Schaafsfeuer - Pit Ferman - E-Book

Schaafsfeuer E-Book

Pit Ferman

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Beschreibung

Eine brennende Scheune, zwei tote Männer, eine verletzte Frau. Damit beginnen für Kriminaloberkommissarin Rita Böhringer fünf aufreibende Tage, und das ausgerechnet an ihrem freien Wochenende. Aber zum Glück ist da ihr alter und nimmermüder Mentor Edgar Schaaf, der sie nicht nur bei einem versprochenen Stadtbummel mit dem Mädchen Saida vertritt, sondern auch ihr moralischer Rückhalt bei schwierigen Entscheidungen ist. Nicht von allen wohlgelitten und auch nicht als außerdienstliche Autorität anerkannt und geschätzt, ist es am Ende doch ihm zu verdanken, dass alle Puzzleteile an der richtigen Stelle zu liegen kommen.

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Eine brennende Scheune, zwei tote Männer, eine verletzte Frau. Damit beginnen für Kriminaloberkommissarin Rita Böhringer fünf aufreibende Tage, und das ausgerechnet an ihrem freien Wochenende. Aber zum Glück ist da ihr alter und nimmermüder Mentor Edgar Schaaf, der sie nicht nur bei einem versprochenen Stadtbummel mit dem Mädchen Saida vertritt, sondern auch ihr moralischer Rückhalt bei schwierigen Entscheidungen ist. Nicht von allen wohlgelitten und auch nicht als außerdienstliche Autorität anerkannt und geschätzt, ist es am Ende doch ihm zu verdanken, dass alle Puzzleteile an der richtigen Stelle zu liegen kommen.

Für alle, die ohne Obdach sind.

Schaafsfeuer

Der Moment, in dem die Flamme des Feuerzeugs auf das Papier übersprang, war wie immer einzigartig. Nie derselbe, und doch fast immer gleich, beschleunigte er den Puls des Mannes.

Wie oft er dieses Spiel schon gespielt hatte, konnte er nicht sagen, doch faszinierte es ihn immer wieder aufs Neu. Was einmal als Mutprobe unter Kindern begonnen hatte, war ihm in späteren Jahren zu einer Art Ritual geworden. Und so verging kaum ein Tag, an dem er sich nicht der Magie des Elements hingab.

Er drehte das Blatt geschickt in den Händen, sodass sich die Flamme von den Rändern nach innen fraß und er zum Schluss nur noch ein münzgroßes Stück Papier zwischen den Fingerspitzen hielt und das Feuer mit einem Hauch ausblies.

Inhaltsverzeichnis

Teil I

Sommer 2024

September 1996

Mai 2024

Januar 2019

April 2019

November 2023

Teil II

Juli 2024

Juni 2024

August 2024

Teil III

Freitag, 20. September 2024

Samstag, 21. September 2024

Sonntag, 22. September 2024

Teil IV

Montag, 23. September 2024

Teil V

Dienstag, 24. September 2024

Teil VI

Mittwoch, 25. September 2024

Nachwort

Schaafswinter

Schaafssturm

Schaafshammer

Schaafsgold und der ungelesene Autor

Schaafsinsel

Schaafshunde

Schaafsfrauen

Schaafssteine

Schaafsherbst

Schaafskind

Schabrack

Teil I

Sommer 2024

Edgar Schaaf genoss den Fahrtwind, der ihm um die Nase wehte. Sonnenbrille, Helm, die Motorradkluft, und unterm Hintern das Motorrad. Zum ersten Mal seit der Rückkehr aus Marokko im Mai hatte er die Harley Davidson aus der Remise geholt. Ein Bilderbuchmorgen im Sommer, wie er schöner nicht sein konnte.

Auf dem Sozius in Edgars Rücken fuhr ein leiser Anklang von Wehmut mit, gepaart mit einer Spur schlechten Gewissens. Denn die Spannen zwischen den gemeinsamen Ausflügen, Mensch und Maschine, wurden stetig länger. Das Gefühl, die Hingabe an die Harley altersmüde vernachlässigt zu haben, hatte er vor Antritt der Fahrt mit einer intensiven Wartung und Pflege aller Chromteile wettzumachen versucht. Dass er dabei Zwiesprache gehalten hatte, als sei das Motorrad ein lebendiges Wesen, gehörte zu den unergründlichen Geheimnissen eines erwachsenen Mannes. Selbst Melanie, die sonst über jede seiner Regungen Bescheid wusste, ahnte davon nichts, und Edgar hatte nicht vor, daran etwas zu ändern.

