7,99 €
Cyrion: Poet, Sänger, Söldner und Schwertkämpfer - der ungewöhnlichste Held der Fantasy!
Einige sagen, er sei ein Königsohn aus dem Westen, der von Wüstennomaden entführt und aufgezogen wurde. Andere halten ihn für einen Dämon, der sich als Mensch verkleidet hat. Ein Zauberer, ein Schwertmeister, ein Verwandlungskünstler - honigblond, von bleicher Haut, die Frauen betörend und für die Männer ein tödlicher Gegner.
Für Roilant, dessen Leben sich durch bösen Zauber in einen Alptraum verwandelt hat, ist Cyrion die letzte Hoffnung. Nur der legendäre Fremdling kann ihn vor seinen magischen Verfolgern schützen. Doch selbst in den sonnendurchglühten Oasengärten einer fernen mystischen Welt gibt es viele, die an der Existenz Cyrions zweifeln. Aber es gibt noch mehr, die von ihm Wundersames erzählen können...
Der Roman Cyrion – erstmals im Jahr 1982 veröffentlicht – aus der Feder der englischen Bestseller-Autorin Tanith Lee gilt als einer der großen Klassiker der epischen Fantasy-Literatur.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
TANITH LEE
Cyrion
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Die Autorin
Das Buch
CYRION
Vorwort – Der Honiggarten
Erste Erzählung: Cyrion in Wachs
Erstes Zwischenspiel
Zweite Erzählung: Ein Held vor den Toren
Zweites Zwischenspiel
Dritte Erzählung: Für eine Nacht
Drittes Zwischenspiel
Vierte Erzählung: Cyrion in Bronze
Viertes Zwischenspiel
Fünfte Erzählung: Der Assassine
Fünftes Zwischenspiel
Sechste Erzählung: Gefangen im Bernstein
Sechstes Zwischenspiel
Siebte Erzählung: Ein Luchs unter Löwen
Siebentes Zwischenspiel
Zweites Vorwort: Der Olivenbaum
Novelle: Cyrion in Stein
Nachwort
Tanith Lee.
(* 19. September 1947, + 24. Mai 2015).
Tanith Lee war eine britische Horror-, Science Fiction- und Fantasy-Schriftstellerin und Verfasserin von Drehbüchern. Sie wurde viermal mit dem World Fantasy-Award ausgezeichnet (2013 für ihr Lebenswerk) und darüber hinaus mehrfach für den Nebula- und British Fantasy-Award nominiert.
Im Laufe ihrer Karriere schrieb sie über 90 Romane und etwa 300 Kurzgeschichten. Sie debütierte 1971 mit dem Kinderbuch The Dragonhoard; 1975 folgte mit The Birthgrave (dt. Im Herzen des Vulkans) ihr erster Roman für Erwachsene, der zugleich auch ihren literarischen Durchbruch markierte.
Tanith Lees Oevre ist gekennzeichnet von unangepassten Interpretationen von Märchen, Vampir-Geschichten und Mythen sowie den Themen Feminismus, Psychosen, Isolation und Sexualität; als wichtigsten literarischen Einfluss nannte sie Virginia Woolf und C.S. Lewis.
Zu ihren herausragendsten Werken zählen die Romane Trinkt den Saphirwein (1978), Sabella oder: Der letzte Vampir (1980), Die Kinder der Wölfe (1981), Die Herrin des Deliriums (1986), Romeo und Julia in der Anderswelt (1986), die Scarabae-Trilogie (1992 bis 1994), Eva Fairdeath (1994), Vivia (1995), Faces Under Water (1998) und White As Snow (2000).
1988 gelang ihr mit Eine Madonna aus der Maschine (OT: A Madonna Of The Machine) ein herausragender Beitrag zum literarischen Cyberpunk; eine Neu-Übersetzung der Erzählung wird in der von Christian Dörge zusammengestellten Anthologie Cortexx Avenue enthalten sein.
Ihre wichtigsten Sammlungen von Kurzgeschichten und Erzählungen sind: Red As Blood/Tales From The Sisters Grimme (1983), The Gorgon And Other Beastly Tales (1985) und Nightshades: Thirteen Journeys Into Shadow.
Tanith Lee war seit 1992 mit dem Künstler John Kaiine verheiratet und lebte und arbeitete in Brighton/England.
Sie verstarb im Jahre 2015 im Alter von 67 Jahren.
Der Apex-Verlag widmet Tanith Lee eine umfangreiche Werkausgabe.
Cyrion: Poet, Sänger, Söldner und Schwertkämpfer - der ungewöhnlichste Held der Fantasy!
Einige sagen, er sei ein Königsohn aus dem Westen, der von Wüstennomaden entführt und aufgezogen wurde. Andere halten ihn für einen Dämon, der sich als Mensch verkleidet hat. Ein Zauberer, ein Schwertmeister, ein Verwandlungskünstler - honigblond, von bleicher Haut, die Frauen betörend und für die Männer ein tödlicher Gegner.
Für Roilant, dessen Leben sich durch bösen Zauber in einen Alptraum verwandelt hat, ist Cyrion die letzte Hoffnung. Nur der legendäre Fremdling kann ihn vor seinen magischen Verfolgern schützen. Doch selbst in den sonnendurchglühten Oasengärten einer fernen mystischen Welt gibt es viele, die an der Existenz Cyrions zweifeln. Aber es gibt noch mehr, die von ihm Wundersames erzählen können...
Der Roman Cyrion – erstmals im Jahr 1982 veröffentlicht – aus der Feder der englischen Bestseller-Autorin Tanith Lee gilt als einer der großen Klassiker der epischen Fantasy-Literatur.
Für Carol McShane
Sie weiß, warum
Der dickliche junge Mann mit dem leuchtend rötlichgelben Haar verursachte einen gehörigen Aufruhr, als er das Gasthaus betrat. Und ganz ohne Absicht.
Geblendet von dem hellen Sonnenlicht in den Straßen, übersah er eine der drei Eingangsstufen. Als er sich mit einem unfreiwilligen Satz vor den Folgen seines Irrtums zu bewahren suchte, prallte er gegen den ahnungslosen Mann, der gerade mit zwei Flaschen Wein in der Hand vorüberging. Mit einem zweistimmigen Überraschungs- und Schmerzensschrei stolperten beide in die Arme der bronzenen Quirri, die den Eingang bewachte. Und betätigten natürlich den Gong, der an ihrer Hand hing. Ein lautes Dröhnen hallte durch das Gebäude, gefolgt von dem Klirren erst einer Weinflasche, dann der zweiten Weinflasche.
Ein seidener Vorhang, der beiseitegeschoben wurde, gab den Blick auf den Hauptraum der Schänke und auf zwei kampfbereite Gäste männlichen Geschlechts frei. Der eine war ein untersetzter Bursche mit schwarzen Augenbrauen, der andere ein blonder Westländer, dessen Rüstung einen Soldaten vermuten ließ, wozu auch der Dolch passte, den er rein gewohnheitsmäßig schon gezogen hatte. Aus einem Gang kam auch der Wirt herbeigestürzt. Zu ihren Füßen zappelten die beiden Gestalten und schlugen matt um sich.
»Bringen sie sich gegenseitig um?«
»Der Halunke hat meinen armen Sklaven angegriffen!«
Der dunkelhaarige Mann mit dem Abzeichen eines Baumeisters griff ein und zerrte den rothaarigen jungen Mann nach einer Seite, während der halbbetäubte Sklave nach der anderen Seite rollte. Der Wirt beugte sich über ihn und flötete: »Sag doch was, Esur. Stirbst du? Wo sich der Preis für Sklaven eben erst verdoppelt hat.«
Der Soldat hatte seinen Dolch wieder weggesteckt. Mit einem belustigten Ausdruck auf seinem hübschen, bärtigen Gesicht meinte er: »Ein Versehen, glaube ich.« Er drehte sich um und kehrte in den Gastraum zurück. Mit schamroten Wangen begann der dickliche Jüngling sein Missgeschick zu erklären und zog Geld heraus, um für den vergossenen Wein und den umgestoßenen Sklaven zu bezahlen. Der Baumeister sah zu und spielte mit der Goldmünze in seinem Ohr.
Nachdem er sich von der Unversehrtheit des Sklaven überzeugt hatte, nahm der Wirt jetzt die bronzene Quirri in Augenschein. Diese Nachbildung einer heidnischen Statue der Bienengöttin – von den Remusanern eingeführt, als sie vor Jahrhunderten die Stadt eroberten – war das Wahrzeichen seines Gasthauses, das unter dem Namen Der Honiggarten bekannt war. Der Wirt tastete die Statue misstrauisch ab, war's zufrieden, versetzte dem Sklaven einen Tritt, nahm das angebotene Geld und beschloss die ganze Sache zu vergeben und zu vergessen.
»Ihr seid willkommen, Herr. Der Honiggarten, die beste Schänke in ganz Heruzala, steht zu Eurer Verfügung. Womit können wir Euch dienen?«
Rotschopf wischte sich den Schweiß von der Stirn und bestellte frischen Wein.
»Und mariniertes, gebratenes Zicklein, mit Honig glasiert – unsere Spezialität...«
»Später«, wehrte der dickliche junge Mann ab. »Inzwischen...«
»Ja?«
»Ich suche einen Mann. Einen bestimmten Mann. Mir wurde gesagt, ich könnte ihn hier antreffen.«
»Sein Name, werter Herr?«
»Cyrion.«
Der Wirt legte sein Gesicht in Falten.
»Den Namen habe ich schon gehört. Ein Schwertkämpfer, nicht wahr? Wir legen keinen Wert auf Raufbolde.«
»Ein Schwertkämpfer, aber reich«, bemerkte der Baumeister leise.
»Ihr kennt ihn?«, forschte Rotschopf.
