SABELLA - DER LETZTE VAMPIR - Tanith Lee - E-Book

SABELLA - DER LETZTE VAMPIR E-Book

Tanith Lee

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Beschreibung

Der Vampir gehört zu den ältesten Mythen der Menschheit. Was wird geschehen, wenn die Menschen das Geschlecht der blutsaugenden Wiedergänger einst mit zu den Sternen nehmen? Das Mädchen Sabella lebt unter den Kolonisten auf dem erdähnlichen Planeten Nova Mars. Sie hat ein furchtbares Geheimnis, das sie geschickt zu hüten weiß. Denn auf Nova Mars wird sich entscheiden, wem das Universum gehören soll: Menschen oder Vampiren...

 

Der Roman Sabella - Der letzte Vampir – erstmals im Jahr 1980 veröffentlicht – aus der Feder der englischen Bestseller-Autorin Tanith Lee verbindet auf faszinierende Weise das Unheimlich-Erotische mit dem Phantastischen.

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TANITH LEE

 

 

Sabella

Der letzte Vampir

 

 

 

 

 

Roman

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Die Autorin 

Das Buch 

SABELLA - DER LETZTE VAMPIR 

1. TEIL: DIE WÖLFE 

2. TEIL: DER RÄCHER  

3. Teil: DE PROFUNDIS 

 

Die Autorin

Tanith Lee.

(* 19. September 1947, + 24. Mai 2015).

 

Tanith Lee war eine britische Horror-, Science Fiction- und Fantasy-Schriftstellerin und Verfasserin von Drehbüchern. Sie wurde viermal mit dem World Fantasy-Award ausgezeichnet (2013 für ihr Lebenswerk) und darüber hinaus mehrfach für den Nebula- und British Fantasy-Award nominiert.

Im Laufe ihrer Karriere schrieb sie über 90 Romane und etwa 300 Kurzgeschichten. Sie debütierte 1971 mit dem Kinderbuch The Dragonhoard; 1975  folgte mit The Birthgrave (dt. Im Herzen des Vulkans) ihr erster Roman für Erwachsene, der zugleich auch ihren literarischen Durchbruch markierte.

Tanith Lees Oevre ist gekennzeichnet von unangepassten Interpretationen von Märchen, Vampir-Geschichten und Mythen sowie den Themen Feminismus, Psychosen, Isolation und Sexualität; als wichtigsten literarischen Einfluss nannte sie Virginia Woolf und C.S. Lewis.

Zu ihren herausragendsten Werken zählen die Romane Trinkt den Saphirwein (1978), Sabella oder: Der letzte Vampir (1980),  Die Kinder der Wölfe (1981), Die Herrin des Deliriums (1986), Romeo und Julia in der Anderswelt (1986), die Scarabae-Trilogie (1992 bis 1994), Eva Fairdeath (1994), Vivia (1995), Faces Under Water (1998) und White As Snow (2000).

1988 gelang ihr mit Eine Madonna aus der Maschine (OT: A Madonna Of The Machine) ein herausragender Beitrag zum literarischen Cyberpunk; eine Neu-Übersetzung der Erzählung wird in der von Christian Dörge zusammengestellten Anthologie Cortexx Avenue enthalten sein.

Ihre wichtigsten Sammlungen von Kurzgeschichten und Erzählungen sind: Red As Blood/Tales From The Sisters Grimme (1983), The Gorgon And Other Beastly Tales (1985) und Nightshades: Thirteen Journeys Into Shadow.

Tanith Lee war seit 1992 mit dem Künstler John Kaiine verheiratet und lebte und arbeitete in Brighton/England.

Sie verstarb im Jahre 2015 im Alter von 67 Jahren.

 

Der Apex-Verlag widmet Tanith Lee eine umfangreiche Werkausgabe.

  Das Buch

 

 

Der Vampir gehört zu den ältesten Mythen der Menschheit. Was wird geschehen, wenn die Menschen das Geschlecht der blutsaugenden Wiedergänger einst mit zu den Sternen nehmen? Das Mädchen Sabella lebt unter den Kolonisten auf dem erdähnlichen Planeten Nova Mars. Sie hat ein furchtbares Geheimnis, das sie geschickt zu hüten weiß. Denn auf Nova Mars wird sich entscheiden, wem das Universum gehören soll: Menschen oder Vampiren...