Als er nach der Reinigungsprozedur den Motor gestartet hatte und der vertraute Sound die Luft erzittern ließ, war Edgar vorsichtig optimistisch gewesen, dass die Harley nicht nachtragend sein würde.

Blauäugig indes war er nicht. Die Zeit für einen endgültigen Abschied würde unweigerlich kommen. Die Herren, die mit über siebzig noch ein schweres Motorrad fuhren, waren handverlesen und gezählt. Er hoffte nur, dass er den Tag und die Stunde unter dem grauen Mantel der Melancholie nicht übersehen würde.

Die Gelegenheit zum Motorradfahren hatte sich aufgrund einer Einladung ergeben. Bernadette Wolff, Lebensgefährtin von Peter Seibelt und neuerdings seine Ehefrau, hatte ein neues Kinderbuch geschrieben und illustriert, und seit Kurzem war es auf dem Markt. Titel: Das Chamäleon, das Maler werden wollte.

Das war für Edgar, beider Freund, ein willkommener Anlass, persönlich sechs signierte Exemplare bei der Künstlerin in Weinbuch abzuholen. Zwei Fliegen mit einer Klappe: Biken und Bücher. Trefflicher ging´s nicht.

Bei den Büchern hatte er zuvorderst an Saida gedacht. Natürlich nicht sechs Bücher für sie allein, sondern eins, aber die anderen fünf hatte er in Gedanken auch schon vergeben. An Melanie, an Gerti und Janna, an Rita, an Eliza und Pit Ferman, und an sich selbst.

Saida, deren Heimat jetzt das Türmchenhaus war. Dass aller Anfang schwer ist, hatte auch das Mädchen erfahren. Doch unter Mithilfe aller, nicht zuletzt der Hilfe der Psychologin Saskia Lazlo, hatte sie ihre Ängste überwunden, und nun blühte das Kind in ihrer neuen Familie richtig auf. Seit sie in dem Haus wohnte, hatte sich die manchmal statische, um nicht zu sagen angestaubte, Atmosphäre in einen frischen Wind verwandelt. Ein anderes Temperament fegte auf einmal durch die Räume, und sie riss mit ihrer Fröhlichkeit die anderen mit. Sogar Edgar spürte in seinen Adern plötzlich einen übersprudelnden Elan, als hätte man einen Korken aus seinem Hals gezogen, sodass ihm die Kohlensäurebläschen aus der Nase schäumten.

Ja doch, es gab mit Saida auch die betrübten Stunden. Meistens vor dem Schlafengehen, wenn sie an ihre geliebte Maman dachte. Dann aber war überwiegend Melanie zur Stelle, die das Kind auf den Pfaden der traumatischen Erinnerung auf sanfte Weise behütete und begleitete.

Gerti hatte ihr Versprechen gehalten. Sie hatte für Saida und deren Maman Fatma eine Kerze angezündet. Und diese Kerze brannte weiter, auch über Saidas Einzug ins Haus hinaus. Wenn eine Kerze abgebrannt war, wurde eine neue angezündet. Das sollte so bleiben, bis das Mädchen aus eigenem Antrieb sagen würde, dass sie das Licht als sichtbares Zeichen des Gedenkens an ihre Maman nicht mehr brauche.

Weinbuch also. Wie immer, wenn Edgar in den Ort hineinfuhr, wartete er auf das Ziehen in der Brust, auf das Frösteln im Nacken, die ihm suggerieren sollten – hier ist dein Stall, hier kommst du her – die aber nie kamen. Er verspürte keine Heimatgefühle. Er hatte das Elternhaus früh verlassen und kannte aus dem Ort niemanden mehr, außer eben Bernadette und Peter, Schulkameraden von anno Tobak.

Peter Seibelt hatte es nach seinem Berufsleben zurück in die Heimat, in das Haus seines Vaters gezogen. Aber auch er war in dem Ort im Grunde ein Exot, der mit seinem Habitus in das Dorf passte wie ein Fisch in die Wüste. Seine Kontakte beschränkten sich auf die allernötigsten, wie er sie zum Beispiel zum Verkauf seiner Tiffanyarbeiten, ob als Glasbild oder als Ofenlampe, äußerst sparsam pflegte.

Mittlerweile bekannter als er war Bernadette, die durch ihre Kinderbücher die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit brauchte. Nicht, dass sie sich aktiv aufdrängte, aber sie nahm gerne Einladungen zu Lesungen an, und wurde nicht müde, Schulen und Kitas zu besuchen. Sie war eine Frau der Spontaneität. Eine Gabe, die ihrem Mann Peter vollkommen fehlte.

