mir vorbei. Unaufhaltsam gleitet mir dieser wundervolle Moment aus den Fingern wie feiner Sand.
Rina lächelt noch einmal, aber nicht für mich. Als sie an mir vorbeiläuft, weiß ich bereits, wer in meinem Rücken aufgetaucht ist. Trotzdem schaffe ich es nur langsam, mich umzudrehen. Mein bester Freund Shane winkt mir zu, bevor er Rina auffängt und an sich drückt. Dann küsst er sie.
Ein spitzer Schmerz treibt sich in mein Herz. Ich bin wie erstarrt und kann meinen Blick nicht losreißen, obwohl es so wehtut. Die beiden schauen wieder zu mir, nachdem Shane Rina abgesetzt hat. Er bedeutet mir, zu ihnen zu kommen, aber das schaffe ich nicht.
Weil ich zu lange gewartet habe.
»Dr. Delon?«
Mit einem tiefen Atemzug schrecke ich aus der Ohnmacht meines Schlafes hoch. Ich blinzle gegen das grelle Licht an und erkenne das Gesicht von Paula wieder.
Grob drückt sie mir die Wasserflasche vom Nachttisch in die Hand. »Ein Verkehrsunfall mit drei Schwerverletzten trifft in sieben Minuten ein, wir brauchen Sie – wenn möglich munter.«
Ehe ich der dienstältesten Pflegerin hier in der Notaufnahme antworten kann, ist sie aus dem Ruhezimmer verschwunden. Die Tür fällt nicht ganz ins Schloss, sodass die Geräusche von hastigen Schritten am Krankenhausflur zu mir dringen. Ein Blick auf die Ziffernuhr an der Wand zeigt, dass es kurz nach drei Uhr morgens ist. Eine Stunde, ich habe nicht einmal eine Stunde geschlafen.
Die Müdigkeit der letzten Tage und Wochen hat sich bis in meine Knochen geschlichen, weshalb ich es nur unter Anstrengung schaffe, mich aufzusetzen. Sofort kehren die wummernden Kopfschmerzen zurück und zwingen mich dazu, die Augen zuzukneifen. Rina und Shane sind immer noch da, so echt, als würden wir gemeinsam zu Hause am Strand stehen.
Nein, nicht gemeinsam. Sie beide als Paar. Ich allein.
Ruckartig stehe ich auf und versuche dem Bild der beiden zu entkommen. Mein Verstand hat längst kapiert, dass Rina jetzt noch unerreichbarer ist als in den letzten Jahren. Nicht weil ich hier in Phoenix bin und sie in San Diego. Sondern weil sie jetzt zu Shane gehört. Ich bin gegangen und das Schicksal hat entschieden. Nur muss mein Herz erst lernen, mit dieser Tatsache zu leben. Bis dahin vergrabe ich mich weiter in Arbeit.
Mit zitternden Fingern öffne ich die Wasserflasche und trinke sie in einem Zug halb leer, in der Hoffnung, die Flüssigkeit besänftigt meinen unruhigen Körper. Das rotierende Gefühl von Hektik in mir nimmt mit jedem Tag zu und ich bekomme es immer schwerer wieder unter Kontrolle.
Angespannt lege ich den Kopf in den Nacken und gebe mir ein paar wenige Atemzüge Zeit, um den ganzen Scheiß zu verdrängen, der mich allmählich wahnsinnig macht. Ich schüttle die Hände aus, ziehe mir den weißen Kittel an und stecke das Stethoskop in die Tasche. Die immer gleiche Routine hilft mir, mich zu konzentrieren. Als ich mir über das Gesicht reibe, bemerke ich den feinen Schweißfilm, der inzwischen ständig meine Haut überzieht. Ohne weiter darüber nachzudenken, greife ich in den Kittel und hole die orange Dose mit den Tabletten heraus. Mechanisch nehme ich zwei davon in den Mund und spüle sie hinunter.
Obwohl das Lorazepam noch keine Wirkung haben kann, kehrt augenblicklich Ruhe in mir ein. Der Herzschlag trampelt nicht mehr in der Brust und die Kopfschmerzen werden gedämpft. Ich hebe meine Hände und warte, bis auch das unbändige Zittern aufhört. Die hellen Stellen, die meine Ringe unter der Sonne von San Diego hinterlassen haben, wirken fremd und verblassen allmählich. Erst als ich meine Hände mit aller Kraft zur Faust balle, stoppen die unkontrollierten Bewegungen, doch das Kribbeln in den Fingern bleibt. Ich werde es kaum noch los.
Verdammt. Ich muss mich konzentrieren und meine Arbeit machen. Deswegen bin ich hier in Phoenix. Um Unfallchirurg zu werden und meinem Leben einen neuen Fokus zu geben.
Ich wische mir die feuchten Hände am Stoff des Mantels ab und ignoriere die matte Erschöpfung. Dann hole ich noch einmal tief Luft und trete aus dem Ruheraum. Es braucht lediglich das hektische Treiben der letzten Vorbereitungen in der Notaufnahme, damit sanfte Adrenalinwellen durch meinen Körper gleiten, die mich augenblicklich funktionieren lassen.
Mit schnellem Schritt gehe ich nach vorn zur Schaltstelle und checke, für welchen Traumaraum ich zugeteilt bin. An der Schleuse tausche ich meinen Kittel gegen Kopfbedeckung und Mundschutz, und der Geruch des Desinfektionsmittels versetzt mich unter Anspannung. Ich dachte, die Angst vor der Überforderung und vor Fehlern würde mit der Zeit abflachen und ich ruhiger werden, aber dem ist nicht so. Vielmehr steigert sich durch die wachsenden Erwartungen an mich selbst die Panik, zu versagen.
Noch einmal pumpe ich meine Fäuste auf und zu und ziehe mir dann die Handschuhe über. Das Vibrieren in meinen Fingern hat inzwischen ganz aufgehört, was gut so ist – ein Chirurg mit zitternden Fingern ist ein verfickt großes Problem.
Mit einem zuversichtlichen Lächeln im Gesicht, das nicht unechter sein könnte, trete ich durch die Schiebetür.
»Guten Morgen noch einmal«, sage ich laut und werde von meinem Team begrüßt, das den vorbereitenden Arbeitsabläufen folgt.
»Ich dachte schon, wir müssen Sie aus dem Schlaf wach küssen«, sagt Paula zu mir und blickt vom Monitor hoch. Sie zeigt auf den Oberarzt. »Dr. Gander hätte sich freiwillig gemeldet.«
Ich grinse. »Hätte ich das gewusst, wäre ich noch liegen geblieben.«
Dr. Gander zwinkert mir zu. »Das nächste Mal, Darling.«
Von meinem ersten Tag an hat mich der stellvertretende Leiter der Notaufnahme in sein Team integriert, als wäre ich nicht nur auf Praktikum hier, sondern bereits ein vollwertiger Mediziner. Er fordert mich, aber auf die gute Weise, und ich habe hier in den letzten zwei Monaten bereits mehr gelernt als in der Zeit auf der Unfallchirurgie in Kalifornien.
»Also gut.« Alle richten ihre Aufmerksamkeit auf Dr. Gander. »Wir wissen von drei Erwachsenen unter fünfundzwanzig Jahren, einer bei Bewusstsein, er kommt auf die Eins. Auf die Drei kommt der Patient mit dem Schädelbasisbruch, er hat das große Glück, dass unser Neurochirurg noch im Haus ist.« Dr. Gander sieht auf das Tablet, das ihm Paula hinhält. »Und wir Hübschen bekommen eine Dreiundzwanzigjährige mit unspezifischen Verletzungen im Bauchraum, offenem Trümmerbruch im Bein, Kreislauf aktuell stabil, aber hoher Blutverlust.«
In meinem Kopf greifen die antrainierten Muster und beginnen die möglichen Handlungsvariationen zu filtern, bis ich innerhalb weniger Sekunden ein Spektrum vor mir habe. Die Erfahrung mischt sich unter die Theorie und gibt mir Sicherheit, um auf das zu reagieren, was uns gleich erwartet.
»Zwei Minuten«, sagt Paula, ohne vom Tablet aufzublicken, und ich folge Dr. Gander in den Durchgang zur Anlieferung. Wir müssen dem Team ausweichen, das den ersten Verletzten entgegengenommen hat, und treten gerade hinaus ins Freie, als der nächste Rettungswagen hält. In der Sekunde, in der sich die Türen des Krankentransporters öffnen, betäubt das Adrenalin meine letzten Emotionen und ich bin da – hoch konzentriert und bereit, mit dem Team zu agieren, um die junge Frau zu retten.