 

Der Roman Sabella - Der letzte Vampir – erstmals im Jahr 1980 veröffentlicht – aus der Feder der englischen Bestseller-Autorin Tanith Lee verbindet auf faszinierende Weise das Unheimlich-Erotische mit dem Phantastischen. 

SABELLA - DER LETZTE VAMPIR

 

 

 

 

 

 

  1. TEIL: DIE WÖLFE

 

 

 

Erstes Kapitel

 

 

In jener Nacht, in der meine Tante Cassi starb, war ich draußen auf Jagd. Als sie zum letzten Mal die revitalisierte Luft von Ares einatmete, befand ich mich hoch droben auf dem Hammerhead-Plateau im Strahlenglanz von vierzigtausend Sternen. Vielleicht habe ich sogar in der gleichen Minute getötet, da sie ihren letzten Atem aushauchte. Ich hatte nicht die Absicht gehabt zu töten, vielleicht war es ein Omen gewesen. Hatte ich denn nicht gefühlt, wie sie in der schwarzen, sternendurchfunkelten Finsternis nach mir griff, mit ihren toten Fingern auf mich zeigte, mir winkte, mich verfluchte? Oder hätte ich denken sollen, es wäre nur der eisige Nachtwind von Novo Mars gewesen? Kurz nach Sonnenaufgang (auf Novo Mars erhebt sich die Sonne wie eine Bombe aus Licht in den Himmel, die Dämmerung währt nur sechzig Sekunden) stand der Postbote vor der Tür. Er war ein richtiger Mann, der Postbote, ich meine menschlich, denn die Mechanisierung reicht noch nicht bis in die Abgeschiedenheit von Hammerhead. Er stand gegen den hellrosa Himmel, sein Postroboter saß neben ihm. Als ich ihm öffnete, sah er mich so, wie er mich immer sieht, in meinem schwarzen Morgenrock und meiner schwarzen Brille, mit Haaren, die sich wie schwarzer Kaffee von meinem Scheitel bis zu meinen Schultern ergießen. Er denkt, ich wäre eine Schlampe, eine Trinkerin, eine Drogensüchtige. Denkt? Dachte. Vielleicht denkt er es noch immer, wer weiß.

»Miss Quey? Ein eingeschriebenes Stellagramm. Quittieren Sie hier, bitte.«

Er wirkte mürrisch wie immer Er überlegte wohl, ob ich ihn eines Tages in meinem seidenen Morgenrock verführen würde. Aber das werde ich ganz sicher nicht tun. Er meinte, mein Name Quey (ausgesprochen wie Kay) wäre sehr klangvoll. Der Name des Absenders lautete Koberman, Cassis Name.

»Danke«, sagte ich und quittierte mit meinem Daumenabdruck.

»Tut mir leid, Sie geweckt zu haben«, sagte der Postbote. Seine dummen, traurigen, böswilligen, menschlichen Augen aber sagten: Ich glaube, dass ihr Huren alle bis spät in den Morgen hinein schlaft.

Ich aber wollte mich nicht herumzanken, nicht in diesem lauen, rosawässrigen Sonnenglanz vor meiner Tür. Das leichte Stellagramm wog schwer in meinen zitternden Händen.

»Es ist okay«, sagte ich. Ich schloss die Tür aus Rauchglas und kehrte in den lieblichen Schatten zurück.

Die Vorhänge aus blauem Papier und lila Stoff waren alle zugezogen. Wie schön das aussah, eine Schönheit aus der Not geboren. Dieser eine Lichtstrahl in meinem Gesicht hatte es mir bestätigt. Ich erinnerte mich an das gestreifte Reh, und ein paar Tränen quollen aus meinen Augen.

Das gefärbte Glas des Fensters im Flur über der Treppe weinte auch und hinterließ einen großen roten Klecks auf dem hölzernen Fußboden.