»Ich habe von ihm gehört.«
»Er ist in Heruzala bekannt?«
»Vielleicht. Außerdem noch an einigen anderen Orten, nehme ich an.«
»Man sagt«, meldete sich eine weibliche Stimme zu Wort, ein rauchiger Alt, »dass er aussieht wie ein Engel.«
Der Baumeister, der Wirt und Rotschopf starrten hinter einer hochgewachsenen, anmutigen Frau her, die nach diesen flüchtig hingeworfenen Bemerkungen an ihnen vorbei und die Treppe zur Straße hinaufging. Ihr mitternachtsdunkles Haar war reich mit Perlen durchflochten, und der Duft ihres schweren Parfums, der in der Luft hängenblieb, fesselte die Männer noch geraume Zeit. (Anders als der letzte Ankömmling verfehlte sie keine der Stufen.) Eilfertig folgte ihr eine Dienerin.
»Wie Ihr seht«, bemerkte der Wirt, »verkehrt bei uns nur die allerbeste Kundschaft. Aber wenn er – wie Ihr behauptet – reich und wohlerzogen ist, dieser Schirrien, dann könnte er schon hier eingekehrt sein...«
»Cyrion«, berichtigte der dickliche junge Mann. Er musterte den Baumeister aus entschlossenen, wenn auch unzweifelhaft kurzsichtigen Augen. »Wenn Ihr mir sagt, was Ihr wisst, werde ich Euch mit Gold belohnen.«
»Tatsächlich? Ich weiß aber nur sehr wenig.«
Aber Rotschopf drängte ihn zurück in den Gastraum, und mit einem resignierten Kopfnicken führte der Baumeister ihn an den Tisch, an dem er vor dem Zwischenfall gesessen hatte.
Auf dem Tisch befanden sich Blätter mit architektonischen Zeichnungen, ein Federhalter, Tinte und ein kleines Rechenbrett. Es war ein gemütliches Plätzchen zum Arbeiten. Ein hohes Fenster sorgte für ausreichendes Licht, und in einem nahen Käfig sang ein Vogel.
Der große, geschmackvoll eingerichtete Raum mit den blaugetünchten Wänden beherbergte an diesem Morgen nur wenige Gäste. In einer Ecke hatte der Soldat es sich wieder bequem gemacht und widmete sich seinem Wein. Weiter hinten debattierten in einer Nische zwei dunkelgewandete Männer mehr als lebhaft über die Schriften des Propheten Hesuf. Sie achteten nicht auf den Neuankömmling und auch nicht auf den Wein, der ihnen gebracht wurde.
Rotschopf setzte sich.
»Mein Name ist Roilant.« Juwelen funkelten an Kragen und Fingern, und in dem hellen Licht unter dem Fenster war die feine Qualität seiner Kleider zu erkennen, die unter dem kleinen Unglücksfall kaum gelitten hatten. »Der Name meiner Familie ist, soweit es mein Anliegen betrifft, ohne Bedeutung. Allerdings könnt Ihr sicher sein, dass ich durchaus in der Lage bin, Euch zu bezahlen, wenn Ihr mir helft. Ich hoffe, Ihr seid deswegen nicht beleidigt.«
»Nein.« Der Baumeister räumte seine Zeichnungen und das Rechenbrett beiseite, als der mürrische Sklave, Esur, einen Weinkrug und zwei Becher auf den Tisch knallte. »Ich ziehe es jedoch vor, meinen Lohn zu verdienen, und bin in diesem Fall nicht sicher, dass ich es kann. Diese Schänke ist recht gut, wie Gasthäuser eben so sind. Aber es ist nicht die beste in Heruzala. In der Rose oder im Adler hättet Ihr größere Aussichten auf Erfolg.« Der Sklave tat knurrend seine Zustimmung kund und bemerkte noch etwas in der Richtung, dass ein gewisser Herr ja versuchen könne, die dort beschäftigten Sklaven herumzuschubsen, die wesentlich unangenehmer werden könnten. Dann hinkte er theatralisch davon.
Roilant hörte es nicht.
»Aber man sagte mir, er wäre im Honiggarten anzutreffen.«
»Nun. Jetzt ist er nicht hier. Ihn zu übersehen dürfte einigermaßen unmöglich sein. Jung, gutaussehend, eisblond und so prächtig gekleidet wie König Malbart höchstpersönlich, wenn auch mit weit besserem Geschmack.«
Der Soldat am Nachbartisch, der die Bemerkung des Baumeisters gehört hatte, grinste. »Armer Malbart. Unter der Fuchtel der Königinmutter.«
Rotschopf Roilant fuhr auf. »Ich bin dem König vorgestellt worden. Meine Familie ist dem Herrscherhaus von Heruzala in Treue verbunden, und ich möchte Euch bitten...«
Seine Bitte wurde von einem plötzlich aufflammenden Streit übertönt. Der ältere der beiden Debattierer in der Nische war aufgestanden und schlug mit der Faust auf den Tisch.
»Diese Zeile, wie jeder gebildete Mensch weiß, wurde falsch aus dem Remusischen übersetzt. Habt Ihr keinen Verstand, junger Mann?«
Sein Gegenüber, ein Herr Ende Fünfzig, überhörte den jungen Mann und rief: »Da seid Ihr im Irrtum!«
»Ich sage Euch, der Ausdruck demütig ist falsch. Das ist seit Jahren bekannt...«
Sie sprachen wieder leiser.
Der Soldat hatte seinen Wein ausgetrunken, hielt aber seinen Becher in der Hand, als er zum Tisch des Baumeisters hinüberschlenderte und sich kameradschaftlich neben Roilant niederließ.
»Der alte heilige Mann da drüben«, meinte der Soldat, »besitzt ziemlich viele Ringe. Zwar nicht ungewöhnlich bei solchen Leuten wie den Nomaden, die ihren Reichtum bei sich tragen müssen. Aber verwunderlich bei einem Weisen, wofür ich den Mann halte...«
»Um auf Cyrion zurückzukommen«, bemerkte Roilant.
»Seht Ihr«, sagte der Baumeister, »dieser Euer Cyrion ist schwer zu packen. Und nicht nur ein einfacher Schwertkämpfer, scheint es. Jetzt sagt man, er sei mit einer Karawane unterwegs. Dann studiert er in einer der großen Bibliotheken. Dann wieder überlistet er einen Dämonen auf einem Berggipfel.«
Der Soldat setzte die Aufzählung fort. »Jetzt ist er in Heruzala. Dann ist er in Andriok. Dann wieder in der Wüste. Wo jetzt? In Luft aufgelöst.«
»Seit zwei Wochen bin ich auf der Suche nach ihm«, bemerkte Roilant. Er, der Baumeister und der Soldat tranken einen tiefen Schluck von Roilants Wein. »Aus einem bestimmten Grund muss ich über seine Fähigkeiten Bescheid wissen. Nicht etwa aus reiner Neugier. Aber alles, was mir zu Ohren kommt, sind Gerüchte.«
»Was ich Euch bieten kann, ist nur wenig besser«, erwiderte der Baumeister ernst. »Ich hörte die Geschichte an der Küste. Im Hafen von Jebba.«
»Jebba!«, rief Roilant. »Wollt Ihr etwa sagen, dass er sich dort befindet?«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Aber es scheint, dass er hin und wieder dort gewesen ist.«
Roilant seufzte. Sein schwaches Kinn sank herab, und der besorgte Ausdruck in seinen Augen vertiefte sich.
»Wenn Ihr mir erzählen wollt, was Euch zu Ohren gekommen ist, werde ich zuhören.«
»Nun«, meinte der Baumeister, »ich kann nicht garantieren, dass die Geschichte wahr ist. Unter anderem hat sie mit Zauberei zu tun. Vielleicht glaubt Ihr nicht an so etwas.«
»Oh.« Roilant erschauerte, und es kostete ihn offensichtlich Mühe, Haltung zu bewahren. »Ich glaube daran.«
Der Baumeister und der Soldat schauten sich unwillkürlich an.
Der Baumeister zupfte an der Münze in seinem Ohr.
»Ich verlange keine Bezahlung für eine Geschichte. Aber ich werde sie Euch erzählen, weil Ihr daraus einiges über Euren Cyrion erfahren könnt. Sie beginnt in einer Schänke in Jebba, weit besser als diese hier...«
»Cyrion, hüte dich vor diesem Mann.«
Cyrions Blick war arglos.
»Warum und vor wem?«
Mareme, die schöne Kurtisane, senkte rasch die türkis geschminkten Lider. Sie war jung, reizvoll, wohlhabend und dementsprechend schwierig zu gewinnen. Da sie nur für wenige zu haben war, hatte sie einiges über die Gewohnheiten dieser wenigen gelernt, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Schlafzimmers. Diesen hier glaubte sie gut genug zu kennen, um zu wissen, dass gerade Dingen, die er scheinbar nicht beachtete, seine ungeteilte Aufmerksamkeit gehörte. Außerdem hatte sie bemerkt, dass das Spiel Lotus-und-Wespe auf dem bemalten Elfenbeinbrett sich zu rasch zu ihren Gunsten entwickelte.
Ganz abgesehen davon war es bei Auftreten und Erscheinung des betreffenden Mannes kaum möglich, ihn zu übersehen.