Die Notärztin versorgt uns noch mit ihrer Anamnese, da sind wir schon zurück auf dem Weg in den Traumaraum, und ich habe den Sanitäter abgelöst, der bisher erfolglos versucht hat, die Blutung am Bein zu stoppen.
Gemeinsam heben wir die Patientin auf den Tisch und entfernen die letzten Kleidungsstücke. Ich weiß nicht, wer es ist, der mir hilft, die Wunde auszuspülen. Erste Knochensplitter leuchten weiß unter dem Licht der OP-Lampe, und während ich die Anweisungen von Dr. Gander verfolge, der bereits Informationen zur Computertomografie gibt, mache ich mir ein erstes Bild vom Wundverlauf.
Ohne Aufforderung reicht mir Paula den Spreizer, um die Wunde weiter zu öffnen. Ich muss wissen, woher das ganze Blut kommt, das mir, kaum abgetupft, sofort wieder die Sicht nimmt. Irgendjemand rückt mir die Lampe zurecht, da glaube ich, endlich zu erkennen, welches Gefäß der Knochen offensichtlich verletzt hat. Sehr gut. Das schaffe ich. Ich werde die Blutung stoppen, noch bevor es in den OP geht.
Schon während ich Dr. Gander das Prozedere erläutere und er es mit einem Nicken absegnet, höre ich bereits das Klappern und Klirren des Bestecks, das die Pfleger für mich vorbereiten.
Gerade als ich ansetzen will, das kaputte Gefäß freizulegen, wird das mobile CT in den Raum geschoben. So gut wie möglich komprimiere ich die Wunde und verlasse mit dem Personal den Raum.
Im angrenzenden Zimmer steht die Zeit still. Ich höre, was die anderen miteinander sprechen, und während sie erste Bilder deuten, beginne ich mich in der Vielzahl an Aufgaben zu verlieren und der Panik Platz zu machen. Meinem treibenden Herzschlag. Und der Angst. Mit einem ruckartigen Kopfschütteln befreie ich mich aus diesem Sog und bin der Erste, der durch die Tür tritt, als die Radiologietechnologin uns grünes Licht gibt.
Dr. Gander gibt dem Team weitere Anweisungen, während ich die Wunde wieder freilege. Ich werde diese Blutung stoppen, das weiß ich. In meinen Gedanken reihen sich die Optionen aneinander und ergeben einen klaren Ablauf davon, wie ich den Knochen anschließend in der Operation schiene, damit er gut zusammenwächst. Vielleicht gelingt es mir sogar, das Gewebe so zu verschließen, dass das großflächige Tattoo später wieder ein Ganzes ergibt.
»Ist der OP bereit?«, höre ich Dr. Gander und schaue hinauf zu den Monitoren. Auf den Bildern erkenne ich den Schatten einer Blutwolke, die sich bereits durch den gesamten Bauchraum zieht. Das sieht nicht gut aus, ich muss schnell sein.
Ich bin schnell.
Die Herzfrequenz der Patientin steigt. Sie verliert zu viel Blut, der Kreislauf wird instabil und die Zeit drückt.
»Dr. Delon?«
»Eine Minute«, antworte ich Dr. Gander und setze, ohne aufzublicken, die erste Klemme an. Knochenstücke versperren mir den Zugang zur zweiten Blutung, also ziehe ich an einem Splitter, der sich als größer erweist als vermutet. Blut spritzt heraus, aber ich lasse den genauen Punkt nicht aus den Augen, an dem ich die zweite Klemme ansetzen muss.
Ein Rucken geht durch den Körper vor mir und ich verliere für eine Sekunde die richtige Stelle. Der zweite Ruck lässt mich kurz in Richtung der Monitore blicken, deren Piepsen immer penetranter wird. Das Team im Hintergrund macht sich bereit, die Patientin in den OP zu schieben. Alle warten auf mich.
Ich will gerade nach der zweiten Klemme greifen, die mir hingehalten wird, da geht ein erneutes Beben durch die junge Frau. Nur aus dem Augenwinkel sehe ich die rötliche Locke, die sich unter den Tüchern hervorgekämpft hat und jetzt über den Rand des Tisches fällt. Sofort steht alles in mir still, während mein Herzschlag explodiert. Helle Sprenkel durchziehen mein Sichtfeld und eine Schlinge legt sich mir um den Hals.
Das kann nicht sein. Das ist sie nicht. Rina hat kein Tattoo auf dem Oberschenkel.
»Dr. Delon?«
Die Stimme von Dr. Gander kann mich nicht aus der Starre reißen. Erst eine Berührung an meinem Oberarm bringt mich dazu, wieder auf die Wunde zu schauen. Das Blut verschwimmt vor meinen Augen und das immer heftigere Piepsen versetzt mich in Panik.
Ich blinzle, nehme die Klemme entgegen und kämpfe gegen den Schwindel in mir an, der mich plötzlich schwanken lässt. Rina. Es könnte Rina sein. Ich habe sie schon einmal verloren.
Die Worte ergeben keinen Sinn, und doch lähmen sie plötzlich das Letzte, woran ich mich seit Wochen festhalte: mein Können.
Das Zittern meiner Hände bemerke ich erst, als mir die Klemme aus der Hand fällt. Es reicht nicht mehr aus, die Fäuste zu ballen, um es zu vertreiben. Die Leere in mir bleibt nicht länger verborgen.
Mein Blick hängt noch immer an der roten Locke, als Dr. Gander mich zur Seite geschoben und mit einem einzigen Griff die Klemme richtig gesetzt hat. Sie schieben die Patientin aus dem Raum und es wird still.
Der Einzige, der zurückbleibt, bin ich.
Ich schlucke. Ich habe versagt.
Schon wieder.
So stehe ich da, Atemzug für Atemzug. Ein kurzes hysterisches Lachen bricht aus mir hervor, weil ich tatsächlich geglaubt habe, ich könnte Rina einfach so hinter mir lassen. Wie mein altes Leben. Meine Familie. San Diego.
»Dr. Delon?« Paula ist durch die Schleuse getreten und ich habe es nicht einmal mitbekommen. »Sie müssen sich ausziehen.«
Ihre Stimme ist leise, zum ersten Mal, und brüllt mir damit ihr Mitleid entgegen. Ich bin erbärmlich, inkompetent.
Mechanisch ziehe ich die blutverschmierte Kleidung aus und wasche mich.
Obwohl ich auf dem Weg zu den Umkleiden niemandem begegne, spüre ich bei jedem meiner Schritte anklagende Blicke in meinem Rücken.
Phoenix war meine einzige Option. Seit ich beschlossen habe, die nächste Ausbildungsstufe hier anzutreten, hatte ich wieder ein Ziel vor Augen. Einen Lebensinhalt, der mich zumindest auf Zeit von dem Bewusstsein abgelenkt hat, dass ich Rina nie werde haben können und sie meine beste Freundin bleibt, für immer.
Ich habe gearbeitet, so viel wie möglich. Wenn der Schmerz zu laut wurde, habe ich noch mehr gearbeitet und wirklich gedacht, ich könnte der Liebe so entkommen. Dabei hat sich die Belastung längst abgezeichnet, ich war lediglich der naiven Meinung, ich hätte alles unter Kontrolle. Ich bin ein verdammter Idiot.
In der Umkleide mache ich das Licht aus. Gerade will ich mich einfach nur verkriechen und meine Wunden lecken, aber selbst die grüne Notbeleuchtung lässt erkennen, wie sehr meine Hände noch immer zittern.
Mit einem entkräfteten Keuchen lasse ich mich auf die Bank fallen und lege den Kopf in meine aufgestützten Arme. Die letzten Minuten ziehen Kreise in meinen Gedanken, betäuben mich weiter, aber immer noch nicht genug. Ich habe keine Ahnung, was zur Hölle ich jetzt machen soll.
Nur entfernt nehme ich das schwache Vibrieren wahr, das aus meinem Spind zu mir dringt und nicht verstummen will. Es ist gegen halb vier Uhr morgens – wenn es nicht Dr. Gander ist, der mich rausschmeißen will, wüsste ich nicht, wer mich um diese Nachtzeit anrufen sollte.