Als ich endlich das Stellagramm öffnete, tat ich es ohne großes Interesse, es war eben auch etwas, was getan werden musste. Zuerst dachte ich, es käme von Cassi selbst, und ich überlegte, warum sie sich plötzlich an mich erinnerte und was so wichtig sein könnte, dass sie es sogar für notwendig erachtete, mir ein Stellagramm zu senden. Was hatte das zu bedeuten? (Ob andere auch ihre Post mit diesem Gefühl der Angst und der bangen Erwartung öffneten? Wie sehr liebte ich Werbesendungen und Rundschreiben, die man wegwerfen und vergessen konnte.) Doch dann entdeckte ich, dass es nicht von Cassi kam, sondern von ihrem Schwager, ein förmliches Stück Papier mit förmlichen Sätzen darauf. Cassi war tot, aber sie sandte mir eine Einladung zu ihrem Begräbnis. Es hatte ihr sehr am Herzen gelegen. Um sicherzugehen, dass ich auch kam, hatte sie mir einige tausend steuerfreie Novo Mars Credits hinterlassen. Ich hatte nicht gewusst, dass sie reich gewesen war. Ich hatte auch nicht gewusst, dass ihr mein Aufenthaltsort bekannt gewesen war, und ich konnte mir nicht denken, was sie mit ihrem Post-mortem-Spiel bezweckte. Anscheinend hatte sie es sich in den Kopf gesetzt, mich ans Kreuz der Auferstehungskirche zu nageln. Aber dann musste auch sie es all die Jahre gewusst haben...

Warum muss jeder nur das Geld so sehr lieben? Ich war nicht reich. Sie erwarteten von mir, dass ich mir Reichtum wünschte, und wenn ich es nicht tat, wollten sie herausfinden, warum nicht. Cassi hatte sich meiner erinnert, und sie hatten mich schließlich hier aufgestöbert. Selbst wenn ich davonlief (ich spielte mit dem Gedanken), würden sie mir folgen.

Sabella Quey, dieses Geld gehört dir, würden sie sagen, wenn wir dort in dein strahlenden, köstlichen Sonnenlicht des rosa überhauchten Novo Mars standen.

Eine Stunde später ging ich zum Musikdeck und schaltete es ein. Ich ließ die unheildrohenden Klänge einer Symphonie von Prokofjew wie eine Dusche über mich und durchs Haus strömen.

Aber oh, Sabella Quey, das Kreuz stand bereit.

Das Begräbnis, das übermorgen stattfand, zog mich wie ein Strudel in die Welt zurück.

 

Novo Mars ist dem alten Mars ähnlich genug, um diesen Namen zu rechtfertigen. Aber er ist eher ein rosa als ein roter Planet. Ich bin östlich von Ares. geboren. Diese kleine Welt ist alles, was ich je gekannt habe - den bonbonfarbenen Himmel mit den fahlblauen Wolken von lebensspendendem Sauerstoff, die die Luft über den Städten in eine lavendelfarbige Suppe verwandeln, den lohend roten Sand, die messerscharfen Hügelrücken wie aus Karton geschnitten, die rostroten Felsspitzen, die sich in der nur Sekunden währenden Dämmerung aufzulösen scheinen.

Die ganze Vegetation ist von der Erde importiert worden, wie man es in den Büchern nachlesen kann. Ebenso die Tiere, die sich vermehren und jagen und sich in der Sonne wärmen und ihre Gebeine auf den Ebenen, den Höhen und den ausgetrockneten Kanälen zurücklassen. Aber sowohl Flora als auch Fauna sind mit der Zeit mutiert, um sich dem neuen Klima und den neuen Lebensbedingungen anzupassen. Das Wasser war ursprünglich auch künstlich, aber atmosphärische Stabilisatoren, durch Viadukte und Reservoire ergänzt, haben diese kristallklare Flüssigkeit ebenfalls zu einem Teil von Novo Mars werden lassen. Hier und dort gibt es sogar echte Ruinen - Vorsicht! Touristenfallen! Dünne Säulen, geborstene Fundamente, zerbrochene Urnen, die von verschüttetem Staub flüstern - all diese Träume, die der alte Mars der Menschheit vorenthalten hat. Doch außer ihrer Architektur hat jene ursprüngliche Rasse, deren Wrack die Menschheit geerbt hat, kaum Spuren ihrer Existenz hinterlassen. Vielleicht finden es die Menschen auch romantischer, nur Vermutungen anzustellen, statt handfeste Beweise auszugraben.