Sie hatten Edgar einen warmen und herzlichen Empfang bereitet. Dass sie als Paar harmonierten, war nicht zu übersehen. Es lag an den kleinen, beiläufigen Dingen, an denen er es bemerkte. Eine Geste, ein Blick, ein Lächeln im richtigen Moment. Edgar gefiel dieses leise Spiel und nahm sich vor, seiner Melanie davon zu erzählen.

Es gab Kaffee und Kuchen, einen Gang durch ihren Garten, und dann die Stunde, in der Edgar vom Abenteuer in Marokko berichtete. Melanie, Rita und er. Und natürlich von Saida.

„Sie malt sehr gern und sehr gut“, sagte Edgar. „Ihr müsst die Kleine unbedingt kennenlernen. Du, Bernadette, schon allein wegen ihrer Zeichnungen und Gemälde.“ Er nahm sein Handy aus der Jackentasche und zeigte den beiden eine Auswahl von Saidas Werken.

„Toll, ja“, meinte Peter, „du bist ja richtig stolz auf die Kleine. Ihr behaltet das Kind bei euch?“

„Sicher, ja. Das Jugendamt befürwortet das, und wir natürlich auch. Wir schließen auch eine Adoption nicht aus.“

„Wow, Edgar, dann wirst du auf deine alten Tage tatsächlich noch Vater. Weißt du was? Das gönne ich Melanie und dir von Herzen. Grüße sie von uns.“

Es war Mittag geworden. Peter Seibelt begleitete Edgar bis zu dessen Motorrad. „Nachdem dir die alte Harley abgefackelt wurde, ist das also deine neue Alte?“

Edgar nickte. „Von Rick´s Motorcycles in Baden-Baden. Ein bisschen mehr Technik, ohne Schnickschnack, aber optisch die Alte, wie du sagst.“ Er startete den Motor, drückte den ersten Gang und rollte an. „Besucht uns bald!“, rief er und schaute nach vorne.

Und Peter Seibelt schickte ihm scherzhafterweise noch etwas hinterher, von dem Edgar nur: „ … aber verfahr dich nicht!“, verstand.

Verfahr dich nicht! Püh. Ein Edgar Schaaf verfährt sich nicht, hatte Edgar gedacht, und dann war ihm genau das passiert. Er hatte sich verfahren. Verfranzt. Kurzfristig mit dem Kopf irgendwo anders, war er an der entscheidenden Abzweigung vorbeigebollert.

Nicht, dass er nicht wusste, wo er denn war. Das war ihm schon klar. Aber eine schwere Harley Davidson war kein Moped, das man auf einem Bierdeckel wenden konnte, sondern mit einem einundsiebzigjährigen Piloten eine träge Masse, die es zu beherrschen galt.

Er schob die Schuld elegant auf das Motorrad. Soso, du suchst dir also deine Strecke selber aus? Dann lass´ mal sehen, wie du uns nach Hause bringst.

Ohne Groll ließ er sich auf die Geschichte ein und blieb auf der Straße, die er, so sehr er sich zu erinnern versuchte, noch nie gefahren war. Sie zog sich in weichen Kurven über sanfte Hügel. Okay, der Zustand mochte nicht der beste sein, aber Edgar hatte keine Eile und geriet in einen stressfreien Flow, wie er ihn sich vorstellte, wenn er als Habicht schwerelos und ohne Flügelschlag durch die Lüfte gleiten könnte.

Irgendwann machte er zu seiner Rechten unten im Tal die Kleinstadt Poggenau aus. Plötzlich so nüchtern in die reale Welt zurückgeholt, denn ein Ort bedeutete Häuser, Geschäfte, Menschen und Regeln, verflüchtigte sich sein Traum vom Fliegen. Er stieß aus der Höhe zur Talsohle, wo er, um nicht durch die Stadt fahren zu müssen, auf die Umfahrung abbog. Zwar bekam er nun einen besseren Straßenbelag unter die Räder, doch mit dem Flow war es vorbei, denn es herrschte starker Verkehr.

Wie ein Bach die Täler und Hänge der höher gelegenen Regionen entwässerte, nahm auch eine Umgehungsstraße den Verkehr auf, der aus den hinteren Dörfern und Weilern Richtung Rheinebene in die Industriezone strömte. In der Nähe der nächsten Ortschaft Magerbüchel befand sich ein Straßenknotenpunkt, genauer gesagt ein Kreisverkehr, in den kleinere Sträßchen mündeten, und von dem zwei leistungsfähigere Landesstraßen Richtung Westen verliefen. Die eine über Poggenau, die andere Richtung Offenburg.