Ich brauche mehrere Versuche, bis ich es mit dem unkontrollierbaren Zucken meiner Finger schaffe, die richtige Zahlenkombination ins Schloss zu drehen, damit sich der Spind öffnen lässt. Das Handy vibriert immer noch, als ich es endlich in meinem Rucksack finde. Ein einziger Blick auf das Display reicht und ich muss mich wieder setzen. Wir haben das Foto gemacht, als Rina ihre Lehrabschlussprüfung bestanden hatte. Shane und ich haben sie vom Friseursalon abgeholt und an den Strand gebracht. Dann haben wir gefeiert, die ganze Nacht lang bis zum Sonnenaufgang. Wir drei sehen glücklich aus.
In meiner Erinnerung finde ich keine einzige Situation, in der ich gezögert habe, einen Anruf von Rina entgegenzunehmen. Nicht bis zu dem Zeitpunkt, als ich sie zurückgelassen habe. Jetzt gerade weiß ich nicht, ob ich heute noch mehr Enttäuschung und Schmerz ertrage.
Das Handy vibriert weiter, unaufhörlich. Es ist mitten in der Nacht. Meine Freundin braucht mich, da darf es keine Rolle spielen, wie ich mich fühle.
Ich streiche über das Display und halte mir das Telefon ans Ohr.
»Caden?«
Nur dieses eine verlorene Wort von ihr reicht aus und die Wogen in meinem Inneren türmen sich in einer schlimmen Vorahnung zu Wellenbergen auf.
»Rina? Geht es dir gut? Was ist passiert?«
»Hast du es nicht gehört?« Ihre Stimme wirkt heiser. Sie muss geweint haben. »Ein Sturm. Es hat einen Sturm gegeben.«
Angst beginnt in mir zu toben und Bilder blitzen vor meinem inneren Auge auf. Von Rina. Und Shane. Von meiner Familie.
Rina sagt irgendetwas, aber plötzliches Rauschen verschluckt ihre Worte. Ganz automatisch stehe ich auf und gehe Richtung Fenster, obwohl ich überall hier guten Empfang habe.
»Rina? Ich verstehe dich nicht.« Das muss der Wind sein. »Rina?«
»… Gebiete südlich sind verschont geblieben. Es geht allen gut. Deine Familie ist hier bei uns.«
Vor Erleichterung lehne ich mich an die Wand.
»Die Seehundstation, Caden. Shanes Dad, er wurde verletzt. Shane ist okay, aber …« Wieder werden wir von einem Rauschen unterbrochen.
Mein Puls steigt. Shane ist mein bester Freund und ich höre die Panik in Rinas Stimme. Ich muss nicht genau wissen, was passiert ist, um mir sicher zu sein, dass sie mich brauchen. »Rina? Ich komme, hörst du? Fünf Stunden, ich bin in fünf Stunden da.«
»Wir warten hier auf dich, Caden.«
Ihre Worte krallen sich mit dem Echo des Traumes vorhin in meiner Brust fest. Ohne mich zu verabschieden, beende ich das Telefonat, unfähig, irgendetwas zu erwidern. In den letzten sieben Wochen habe ich es vermieden, Rina und Shane zu treffen. Mit Ausreden, eine fadenscheiniger als die andere. Weil ich aus meinen Träumen weiß, wie weh es tun wird, sie gemeinsam zu sehen. Aber ich kann sie nicht im Stich lassen, niemals.
Meine Finger kribbeln, als ich sie zur Faust balle und gegen irgendeinen Spind schlage – mit all der Wut, die in mir brodelt. Wut auf mich selbst.
In einer einzigen Nacht habe ich nicht nur mein Ziel aus den Augen verloren, Unfallchirurg zu werden, sondern auch meine schützende Distanz zu Rina und Shane.
Ich habe keine verdammte Ahnung mehr, wer ich bin und wo ich hingehöre.
CHOPPY WAVES
Durch starke Winde oder Strömungen verursachtes unruhiges und aufgewühltes Wasser. Die Wellen laufen zerstreut und ungleichmäßig.
KAPITEL 1
CADEN
Ich kann nicht zu ihnen.
Baumstämme und Geröll blockieren den letzten Straßenabschnitt und machen es mir selbst mit dem Motorrad unmöglich, zum Seal for Life zu kommen. Die Schäden lassen nur ansatzweise erahnen, in welcher Stärke der Wind noch vor wenigen Stunden gewütet haben muss. Selbst bis hierher hat es die Zelte vom nahe liegenden Campingplatz getragen, die jetzt in bunten Fetzen in diversen Ästen hängen oder lose herumliegen. Von weit entfernt nehme ich das Geräusch einer Motorsäge wahr, auf der Interstate 5 müssen die Einsatzkräfte bereits mit der Freilegung des Highways begonnen haben.
So gut wie möglich vor weiteren umstürzenden Bäumen geschützt parke ich meine schwarze Ducati und folge der Straße das letzte Stück an den Klippen der Küste entlang zu Fuß. Die Sonne ist bereits aufgegangen und verleiht dem Meer ein sanftes Glitzern. Ich erinnere mich an die unzähligen Stunden, die mein Bruder Jonah, Shane und ich dort draußen beim Surfen verbracht haben, während Rina am Strand gelesen hat. Diese Momente scheinen Jahre zurückzuliegen, nicht wenige Wochen.
Die abfallende Zufahrtsstraße zum Seal for Life ist mit einer dicken Schlammschicht überzogen und der umliegende Waldboden lässt sich kaum noch von dem asphaltierten Weg unterscheiden. Es riecht nach nasser Erde und frischem Holz, und wäre das alles nicht so eine verdammte Katastrophe, würde ich den Geruch sogar mögen.
Je näher ich der Auffangstation für Seehunde komme, die Shanes Eltern betreiben, desto dunkler wird das Gefühl in meiner Brust. Schon der Zustand des Waldes hier lässt erahnen, wie viel das Seal for Life abbekommen haben muss. Die lächerliche Hoffnung, mich zu täuschen, wird begraben, als ich die letzte Wegbiegung hinter mir lasse. Der erschütternde Anblick bremst mich aus, und ich muss stehen bleiben, um dieses Bild vor mir zu verarbeiten. Die Zufahrt und der Parkplatz vor dem Besucherzentrum sind nicht mehr als solche zu erkennen, weil sie unter der uralten Kiefer begraben sind, die der Sturm zu Fall gebracht hat. Bei ihrem Sturz hat sie die Ausstellungsräume und einen Teil des Haupthauses zerstört. Neben dem Jeep von Shanes Eltern und Shanes Cabrio erkenne ich die Reste unseres alten Baumhauses unter den mächtigen Ästen. Egal in welche Richtung ich blicke – da sind nur Zerstörung und Gefahr.
Mein Mund wird trocken. Ich habe keine Ahnung, wie viele suchterkrankte Jugendliche aktuell in der Reha-Einrichtung untergebracht sind, die zur Auffangstation gehört, und bete inständig, dass es ihnen allen gut geht. Ich weiß, dass sie für die Rettung von Verletzten den Wasserweg hätten nutzen können, aber definitiv nicht bei einem Sturm dieses Ausmaßes.
Erst jetzt nehme ich die Stille hier wahr. Normalerweise wird man von dem Gezwitscher der vielen Vögel empfangen oder vom Bellen der Seehunde. Heute höre ich nichts.
Ich bemühe mich, meine Atmung zu beruhigen und mich an dem Gedanken festzuhalten, dass es Rina und Shane gut geht. Ich muss sie nur finden.
Von hier oben kann ich nicht erkennen, wie viel Schaden die stufenartig gebauten Wohnbereiche, das medizinische Zentrum und die Auffangbecken erlitten haben. Sowohl die Aussichtsplattform als auch der Zugang über die Klippen zum Strand werden von den Trümmern des Hauses versperrt. Ich ziehe mein Telefon aus der Tasche und versuche zuerst Rina, dann Shane zu erreichen, aber beide Handys sind ausgeschaltet. Die leichte Panik beginnt mein logisches Denkvermögen zu vernebeln und ich blicke mich hektisch um. Sie müssen unten beim Strandhaus sein, das Shane seit einigen Jahren bewohnt. Wenn es noch steht.
Es gibt diesen einen Hauptweg hinunter zum Meer, der vorwiegend genutzt wird, doch jetzt verschüttet ist. Die Zugänge nach unten innerhalb der Anlage sind ebenso keine Alternative, weil sie nur über das Haupthaus zu erreichen sind. Aber wir haben einen Großteil unserer Kindheit hier verbracht, und ich erinnere mich gut an die versteckten Trampelpfade, die wir gewählt haben, um den vielen Besuchern und Touristen zu entkommen.