Er hatte dunkles Haar und den seidig-olivenfarbenen Teint, der in dieser Gegend vorherrschte; sein Stirnband war golden und sein scharlachrotes Gewand, so lang wie das eines Gelehrten oder Arztes, mit bizarren goldenen Zeichen bestickt. Drei blass-purpurne Amethyste tropften von seinem linken Ohr. Ein strahlender Luzifer, so war er in den kühlen Garten der teuren Schänke getreten, gefolgt von zwei menschlichen Schakalen, die offensichtlich seine Leibwache bildeten, ein Paar tückisch dreinblickender Sadisten, zernarbt und gezeichnet von alten Kämpfen und eindeutig begierig nach mehr, als sie sich einen Weg durch Blumenkübel und unglückliche Gäste bahnten. Ihre Hände lagen an den Schwertgriffen, und an den Fingern trugen sie eiserne Dornen. Und niemand setzte sich zur Wehr. Neben ihrem Herrn gingen sie die Treppe hinauf und standen hinter ihm, als er sich setzte. Sein Platz befand sich auf der oberen Terrasse, gleich neben dem Küchenflügel, zwischen Mosaiksäulen und im duftenden Schatten der Orangen- und Zimtbäume. Nur zehn Schritte weiter beugten sich Cyrions silbern schimmerndes und Maremes kohlschwarzes Haupt über ihr kompliziertes Spiel. In dem tiefer gelegenen Hof mit seinen Blumen und dem Palmbaum, der vor der mittäglichen Hitze schützte, waren die Gespräche der Männer und Frauen verstummt und lebten nur flüsternd wieder auf. Die Gäste, die zu Boden gestoßen worden waren, erhoben sich und nahmen schweigend wieder ihre Plätze ein. Und, ungewöhnlich in dieser großen Küstenstadt, wo neugieriges Anstarren zum Leben gehörte wie das Atmen, kaum ein flüchtiger Blick streifte die ungewöhnliche Gestalt.
Schließlich eilte der Besitzer der Schänke herbei. Schon aus einer Entfernung von zehn Schritt war die glänzende Schweißschicht auf seinem plötzlich grünen Gesicht zu erkennen. Er verbeugte sich vor dem dunklen Mann.
»Womit kann ich Euch dienen, Lord Hasmun?«
Der dunkle Mann lächelte.
»In Butter gebratene Aale, etwas Quittenbrot. Ein Krug von dem Schwarzen, sehr kalt.«
Mit zitternden, kraftlosen Beinen wich der Wirt einen halben Schritt zurück.
»Wir haben keine Aale, Lord Hasmun.«
Einer der Schakale zuckte voller Vorfreude, aber mit einem trägen Fingerzeig befahl Hasmun ihm Ruhe.
»Dann«, bemerkte Hasmun weich, »besorgt Euch welche, Herr Wirt.«
Der Wirt flüchtete so schnell er nur konnte in die Küche. Eine Minute später huschten einige Jungen in den Garten, mit Quittenbrot, eisgekühltem schwarzem Wein aus Jebba und der Nachricht, dass andere den Fischmarkt absuchten.
Hasmun probierte den Wein. Die Schakale traten von einem Fuß auf den anderen.
Hasmun lachte seidig.
»Das vornehme Leben ist nichts für euch, wie? Nun, geht hinaus und spielt ein bisschen auf der Straße, meine Süßen.«
Die Leibwache verschwand, aber die Unterhaltung im Garten wurde nicht lebhafter und niemand hob den Kopf.
Bis Cyrion aufblickte, um über das Brett mit den Lotus- und Wespe-Steinen hinweg zu fragen: »Warum und vor wem?«
»Ich hätte den Mund halten sollen, glaube ich«, erwiderte Mareme sehr leise, »aber ich nahm an, du hättest ihn bemerkt.«
»Den Wirt? Oh, wir sind alte Freunde«, murmelte Cyrion. Er schien sich an das Spiel erinnert zu haben und brachte zwei von Maremes Steinen in seinen Besitz, bevor sie den Zug noch durchschaut hatte. Als es ihr gelungen war, meinte sie: »Schön wie die Engel magst du sein, mein Herz, aber leicht durchschaubar für eine erfahrene Künstlerin der Nacht. Vergiss es, Geliebter.«
Cyrion, der das Lotus-und-Wespe-Spiel gewonnen hatte, beschloss, Mareme das andere Spiel gewinnen zu lassen, das sie spielten.
»Ich habe schon einiges über Hasmun gehört. Aber nicht, warum ich mich vor ihm in Acht nehmen sollte.«
»Nicht nur du, mein Liebling. Wir alle. Sie nennen ihn den Puppenmacher. Wusstest du das?«
»Er macht also Puppen. Zweifellos ein besonders hübsches Geschäft, der Spielzeughandel.«
»Nicht solche Puppen, mit denen Kinder spielen«, Maremes Stimme sank zu einem kehligen Flüstern. »Solche Puppen, wie sie ein Magier von jemandem anfertigt, den er töten möchte und deren Leber er dann mit einer Nadel durchbohrt.«
»Hasmun ist Apotheker, wenn die Gerüchte ihn auch als Magier bezeichnen. Funktioniert der Trick?«
»Trick!« Mareme quiekte, als hätte ihre Stimme sich in die ihrer eigenen zahmen Flugratte verwandelt. »Drei sind schon gestorben, andere, die ihn gereizt hatten, wurden blind oder können nicht mehr gehen. Ah, Gott bewahre mich. Er schaut zu uns her.«
Cyrion lehnte sich in seinem Stuhl zurück und wandte langsam den Kopf. Die Strahlen der Mittagssonne drangen durch die Zweige der Orangenbäume, glänzten auf seinen eleganten, seidenen Kleidern und verwandelten sein Haar in pures Licht. Es war eine passende Gloriole für ein Gesicht, das Mareme mit dem eines Engels verglichen hatte – doch ob von der Art der himmelsbewohnenden oder der gefallenen war ein bisschen schwer zu bestimmen. Hasmun blickte tatsächlich in ihre Richtung, unverhohlen und amüsiert. Als er sich jetzt Cyrions blendendem Lächeln ausgesetzt sah, schloss er halb die Augen und genoss die Situation, wie auch Cyrion es zu tun schien.
»Ich hörte, wie mein Name erwähnt wurde«, sagte Hasmun. Seine Worte waren in dem gesamten Garten zu hören, wie er es beabsichtigt hatte. Die Gesichter zwischen den Blumenkübeln wurden noch etwas grauer. »Könnte es sein, dass meine bescheidene Person Euch bekannt ist?«
»Jeder kennt Hasmun, den Puppenmacher«, erwiderte Cyrion höflich. Und fügte liebenswürdig hinzu: »Aber grämt Euch nicht, kein Mensch kann etwas für seinen Geruch.«
Das sinnliche Vergnügen fiel Hasmun aus dem Gesicht. Es wurde völlig ausdruckslos. Vielleicht war auch das Genuss; eine andere Art von Genuss.
»Ich glaube, Ihr seid betrunken«, meinte Hasmun.
»Ich glaube, ich bin vollkommen nüchtern«, berichtigte Cyrion, sich erhebend, »denn was ich jetzt zu tun beabsichtige, erfordert eine ruhige Hand.«
Cyrion legte die nicht ganz zehn Schritte mit einer Schnelligkeit zurück, die das Auge verwirrte, und noch aus derselben flüssigen Bewegung heraus schien ihm, als er Hasmuns Tisch erreichte, der Krug mit Schwarzem Jebba wie von selbst in die Hände zu springen und seinen Inhalt über den Kopf des Magiers zu entleeren.
Getränkt mit der schwarzroten, stark duftenden Flüssigkeit heulte Hasmun wie ein getretener Hund. Dann fuhr er wild in die Höhe, sodass der Tisch samt Geschirr umstürzte.
Cyrion war entsetzt, untröstlich.
»Wie konnte ich nur so ungeschickt sein...«
Lärm brandete auf. Hasmuns Leibwache kehrte zurück. Anscheinend hatten sie sich damit belustigt, ein junges Mädchen vor der Tür der Schänke in Angst und Schrecken zu versetzen, und stürmten jetzt heran, wahrscheinlich mit einem Dankgebet an den Teufel im Herzen.
Cyrion wartete gelassen, bis die beiden sich auf der Treppe befanden, und rollte ihnen dann den Weinkrug zwischen die Füße. Einer brüllte auf, verlor den Halt und polterte rücklings zwischen die duftenden Büsche. Der zweite fiel auf ein Knie, richtete sich auf und sprang mit gezogenem Schwert auf die Terrasse.
Cyrion griff nicht nach seinem eigenen Schwert, das er an der Hüfte trug. Es schien, als habe er es vergessen. Er duckte sich unter dem ersten wuchtigen Schlag hinweg, vollführte eine lässige Drehung und trat dem Burschen in den Rücken. Der Mann brüllte, stolperte nach vorn und landete in der Weinpfütze, die sich auf dem Steinboden ausbreitete.
Der andere Schläger hatte sich inzwischen aus den Büschen herausgearbeitet. Als er erneut die Treppe in Angriff nahm, wobei er sein blankes Schwert und seine stahlbewehrte Faust eindrucksvoll zur Schau stellte, kam der Wirt aus der Küche zum Vorschein, auf beiden Händen eine Platte mit brutzelnden Aalen. Cyrion machte auf dem Absatz kehrt, als ginge ihn die ganze Sache nichts an, griff sich die Platte mit den heißen Meerestieren und der siedenden Butter und schleuderte sie zielsicher über die Schulter in das Gesicht des Leibwächters. Fettriefend und geblendet verließ der Bursche zum zweiten Mal die Terrasse im Rückwärtsgang. Diesmal hatte sein Kopf einen lautstarken Zusammenstoß mit dem steinernen Rand eines Blumentopfes. Darauf trat allgemeine Stille ein.
Cyrion glättete seine kostbaren Kleider mit der beringten Linken und der ungeschmückten rechten Hand. Für einen Mann, der mit Wein und Meeresfrüchten um sich geworfen hatte, wirkte er bemerkenswert sauber.
Als könnte er sich mit seiner Niederlage nicht abfinden, versuchte der Schläger in der Weinpfütze einen mehr symbolischen Griff nach Cyrions Fußknöchel. Cyrion trat noch einmal zu, mitten in die geöffnete Hand hinein. Irgendwo knackte ein Knochen, gefolgt von einem dünnen Wimmern.
Cyrion schenkte Hasmun einen Blick.
»Viel Lärm, Meister Apotheker, um ein wenig vergossenen Wein.«
Hasmun, nass und nach Wein duftend, hatte ausreichend Zeit gehabt, um Gefühl und Verstand wieder in Einklang zu bringen. Er richtete sich auf, und es zeigte sich, dass er in Größe und Statur Cyrion aufs Haar glich. Aber ihr Äußeres war so gegensätzlich wie Licht und Schatten.