Aber es gibt noch echte Marswölfe in den Hügeln oberhalb des Hammerhead Plateau. In klaren Nächten kann man sie in hohen Pfeiftönen heulen hören. Das  klingt, als ob uralte Lokomotiven, die sich verfahren haben, nach einem Bahnhof suchen würden. In regelmäßigen Abständen kommen Männer aus der Stadt und schießen auf sie, und in diesen Nächten hallt das ganze Land von Brade bis Hammerlake von Schüssen wider, und die Luft ist erfüllt von den Blitzen der Mündungsfeuer. Aber Wölfe haben schon so vieles überlebt, den Ansturm von Menschen, Wasser- und Luftmangel, sie können auch Gewehre überleben. Ihr zottiges Fell hat die Farbe von rosa Champagner, denn ihre Gene sind schon seit langem so programmiert, sich ganz der Umwelt anzupassen. Wenn man aber des Nachts das Funkeln ihrer Augen sieht, körperlose Bluttropfen von Sternenglanz gerahmt, weiß man, was sie sind.

Wenn sie heulen, wenn sie heulen, Sabella, dann stehen einem die Haare zu Berge, die Augen füllen sich mit Tränen und der Mund mit Wasser.

 

Ich nahm die Nachtmaschine nach Aresport. Es ist ein zweistündiger Flug mit der Luftfähre von Brade aus. Um aber nach Brade zu gelangen, musste ich den Air-Bus um neunzehn Uhr in Hammerlake-Station erreichen. Die fünf Meilen bis zur Station ging ich zu Fuß, durch den verblassenden Nachmittag, durch die blutrote Minute kurz vor Sonnenuntergang, durch die Sekunden des Sonnenuntergangs, durch die Flutwelle des Abends. Fünf Meilen waren nichts für mich, und die Straße war gut. Sobald die Sonne untergegangen war, nahm ich meinen schwarzen Strohhut und die schwarze Brille ab und trug sie zusammen mit meinen Sandalen und meinem einzigen Gepäckstück in der Hand.

Der halbstündige Flug verlief ohne besondere Vorkommnisse. Der Air-Bus war fast leer, nur wenige Leute stiegen in den Stationen Spur und Canyon zu.

Als ich in Brade eingecheckt und mich an Bord der Fähre in dem mit Plastikplüsch bezogenen Sitz festgeschnallt hatte, überkam mich zum ersten Mal eine Todesahnung. Ich hatte es erwartet, aber nicht. mit solcher Heftigkeit. Schließlich hatte ich bisher schon einige unvermeidliche Reisen unternommen, und ich habe sie stets lebend überstanden, manche mit weniger Schrammen als andere. Dann erinnerte ich mich an den Tod meiner Mutter. Diese Erinnerung war ebenso erwartet wie unvermeidlich, und ein Gefühl der Trauer erfüllte mich. Meine Mutter, Cassis Schwester, hatte mich verstanden. Als ich eines Morgens nach Hause gekommen war, hatte ich sie tot aufgefunden. Wie anklagend lag sie genau in dem roten Lichtklecks unter dem gefärbten Fenster. So gut hatte sie mich verstanden. Ich weiß nicht, ob sie das beabsichtigt hatte oder nicht. (In meinem Wahnsinn, so könnte man vermuten, bilde ich mir ein, dass sich der Tod gegen mich verschworen hat - mehr noch als das Leben. Der Tod, der seine Schlingen auslegt, in denen ich mich verfangen soll, der mir Fallen stellt und wie ein blankes Schwert über meinem Kopf schwebt.) Aber meine Mutter war eines natürlichen Todes gestorben, wenn eine Herzattacke natürlich ist. Der Arzt, der mich ebenso wie der Postbote mit meiner Sonnenbrille gesehen und mich mit dem gleichen ablehnenden, aber doch faszinierten Blick betrachtet hat, stellte die Todesurkunde mit einigem Argwohn aus. Natürlich hatte er die Stories über dieses seltsame Paar, Mutter und Tochter, gehört, das in dem alten Kolonialhaus am Fuß der Hügel wohnte. Als ich sechzehn oder siebzehn gewesen war und mich von Hammerlake-Town nicht mehr fernhalten konnte, erzählte man sich allerlei Geschichten über mich. Die Jungens pfiffen hinter meinen langen, schlanken Beinen, meinen schwingenden Hüften und meinem üppigen Jungmädchenbusen her. In jenen Tagen (Nächten) hatte ich noch keine Ahnung gehabt. Keine. Wenn ich daran denke, wie glücklich ich damals gewesen war, überkommt mich ein Beben, selbst jetzt noch. Das Wissen kam lange nach der Schuld, aber meine Mutter hatte es schon viel früher gewusst. Es hatte ihr das Herz abgeschnürt. Es hat sie getötet. Ich habe sie getötet.