Die dichten Äste der umgestürzten Kiefer geben auf dem Parkplatz kaum einen Weg für mich frei. Die Nadeln kratzen mich im Gesicht und reißen den prall gefüllten Seesack auf meinem Rücken nach hinten. Ich nehme schützend meine Arme hoch und kämpfe mich Schritt für Schritt nach vorne. Bis ich die Hinterseite des Seal for Life erreiche, bin ich völlig außer Atem und muss die Hände an meinen Knien aufstützen, um genügend Luft zu bekommen. Nach ein paar tiefen Atemzügen folge ich dem ausgetretenen Weg entlang der steil abfallenden Klippe. Der Holzzaun zur Sicherung war früher noch nicht da, und erst jetzt wird mir bewusst, wie gefährlich dieser Zugang zum Meer ist. Als Teenager haben wir daran nicht gedacht – alles, was wir wollten, war zusammen sein. Wir drei, alleine.
Je näher ich dem versteckten Pfad hinunter zum Strand komme, desto schneller werde ich. Das rasende Pulsieren in meinem Kopf nimmt erst ab, als ich sehe, dass der Felsweg frei ist. Ohne weiter darüber nachzudenken, schwinge ich mich über den Zaun und springe mehr über die natürlichen Stufen aus Stein, als dass ich steige. Das tosende Rauschen des Meeres dringt allmählich zu mir und zieht mich an. Sie müssen da sein, das spüre ich.
Sobald ich die Klippe hinter mir habe und den sandigen Untergrund spüre, renne ich los in Richtung des Strandhauses. Und zu Rina und Shane, um für sie da zu sein.
Die kleine Hütte aus weißem Holz liegt gut geschützt in einer schmalen Bucht. Trotzdem habe ich Angst, dass das Unwetter auch davon nur Bruchstücke zurückgelassen hat. Ich weiß, wie viel Liebe Shane in den Aufbau gesteckt hat und wie wichtig es für ihn war, dabei von seinem Vater unterstützt zu werden.
Kurz bevor ich um den letzten Felsen herumgehe, zögere ich. Schon der fassbare Gedanke, Rina wiederzusehen, lässt die Mischung aus all den betäubten Emotionen für sie in mir aufglimmen. Unter ihrer Wucht taumle ich einen Schritt nach hinten. Ich bin mir jetzt nicht mehr sicher, ob ich hier sein kann. Ob ich den beiden wichtigsten Menschen in meinem Leben dabei zusehen kann, wie sie sich stetig näherkommen, während ich mich verliere. Plötzlich sträubt sich alles in mir dagegen, um diese letzte Felswand herum zu ihnen zu gehen.
»Caden?«
Die Stimme in meinem Rücken lässt mich innehalten und mit mir meine Ängste und Sorgen. An ihrer Stelle spüre ich pure Befreiung, als ich mich zu ihr umdrehe. Mit einem Mal blättert jeglicher Druck von mir ab und lässt mich hier sein, in diesem Moment, mit allem, was ich habe, und allem, was ich bin.
»Geht es euch gut, Shane?«
»Rina ist im Strandhaus, sie wurde nicht verletzt.«
Erleichterung besänftigt die Sorge in mir. Ich schlucke. »Was ist mit dir?«
Shanes Shirt ist zerrissen und getrocknetes Blut verfärbt einzelne Strähnen seiner blonden Haare.
Er nickt. »Es geht mir gut.«
Es geht Shane immer gut. Seine Schultern sind gestrafft, er wirkt unnachgiebig und stark, aber ich kenne ihn besser und sehe die Erschöpfung in seinen Augen.
Ich schüttle den Kopf. »Noch einmal, Shane: Bist du in Ordnung?«
Er schwankt, seine Mundwinkel zucken leicht, und er senkt den Kopf, nur um im selben Atemzug zu lächeln. »Ziemliches Chaos.«
Shane hat mir den Rücken freigehalten, immer. Mehr, als ich es verdient hatte. Es ist an der Zeit, dass ich dasselbe auch für ihn tue.
»Chaos, ja.« Ich erwidere sein Lächeln nicht. »Aber ich bin da. Zusammen kriegen wir das hin.«
Seine Mimik droht ihm zu entgleiten und ich erkenne das leichte Beben seiner Lippen.
»Wir kriegen das wieder hin, alles«, wiederhole ich etwas lauter und mache einen Schritt auf ihn zu. »Ich lasse euch nicht alleine.«
Eine Sekunde lang glaube ich, dass Shane erneut lächeln will und mir sagen wird, dass ich nicht bleiben muss. Weil Rina und er alleine klarkommen und ich ein neues Leben in Phoenix habe.
In dem Augenblick, in dem mein bester Freund näher kommt und mich umarmt, erstarre ich. Alles in mir steht still, einzig das ständige Zittern meiner Finger flimmert durch meinen Körper.
»Danke, Caden«, sagt er. »Dass du gekommen bist.« Erst als er mich noch fester an sich drückt, kann ich die Angst loslassen und seine Umarmung erwidern. Mir wird bewusst, wie sehr ich mich vor einer Abweisung gefürchtet habe.
Shane löst sich von mir und fährt sich durch die halblangen Haare. »Ich war mir nicht sicher, ob du kommen würdest.« Er zieht sein Lippenpiercing zwischen die Zähne. »Wir waren uns nicht sicher.«
Es tut weh zu hören, dass sie nicht darauf vertrauen konnten. Mir nicht vertrauen konnten. Noch schmerzvoller ist es, wie recht sie damit hatten. Ich habe gezögert. Ich wollte wieder weg.
»Was ist mit deinem Dad?«, frage ich Shane.
Er hebt leicht eine Augenbraue, weil er mich kennt und weiß, wann ich einem Thema ausweichen will. Dann nickt er kaum merklich und zeigt über seine Schulter. »Niemand hat mit der Stärke des Sturms gerechnet. Rina und ich waren im Strandhaus, als die Kiefer geknickt ist.« Er schließt kurz die Augen. »Wir hatten so ein verdammtes Glück, dass die vier Jugendlichen, die derzeit hier wohnen, mit den Ergotherapeuten auf einer Wanderung im National Wildlife Refuge sind. Mom und Dad dachten, das Haus wäre sicher, auch bei einem Sturm.«
Ich presse die Lippen zusammen. »Die Kiefer hat immer unnachgiebig gewirkt. Keiner hätte je damit gerechnet, dass sie bricht.«
»Der Baum hat Dad einfach unter sich begraben.« Shane spricht leiser, das tosende Meer verschluckt beinahe seine Worte. »Mom hat nur noch geschrien, ich konnte sie am Telefon kaum verstehen und bin nach oben gerannt. Rina sollte im Strandhaus bleiben.«
Er muss es nicht sagen, ich weiß auch so, dass sie ihn niemals alleine gelassen hätte.
»Der Weg war versperrt, also sind wir über die Klippen nach oben. Ich konnte Dad zuerst nicht finden, weil er unter einem Bretterhaufen lag. Er hat fast nicht geblutet, aber seine Hüften taten ihm so weh, dass wir ihn kaum berühren konnten.« Shane legt den Kopf in den Nacken. »Es hat eine Ewigkeit gedauert, bis wir ihn befreit hatten. Alles war dunkel, der Strom ist ausgefallen und Rina konnte zuerst niemanden erreichen.«
»Haben sie einen Helikopter geschickt?«
Er nickt. »Die Küstenwache hat ihn geborgen, aber Mom konnte nicht mit.«
»Die Straßen sind komplett verwüstet.«
»Mom ist über den Strand, bis zum Camp Pendleton Airport. Von dort konnte sie sich ein Taxi nehmen, nach San Diego hin sind die Straßen frei. Ich wollte sie vorhin anrufen, aber mein Akku ist leer. Der von Rina ebenso und wir haben oben in der Anlage noch keinen Strom. Im Strandhaus ist der Generator ausgefallen. Perfektes Timing, würde ich sagen.«
Ich ziehe mein Handy aus der Tasche, wähle Maras Nummer und reiche es Shane. Wir warten, aber nach einigen Sekunden gibt er mir das Telefon mit einem Kopfschütteln wieder zurück.
»Sie wird sich melden, wenn sie meine Nummer sieht, Shane.«
Er verengt die Augen. »Es ist ein gutes Zeichen, dass er nie bewusstlos war, oder? Und sich an alles erinnern konnte.«
Obwohl sich in meinem Kopf ein ganzer Fächer an möglichen Diagnosen öffnet, nicke ich. »Ist es.«
Er deutet in Richtung des Strandhauses. »Kommst du?«
»Was ist mit den Seehunden?« Ich weiß, dass ich das Unvermeidbare nur hinauszögern möchte.