»Wähle«, sagte Hasmun zu dem Leibwächter mit dem gebrochenen Handgelenk. »Schweig oder stirb.« Das Wimmern verstummte. »Du allerdings«, fuhr Hasmun fort, »Wirst in jedem Fall sterben.«
»Wie die Priester sagen, ist das Leben nicht mehr als das süße kurze Flackern einer Kerze, ausgelöscht vor dem Dunkel der Ewigkeit«, erwiderte Cyrion philosophisch.
»Du irrst dich«, sagte Hasmun. Obwohl ihm der Wein in die Augen tropfte, brachte er ein Lächeln zustande. »Dein Auslöschen wird lange dauern, und von Süße wirst du nichts merken. Heute Nacht wird es beginnen. Wenn du mit eigenen Augen sehen möchtest, wie ich dich zerbrechen kann, dann komm in meine Apotheke. Deine Hure wird dir den Weg beschreiben können.«
Und er nickte Mareme zu, die sich die gepuderten Hände vor das bemalte Gesicht hielt.
Das grelle Tageslicht färbte sich rot. Die Sonne versank im Meer. Jebba wurde zu einer Stadt aus Bernstein am Ufer eines goldenen Ozeans. Dann wanderte die Dämmerung aus der Wüste über den Himmel und. verdunkelte die Fenster von Maremes kostbar ausgestatteter Wohnung.
Cyrion lag ausgestreckt auf dem seidenen Bett, als makelloses Modell für einen jungen Gott, nackt, wunderschön und leicht berauscht. Mareme saß neben ihm und zupfte unruhig an den seidenen Decken.
»Hast du keine Angst?«, platzte sie plötzlich heraus.
»Oh, ich dachte, ich hätte dich Hasmun vergessen lassen.«
Tatsächlich konnte er sie für eine Zeitlang alles vergessen lassen. Schon die Berührung seiner Hand auf ihrem Gesicht hatte die Macht dazu. Seit dem Augenblick, als sie ihn vor einem Jahr gesehen hatte, einem zufälligen Zusammentreffen, beherrschte er nicht nur ihr Herz, sondern auch ihren Verstand. Bei anderen war sie schlau und kaltblütig genug, hatte es immer sein müssen. Aber nicht bei Cyrion. Sein Geld hatte sie immer zurückgewiesen. Dafür sandte er ihr regelmäßig Geschenke. Seine Gewissenhaftigkeit ärgerte sie. Sie wollte von ihm geliebt, nicht bezahlt werden. Einmal, dummerweise, hatte sie versucht, sich einen Liebestrank zu verschaffen, aber der erhoffte Erfolg war ausgeblieben.
»Wie könnte ich Hasmun vergessen?«, fragte sie jetzt. »Hör zu, mein Gebieter, ich habe dir nicht alles gesagt. Seine Apotheke liegt in der Straße der Drei Mauern. Geht man daran vorbei, kann es vorkommen, dass eine Puppe mit menschenähnlichen Formen in seinem Fenster liegt, wie um seine handwerklichen Fertigkeiten zur Schau zu stellen. Und in der Puppe stecken juwelenverzierte Nadeln. Plötzlich steckt dann eine Nadel in ihrem Herzen, jemand wird begraben, und die Puppe verschwindet aus dem Fenster.«
»Davon habe ich schon gehört«, meinte Cyrion. »Hat niemals jemand versucht, dort einzudringen, die Puppe zu stehlen und die Nadeln zu entfernen?«
»Wie könnte das gelingen, während der Magier wacht? Und selbst wenn er sich zurückzieht, um zu schlafen, bewachen zehn seiner menschlichen Bestien das Haus.«
Cyrion griff nach dem Becher aus blauem Kristall, der an seiner Seite stand, während die Sterne, so unzugänglich wie er, vor dem Fenster ihre Pracht entfalteten.
»Sag mir«, fuhr Cyrion fort, »weißt du, wie er seine Puppen herstellt?«
»Wer in Jebba weiß das nicht? Hasmun prahlt mit seiner Kunst. Er benötigt nichts von seinem Opfer, muss es nur einmal gesehen haben. Er formt die Puppe nach der Erscheinung dessen, dem er schaden will, und belegt sie dann mit einem grausamen Zauber, der Mann und Puppe verbindet. Während der Zauber wirksam ist, foltert er die Puppe mit seinen Nadeln. Dann löst er den Zauber wieder. Ohne den Zauber ist die Puppe leblos, nur eine Puppe. Der Mann spürt keine Schmerzen mehr, fasst neuen Mut, glaubt, Hasmun hätte ihm vergeben. Dann erneuert Hasmun den Zauber und quält ihn weiter, bis er ein Krüppel ist oder schreiend stirbt. Und mit diesem Mann, mein weiser Gebieter, hast du einen Streit angefangen. Warum?«
»Ich bin«, erklärte Cyrion bescheiden, »ein Masochist.«
In den Fenstern spiegelte sich das Licht der Sterne. Die Flugratte in ihrem goldenen Käfig verlangte zwitschernd, herausgelassen zu werden. Von der zarten, grauweißen Färbung einer Taube, mit runden Ohren, feingezeichnetem Gesichtchen und großen, goldenen Augen, war die Flugratte die zweite Liebe Maremes. Obwohl es so winzig war, führte sie das Tierchen manchmal an einer langen Leine auf den oberen Straßen Jebbas spazieren. Seine Angewohnheit, funkelnde Dinge zu stibitzen, hätte unangenehme Folgen haben können, hätte nicht Mareme, die mit allen Wassern gewaschen war, es verstanden, daraus Nutzen zu ziehen. Oft, in zurückliegenden, weniger üppigen Tagen hatte sie die Flugratte die achtlos fallengelassenen Kleider ihrer Kunden plündern lassen, um den Betreffenden dann nachzueilen und die entwendeten Gegenstände mit einer liebreizenden Entschuldigung für ihr Haustier zurückzugeben. Daher rührte ihr nicht so ganz berechtigter Ruf der Ehrlichkeit.
Mareme erhob sich vom Bett und ließ die Flugratte aus dem Käfig. Sie hüpfte sofort zu ihrem Kosmetiktisch, wo sie zwischen den hohen Onyxkrügen mit Puder, verschiedenfarbigen Cremes und schwarzem Kohl sitzenblieb und sich hin und wieder in dem Spiegel aus kostbarem, silbergerahmtem Glas betrachtete – Cyrions letztes Geschenk. Die Kristallkaraffen und die kleine, glitzernde Nagelfeile hatte Mareme vor ihren gierigen Blicken in Sicherheit gebracht. Einmal hatte Cyrion das winzige Geschöpf dabei beobachtet, wie es einen Smaragdreif, der doppelt so groß war wie es selbst, zu seinem Nest in den Käfig schleppte und dann zurückkam, um sich auch noch die Perlen aus der Schmuckschatulle zu holen.
Mareme kniete neben Cyrion nieder.
»Was wirst du tun, Cyrion?«
Es wurde rasch dunkel und die Lampen waren noch nicht entzündet. Zuerst bemerkte sie die Blässe seiner Lippen nicht, den starren Blick seiner Augen. Dann sagte er leichthin:
»Vor einer halben Minute hätte ich noch gesagt, ich wolle abwarten, ob Hasmun seine Drohung wahrmachen kann. Aber ich brauche nicht mehr zu warten. Er kann.«
Mareme erschauderte.
»Was ist es?«, wisperte sie. »Hast du Schmerzen?«
»Ein wenig. Ich nehme an, eine seiner verdammten Nadeln steckt in meinem wächsernen Fußgelenk.«
Er schloss die Augen und öffnete sie wieder. Sein Gesicht war bleich unter der leichten Bräune, aber gefasst. Plötzlich holte er tief Atem und meinte gleichmütig: »Eine Demonstration. Er verzichtet auf die Nadel und gönnt mir einen Augenblick der Erholung, bevor er das Spiel wiederaufnimmt. Aber nicht für lange, vermute ich. Er will, dass ich ihn morgen in seinem – Spielzeugladen besuche. Und um Vergebung und – und Gnade flehe.«
Diesmal war die leichte Unsicherheit in seiner Stimme das einzige Anzeichen für den Schmerz, den er empfand.
»Wie kann ich dir helfen?«, weinte Mareme.
»Auf die übliche Art wohl nicht«, murmelte er. »Nimm die Leier und spiele mir etwas vor. Sagt man doch, dass Musik jeden Schmerz lindern kann. Lass uns versuchen, ob es stimmt.«
Längs der drei weißen Mauern, nach denen die Straße benannt war, verbreiteten Feigen-, Palm- und Blütenbäume Duft und friedvollen Schatten. In der Mittagshitze lag die Straße menschenleer und unschuldig, und auf halbem Wege, zwischen den Höfen der Goldarbeiter und der Seidenhändler, gähnte der Eingang zu Hasmuns Apotheke.
Die Tür stand offen. Ketten aus blauen Keramikperlen hingen über dem Eingang. Im Inneren wallten Weinrauchschwaden aus einer Dunkelheit, die selbst am hellen Tag nicht weichen wollte.
Als der Perlenvorhang klapperte und eine Gestalt von der sonnenüberfluteten Straße hereintrat, stürmten zwei von Hasmuns Schlägern aus dem Hintergrund, um nach dem Rechten zu sehen.
»Sachte, meine Engelchen«, sagte eine freundliche, wohlklingende Stimme. »Ich bin gekommen, um eures Meisters Eitelkeit zu befriedigen. Pfuscht ihm nicht ins Handwerk, oder er wird für euch auch Püppchen machen.«
Knurrend zogen sich die Leibwächter zurück, und Cyrion schritt tiefer in den Laden hinein.
In der Dunkelheit waren die schwarzen Krüge auf den Regalen, die schwarzen Kästen und die bleigrauen Flaschen kaum auszumachen. Eine staubige Kobra, so ausgestopft und hergerichtet, als wolle sie gleich zustoßen, versperrte den Weg durch einen Vorhang aus Löwenfell. Dahinter befand sich eine Zelle, die ähnlich eingerichtet, aber von dem rötlichen Schein einer Hängelampe erhellt war.