Die Düsen der Maschine begannen zu röhren, und das Zeichen zum Anschnallen leuchtete auf. Ich schaute gar nicht hin. Ich hatte bereits gelernt, wann man sich eine Beschränkung seiner persönlichen Freiheit auferlegen musste, denn wir leben in einer Herden-Zivilisation; auch ich, ob ich es nun ertragen kann oder nicht. Die Maschine schob sich auf ihrem Jet-Strom, und die Sterne drängten sich vor den Fenstern.

Ich schlafe nur selten des Nachts, die Dunkelheit hat mir mit ihrer Stille und ihren Geheimnissen zu viel zu bieten. Aber das eintönige Brummen der Maschine und das schummrige Licht schläferten mich langsam ein.

Dann begann ich zu träumen. Ich träumte von Easterly, eine logische Fortsetzung meiner vorhergehenden Gedanken über Cassis Tod und den Tod meiner Mutter.

Easterly war eine kleine Ansiedlung, zweiundsechzig Meilen östlich von Ares gelegen, wo meine Mutter und Cassi geboren sind und ich aufgewachsen bin. Mein Vater hatte als Sprenger in den Erzminen gearbeitet, und als ich zwei Jahre alt gewesen war, ging eine Sprengladung zu früh hoch. (Die Liste des Todes.) Für solche Fälle hatte seine Firma Versicherungen abgeschlossen, und meiner Mutter war eine ansehnliche Summe ausgezahlt worden, die uns einen kurzen Reichtum bescherte. Tante Cassi, eine Abenteurerin, hatte sich zu jener Zeit auf der Erde aufgehalten.

Ich kann mich genau an das Ziegelsteinhaus in Easterly erinnern, an die Straße mit all den anderen Ziegelsteinhäusern. Im Schlaf konnte ich jedes Detail mit mikroskopischer Klarheit erkennen. Jeder Ziegelstein leuchtete in der Sonne. Ich erinnerte mich an den Anis-Duft der Wiesen, auf denen schwarzhaarige Jungen Fußball spielten. Die Erzminen waren unter dichtem Geröll verborgen, aber in der Feme spuckten die Schornsteine der drei Raffinerien ihre Rauchwolken in die Luft. Hinter den Raffinerien, auf dem anderen Flussufer, verloren sich die Wiesen und die wilden Blumen in der Öde kupferroten Sandes. Auch in Easterly gibt es Ruinen. Aber mit elf Jahren wusste ich das nicht. Einer der ausgetrockneten Kanäle verschwindet unter dem Gestein einer alten Mine. Dort drin...

»Komm raus!«, ruft meine Mutter. »Bel, komm dort raus aus diesem dreckigen, dunklen Loch. Bel, hörst du mich?«

»Aber Mama. hier sind Säulen wie Lilienstengel. Mama, es ist nicht dunkel...«

»Kind, die Wände können einstürzen.«

Warum war ich so verstört? Ich war noch niemals vorher so verstört gewesen. Ich war elf. An diesem Tag habe ich das erste Mal geblutet. Und an diesem Tag fand ich...

»Bel!«

Oh Gott, warum blute ich so?