»Die sind hart im Nehmen. Sie sind verschreckt, aber das wird sich legen. Ich hab die Heuler gerade gefüttert, denen geht es gut. Nur der Fisch wird langsam warm. Dein Dad sagt, er kümmert sich um frischen Nachschub, wenn der alte nicht mehr zu gebrauchen ist. Er und deine Mom waren hier, mit dem Boot, sobald der Sturm sich gelegt hatte.« Shane schaut hinaus aufs Meer, das sich in trügerischer Stille über den Horizont zieht. »Die Wasserbecken kommen ein oder zwei Tage auch ohne Pumpwerk aus. Wie es mit den Medikamentenkühlschränken der Reha ausschaut, muss ich erst rausfinden.«
»Wie geht es Christie?« Sie ist die älteste Seehunddame hier und eine richtige Diva.
»Ich hab mich noch nicht zu ihr reingetraut. Das darfst du später übernehmen.«
Wir gehen langsam nebeneinander her in Richtung Strandhaus, lassen die Schwere in unserem Rücken.
»Ich mach alles, Shane, aber zwing mich nicht zu Christie rein.«
Er lächelt. »Du bist da, das bedeutet, du bist eine vollwertige Arbeitskraft, und einer von uns muss Christie übernehmen, Bro.«
Ich spüre die Leichtigkeit und die Verbundenheit, die uns jahrelang zusammengehalten hat – egal wie schwierig es war. Und das war es.
»Ich kümmere mich um die Babys, aber nicht um Christie. Sie hat mich schon mal gebissen, hast du das vergessen?«
Shane bleibt kurz stehen und zuckt mit den Schultern. »Christie hat jeden schon mal gebissen. Das ist keine Ausrede.« Er grinst. »Du bist Arzt und das spricht für deine Kompetenz.«
»Warum? Du bist der Meeresbiologe.« Wir gehen weiter um die Felsen herum. Pelikane fliegen über uns hinweg und verschwinden hinter den wenigen Wellenbergen, die der Sturm übrig gelassen hat.
»Ganz einfach, Caden: weil du dir als Arzt selbst am schnellsten Erste Hilfe leisten kannst, sollte sie dich beißen.«
Wir beginnen zu lachen. Shanes und meine Welt ist dabei, in Scheiße zu versinken, jede auf ihre eigene Art, und trotzdem können wir gerade lachen. Das tut einfach nur gut.
Ich wende den Blick von ihm ab und bleibe stehen. Das Strandhaus liegt vor uns, geschützt von der Klippe und eingerahmt von wenigen Palmen. Es ist, als wäre es gestern gewesen, dass wir diese Bucht bei unseren Streifzügen entdeckt haben. Wir müssen sieben oder acht gewesen sein und haben den ganzen Tag hier verbracht. Irgendwann ist die Sonne untergegangen, aber Rina wollte immer noch nicht gehen. Sie hat an diesem Abend zum ersten Mal zugegeben, dass sie lieber nicht nach Hause will.
Ich schließe zu Shane auf, der auf mich wartet, und räuspere mich. »Du hast die Fenster mit türkiser und pinker Farbe umrandet? Ich dachte, das gesamte Holz soll weiß bleiben.«
»Das war, bevor Enya Rina auf den Geschmack von bunten Farben gebracht hat.«
»Eigentlich hätte ich mir das denken können«, gebe ich zurück. Enya ist die Freundin meines Bruders Jonah und liebt es, Dinge neu zu gestalten. »Es sieht gut aus. Das Pink passt perfekt zu den Blüten in den Felsen dahinter.«
»Und zu meiner Lady«, ergänzt Shane und zeigt auf sein Surfbrett mit den pinken Finnen, das vor uns halb im Sand vergraben ist. Ich helfe ihm, es zu befreien.
»Du hast Glück, dass es nicht weggeweht wurde.«
»Die Zeit war nicht da, alles reinzuholen. Es ging schnell«, meint er, und ich spüre, wie die Schwere zurückkommt.
Nachdem er sich das Board unter den Arm geklemmt hat, gehen wir die letzten Meter auf das kleine Haus zu.
Die beiden Stufen knarzen, als Shane auf ihnen nach oben steigt und das Brett an das Geländer lehnt, das die schmale Terrasse umgibt und jetzt mit kleinen gemalten Blüten verziert ist. Er öffnet die breite Flügeltür auf einer Seite und dreht sich zu mir um. »Ich bin froh, dass du da bist. Das wird Rina beruhigen.«
In diesem Moment vibriert das Handy in meiner Hosentasche. »Deine Mom«, sage ich, und Shane springt über die Stufen zu mir nach unten, um den Anruf entgegenzunehmen.
»Mom?« Er beginnt auf Norwegisch mit seiner Mutter zu telefonieren. Er ist zwar hier geboren, aber seinen Eltern war es immer wichtig, dass er auch seine eigentliche Muttersprache versteht und sprechen kann. Derweil bedeutet er mir, schon vor ins Haus zu gehen, und zeigt nach oben, damit ich weiß, wo Rina ist.
Um mir nichts von meiner aufglimmenden Panik anmerken zu lassen, das Zusammentreffen könnte mich komplett überfordern, nicke ich und gehe auf den Eingang zu. Shane kann nicht sehen, wie sehr meine Hand wieder zittert, als ich die Tür weiter öffne und eintrete.
Der vertraute Geruch nach Holz und frischen Orangen umfängt mich, und ein sanftes Kribbeln durchströmt meinen Körper, als Rinas ganz eigene Duftnote zu mir durchdringt. Diese Mischung aus ihrem Kirschshampoo und unserem Zuhause hier erinnert mich immer an die Früchte, die meine Großmutter eingelegt in der Küche stehen hatte und die wir uns über Vanilleeis geben durften.
Als ich meinen Seesack abstelle und die Tür hinter mir schließe, sperre ich mit dem Rauschen der Wellen alles aus, was mich nach hinten reißen will. Weg von hier, in eine Richtung, die nicht das gehalten hat, was ich mir von ihr versprochen hatte.
Ich streife mir die Schuhe ab und gehe vorbei an der Küchenzeile und dem Esstisch, hinter dem selbst gebaute Regale aus unseren alten Surfbrettern hängen. Der Schlafbereich, auf den Shane vorhin gedeutet hat, befindet sich in einer Art Halbstock, der durch eine breite Fensterfront den Blick auf den Ozean freigibt und über die Treppe neben der Küchenzeile zu erreichen ist.
Wir haben schon unzählige Nächte da oben verbracht, gemeinsam im Bett oder Shane und ich in der Hängematte oder auf der Couch. Jetzt fühlt es sich zum ersten Mal so an, als würde ich mit jeder einzelnen Treppe eine intime Grenze überschreiten. Es ist ein Kreis, kein Dreieck mehr.
Die beigen und türkisen Laken liegen über das Bett verteilt, das leer ist. Auch auf der Couch ist Rina nicht. Da entdecke ich rote Locken, die sich vom weißen Stoff der Hängematte abheben. Ich ziehe mir die Lederjacke aus und werfe sie auf das Bett, bevor ich einen Schritt nach dem anderen über den hellen Holzboden auf die Hängematte zu mache. Leise schlüpfe ich unter der Aufhängung hindurch und stehe wieder auf. Die Sonne erreicht die Glasfront zu dieser Zeit erst knapp, und doch fallen erste Strahlen auf Rina. Ich blicke auf sie hinab und sehe so viel mehr als ein schlafendes Mädchen, das mich zum Lachen bringt und auf seine ganz eigene Weise ansieht, wenn es spürt, dass es mir nicht gut geht.
Meine Brust zieht sich zusammen und der Schmerz streift meinen Körper mit scharfen Schnitten. Lautlos sinke ich auf die Knie und zwinge mich, nicht die Augen zu schließen, sondern sie weiter anzusehen. Ihre spitze Nase, auf der sich feine Sommersprossen abheben, die man nur erkennen kann, wenn man genau hinsieht. Die geschwungenen Augenbrauen. Ihre Stirn mit den zwei Narben von den Windpocken, die sie als Erste von uns hatte. Shane und ich haben Rina trotzdem besucht und uns natürlich angesteckt. Und ich habe sie dann an Jonah und Dad weitergegeben, der am meisten gelitten hat.