Im Lichtkreis der Lampe saß Hasmun auf einem Ebenholzstuhl. Auf dem Lacktischchen an seiner Seite lag Cyrion in Miniatur, nackt, blond, mit einer rubinrot funkelnden Nadel in seinem rechten Fußgelenk und einer im linken Ohrläppchen.
»Nicht vorne im Laden zur Schau gestellt, wie man mir erzählt hatte«, bemerkte Cyrion sanft. »Ich hatte gehofft, im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses zu stehen.
»Das kommt später«, erwiderte Hasmun, ebenso sanft. »Hattest du eine gute Nacht?«
»Ich hatte einige Male mit den Wüstennomaden zu tun. Sie lehren eine Methode, mit der man Schmerz in vollkommenen Genuss verwandeln kann.«
Hasmun, unbeeindruckt, ging auf das Spiel ein.
»Es freut mich, dass du es genossen hast. Diese Nacht dürfte noch genussvoller werden. Der Unterkiefer – dafür nehme ich eine Topasnadel. Handgelenke und Schienbein – Saphir. Die Diamanten habe ich für die Augen vorgesehen, mein schöner Freund. Aber das kann noch warten. Wie auch der Tod. Dies ist ein langes Spiel. Genieße es, mein Lieber.«
Cyrion hatte sich vorgeneigt, um die Puppe zu betrachten. Er schien die Ähnlichkeit bewunderungswürdig zu finden, obwohl auf den ersten Blick zu erkennen war, dass es sich nicht um ein exaktes Ebenbild Cyrions handelte. Ohne den Zauber verursachten die Nadeln keinen Schmerz, selbst dann nicht, als er sie in dem leicht getönten wächsernen Fleisch drehte.
»Natürlich«, meinte Cyrion, »könnte ich die Puppe stehlen. Oder dich töten.«
»Versuche es«, bat Hasmun, der Magier. »Es wäre mir ein Vergnügen. Bitte.«
Cyrion hatte die vier Kerle, die im Verkaufsraum vor dem Löwenfell herumlungerten und es dabei in leichte Bewegung versetzten, längst bemerkt. Auch das einzige Fenster zwischen den Wandregalen hatte er gesehen, das gerade breit genug war für eine Männerhand, aber nicht mehr. Was Hasmun betraf, so tanzten magische Funken an seinen Fingerspitzen.
»Versuche es«, sagte Hasmun nochmals gewinnend. »Es wird dir eine Menge Unannehmlichkeiten eintragen, wenn auch nicht so viele wie diese hübschen Nadeln, deren Schmerz du in Lust verwandeln kannst.«
Cyrion ließ die Puppe los. Sein Gesicht war ausdruckslos.
»Und wenn ich um Gnade flehte?«
»Auch das wäre einen Versuch wert.«
Cyrion drehte sich um und schlug das Löwenfell beiseite. Die Schläger, die auf ein bisschen Unterhaltung aus waren, als sie ihn überhöflich zur Tür begleiteten, mussten feststellen, dass er irgendwie zu flink für sie war. Einer von ihnen, der von seinem Spießgesellen einen Tritt ins Schienbein hinnehmen musste, der eigentlich Cyrion gegolten hatte, tröstete sich mit dem Gedanken, dass Cyrion für den Magier ganz bestimmt nicht flink genug sein würde.
Wieder kam die Dunkelheit, die beständige und verlässliche Nacht. Manch einer in Jebba, der bei Hasmun in Ungnade gefallen war, hatte Grund, diese beständige Wiederkehr zu fürchten, Dunkelheit erfüllt von glitzernden Sternen, glitzernden Nadeln und Qualen, glitzernd vor Tränen und Schweiß.
In den Stunden dieser Nacht wanderte Mareme totenblass durch ihre prachtvolle Wohnung. Sie fand keine Ruhe und manchmal, im unwillkürlichen Gedanken an ihre primitiven Anfänge am Hafen, raufte sie sich die Haare.
Zwei Stunden vor der Morgendämmerung elektrisierte sie ein samtpfotiges Klopfen an der Tür. Sie flog zur Türe und ließ Cyrion ein, der, bleich und hager wie ein Mann nach wochenlangem Fieber, ihr ein freundschaftliches Lächeln schenkte. Er hatte sich fest in einen Umhang gewickelt und hielt in einer Hand zwei der schlanken Weinkrüge, die während der ganzen Nacht am Hafen verkauft wurden.
»Ich kann es nicht ertragen!«, rief Mareme.
»Leise«, sagte er und schloss die Tür. »Ich verbrachte einige unterhaltsame Stunden in einem Bootsschuppen und erschreckte die Ratten mit meinen Zuckungen. Der Apotheker ist für diese Nacht fertig mit mir.«
»Ich werde mich umbringen«, behauptete Mareme. »Du hast dich in einen Bootsschuppen verkrochen, damit ich deine Qualen nicht sehen konnte. Aber dein Schmerz ist auch der meine...«
»Nicht ganz«, meinte Cyrion. »Sei froh.«
»Weißt du keinen Ausweg?«, weinte sie.
»Ich weiß nur, dass ich jetzt etwas Hafenwein trinken möchte.«
Immer noch in den Umhang gehüllt, entkorkte er einen Krug, schenkte die beiden blauen Kristallkelche voll und reichte ihr den einen. Das Mädchen trank unwillkürlich, ohne es zu wollen, ließ den Becher auf den Teppich fallen und sank daneben auf den Boden. Ein schwacher Duft stieg von dem vergossenen Wein auf, der Duft der Droge, die Cyrion hineingegeben hatte. Er hob Mareme auf und legte sie auf ihr Bett. Trat dann lautlos an das Kosmetiktischchen, über dem in ihrem goldenen Käfig die Flugratte zwitscherte.
Hasmuns zehn Leibwächter saßen bei einem Würfelspiel in dem düsteren Laden zwischen den Regalen mit Tränken und Giften, beobachtet von der ausgestopften Kobra. Drei oder vier Lampen brannten angestrengt und verbreiteten gerade genug Licht, dass die Spieler die Würfel erkennen konnten. Noch eine Stunde, bis die Sonne über der Wüste im Rücken Jebbas aufging und die Tagwache sie ablöste. Neben ihrem Würfelspiel hatte es diese Nacht noch anderen Spaß gegeben. Das Murmeln des Zauberers, das Summen unsichtbarer Flöten, den heißen Luftzug, der das Erwachen unheiliger Mächte ankündigte. Dann das aufmerksame Schweigen des Magiers hinter dem Löwenfell, als er die Nadeln drehte. Keiner von Hasmuns Schlägern hatte ihn je bei seinem Zauber beobachtet. Sie waren klug genug, um nicht zu spionieren, und verspürten auch nicht den leisesten Drang in dieser Richtung. Sie rissen Witze über Cyrions Schicksal, aber ihre Augen wurden starr dabei, und die Würfel klapperten lauter.
Es war ein kompliziertes, boshaftes Würfelspiel, mit dem sie sich die Zeit vertrieben, bei dem es um Geld oder auch eine Tracht Prügel ging. Im Moment herrschte Stille, als einer die Würfel schüttelte und einen garstigen, persönlichen Dämon um Beistand anflehte.
Und in diese Stille platzte ein gewaltiger Lärm. Eigenartigerweise schien es aus dem Innern des Ladens zu dringen oder aus dem Hinterhof. Ein Klirren von Geschirr und ein Brüllen und Schreien, aus dem manchmal Hasmuns Name in Verbindung mit unflätigen Ausdrücken herauszuhören war.
Die Wächter rannten zu dem Löwenfell und in die dahinter befindliche Zelle, in der es unter den Füßen knirschte, wo aber kein Anzeichen für einen Eindringling zu bemerken war. Bald war die Hängelampe entzündet, bei deren Licht die Scherben eines Tonkrugs zu erkennen waren, den offensichtlich jemand durch das Fenster in die Kammer geworfen hatte. Das Geschrei hatte inzwischen aufgehört. Bevor einer der Wächter sich an den Regalen zu dem schmalen Fenster hinaufhangeln konnte, gab es eine laute Explosion vor der Apotheke. Wie auf Befehl stürmten die Männer aus der rötlich beleuchteten Kammer durch den Laden und den Perlenvorhang an der Tür. Dort entdeckten sie ein zweites Gefäß, diesmal mit brennendem Teer gefüllt, das gerade eben in tausend funkensprühende Scherben zerplatzt war. Als einer der Wächter die züngelnden Brocken fluchend zur Seite stieß, tauchte eine Erscheinung auf, die wild über die Straße hüpfte.
Es war die dünne und ausgemergelte Gestalt eines Matrosen der armseligsten Sorte. Um den Kopf trug er das gestreifte Stirnband der Seefahrer – das genauso schmutzig war wie der ganze Kerl, und ansonsten war er in abstoßende Lumpen gekleidet, mit riesigen, flatternden Taschen, wovon alles nach Teer und Kornschnaps stank, und mit einem dunkelbraunen, stoppelbärtigen Gesicht, das so verzerrt war wie das eines Verrückten, verfluchte der Matrose Hasmun mit den bildhaftesten Ausdrücken. Drei der Wächter versuchten, der Gestalt habhaft zu werden, aber sie tanzte beiseite.