»Bel!«

Ich bemerkte, wie mich der Tunnel einschloss, mich fortzog, und ich sah das entsetzte Gesicht meiner Mutter langsam vor mir zurückweichen, verschwinden...

Als ich erwachte, weinte ich leise: »Mama, Mama!« Wie eine jener Puppen, die es vor Jahrhunderten gegeben hatte.

»Es ist alles in Ordnung«, sagte jemand. »Wirklich. Sie sind wach. Es ist alles gut.«

Es war ruhig in der Kabine der Maschine. Viele Passagiere schliefen, ohne von schlimmen Träumen geplagt zu werden. Auf dem Sitz neben mir sagte ein Schatten: »Ehrlich, es ist alles okay.« Die Stimme war sehr sanft, als spräche sie zu dem Kind, das ich noch vor wenigen Sekunden gewesen war.

»Ist es okay?«, fragte ich, um Zeit zu gewinnen.

»Sicher. Sie sind wieder wach.«

»Bin ich das?«

»Natürlich. Ich schwöre.«

Er lachte, freundlich und still. Ich hatte noch keine Zeit gehabt, ihn richtig anzuschauen. Mein erster verschwommener Blick nach dem Erwachen hatte nichts in sich aufnehmen können Aber er war jung. Vielleicht in meinem Alter.

Ich musste jetzt besonders vorsichtig sein.

»So ist es besser«, sagte er. »Kann ich Ihnen irgendetwas holen?«

»Irgendetwas?« Nein, ich durfte jetzt keine Torheit begehen.

»Vielleicht einen Brandy?«

»Nein, vielen Dank.«

»Aber Sie müssen etwas trinken, und sei es nur, um sich selbst zu beweisen, dass der Traum vorbei ist. Ich habe auch manchmal solche Träume.«

»Woher wollen Sie wissen, was das für ein Traum war?«

»Auf alle Fälle ein schlechter. Oh, ich kenne das.« Seine Stimme war warm und melodisch. Vielleicht hatte Prokofjew seine Stimme beschrieben. »Letztes Jahr war ich mit meinem Bruder auf Gall Vulcan gewesen. Ich hatte Mescadrine genommen und war ausgeflippt.« Mescadrine ist eine Rauschdroge. Jetzt erzählte er mir, wie sein Bruder ihn wieder zu sich gebracht hatte, wie er bei ihm gesessen, seine Hand gehalten und ihn wie ein Baby in den Armen geschaukelt hätte. »Ich schäme mich nicht, Ihnen das zu erzählen«, sagte der junge Mann im Schatten. »Wir sollten uns voreinander nicht schämen.«

Ich aber schämte mich. Ich war ängstlich, beschämt und erregt.

Es war dieses Jagd-Syndrom. Ich war die Beute, und das Geschoss kam geradewegs auf mich zu. Um zu vermeiden, dass es mich durchbohrte, musste ich es mit bloßen Händen auffangen.

»Wenn Sie keinen Brandy wollen, wie wäre es dann mit einem Obstsaft?«

Ich bin auf dem Weg zu einem Begräbnis. Lass nicht zwei daraus werden.

»Ja, bitte.«

Ich sah ihm nach, wie er zu dem Automaten ging. Und als er zurückkam und wir den kalten Saft tranken, sah ich ihn noch immer an. Er war wie ein Sonnenstrahl in der dunklen Kabine. Er hatte den hellen Bronzeton von Novo Mars, den ich selbst durch Höhensonne nicht erlangen kann. Seine Augen und seine Haare waren so dunkel wie die meinen. Er trug sein Haar lang, eine stets. wiederkehrende Mode für junge Poeten und Träumer. Seine Kleidung war lässig aber von guter Qualität, und er trug eine goldene Kette in der Form einer Schlange um den Hals. Der phantasievolle Juwelier hatte den schmalen ziselierten Kopf mit Augen aus Edelsteinen versehen.

»Ich hoffe, Sie sind nicht wütend, dass ich Sie angesprochen habe«, sagte er.