Edgar war stets bedacht darauf, die Harley mit vollem Tank in die Remise zu stellen. Eine Angewohnheit, die er für praktisch hielt, denn im Falle eines Falles wollte er den Tank gefüllt haben. Bei Edgar war ein Notfall ein solcher Fall. Deswegen lockte ihn das grüne Reklameschild zu der Tankstelle, die eine Steinwurfweite außerhalb des Ortes lag.

Eine Tankstelle wie viele andere. Tanken und bezahlen. Edgar brauchte sonst nichts aus der überbordenden Fülle der Angebote, die wie in einem Supermarkt präsentiert wurden. Er ließ sich auch an der Kasse nicht verführen. Oder doch? Eine Schachtel Zigaretten?

Er war der einzige Kunde im Laden. Hinter der Kasse stand ein junger Mann. „Guten Tag, Säule Nummer zwei und bitte eine Schachtel Gauloises blau ohne chemische Zusätze“, sagte Edgar und legte seine EC-Karte bereit. Was für ein Schmarren, dachte er, als ob die Kippen ohne chemische Zusätze gesund wären.

Der junge Mann produzierte eine kuriose gymnastische Verrenkung, bei deren Nachahmung Edgar das Kreuz gebrochen hätte, angelte flink die Zigarettenpackung aus dem Spender hinter sich und zog sie mit dem Strichcode über den Scanner. „Dreiunddreißig Euro fünfzig“, sagte der Kassierer, und es war das einzige Mal, dass er Edgar ins Gesicht schaute, und das einzige Mal, dass Edgar ihn verkniffen lächeln sah. Dennoch fühlte er sich für eine Hundertstelsekunde von der Spur eines feinen Lufthauchs gestreift. Edgar legte die EC-Karte auf das Kartenterminal, steckte die Zigaretten ein, nahm die EC-Karte wieder an sich und verließ mit einem „Tschüss“ die Tankstelle.

Sobald er auf dem Motorrad saß und auf der Straße Richtung Offenburg beschleunigte, hatte Edgar den zarten Hauch des Schmetterlings bereits vergessen.

September 1996

Wenn es überhaupt so etwas Ähnliches wie einen Plan gab, dann hatte es mit Hamburg zu tun. Dieses Etwas war jedoch in Planung und Durchführung genauso wenig weit fortgeschritten und aussichtsreich wie das Vorhaben, einmal eine berühmte Sängerin zu werden. Oder eine anerkannte Schriftstellerin. Eine Malerin. Egal was. Hauptsache erfolgreich. Sängerin wäre toll, da brauchte man nur singen zu können – und das konnte sie.

Aber erstmal nach Hamburg.

Denn mit dickem Bauch konnte sie eine Karriere als Sängerin von vornherein abschreiben. Das war ja klar. Man stelle sich nur die Szene vor: Eine junge Frau mit Babybauch auf der Bühne, das Mikrofon in der Hand, tausende von Fans im Saal vergöttern sie – und die Fruchtblase platzt. Undenkbar sowas.

Darum Hamburg.

Eine ihrer Leidensgenossinnen hatte von einer anderen gehört, die es wiederum vom Hörensagen wusste, dass dort die erste Babyklappe Deutschlands eingerichtet werden sollte. Und das war der Plan: Irgendwie in Hamburg das Kind zur Welt bringen und es dann in der Babyklappe abgeben.

Es war ganz einfach: So wenig wie sie die Schwangerschaft gewollt hatte, wollte sie auch das Kind. Mutter mit sechzehn? Hallo, geht´s noch?

Nicht, dass sie nicht wusste, wer der Erzeuger des Kindes war. Das wusste sie sehr wohl. Aber genau wie sie selbst sechzehnjährig, war er mit der Aussicht auf die Verantwortung für ein Kind total überfordert. Kurz und bündig, die Rechnung war simpel: Eins plus eins ergab nun mal nicht zwei oder, romantisch verklärt, drei, sondern eins, und diese eins würde sie sein. Sie allein, sechzehn Jahre, ohne Kind und ohne Kerl.

Also Hamburg.

Wenn da nur nicht Kirgard Howarth, die Heimleiterin in Person, und somit das Jugendamt als Behörde, dazwischengekommen wäre. Nachdem die Schwangerschaft nicht mehr zu leugnen gewesen war – Schande genug, dass ein Mädchen aus ihrem Verantwortungsbereich sich hatte schwängern lassen – waren alle erforderlichen Maßnahmen in Gang gesetzt worden. Peinliche Untersuchung von einem bestellten Amtsfrauenarzt, männlichen Geschlechts wohlgemerkt, von wegen Schamgefühl und Vertrauen und so; psychologisches Aufklärungsgespräch über die Mutterschaft unter Verwendung infantillastiger Bildtafeln; Vorfestlegung der Entbindungsklinik und postnatale Unterbringung von Mutter und Kind unter Aufsicht in behördlich gestellten Wohnräumen.