Ich erblicke die beiden Ohrringe, die sie sich selbst gestochen hat, weil sie schon immer mutiger war als wir. Ich sehe die Frau, die ich immer an meiner Seite haben wollte. Schon immer und für immer.
Als ich meine Augen jetzt schließe, nehme ich meine Wünsche und Träume mit und verberge sie tief in mir. Wenn ich meinen besten Freunden helfen will, muss ich mich unter Kontrolle haben. Mich und meine verdammten Gefühle.
Mit einem tiefen Atemzug mache ich mich bereit dazu, die Augen zu öffnen und der Caden zu sein, den sie brauchen. Ich schaffe das.
»Caden?«
Wie ein zarter Windhauch streichelt ihre Stimme durch meine Seele und nimmt all die Mauern mit sich, die ich gerade aufgebaut habe. Als hätten sie nie die geringste Chance gehabt, Rina standzuhalten.
»Du bist da.«
Ja. Das bin ich.
Ich öffne die Augen, um Rina anzusehen.
Und weiß nicht, ob ich jemals wieder gehen kann.
KAPITEL 2
RINA
Caden ist da. Für wenige Wimpernschläge sehe ich nur ihn und weiß, dass alles gut wird. Ich schlage die dünne Baumwolldecke zurück und setze mich auf. Als wir uns in die Augen schauen, gewinnt die Wehmut der letzten Wochen plötzlich an Intensität.
»Hey, du«, sagt er leise und lächelt, aber das Lächeln ist nicht wie das aus meiner Erinnerung. Er kann uns noch so sehr aus seinem neuen Leben ausschließen, ich spüre, dass er mich genauso vermisst hat wie ich ihn.
Vorsichtig rücke ich in der Hängematte etwas nach vorn. Es ist mir egal, dass ich nur eines von Shanes weiten Shirts über meiner Unterwäsche trage. »Ich hatte Angst«, schaffe ich es zuzugeben.
Caden fährt sich durch die dunklen Haare. »Der Sturm ist vorüber, Rina. Und Shane telefoniert gerade mit seiner Mom. Wir helfen zusammen und bringen hier alles wieder in Ordnung.«
»Nein.« Ich schüttle den Kopf. »Ich hatte Angst, dass du nicht kommen würdest, Caden.« Meine Stimme verliert an Entschlossenheit. »Dass du nie mehr kommen würdest.«
Caden schaut mich an, seine dunklen Augen wirken müde. Er sagt nichts und damit sagt er alles.
Ich presse die Hände zusammen, versuche mich an einem Lächeln. »Wir waren doch immer ein Team.«
»Rina, ihr seid jetzt ein Paar, Shane und du. Das Mindeste, was ich tun konnte, war, euch Freiraum zu geben.«
»Freiraum?« Er weicht meinem ungläubigen Blick aus. »Wir sprechen hier nicht von einem Kinoabend zu zweit anstatt zu dritt, Caden. Du bist nach Phoenix gegangen und hast uns jede Möglichkeit genommen, dich zu besuchen. Deine Anrufe wurden immer seltener, und du bist nicht mal gekommen, als dich die Zwillinge beim Abschluss ihres Segelkurses dabeihaben wollten. Sie sind deine kleinen Schwestern.«
Er streicht sich über den Bart, die Bewegungen wirken fremd. »Lia und Laurel sind sechs, und genügend andere Menschen waren an diesem Tag bei ihnen. Sie haben mich nicht wirklich gebraucht.«
»Mag sein.« Ich schlucke, denn seine Gleichgültigkeit tut weh. »Vielleicht haben dich die Zwillinge nicht gebraucht. Und du hast San Diego nicht gebraucht. Genauso wenig wie uns.«
Abweisend senkt er den Kopf. Ich muss aufstehen, gehe vor zu der Glasfront und schlinge die Arme um meinen Oberkörper.
»Aber ich«, flüstere ich. »Ich habe dich gebraucht.«
Stille. Ich habe keine Erwartung. Ich will nur, dass er es weiß. Dass er hier einen Platz hat. Sein Zuhause.
Der strahlend blaue Himmel vor mir zieht sich über den dunklen Ozean und lässt nichts von der urtümlichen Gewalt der letzten Stunden erahnen. Die glatte Wasseroberfläche kann mich nicht täuschen. Immer wieder sehe ich einzelne Wellen brechen, die sich auftürmen und von der falschen Ruhe abheben. Die letzte Nacht war schlimm. Ich blinzle. Die Zeit ohne meinen besten Freund war es auch.
Noch ehe ich die Bewegung hinter mir zuordnen kann, legen sich zwei starke Arme um mich. Cadens erdiger, edler Geruch nach Sandelholz vermischt sich mit dem seiner Lederjacke und hüllt mich ein. Die Sehnsucht der letzten Wochen bringt mich dazu, meine Augen zu schließen, ihn einfach nur wahrzunehmen. Und mit seinem starken Körper in meinem Rücken die Gewissheit, dass er zurückgekommen ist. Egal aus welchem Grund – er ist da.
»Es ist falsch, wenn du glaubst, ich habe mein Leben hier nicht vermisst, Rina«, sagt er und atmet tief aus. »Wenn du glaubst, ich hätte dich nicht vermisst. Aber ich muss den Erwartungen an mich in Phoenix gerecht werden. Es ist hart und mir bleibt schon kaum Zeit zu schlafen. Da kann ich nicht einfach meine Sachen nehmen und für ein paar Tage abhauen.«
»Du kannst es jetzt«, erwidere ich, und gleichzeitig erwachen Schuldgefühle in mir, weil ich Caden bei unserem ersten Wiedersehen so sehr unter Druck setze. Er wollte schon immer Arzt werden. Jeder weiß, dass er alles dafür tut. Bei unseren wenigen Telefonaten habe ich seine Erschöpfung herausgehört. Und ich sehe sie an ihm.
Caden löst sich von mir und hinterlässt eine Kälte an meinem Körper. Er tritt neben mich. »Ich habe aktuell ein paar Stunden gut, Rina. Dass ich nicht ständig Zeit für Besuche oder Anrufe habe, bedeutet nicht, dass ihr mir egal seid.« Seine Stimme wird leiser. »Es tut mir leid, wenn ich dich das habe glauben lassen.«
»Mir tut es leid«, gebe ich zurück und schaue ihn an. »Ich sollte dir keine Vorwürfe machen. Du bist jetzt da, und das ist alles, was wichtig ist.«
Caden nickt, aber dennoch fühle ich eine Distanz zwischen uns. Etwas stimmt nicht mit seinen Worten und der Leere darin. Was Caden macht, ist immer mit Emotionen verbunden, mit Leidenschaft, und es scheint, als wäre diese in den letzten Wochen erstickt. Da ist eine Härte, die ich nicht kenne. Die fremd ist.
Ich wende meinen Blick wieder den Wellen und dem Meer zu. Alles scheint sich zu verändern, also halte ich an dem fest, was wir haben.
Mit einer einzigen Bewegung findet meine Hand die von Caden. Kurz glaube ich, er könnte sich meiner Berührung entziehen. Stattdessen hakt er seinen Zeigefinger mit meinem ein und bringt mich damit zum Lächeln.
»Eins, zwei …« Ich höre die spielerische Herausforderung in seiner Stimme, als er die Worte sagt, die uns seit der Grundschule begleiten.
»Sieben«, ergänze ich die Zahlenfolge, weil die Sieben schon immer meine Glückszahl war und ich die Zahl Drei irgendwann damit ersetzt habe. »Wir haben das schon lange nicht mehr gemeinsam gesagt.«
Caden lächelt ebenfalls und schaukelt unsere Hände. »Wir haben auch schon lange nichts Waghalsiges mehr versucht.«
»Und jetzt schon?«
»Ja.« Er zieht eine Augenbraue hoch. »Jetzt bauen wir das Seal for Life wieder auf. Gemeinsam, als Team. So wie früher.«
Ich nicke. »Gemeinsam«, wiederhole ich und hoffe, dass es sich auch wieder so anfühlen wird wie früher.
Shane taucht plötzlich unter uns auf – er muss auf der Veranda gewesen sein – und geht jetzt mit dem Telefon in der Hand auf das Meer zu. Sein Shirt hängt noch in Fetzen an ihm herunter. Er hat vermutlich keine Sekunde geschlafen hat.
»Ich habe ihn noch nie so erlebt, Caden«, sage ich und bin mir sicher, dass Caden weiß, was ich meine.