»Ich bin nicht wütend.«

»Ich hatte aber den Eindruck.« Er senkte die Lider, und ich fühlte mich traurig. Alt und traurig, müde und einsam. »Ich habe Sie beobachtet, während Sie schliefen. Ich hatte mir vorgenommen, Sie anzusprechen, wenn Sie aufwachen. Aber dann hatten Sie den Alptraum.«

Wie seltsam und eisig der Saft schmeckte. Meine Zungenspitze begann zu brennen. Ich habe mir immer vorgestellt, Champagner, den ich noch nie probiert habe, könnte etwa so schmecken. Wie aber schmeckte er wirklich?

»Ich wollte mit Ihnen sprechen, wissen Sie?«

Ja. Ich weiß, ich weiß.

Ich habe diese alten Puppen erwähnt, die Mama sagen konnten. Heutzutage sind die Puppen Roboter, die alles tun, was die Kinder ihnen einprogrammieren: essen, schlafen, weinen, tanzen, urinieren, Geschichten erzählen. Auch Menschen kann man so programmieren, dass sie alles tun - wie die Puppen.

Ich schluckte den Obstsaft hinunter.

»Eine Verwandte von mir ist gerade gestorben«, sagte ich flach.

»Das tut mir leid.«

»Ja, wir waren sehr miteinander verbunden. Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Ich bin im Moment keine gute Gesellschafterin. Ich möchte allein sein.«

Es fiel mir schwer, das zu sagen. Es war zum Lachen, aber es fiel mir schwer.

»Okay. Natürlich.«

Er stand auf. Der Schlangenkopf über seiner Kehle hatte blaue Augen, die bösartig glitzernd auf mich gerichtet waren. Aber seine Augen waren unschuldig.

»Mein Name ist Sand - ja, tatsächlich, Sand Vincent. Wenn Sie irgendetwas brauchen...«

Eine magische Formel, dieses Austauschen von Namen - aber ich lächelte ihn nur an, so steif und kalt wie ich nur konnte, und er ging.

Es wäre so leicht, ihn dazu zu bringen, zu mir zu kommen. Ich war wie ein Magnet. Die Burschen auf den Straßen von Hammerlake hatten sich vor sieben oder acht Jahren die Köpfe nach mir verrenkt, als ich sechzehn siebzehn gewesen war. Hey, Schwester! Hey, Baby!

Es gibt noch immer Wölfe in diesen verdammten Hügeln!

Die Gewehrschüsse und die Lichter in den Bergen... Ich schaute auf die Uhr in der Kabine. Nur noch weniger als eine Stunde bis Ares. Ich wollte nicht noch einmal einschlafen.

 

Die Fähre landete auf dem Cliffton Terminus. Aresport hat siebenundzwanzig Landebahnen. Ares ist eine große Stadt, allerdings nicht ganz so groß wie Dawson und Flamingo im Norden.

Um diese Zeit war Cliffton ein Geisterflughafen - fast völlig ausgestorben. Trotzdem gibt es auch hier wie auf jedem Flugplatz eine Zollkontrolle. Man wird nach Drogen, Waffen und Diebesgut durchsucht. Das Gepäck wurde entladen, und hier und da wurde ein Koffer geöffnet. Auch meiner wurde geöffnet. Das elektronische Auge hatte. den Metallverschluss eines Behälters entdeckt, und ein Alarm heulte auf. Zwei Sicherheitsbeamte kamen herbei und baten mich, den Behälter auszupacken. Durch das transparente Material konnte man den roten Saft darin sehen.

»Großer Gott, Lady, ist das etwa Blut?«

Sand, der vor mir die Kontrolle passiert hatte, drehte sich um.

»Stimmt etwas nicht?«

»Diese Dame hat eine Flasche mit Blut in ihrem Gepäck.«

Die Beamten auf dem Flughafen waren sich ihrer Macht bewusst, aber mit ihrer Art von gehässigem Humor konnte ich mich durchaus messen.

»Das ist ein Konzentrat aus Apfel- und Tomatensaft mit Vitaminen versetzt«, erklärte ich. Mein Arzt hat es für mich gemixt. Möchten Sie es probieren?«

Die Beamten grinsten. Sabella, die stolze Schönheit, hatte es ihnen angetan, und ihr Dienst auf dem öden Flughafen von Cliffton war eintönig genug.