Nicht, dass sie bis dato ein freies und selbstbestimmtes Leben geführt hätte. In diesem Heim unter der Fuchtel von Frau Howarth waren nur die Gedanken wirklich frei. Sich allerdings auf die Maßnahmen des Jugendamtes einzulassen, kam einer verschärften Form von Entmündigung gleich.

Sie wollte das nicht. Sie wollte kein Kind und sie wollte nicht Mutter sein, und müssen schon gleich gar nicht. Sie wollte nicht als Kindsmutter in irgendwelchen Dateien oder Registern gespeichert werden. Sie wollte nicht werden wie ihre Eltern, die sich nie um sie als ihre Tochter gekümmert hatten, und sie wollte nicht, dass das Kind, so denn geboren, über irgendwelche verzwickten und vertrackten Wege in die Obhut ihrer verfickten Eltern gelangen könnte. Sie wollte anonym bleiben, genauso wie das Kind anonym eine Chance haben sollte, und nicht sofort mit seinem ersten Atemzug vorbestimmt als asoziales Menschlein aufwachsen müsste. Das alles wollte sie nicht.

Um die Wellen der Aufregung um ihre Person flach zu halten, ließ sie sich zum Schein auf den Fahrplan des Jugendamtes ein, was durchaus auch Vorteile für sie beinhaltete. Ob sie nun wollte oder nicht, fiel sie unter das Mutterschutzgesetz und wurde von jeglicher körperlichen Betätigung, ausgenommen der Schwangerschaftsgymnastik, befreit. Außerdem konnte sie sich unter Vortäuschung eines Übelseins praktisch jederzeit aus der engen Gemeinschaft des Jugendheims zurückziehen. Das kam ihr sehr zupass, als sie, bereits im achten Monat schwanger, die Verwirklichung ihrer Absicht in Angriff nahm.

Was sie meinte dafür zu benötigen, beschaffte sie bei diversen Ausgängen in die Stadt. An oberster Stelle stand ein Businesskostüm mit passenden Schuhen und ein Rollkoffer. Dann Haarfärbemittel, Lippenstift und Nagellack. Mit diesen wenigen Artikeln und veränderter Frisur hatte sie vor, am Tag X das Jugendheim zu verlassen und per Nahverkehrsticket der Bahn nach Hamburg zu fahren. Mit unerschütterlichem Optimismus glaubte sie daran, dass sie in Hamburg, wenn sie erst einmal dort sein würde, irgendwie schon zurechtkam. An Bargeld besaß sie nach den Einkäufen noch fünfundneunzig D-Mark.

Es kam anders als gedacht. Man war geneigt zu sagen: natürlich.

Es lag nicht am Businessoutfit, das sie angelegt hatte, obwohl sie in dieser Aufmachung aussah wie Falschgeld auf Stelzen. Wenn man nach ihr suchen würde, hatte sie gedacht, dann würde man nach einer dickbauchigen durchgeknallten Punkerin suchen, und nicht nach einer Geschäftsfrau.

Für Schwangere nicht konzipiert, hielt sie die Hose, damit sie nicht rutschte, mit einem Gummiband am offenen Reißverschluss zusammen. Die Haare, selbst geschnitten und von dunkelbraun in blond gefärbt, wirkten für den Typ Frau, den sie darstellen wollte, extrem gewöhnungsbedürftig.

Schuld waren die Schuhe. Mit solchen feinen Tretern nie Umgang gehabt, stolperte sie beim Umsteigen im Bahnhof Heidelberg auf einer Abwärtstreppe derart unglücklich, dass sie mehrere Stufen hinabstürzte. Am Körper, außer einigen schmerzhaften Prellungen, sonst wie durch ein Wunder unbeschadet, spürte sie jedoch eine irritierende Nässe zwischen den Schenkeln. Und als sie hinsah, breitete sich ein dunkler Fleck auf der grauen Hose aus. Da ahnte sie bereits mehr als sie wusste, dass es mit Hamburg und Babyklappe heuer nichts werden würde.

Das Kind kam am fünfzehnten September in der Universitätsklinik Heidelberg per Kaiserschnitt zur Welt. Nicht, weil sie es so verlangt hatte, sondern weil es sich um einen medizinischen Notfall handelte.