»Möge Hasmun, diese stinkende Mistschwein, unter dem Auswurf der Hölle ersticken!«, heulte der Matrose. »Und ihr, seine sabbernden Speichellecker, geboren aus Schweinescheiße und gezeugt von Hundepisse, mögt ihr in eurem eigenen Dreck gepökelt liegen, bis das Meer sein Salz zurückfordert!«
Fünf Wächter verfolgten den Matrosen, der sofort die Flucht ergriff, wobei er sie weiter anfeuerte, indem er ihre Ahnen und Urahnen mit den schmeichelhaftesten Kosenamen belegte. Auf halbem Wege aber blieben die Männer stehen, weil sie sich an ihre Pflichten gegenüber dem Magier erinnerten, bis auf zwei, die im Kielwasser des Matrosen um eine Ecke bogen und in eine unbeleuchtete Seitenstraße rannten. Im nächsten Augenblick stürzten sie röchelnd und halb erwürgt zu Boden, da ihre Kehlen äußerst heftig mit einer dünnen Schnur in Berührung gekommen waren, die der Matrose kurz zuvor über die Straße gespannt und unter der er sich auf seiner Flucht hinweggeduckt hatte.
Als die glücklosen Verfolger immer noch würgend und fluchend zur Apotheke zurückkehrten, gab es sofort einen lautstarken Wortwechsel über die Person des Matrosen. Schließlich dachten sie daran, die Hängelampe in der Kammer des Magiers zu löschen.
Benebelt wie sie waren und dazu noch wütend bis zum Platzen, wäre es durchaus möglich gewesen, dass sie es nicht einmal bemerkt hätten. Aber einer, der gegen das Lacktischchen stieß, blickte darauf herab. Und sah einen leeren Fleck, wo zuvor Cyrions wächsernes Abbild gelegen hatte.
Cyrion hatte den Matrosen in einem der Bootsschuppen gefunden, die es hier und da am Hafen gab, wo er seinen Schnaps- und Drogenrausch ausschließ, um dann bei Sonnenaufgang wieder zu seinem Schiff zurückzuwanken.
Jetzt allerdings war die furchterregende, nach Schnaps stinkende Gestalt nicht – weder schwankend noch sonstwie – auf dem Weg zum Hafen, sondern bewegte sich entlang einer der besseren Straßen Jebbas. Schließlich gelangte er an eine Treppe, schwang sich gewandt hinauf, öffnete eine Tür mit einem Schlüssel, der gewöhnlich an einem zarten Mädchenhals hing, und trat in die Wohnung Maremes, der schönen Kurtisane. Nachdem er, mit einer Geschwindigkeit, die einige Vertrautheit mit dieser Umgebung vermuten ließ, eine Lampe entzündet hatte, entfernte der Seemann sein gestreiftes Kopftuch und säuberte sich das Gesicht, wobei das blonde Haar, die Bartstoppeln und die Haut Cyrions zum Vorschein kamen.
Der betrunkene Matrose in dem Bootsschuppen, der in den kostbaren Kleidern erwachen würde, die Cyrion ihm für seine muffigen Lumpen dagelassen hatte, dürfte wohl kaum Grund haben, sich zu beschweren. Allenfalls könnte er seine halbleeren Weinkrüge vermissen, die in und vor dem Laden des Magiers ein explosives Ende gefunden hatten.
Mareme, die immer noch schlief, hatte nichts von den Veränderungen bemerkt, die Cyrion unter Zuhilfenahme ihrer eigenen Kosmetika an sich vorgenommen hatte. Und sie sah auch nicht, wie Cyrion aus einer der geräumigen Taschen der Seemannskleidung einen zappelnden Beutel holte und aus dem Beutel den Grund für das Zappeln – die zornige Flugratte.
Nachdem er das Tierchen durch Streicheln etwas besänftigt hatte, nahm Cyrion ihm die goldene Leine ab und setzte es wieder in den Käfig. Dann zog er aus einer anderen Tasche die Wachspuppe.
Er hatte die Ratte zu der Hofmauer des Goldschmieds getragen, der Hasmuns unmittelbarer Nachbar war. Dort band er die lange Leine an einen passenden, überhängenden Ast. Sein Geschrei und das Klirren des Tonkrugs hatten die Wächter in die Kammer gelockt und sie veranlasst, die Lampe anzuzünden. Dann zerplatzte der zweite Krug, den er schon vorher mit einem Stück rotglühender Kohle versehen hatte, vor dem Laden. Die Flugratte fühlte sich zum Fenster der Kammer hinaufgehoben und auf ein Regal gesetzt. Dann war Cyrion nach vorn gestürmt, um die Wächter an der Tür abzulenken. Nachdem er seine Verfolger abgeschüttelt und halb erwürgt hatte, kehrte Cyrion in einem Bogen in die Straße der Drei Mauern zurück. Lautloser als ein fallendes Blatt zog er sich am Fenstersims empor.
Die Flugratte, auf deren Schwäche für alles Glitzernde man sich unbedingt verlassen konnte, hatte ihre Arbeit bereits beendet. Die im Licht der Hängelampe funkelnden Nadeln im Leib der Puppe hatte die Ratte sogleich angezogen. Sie war zu dem Lacktischchen hinabgeklettert, wozu ihre Leine eben lang genug war. Nachdem es ihr nicht gelang, die Nadeln aus dem Wachs herauszuziehen, hatte sie die ganze Puppe mit ihren scharfen Raubtierzähnen gepackt und war wieder auf den Fenstersims geklettert. Da die Leine an dem Baumast festgebunden war, konnte sie nicht weglaufen. Dann, wie üblich, kam jemand, diesmal Cyrion, und nahm ihr die hart erarbeitete Beute wieder weg.
Es war eine lange Nacht gewesen, und sie war noch nicht vorüber.
Cyrion stellte die Lampe auf Maremes Schminktisch und drehte die Wachsfigur, die so viel Ähnlichkeit mit ihm selbst hatte, in seiner beringten rechten und seiner ungeschmückten linken Hand.
Mareme erwachte. Ihr Körper war ausgeruht und erholt, ihr Kopf klar, doch ihr Herz war schwer wie Blei.
Sie wusste, was in dem Wein gewesen war. Manchmal hatte sie das Mittel bei anderen angewendet oder, in den kleinen Mengen, die Euphorie bewirkten, bei sich selbst. Wäre sie nicht so aufgeregt gewesen, hätte der Duft sie vom Trinken abgehalten – dennoch, Cyrion war gut zu ihr gewesen, hatte ihr Schlaf und Vergessen geschenkt. Wieder brach sie in Tränen aus, und durch die Tränen hindurch sah sie ihn am Fenster stehen und zu ihr herschauen. Er war so makellos, wie nur er sein konnte, wie frisch geprägtes Silber. Rasiert, gebadet, gekämmt, einzigartig und magisch – und in das schwarze Gewand der Wüstennomaden gekleidet, das er auf Reisen zu tragen pflegte.
»Ja«, sagte sie, »das ist klug. Diesmal bin ich froh, dass du fortgehst. In der Wüste bist du vielleicht in Sicherheit. Wann brichst du auf?«
»Bald«, erwiderte er ruhig, »aber vorher gibt es noch etwas zu erledigen. Du stehst besser auf, mein Herz. Hasmun wird in Kürze hier sein.«
Ihre Augen weiteten sich und huschten dann über den Schminktisch. Die Salbentöpfe standen anders, als sie es in Erinnerung hatte. Der hohe Krug mit Kohl war umgefallen. Und als er sich bewegte, bemerkte sie, dass Cyrion das eigentlich mehr der Dekoration dienende Kohlenbecken entzündet hatte. Der Geruch nach Teer hing durchdringend in dem luxuriösen Raum.
»Was hast du getan?«
»Rate mal«, sagte Cyrion.
Sie schlang sich das Gewand aus perlenbestickter Seide um den Leib, als Faustschläge gegen die Tür hämmerten. Eine Erlaubnis, einzutreten, wurde nicht abgewartet. Die Tür hielt nur wenige Minuten. Dann polterte sie mit zerbrochenen Scharnieren in den Raum. Fünf von Hasmuns Schlägern drückten sich grinsend beiseite, und Hasmun, der Puppenmacher, trat ein.
Für Mareme hatte er ein höfliches Nicken. Cyrion bedachte er mit einem liebevollen Lächeln.
»In der Regel«, sagte Hasmun, »habe ich es mit Feiglingen und Dummköpfen zu tun. Einem Schaf zu begegnen, das in das Schlachtmesser beißt, ist eine angenehme Abwechslung. Die ich zu schätzen weiß. Beinahe könnte ich mich geneigt fühlen, dich zu verschonen. Aber alles in allem glaube ich doch, dass ich es vorziehe, dich tot zu sehen. Eine Kerze auszublasen ist amüsant. Aber dich zu töten, bedeutet, eine Sonne auszulöschen. Wie könnte ich da widerstehen?« Cyrions Haltung beinahe erhabener Gelassenheit veränderte sich nicht. »Und jetzt, Meister Wunderschön«, meinte Hasmun, »wo ist die Wachspuppe?«
»Vielleicht«, erwiderte Cyrion sanft, »steckt sie in deinem Arsch.«
Hasmun zuckte die Schultern. Er winkte seine Wachen heran und brachte sie dann mit der präzisen Geste zum Stehen, mit der er die Überlegenheit von Gehirn über Muskeln zum Ausdruck brachte.
»Mareme«, sagte Hasmun, »möglicherweise könntest du dich bereitfinden, mir zu sagen, wo dein Kunde die Puppe versteckt hat. Es würde dir eine grobe Behandlung deiner Möbel und deiner Person durch diese Raufbolde ersparen. Es fällt mir schwer, musst du wissen, sie unter Kontrolle zu halten.«
Mareme zuckte zurück.
»Bitte...«, sagte sie, aber sonst nichts, und das einzelne, kraftlose Wort fiel zwischen ihnen zu Boden wie eine sterbende Taube.
»Nun zier dich nicht, Mareme.« Er wandte sich an Cyrion. »Diese verführerische Schönheit der Nacht ist nicht immer so zimperlich. Aber natürlich, sie liebt dich. Das hätte ich bedenken sollen, immerhin hat sie mir dieses Geheimnis anvertraut. Einst kam sie wegen eines Liebestrankes zu mir, als mein Ruf in Jebba noch ohne Makel war. Sie bekam ihren Trank nicht. Mit solch albernem Kleinkram gebe ich mich nicht ab. Dafür bekam sie etwas anderes. Um genau zu sein, sogar mehr, als sie eigentlich wollte. Oder vielleicht nicht, mein Liebling? Soll ich sprechen«, erkundigte sich Hasmun, »oder hast du mir etwas zu sagen?«
Mareme schlug die Hände vors Gesicht.