Sie holten Plastikbecher und destilliertes Wasser, und ich öffnete die Flasche. Wir mixten einige Drinks. Ich hoffe, es hat ihnen geschmeckt.

»Es riecht nach Blüten. Oder Hasch«, sagte Sand verblüfft.

»Das soll wohl ein Witz sein, junger Mann«, sagte einer der Beamten. »Unsere Lager sind bis zum Dach vollgestopft mit konfisziertem Haschisch von Vulcan, wofür kein Zoll bezahlt wurde.«

»Und gutem alten Alkohol« fügte ein anderer hinzu.

»Sind Sie wirklich ganz in Ordnung?«, fragte Sand, als wir das Flughafengebäude verließen. Ein breiter Highway führt von hier nach Ares. Über der Stadt kann man die Sterne nicht sehen. Die revitalisierte Atmosphäre ist dicht, und die opalisierenden Farben der tiefhängenden Wolken spielen in allen Schattierungen, als wären sie Rauch, der von einer brennenden Stadt aufsteigt.

»Ja, ich bin in Ordnung.«

»Ich meine nur - Ihnen scheinen die verrücktesten Dinge zu passieren, nicht wahr?«

»Ja, tatsächlich. Aber ich werde schon klarkommen.«

Der Hauch der ersten Morgenstunde ließ die Wolken langsam v erblassen.

»Ich möchte nicht aufdringlich sein«, sagte Sand. »Aber nach diesem Begräbnis...«

»Fahre ich nach Hause.«

Sag doch: Zu meinem Mann und meinen zwölf Kindern. Sag es! Aber ich sagte es nicht.

Sand wandte sich der Stadt zu.

»Feuersäulen steigen in die Nacht empor.« Er musste einen Bibelkurs besucht haben.

Mein Herz raste. Der Anblick der Stadt verursachte mir Schmerzen der Freude. Ich finde keinen Makel an Zivilisationen. Eine Landschaft mit Stahltürmen rührt mich ebenso an wie eine Landschaft mit Felsspitzen und Bächen. Es sind Landschaften, wenn auch unterschiedlich. Für mich sind sie alle gleich.

Ich schluckte:

»Ich muss jetzt gehen«, sagte ich. Ich konnte nicht nett zu ihm sein, wagte es nicht. »Entschuldigen Sie mich.«

Ein Taxi hielt an der Bordsteinkante.

Ich stieg ein und bat, mich zu einem Hotel mittlerer Preisklasse zu fahren. (Nicht billig genug, um zweifelhaftes Gesindel anzulocken, nicht teuer genug, um zu Spekulationen Anlass zu geben.)

Sand stand am Fenster.

»Wollen Sie mir noch nicht einmal Ihren Namen sagen?«

»Lieber nicht.«

»Dieser Anhänger...«, sagte er.

Das Taxi fuhr an.

Meine Zungenspitze brannte wie Feuer.

 

Die Sonne ging um sechs Uhr auf, und um achtzehn Uhr dreißig ging sie unter. Tante Cassis Beerdigung war für sechzehn Uhr angesetzt. Das war günstig. Die Sonne würde bereits im Westen hinter den hohen Bäumen und weißen Grabsteinen aus Marmor des Koberman-Friedhofs verschwunden sein. Von dem Friedhof hatte mir mein Onkel ein Foto geschickt.

Warum bist du ganz schwarz gekleidet, Sabella, Baby?

Weil es die Sonne abhält. Die Frauen im Osten der Erde wussten das schon lange. Sie wussten auch noch andere Dinge. Was soll man denn auch sonst zu einem christlichen Begräbnis tragen? Ein schwarzes Kleid, schwarze Strümpfe und schwarze Schuhe, die mit meinen Beinen scheinbar verwachsen waren, als ob ich mit hohen Absätzen geboren worden wäre. Ein großer schwarzer Hut. Ich bin ein Rabe. Nein, die Raben im Zoo von Ares sind weiß.

Ich schob den Anhänger unter mein Kleid. Er musste mir während des Schlafs rausgerutscht sein, und ich hatte es nicht bemerkt. Nur Sand hatte ihn gesehen, und vielleicht auch die Zollbeamten.