Zwei Tage später erschien Frau Howarth auf der Geburtenstation, um mit der Leiterin das weitere Vorgehen zu besprechen. Man hatte, da die junge Mutter jedwede Auskunft zu ihrer Herkunft verweigerte, in deren Gepäck einen Hinweis auf das Jugendwohnheim gefunden und Frau Howarth von der Geburt in Kenntnis gesetzt. Indes hielt es die Heimleiterin nicht für nötig, sich bei der jungen Mutter selbst nach dem Befinden zu erkundigen. Der war das herzlich egal, denn sie hatte nicht vor, Frau Howarth jemals wieder zu begegnen.

Schon am unfassbar dritten Tag nach der Operation verließ sie unter Schmerzen die Klinik auf eigene Faust, ohne ihr Kind auch nur ein einziges Mal in Händen gehalten zu haben.

Mai 2024

Adrian.

Einundzwanzig Uhr fünfundvierzig, Freitagabend. Die Tankstelle lag wie ein strahlendes Objekt zeitgenössischer Kunst am Rande des Dorfes. Oder wie ein gelandetes UFO mit einladender Beleuchtung.

Mit der Zeit hatte Adrian ein Gespür für Kunden entwickelt, die klauen wollten. So wie jetzt dieser Typ hinter dem Mittelregal bei den Spirituosen. Eigentlich waren es ja keine Kunden, denn Kunden bezahlten bei ihm an der Kasse, sondern Diebe, und dass bei ihm Ware unbezahlt den Verkaufsraum verließ, wollte und konnte Adrian nicht dulden. Denn am Ende der Schicht musste die Kasse stimmen. Seine Kasse.

Um diese Uhrzeit war nicht mehr viel los an der Tanke. Der Feierabendverkehr war so gut wie durch. Der nächste Ansturm auf die Zapfsäulen würde erst wieder am nächsten Morgen stattfinden. Jetzt füllten nur noch sporadisch Autofahrer Sprit in ihre Tanks.

Dafür lief das Geschäft mit den Glücksspielern, die ihr Geld für Rubbellose ausgaben. Ein fester Stamm aus armen Schluckern, die täglich auf den großen Wurf warteten und hofften, mit dem Einsatz eines Euros Millionär zu werden.

Es handelte sich überwiegend um ältere Männer, erkennbar nicht nur an den Jahresringen um Augen und Münder, sondern auch an den Alte-Männer-Uniformen. Karl Lagerfeld konnte es nicht gewesen sein, der für Rentner und Pensionäre die Outdoorjacken mit aufgesetzten Taschen in der Farbe beige kreiert hatte.

Sie erschienen in der Regel erst nach der Stoßzeit am Abend, wenn die Wahrscheinlichkeit geringer war, bei der Suche nach einem bisschen Glück von irgendwelchen Nachbarn gesehen zu werden. Selbst dann noch verhielten sie sich so verschämt, als würden sie nicht die Tankstelle, sondern ein Pornokino betreten wollen.

Ebenso am Abend kam das Geschäft mit den jungen Leuten in Gang, die zwar kein Auto besaßen, aber jede Menge Durst hatten. Bier in Sixpacks und billiger Wodka wurden am häufigsten verlangt. Und Zigaretten. Und wer nicht bezahlen wollte oder konnte, versuchte eben zu klauen. So nachlässig Adrian bei der Einhaltung des Jugendschutzgesetzes war, irgendeiner von den Typen war immer achtzehn Jahre, so verbissen machte er Jagd auf Ladendiebe.

Hier an der Tankstelle begann in der Regel das Vorglühen, das sich über Stunden in die Länge ziehen konnte, bevor man gegen Mitternacht in die Clubs strebte. Treff- und Sammelpunkt war der Platz zwischen der Autowaschanlage und der offenen, aber gedeckten Stellfläche für Wohnmobile. Was die Besitzer der Wohnmobile nicht gerne sahen. Sie klagten über den Müll, den die Leute hinterließen. Flaschen, Pizza-Kartons und Fastfood-Behälter unter den Fahrzeugen, Kippen auf den Trittbrettern – die Liste war lang. Müllbehälter, die in unmittelbarer Nähe standen, wurden beharrlich ignoriert. Zum Wochenende hin war es besonders schlimm.

Und dann vertickte Adrian seit einigen Monaten noch einen anderen Stoff, der nicht zum regulären Warensortiment der Tankstelle gehörte und deshalb unter der Ladentheke gehandelt wurde. An ausgesuchte Kunden, die sich über ein Losungswort zu erkennen gaben und sich keinen Deut darum scherten, dass der Besitz der Ware und der Handel damit nicht ganz legal waren. Logischerweise durften der Chef und die Kollegin davon nichts wissen.