»Gib ihm Zeit. Es war eine harte Nacht.« Er drückt kurz meinen Finger. »Für euch beide.«
»Das alles reißt ihm den Boden unter den Füßen weg. Und wenn er den Halt verliert, ist ein Rückfall sehr –«
»Wird er nicht«, unterbricht mich Caden. »Er wird den Halt nicht verlieren und keinen Rückfall haben, Rina. Er hat sich unter Kontrolle.«
Ich möchte ihm glauben, so sehr. Aber die Zweifel bleiben. Zweifel und Sorgen. Damals habe ich es nicht bemerkt, und diesen Fehler kann ich nicht noch einmal machen.
Shane steckt das Telefon weg, sein Blick ist weiterhin auf das Meer gerichtet. Ohne sich noch einmal umzudrehen, zieht er sich sein verschmutztes Shirt vom Oberkörper, steigt aus den Schuhen und streift die Shorts samt seiner Boxerbriefs ab.
Plötzlich fühl es sich falsch an, ihm dabei zuzusehen, wie er nackt auf das Wasser zugeht, und dabei Cadens Hand zu halten. Ich kann nicht sagen, ob es mein Unwohlsein ist, das Caden spürt, oder sein eigenes, aber er zieht seinen Finger zurück und ich balle meine Hand zur Faust.
Trotzdem kann ich meinen Blick nicht von Shane lösen. Nur vage erkenne ich aus dieser Entfernung die definierten Muskeln an seinem Rücken und den perfekten Hintern, der sich etwas heller vom Rest der bronzefarbenen Haut abhebt. Ich weiß nicht, wann ich begonnen habe, ihn mit diesen Augen zu sehen.
Letztendlich reiße ich den Blick los und drehe den Kopf zu Caden. Er sieht nicht mehr hinaus aufs Meer. Caden beobachtet mich. Bei der Erkenntnis überzieht Hitze meine Wangen.
Mit einem Räuspern strafft er die Schultern. »Ich kümmere mich um den Generator. Wir brauchen hier unten Strom für die Handys, um alles Wichtige zu organisieren.«
Als er sich umdreht und geht, wandert mein Blick zurück zu Shane. Inzwischen ist er einmal untergetaucht und steht gerade wieder auf. Das Wasser reicht ihm über die Hüften, und er hebt die Arme, um sich durch die nassen Haare zu fahren. Die Spiegelung der Sonne auf der Wasseroberfläche verzerrt sein Bild, und für den Moment bilde ich mir ein, es könnte auch Caden sein, der dort steht. Dann dreht sich Shane um, als würde er meine Gedanken spüren, und taucht wieder unter.
Ich zucke zusammen und mache einen Schritt nach hinten, um mich zu sammeln. Auf dem Boden vor dem Kleiderschrank liegen noch meine verdreckten Klamotten von heute Nacht. Ich schaffe es einfach nicht, sie aufzuheben. Wir hatten nicht damit gerechnet, dass der Sturm so stark werden würde. In meinen Ohren hallen noch immer die Schreie von Shanes Mom wider, die am Telefon nach ihm gerufen hat. Shane war so stark. Wo ich im Schock längst jede Handlungsfähigkeit verloren hatte, wusste er genau, was zu tun ist. Er hat seinen Vater da liegen sehen und alles darangesetzt, ihn zu befreien. Er hat ihn gerettet und sich dann um die Seehunde gekümmert.
Die ganze Zeit frage ich mich schon, wo seine Angst geblieben ist. Angst, die mich lähmte und jeden Atemzug in Besitz nahm. Ich kenne Angst. In meinem Leben gibt es sie ständig, und ich kann nicht glauben, dass Shane keine hatte. Er darf sie nicht verdrängen, nicht schon wieder. Es darf nicht so werden wie früher.
Schwankend lasse ich mich aufs Bett fallen, wo ich neben mir Cadens Jacke ertaste. Ich kralle meine Finger in das Leder und vergrabe das Gesicht darin. Sein vertrauter Geruch reicht aus, um mir Sicherheit zu schenken. Nur entfernt nehme ich wahr, wie er sich unten bewegt und Schubladen öffnet und wieder schließt. Dann wird die Tür aufgestoßen, woraufhin Shane und Caden miteinander sprechen. Da ich nicht genau verstehe, was sie sagen, schließe ich die Augen und höre einfach nur dem Murmeln ihrer Stimmen zu. Caden hier zu wissen, an unserer Seite, lässt mich tief einatmen.
Erst als Shane in seinen schwarzen Briefs vor mir in die Hocke geht, registriere ich, dass er zu mir heraufgekommen ist.
Er lächelt und streift mir eine Locke aus dem Gesicht. »Guten Morgen, Schönheit. Konntest du etwas schlafen?«
»Musste ich, nachdem du mich dazu gezwungen hast«, antworte ich und fahre ihm mit einer Hand durch die nassen Haare. Ich will ihn fragen, wie es seinem Dad geht und wie es ihm geht, aber Shane fängt meine Hand mit seiner auf und führt sie an seine Lippen. Der liebevolle Kuss auf die Innenseite meines Handgelenks schickt warme Wellen durch meinen Körper. Wenige Sekunden des Friedens, die nur uns gehören. Shanes blaue Augen, die mich an die Farbe des Meeres erinnern, treffen auf meine, und ich beuge mich nach vorn, denn ich muss ihm noch näher sein.
»Hey, mein Held«, flüstere ich.
»Hey, mein mutiges Mädchen.«
Für Shane bin ich immer etwas Besonderes, selbst wenn ich mich nicht so fühle. Als sich unsere Lippen berühren, kann ich die Emotionen nicht mehr zurückhalten und ein leises Schluchzen durchbricht unseren Kuss.
Shane scheint die Realität wieder zuzulassen. Er schließt die Augen und lehnt seine Stirn gegen meine. »Dads Hüfte und die Oberschenkelknochen sind zertrümmert. Er ist noch immer im OP, aber soweit Mom weiß, war er die ganze Zeit über stabil.«
»Er ist hart im Nehmen«, ist das Einzige, was ich sagen kann.
»Ja, ist er. Und doch ist er schon siebenundsechzig.« Shane lehnt sich wieder etwas zurück. Er schaut auf die Lederjacke auf meinem Schoß, und kurz glaube ich, er will sie nehmen und weglegen, aber dann fährt er mit seiner Zunge über das Piercing in seiner Lippe und spricht weiter. »Caden wird später mit dem behandelnden Arzt reden, dann haben wir ein klareres Bild. Mom gibt Bescheid, sobald Dad aus dem OP ist und sie Cadens Nummer weitergeben konnte.«
Mit den Fingern streiche ich über den tiefen Kratzer in seiner Brust. »Und wie geht es dir?«
»Ehrlich?« Shane drückt meine Hand.
»Immer.«
Er holt tief Luft. »Darauf war ich nicht vorbereitet. Auf nichts davon. Weder auf den Sturm noch auf Dads Hilflosigkeit. Seit dem Tod von Leiv habe ich ihn nicht mehr so erlebt, bis zur heutigen Nacht.«
Shane spricht nur selten über seinen großen Bruder. Erst nach dessen Überdosis wurde die Seehundstation um eine Reha-Einrichtung für Jugendliche und junge Erwachsene mit Suchterkrankung erweitert. Weil Mara und Alex überzeugt davon sind, dass ein Angebot wie dieses Leiv hätte helfen können.
Ich versuche mich an einem Lächeln. »Und ich habe dich noch nie so stark erlebt, Shane. Dein Dad muss stolz auf dich sein, du hast ihn gerettet und dich um die Seehunde gekümmert.«
Er sieht zwischen meinen Augen hin und her. In seinen sehe ich die peinigenden Selbstzweifel und den unerbittlichen Zwang, seinen Dad zu beeindrucken.
»Du warst stark und du bist stark«, wiederhole ich mit sanfter Stimme. »Unnachgiebig, einfallsreich. Du hast Verantwortung übernommen, uns geführt. Du warst furchtlos und hast genau gesehen, was zu tun war und in welcher Reihenfolge. Ich würde sagen, besser hätte niemand reagieren können.«
Shane steht so plötzlich auf, dass ein kalter Luftzug meine Haut streift. Er wendet mir den Rücken zu und sammelt meine verdreckte Kleidung vom Boden auf. Die Schwere, die ihn umgibt, zeigt er nur selten, und es tut weh, mit anzusehen, dass er mir nicht glaubt. Weil er nicht an sich selbst glaubt.