»Von Anfang an schien es mir doch ein recht glücklicher Zufall zu sein«, bemerkte Cyrion, »dass Hasmun der Apotheker die Schänke besuchte, als auch ich mich dort aufhielt.«
»Glücklich und geplant. Sie gab mir Nachricht, dass du dort sein würdest. Und sie sorgte dafür, dass du nicht anders konntest, als dich mit mir anzulegen. Du konntest dem Köder nicht widerstehen, meinem Ruf. Deine Eitelkeit fühlte sich herausgefordert, Cyrion. So wie ich mich durch deinen Ruf herausgefordert fühlte. Schierer Neid. Du wolltest den bösen Hasmun und seine Puppen vernichten und allein in den Städten an der Küste herrschen. Nicht wahr, mein Schönster? Wie ich Cyrion vernichten will und werde.«
Mareme wimmerte hinter ihren Händen hervor: »Er drohte mir, auch für mich eine Puppe anzufertigen und mich zu peinigen – ich hatte Angst. Ich konnte meiner Angst nicht Herr werden. Oh, Cyrion – ich liebe dich wie mein eigenes Leben, aber für dich sterben konnte ich nicht. Und ich schwöre, dass ich darauf vertraute, du würdest ihn überlisten. In Gottes Namen, ich schwöre, ich habe es geglaubt!«
»Aber du vertrautest mir nicht genug, um mir die Wahrheit zu sagen«, sagte Cyrion, so zärtlich wie fein gesiebtes Gift.
Mareme nahm wieder Zuflucht zu ihren Tränen.
Hasmun ermahnte sie: »Weine Tränen aus Smaragd, wenn dir danach ist, Herzliebste. Aber sag mir, wo er die Puppe versteckt hat. Bedenke, ich kann dein Ebenbild immer noch anfertigen. So wie Cyrion habe ich auch dich gesehen. Ein Blick genügt. Mehr brauche ich nicht. Den Blick, das Wachs, den Zauber, die Nadel.«
»Der Tiegel mit Kohl!«, schrie Mareme, dann warf sie sich vor beiden Männern auf den Boden, vor dem dunklen und dem hellen und vergrub ihr Gesicht im Teppich.
Hasmun trat, jeden Schritt genießend, an den Kosmetiktisch. Er griff nach dem Krug.
»Solch außerordentlich schwarzer Kohl«, meinte Hasmun. »Oder doch nicht so schwarz, denn hier sehe ich ein Fleckchen Weiß.« Er kratzte an dem Inhalt des Kruges. »Und so hart für Kohl, so zäh, so schmierig für die Taubenaugen einer schönen Frau. Und es riecht auch nicht wie Kohl. Sollte es gar etwas anderes sein? Könnte es Teer sein, aus den Bootshäusern, frage ich mich. Den Kohl ausgeschüttet, den Teer erhitzt und hineingegossen. Dann die Wachsfigur in der abkühlenden Masse verborgen – nur der weiße Fleck einer wächsernen Fußsohle bleibt sichtbar. Und dieser Krug hier hat genau die richtige Größe für solch eine Puppe...«
Plötzlich schmetterte Hasmun den Krug auf das kleine Stück nackten Steinboden neben dem Kohlenbecken. Der durch die Hitze schon geschwächte Onyx zersprang. Hasmun löste den Klumpen Teer aus den beiden Hälften des Gefäßes und betrachtete ihn zärtlich.
»Oh, mein Cyrion. Wie ungemein weise wärst du gewesen, hätte ich es nicht herausgefunden. Aber da ich es herausgefunden habe, bist du auch nicht weise. Kannst du dir vorstellen, was geschieht, wenn ich den Zauber spreche – alles, was der flüssige Teer deinem Wachsbild angetan hat, wirst auch du fühlen. Verbrannt, erstickt, geblendet. Tod in deiner Nase und deinem Mund. Ein schlimmeres Ende, als ich selbst dir zugedacht hatte. Möchtest du beten?«
Immer noch ohne Anzeichen von Erregung fragte Cyrion: »Wieviel Zeit habe ich für meine Gebete?«
»Ich habe mich entschlossen, gnädig zu sein«, erwiderte Hasmun. »Statt dich einen ganzen Tag lang Todesangst durchleben zu lassen, werde ich den Zauber sogleich sprechen. In wenigen Augenblicken beginnst du zu sterben.«
Cyrion blickte zur Seite. Er schaute in den blauen Himmel hinter dem Fenster. Er sagte nichts.
Mareme, die immer noch auf dem Boden lag, hob nicht den Kopf. Die fünf Leibwächter an der Tür hatten ihr Grinsen aufgegeben und leiteten voll offensichtlichen Unbehagens den Rückzug ein.
Hasmun hob die Arme. Er begann zu singen, mit einer dunklen und schwingenden Stimme, die völlig anders klang, als wenn er sprach. Schweflig und bitter tropften die Worte des Zaubers in den Raum. Das Schimmern von Seide und Sonne verblasste; das Fenster verdunkelte sich, als sei am hellen Tag die Nacht angebrochen. Die Flugratte rollte sich in ihrem Käfig zu einer zitternden Pelzkugel zusammen. Die Luft in der Kammer veränderte sich, wurde warm und bedrohlich. Der Klang einer Flöte ertönte, zerschrillte das Trommelfell. Die Luft bäumte sich auf, wurde zu einem Wind aus einer Wüste, die niemals Schatten gesehen hatte.
Ein Sturm tobte durch das Zimmer.
Das Chaos berührte den Raum und der heiße Atem der Hölle.
Dann war alles still.
Der Zauber war vollendet. Hasmun stieß einen triumphierenden Laut aus, den er nicht unterdrücken konnte. Einen Laut, der zerbrach, mit einem Schrei furchtbarer Qual verschmolz, bis auch dieser erstickte.
Hasmun fiel auf die Knie. Er krallte nach seinen Augen, der Nase, dem Mund. Sein Gesicht verzerrte sich; seine Hände schienen an seinen Wangen festzufrieren. Auf den Knien rutschte er weiter, und während er hin und her schwankte, kam ein verzweifeltes Wimmern über seine Lippen. Es mochte die Fortsetzung seines ersten Schreis sein. Nur Cyrion erkannte es als die Umkehrung des Zaubers, herausgepresst zwischen starren Kiefern aus Stein, durch reine Willenskraft. Und Cyrion bewegte sich wie ein Blitz. Im Bruchteil einer Sekunde hatte er dem Griff des Magiers den Teerklumpen entwunden, in dem sich die Wachspuppe befand. Im nächsten Augenblick warf er den schwarzen Brocken in das Kohlenbecken. Eine Stichflamme schoss empor. Der Teer begann zu schmelzen. Das darinnen befindliche Wachs ebenfalls. Hasmun konnte seinen Zauber jetzt nicht mehr vollenden. Zappelnd wälzte er sich über den Teppich, in dem furchtbaren Bemühen, seine Qual hinauszubrüllen, aber nur ein dünnes Quieken kam aus seiner Kehle. Bis endlich jeder Laut und jede Bewegung erlosch und er rücklings gegen den Kosmetiktisch stürzte, dessen exotische Last in Bewegung geriet. Ein Regen von Puder und Rouge fiel auf ihn nieder, doch Hasmun rührte sich nicht. Die Salben ergossen sich über sein schwarz verfärbtes, stilles Gesicht. Der silberne Spiegel neigte sich lautlos auf dem Ständer und zerbrach an seiner Schulter.
Er war tot, und als die letzten Reste von Teer und Wachs in dem Becken verschmolzen, erhob sich eine dünne Rauchfahne von seinen makellosen Kleidern, seinem unverletzten Leib.
Die Wächter in der Tür erschauerten, sahen, dass Cyrion sie nicht beachtete, drehten sich um und flohen. Sie hatten keinen Herrn mehr. Sie hatten eine Geschichte, über Cyrion den Magier.
Cyrion blickte auf das Mädchen. Zwischen den Fingern und den Teppichfransen hindurch hatte sie zugesehen. Ein wenig von dem niedersinkenden rosa Puder haftete an ihrer Haut. Mit einer rosafarbenen und einer kreidebleichen Wange erwiderte sie Cyrions Blick.
»Du bist auch ein Zauberer«, murmelte sie. »Wirst du mich ebenfalls töten?«
»Kein Zauberer«, sagte Cyrion. Eine kaum wahrnehmbare Spur Müdigkeit lag in seinen Augen.
»Aber...«, fragte Mareme und erhob sich noch ein bisschen mehr aus ihrer gebeugten Haltung, »aber wie...«
»Ich hatte die Puppe«, erklärte Cyrion. »Er hatte das Wachs so geformt, dass es mir ähnelte. Ich veränderte die Gestalt mit Hitze und der Nagelfeile einer Frau und färbte Haut und Haar mit Pudern und Salben aus ihren Krügen. Als ich fertig war, ähnelte die Puppe Hasmun ebenso sehr, wie sie zuvor mir ähnlich gewesen war. So wie sein Zauber beschaffen war, genügte das. Er sollte das Ding finden. Du hast mir mein Vorhaben noch erleichtert. So sprach er seinen Zauber und starb nach Atem ringend, mit verkohlter Haut und verglühenden Augen im Inneren eines Klumpens Teer.«
Sie setzte sich auf.
»Ich vertraute darauf«, sagte sie, »dass du ihn überwinden würdest.«
»Meine vertrauensvolle Mareme«, sagte Cyrion.
Sie zitterte plötzlich bei dem zärtlichen Ton in seiner Stimme. »Aber du wirst mir verzeihen – ich hatte so viel Angst...«
»Ich verzeihe dir«, sagte Cyrion. Er betrachtete die Spiegelscherben neben dem toten Magier. Aus einer Tasche seines schwarzen Kleides nahm er ein paar Münzen und warf sie über Hasmuns Leiche hinweg leichthin und mitleidlos in ihren Schoß. »Kauf dir einen neuen Spiegel«, sagte er.