Er verhielt sich nicht ungeschickt, der Typ bei den Schnapsflaschen. Er schien genau zu wissen, wo die Kameras zur Überwachung des Ladens angebracht waren. Adrian beobachtete ihn auf einem der drei Monitore, die neben der Kasse montiert waren, und sah ihn nur von hinten. Eine Personenbeschreibung, die er im Falle eines Diebstahls bei der Polizei abgeben musste, fiel denkbar einfach aus. Schwarzer Hoodie, Blue Jeans, zwischen eins fünfundsiebzig und eins achtzig groß und schlank. Eine Beschreibung, die auf neun von zehn Kunden an einem Abend wie diesem zutraf.

Da sie immer nach dem gleichen Tatmuster vorgingen, waren sie ziemlich leicht zu durchschauen. Adrian kannte es aus eigenem Erleben, als er selber ein Ladendieb war, nur zu gut. Aber er weigerte sich, einen Gedanken an jene Zeit zu verlieren, und außerdem stand er heute auf der anderen Seite des Tisches. Mehr oder weniger fungierte er als Besitzer der Waren, die von anderen so begehrt wurden. Zumindest musste er für den Verlust mit seinem sauer verdienten Geld geradestehen.

Jetzt griff er zu, der Typ. Flink und geübt. Den Rücken zwischen Kamera und Regal gestellt – schon verschwand die Flasche blitzschnell unter dem Pullover.

Gleich hab´ ich dich, dachte Adrian.

„Hhrrmmhh …!“

Ja, was ist denn? Scheiße! Auf Adrians Gesicht zeichnete sich Unwille ab.

„Ja, guten Abend, der Herr. Ich stehe hier schon seit einer geschlagenen Minute und würde gerne bezahlen, wenn´s heute noch möglich wird!“

Obwohl eine der Kameras den Bereich vor der Kasse filmte und die Bilder auf einen der Monitore schickte, hatte Adrian die Frau nicht bemerkt. Zu vertieft war er in die Beobachtung des Kerls. Und richtig: Nun sah er, wie der Typ sich umdrehte, den Kopf auf die Brust senkte und aus dem Aufnahmebereich der Kamera eilte. Gleich würde er zur Tür hinausrennen, wenn nicht …

Ich krieg´ dich, du Sau, flog der Gedanke als Fluch aus Adrians Mund, und schon stürmte er los, beziehungsweise wollte er losstürmen, doch die messerscharfe Stimme der Frau stoppte ihn wie eine Wand aus Acrylglas. Zudem war sie im Begriff, ihm den Weg zu verstellen.

„Verdammt nochmal!!! Jetzt bin ich dran!“, keifte sie wie Galle.

Die Sekunde genügte, um den Dieb uneinholbar entwischen zu sehen.

„Ja, verdammt, jetzt ist er weg!“, fauchte Adrian zurück. „Oder bezahlen Sie mir die Flasche?“

„Spinnen Sie?“ Sie knallte eine Illustrierte auf die Theke. „Säule vier. Ich bezahle mit Karte.“

Wütend loggte er die Säulennummer ein. Achtundsiebzig Euro und zwei Cent, registrierte er und zog anschließend den Strichcode der Zeitschrift über den Scanner. Fünf zwanzig für ein Modejournal. Ein zynischer Zug spielte auf seinen Lippen. Typisch Modetussi. Solche Nixen mag ich, dachte er. Rasch warf er einen Blick nach draußen zur Tanksäule. Ein nagelneuer Mercedes stand neben der vier. Zweisitzer. Cabrio natürlich. Benziner. Verdammt! Wieso sie und nicht ich?

Auf dem Beifahrersitz saß jemand. Mann? Frau? Aha, eine Frau. Schau an, eine Lesbe.

Dann endlich widmete er sich der Kundin von Angesicht zu Angesicht. Eine junge Frau.

Dass sie elegant gekleidet war und goldenen Schmuck um die Handgelenke trug, ging im Aufruhr seines Herzens unter. Denn er sah nur ihr Gesicht. Ein Gesicht, das er kannte. Er wollte ihren Namen aussprechen, doch der Hals war wie zugeschnürt. Die Hand, die das Kassenterminal bediente, zitterte. Seine Augen hingen an ihren Lippen, die eine Mischung aus Arroganz, Verachtung und Überlegenheit ausdrückten. Ihre Augen blieben gesenkt. Doch er wusste, dass sie grün waren.