Im selben Moment, in dem Shane mit seiner freien Hand frische Kleidung für sich aus dem Schrank nimmt, flackert das Licht und leuchtet schließlich durchgängig. Als ob er nicht gerade aus unserem Gespräch geflüchtet wäre, dreht sich Shane auf dem Weg zur Treppe zu mir um und geht rückwärts weiter.
Er grinst. »Ich dachte nicht, dass Caden den Generator so schnell wieder zum Laufen bringt. Das bedeutet, wir verschwenden keine Zeit und können uns sofort ein Bild davon machen, wie wir die Arbeit am besten angehen.« Dann verschwindet er nach unten, den Schock der letzten Stunden wieder gut versteckt.
Ich wusste, dass sich etwas zwischen uns allen verändern würde, wenn ich meinen Gefühlen für Shane endlich nachgebe. Ihn auf diese andere, besondere Weise kennenzulernen – als meinen Partner –, war wunderschön, aber jetzt gerade spüre ich nichts mehr davon. Eigentlich fühlt es sich so an, als hätte ich für die Nähe zu Shane mit einer Distanz zu Caden bezahlt, die nichts mit der Entfernung zwischen San Diego und Phoenix zu tun hat.
Während ich darauf warte, dass Shane aus der Dusche kommt und ich mich frisch machen kann, ziehe ich mir lockere Shorts und ein Top an und gehe nach unten.
Caden kommt gerade wieder zur Tür herein. »Hast du Papier und etwas zum Schreiben, Rina? Wir brauchen einen Plan. Ich habe gerade versucht, Enya und Jonah zu erreichen. Sie gehen beide nicht an ihr Telefon. Wir werden Hilfe benötigen.«
»Enya und Jonah sind übers Wochenende zu Besuch bei ihr zu Hause. Erinnerst du dich nicht? Es stand im Gruppenchat, du hast ihnen viel Spaß gewünscht.«
Caden nimmt gerade die dritte Tasse von den kleinen Haken an der Wand und hält inne. »Sie sind in Wyoming?« Er scheint zu überlegen. »Natürlich, sie wollten zu David. Ich habe vergessen, dass sein Geburtstag schon dieses Wochenende ist.« Er zuckt mit einer Schulter und füllt Wasser in den Tank der Kaffeemaschine.
Ich hole Papier und die wenigen Stifte, die ich in der Schublade im Wohnbereich finden kann, und übergehe die Tatsache, dass Caden normalerweise nie etwas vergisst. Keine Einkäufe, keine Verabredungen und schon gar keine Geburtstage. Selbst wenn es nur der von Enyas Dad ist.
Der Kaffee für mich steht schon auf dem Tisch, als ich mich setze und ein Raster zeichne. Vier Spalten, eine für die Aufgaben und die anderen drei für jeweils einen von uns. Ganz links starte ich damit, die tägliche Routine in der Seehundstation aufzulisten, die ich kenne.
Caden setzt sich auf den Stuhl neben meinem und beginnt ebenfalls zu schreiben. An den ersten Begriffen erkenne ich, dass er alle möglichen Sturmschäden sammelt, die wir auf dem Gelände beheben müssen. Seine Handschrift wirkt verändert, nicht mehr so fein und klar, was auch daran liegen könnte, dass er die halbe Nacht zu uns gefahren ist und davor gearbeitet hat.
Unsere Listen werden immer länger, und ohne miteinander zu sprechen, ergänzen wir unsere Aufzählungen gegenseitig. Als Shane aus dem Badezimmer kommt, denke ich nicht mehr daran, mich waschen zu gehen, so vertieft bin ich. Er stellt sich hinter uns und bekommt von Caden lautlos eine Tasse Kaffee gereicht. Der Duft seines scharfen Duschgels sticht mir in der Nase. Ich habe es viel lieber, wenn er nach sich selbst riecht. Ein wenig wie die Kokospolitur seines Surfbrettes und der Limettensaft, den er so gerne trinkt. Eine unwiderstehliche Mischung, die für gemeinsame Tage am Meer, für Sonne und laue Sommerabende spricht.
Shane setzt sich und streift mir eines meiner Haarbänder vom Handgelenk, um zärtlich meine wilden Locken zusammenzufassen und mir gekonnt einen Dutt zu binden.
Ich sehe ihn erstaunt an, aber er zwinkert mir nur zu. »Deine Haare versperren mir die Sicht.« Dann greift er an mir vorbei nach einem Stift und vervollständigt die täglichen Aufgaben auf meiner Liste, die nur einen Bruchteil von der Menge darstellen, die Shane einfallen.
Irgendwann schiebt Caden sein Blatt ein Stück zurück und legt einen Arm auf meine Rückenlehne. »Die Arbeitsaufträge priorisieren wir, wenn wir sie komplett erfasst haben.«
Shane nickt. »Dazu müssen wir in die Station.«
»Natürlich, aber erst mal schauen wir, dass wir den täglichen Ablauf reibungslos hinbekommen.« Er zeigt auf einen Punkt, den Shane mit grüner Farbe eingekreist hat. »Die wichtigste Frage zuerst: Wer verdammt noch mal kümmert sich um Christie?«
Alle drei müssen wir lachen. Ich weiß, wie wichtig Shanes Dad das erste Seehundbaby ist, das er jemals gerettet hat. Durch die enge Bindung der beiden ist auch Alex der Einzige, der das Becken der inzwischen alten Dame gefahrlos betreten darf.
Shane reibt sich über die Brust, an der Stelle, wo sein Kratzer ist. »Mom hat mich bei unserem Telefonat vorhin daran erinnert, Christies Medikamente auf keinen Fall zu vergessen, auch nicht nur für einen Tag.«
»Welche Form von Medikamenten bekommt sie?«, erkundigt sich Caden.
»Zwei Tabletten, in Fisch gefüllt und direkt ins Maul. Sie riecht die Dinger regelrecht und würde den Fisch niemals einfach so aus dem Becken fischen wie ihr restliches Futter.«
Ich grinse Shane an. »Also, für eine derart wichtige Medikamentengabe muss man so kompetent wie möglich sein.«
Shanes blaue Augen leuchten auf und er macht ein ernstes Gesicht. »Nichts anderes hat sie verdient.«
»Also definitiv Arztsache.«
»Definitiv«, wiederholt Shane, und wir beide fokussieren, ohne Caden auch nur anzusehen, die Liste vor uns. Shane malt einen Pfeil von Christie zur Spalte mit Cadens Namen, schreibt Herr Doktor dazu und zeichnet ein kleines Herz daneben.
»Das hätten wir also. Was war noch, Rina?« Wir bemühen uns wirklich, nicht zu Caden zu schauen, können aber einfach nicht widerstehen.
Dieser hat die Arme vor der Brust verschränkt und nichts an ihm lässt die Emotionen hinter dem starren Gesichtsausdruck erkennen. Er holt Luft und ich registriere ein siegessicheres Grinsen auf seinen Lippen. »Las Vegas.«
Ich schrecke zurück und Shane springt von seinem Stuhl auf.
»Nicht dein Ernst«, rufe ich schockiert, aber Caden schnalzt nur mit der Zunge.
Shane hat seine Faust gegen den Mund gepresst und zeigt dann auf Caden. »Alter, das kann nicht dein Ernst sein! Dafür? Du setzt deinen Joker wirklich dafür ein? Für eine Seehundfütterung?«
Ich muss beinahe lachen, als ich daran denke, wie Shane in dem Security-Büro des Casinos begonnen hat zu weinen. Dass Caden alle Schuld auf sich genommen hat, weil ich damals erst neunzehn und nicht einundzwanzig war, hat Shane vor einer Menge Ärger mit seinem Dad bewahrt. Und mich auch. Nur dank seiner Überredungskunst konnte Caden den Security-Manager davon überzeugen, uns nicht anzuzeigen. Seitdem halten wir etwas Abstand von Las Vegas.
Caden schaut von Shane zu mir und wieder zurück. »Wenn ihr beide meint, das läuft ab jetzt so, weil ihr ein Paar seid, habt ihr euch geschnitten. Wir spielen hier nicht zwei gegen einen.« Er zuckt mit den Schultern. »Und nur damit ihr es wisst: Der Herr Doktor hat noch mindestens drei solcher Joker im Gepäck.«
»Das kann nicht sein«, gebe ich entrüstet von mir und suche in meiner Erinnerung nach weiteren Situationen, in denen Caden für uns den Kopf hingehalten hat.