Ihre Tränen flossen lautlos in der Stille, die folgte. Sie wusste, er war gegangen. Für immer.
Als der Baumeister mit seiner Geschichte zu Ende war, stellte der blonde Soldat fest, dass es sich mit dem Wein ebenso verhielt. Nach einigen Minuten, in denen er seinen Becher umstülpte und müßig gegen den Krug trommelte, sagte er: »Trockene Arbeit, das Geschichtenerzählen. Nicht wahr, Meister des Zirkels?«
Der Baumeister rollte seine Papiere zusammen und griff nach dem Rechenbrett.
»Vielleicht. Ich überlasse es Euch, das herauszufinden.«
»Wartet!« Roilant erwachte aus seinem Brüten und fasste den Mann am Ärmel. »Ich habe einige Fragen an Euch.«
»Warum?«
»Warum?« Roilant wusste nicht, wie er das Offensichtliche erklären sollte.
»Er«, meinte der Soldat augenzwinkernd, »glaubt Eure Geschichte nicht.«
»Das ist nicht der Grund«, protestierte Roilant.
»Herr«, sagte der Baumeister und stand auf, »ich habe Euch gleich zu Anfang gesagt, dass ich für die Wahrheit der Geschichte keine Garantie übernehmen kann. Es muss genügen, dass der Vorfall in Jebba Tagesgespräch war. Und ich weiß ganz sicher, das es in der Stadt einen Apotheker von sehr schlechtem Ruf gab, der auf geheimnisvolle Weise aus der Gegend verschwand. Sein Laden wurde geplündert, und eine große, ausgestopfte Schlange tauchte auf dem Marktplatz auf. Niemand wollte sie kaufen. Man behauptete, sie trüge den Fluch des Magiers.«
Roilant, der einigermaßen beunruhigt wirkte, setzte zum Sprechen an.
Der Soldat ließ ihn nicht zu Worte kommen.
»Vielleicht durch eine Einladung zu noch einem Becher...«
Sofort rief Roilant nach dem grämlichen Sklaven Esur, der unter dem Vorwand, nach etwas zu suchen, in der Nähe herumlungerte.
»Esst mit mir zu Abend«, sagte Roilant zu dem Baumeister.
»Ich habe bereits eine Einladung in das Haus eines bekannten Architekten angenommen. Und es ist zu spät, um noch abzusagen.«
»Allerdings. Aber dann kommt um Gottes willen heute Abend noch einmal hierher.«
»Dafür gibt es nicht den geringsten Grund, Herr. Ich habe Euch alles gesagt, was ich weiß.«
Roilant gab es auf und nickte traurig, als der Baumeister sich verbeugte und den Raum verließ. Der junge Mann mit dem rötlichgelben Haar, obwohl offensichtlich von Adel, schien nichts von der Selbstherrlichkeit eines Adligen zu besitzen. Anscheinend hatte er sich daran gewöhnt, von aller Welt ausgenutzt zu werden, nahm diese Tatsache mit einer Art gutmütiger Verzweiflung hin und erwartete auch gar nichts anderes.
Als der Wein gebracht wurde und der Soldat sich darüber hermachte, blickte Roilant ohne viel Hoffnung zu den zwei immer noch debattierenden Philosophen in der Nische hinüber. Der eine schien zu der Gruppe von reisenden Gelehrten zu gehören, die hin und wieder in die Stadt kamen, um die Königliche Bibliothek zu besuchen, bevor sie zu der weitaus berühmteren von Askandris in Kyros weiterreisten. Der zweite Mann, älter und ungepflegt, mochte ein Weiser sein, von der Art, die umherzogen und oft nicht ganz bei Sinnen waren. Dass eine solche Gestalt die Schänke überhaupt betreten durfte, war kaum zu glauben, aber der struppige, schmuddelige Bart und das noch struppigere, ungekämmte Haar ließen kaum einen anderen Schluss zu. So viel zu der Qualität der Gäste des Honiggartens. Wenn es sich bei dem Weisen nicht um eine allseits bekannte und beliebte Persönlichkeit handelte, war seine Anwesenheit dem guten Ruf des Hauses bestimmt nicht förderlich.
Roilant wurde abrupt aus seinen Überlegungen herausgerissen.
Der Sklave Esur übte seine feuchte Aussprache dicht an seinem Ohr.
»Ich sagte eben«, wiederholte Esur, »wenn Ihr mit Gold für eine Geschichte von Cyrion bezahlt, weiß ich eine Geschichte von Cyrion.
Der Soldat lachte. »Dessen könnt Ihr sicher sein.«
Esur funkelte ihn an.
»Ich bin nur ein Sklave und zu nichts anderem gut, als ohne Grund geschlagen, getreten und herumgestoßen zu werden. Aber trotzdem höre ich so manches.«
Roilant meinte: »Ich glaube, ich schulde dir ohnehin etwas dafür, dass ich dich umgeworfen habe. Dein Leben muss auch ohne solche Zwischenfälle schlimm genug sein.«
»Ist es – ist es – wenn Ihr wüsstet! Eine Waise im Alter von zwei Jahren, die Eltern verloren, mit drei Jahren auf dem Markt von Heshbel verkauft, wo ein Kind weniger bringt als ein Schaf...«
Der Soldat prustete in seinen kostenlosen Wein.
Esur ließ sich äußerst würdevoll nieder und eignete sich Roilants Becher an. »Wenn er« – womit wohl der Wirt gemeint war – »kommt, müsst Ihr ihm sagen, dass ich Euch helfe, oder er wird mich schlagen. Wieder einmal.«
Esur nickte heftig mit dem wohlfrisierten Kopf, goss den Wein auf einen Zug hinunter und begann zu erzählen...
Die Stadt lag mitten in der Wüste.
Aus der Feme konnte man sie für eine Fata Morgana halten; im nächsten Moment für eines der riesigen Hochplateaus, die man die Zähne der Wüste nannte, eingehüllt in einen blauen Dunstschleier aus Entfernung und Hitze. Aber Cyrion hatte die Straße entdeckt, die zu der Stadt führte, und während er ihr folgte, wurden die Umrisse des Ortes deutlicher. Hohe Mauern mit noch höheren Türmen und hohen Toren aus gehämmerter Bronze. Und darüber der hohe und nackte Wüstenhimmel wie eine gewaltige Resonanzschale, in der aber nichts widerhallte, kein Laut aus der Stadt, kein Rauch.
Cyrion blieb stehen und betrachtete die Stadt. Er war geneigt, sie auch für eine Art Wüste zu halten, für eines jener Werke von Menschenhand, das schon vor Jahrhunderten verlassen wurde, als der Sand über die Türschwelle kroch: Ganz sicher war die Stadt alt. Dennoch wirkte sie nicht verfallen oder strahlte diese unbeschreibliche Melancholie eines unbewohnten Hauses aus.
Ein Gefühl sagte Cyrion, dass, so wie er die Stadt von draußen betrachtete, drinnen eine schweigende Menge stand und Cyrion beobachtete.
Was sie sahen? Dies: Einen jungen Mann, hochgewachsen, von täuschend schlanker Gestalt, täuschender Eleganz, welche an sich schon erstaunlich war; denn er wanderte seit Monaten durch die Wüste, auf Karawanenwegen und den seltenen sandbedeckten Straßen. Er trug die weite, dunkle Kleidung der Nomaden, besaß aber, wie die zurückgeworfene Kapuze erkennen ließ, nicht deren dunkle Hautfarbe. An seiner Seite hing ein Schwert in einer Scheide aus rotem Leder. Im Sonnenlicht glänzte der Knauf der Waffe silbrig-golden, wie auch sein Haar.
Seine linke Hand war mit Ringen gepanzert, die zu rauben anscheinend keinem Strauchdieb gelungen war. Falls die Bewohner der Stadt feststellten, dass Cyrion so schön war wie der Erzfeind selbst, waren sie keineswegs die ersten.
Dann ertönte das grollende, schabende Dröhnen zweier Bronzetore, die entriegelt und auf Gleitrollen nach innen gezogen wurden. Der Weg in die Stadt war offen – aber jetzt versperrt von einer Menschenmenge. Sie waren alle still, und schwarz gekleidet, die Männer und die Frauen, ja sogar die Kinder. Und ihre Gesichter sahen alle gleich aus, und alle betrachtete sie Cyrion auf dieselbe Art. Sie sahen ihn an, als wäre er der letzte sonnige Tag ihres Lebens, die letzte Münze in einer leeren Truhe.
Das Gefühl seiner unermesslichen Wichtigkeit für sie war so stark, dass Cyrion der Menge eine tiefe, halb spöttische Verbeugung machte. Während er sich verbeugte, erkannte Cyrion aus den Augenwinkeln, wie ein Mann durch die Menge schritt und vor das Tor trat.
Der Mann war so groß wie Cyrion. Er hatte ein hartes Gesicht, das gebräunt und doch bleich war, eine Woge schwarzen Haares um einen geschorenen Hinterkopf und einen edelsteinbesetzten Kragen aus dunklem Gold. Aber auch sein Blick hing an Cyrion. Es war der Blick eines Liebenden. Oder der eines Löwen, der seine Beute vor sich sieht.
»Herr«, sagte der schwarzhaarige Mann, »was führt Euch zu unserer Stadt?«
Cyrion vollführte eine lässige Bewegung mit der beringten linken Hand.
»Die Nomaden haben ein Sprichwort: Nach einem Monat in der Wüste ist selbst ein toter Baum ein erfreulicher Anblick.«
»Nur Neugier also«, bemerkte der Mann.
»Neugier; Hunger; Durst; Einsamkeit; Erschöpfung«, führte Cyrion aus. Er sah aber nicht so aus, als mache auch nur eines dieser Übel ihm zu schaffen.