Routiniert tippte sie die PIN in das Kartengerät, wartete mit gebremster Ungeduld auf die Quittung, raffte sie mit genervter Miene aus seinen Fingern und stöckelte ohne weiteres Wort und ohne Andeutung eines Erkennens ihrerseits aus dem Laden.

Adrian stand da wie vom Donner gerührt. Sie war gegangen und er war allein im Laden. Genauso gut hätte er auf einem Berggipfel im Himalaya, oder auf einer abgelegenen Mini-Insel im Ozean, oder auf einer hell erleuchteten Theaterbühne vor vollbesetzten Rängen mit vergessenem Text sein können. Er fühlte sich wie der einsamste Mensch auf der Welt. Er spürte, dass sich ein Schrei in ihm aufbaute, wie eine Monsterwelle vor der Atlantikküste Portugals. Adrian begann zu zittern, dann zu beben. Als der sich ankündigende türmende Schrei den Kulminationspunkt erreichte, brach er in einer Urgewalt aus Adrian heraus. Laaaang, aus der Tiefe des Bauches, voller Inbrunst, durch die Kehle hinaus, hinaus, bis die Luft zu Ende ging. Und nochmal, und nochmal, mit geballten Fäusten, bis der Brustkorb schmerzte.

Um plötzlich still zu sein. Da war das Ringen nach Luft. Und auf einmal die Hektik.

Schnell nach draußen, nach draußen, auf kürzestem Weg, durch die elektrische Schiebetür – aber zu spät, zu spät. Der Mercedes, ihr Mercedes, war bereits zu weit. Er sah nur noch die Rücklichter. Das Autokennzeichen, das Kennzeichen, Herr im Himmel oder Teufel in der Hölle, egal wer, aber gebt mir das Kennzeichen – nein, es war nicht mehr zu entziffern. Er trat mit Wucht gegen den Papierkorb vor der Tür. Scheiße!!

Adrian arbeitete seit elf Monaten für den Konzern, dem die Tankstelle gehörte. Es war nicht sein Traumjob, doch auf Anraten und Vermittlung seines Bewährungshelfers hatte er ihn angenommen. Geregelte Arbeitszeiten, sicheres Einkommen, positive Sozialprognose. So lautete das Credo, das ihm knallhart vor Augen führte, dass er keine andere Wahl hatte. Wie die Alternativen dazu aussehen würden, hatte er ihm mit drastischen Worten erklärt. Von den zwei Jahren, in denen er sich an die Regeln halten musste, hatte er nunmehr vier Monate geschafft.

Große Sprünge konnte er sich bei dem Gehalt nicht leisten, doch wenn er mit den Ausgaben einigermaßen im Rahmen blieb, kam er gerade so hin. Vielleicht war es sogar beabsichtigt, ihn, was das Geld betraf, relativ kurz zu halten. Als Erziehungsmaßnahme sozusagen. Freude bereitete es ihm allenfalls keine.

Er sah sich selbst auf das Nötigste reduziert. Mit der Einzimmerwohnung und Möbeln vom Sperrmüll konnte er keinen Staat machen. Markenkleider und schicke Sneakers kannte er nur vom Sehen. Seine Herrenausstatter hießen Caritas und AWO. Ein Auto besaß er nicht, sowenig wie ein Fahrrad. Gerade noch, dass er ein Handy sein eigen nennen konnte, aber es war ein No-Name-Produkt und das Gegenteil von einem Statussymbol.

Er hatte Glück, dass ihn mit dem Tankstellenleiter eine Abmachung verband. Nämlich durfte er dessen Motorrad benutzen, wenn der Chef selber eine Schicht in der Tanke leistete. Ansonsten war Adrian auf den ÖPNV oder auf die eigenen Füße angewiesen.

Die Tankstelle wurde im Drei-Schichten-Betrieb gefahren. Von sechs Uhr bis zwölf Uhr, von zwölf Uhr bis achtzehn Uhr, von achtzehn Uhr bis sechs Uhr. Es war eine Tankstelle mit dem grünen Firmenlogo, die am oberen Verkehrskreisel lag. Es existierte in Konkurrenz eine zweite Tankstelle am unteren Kreisel mit blauem Logo, doch jene schöpfte viel weniger Verkehr ab.

Nach einer Nachtschicht war er normalerweise hundemüde. In seiner Bude angekommen, trank er, um das Erreichen der erwünschten Bettschwere zu forcieren, zwei Gläser billigen Rotwein. Dermaßen angetörnt, fiel er für gewöhnlich in einen ohnmachtsähnlichen Tiefschlaf, aus dem er vor Mitte des Nachmittags nicht wieder erwachte.

Heute jedoch wälzte er sich unruhig von einer Seite auf die andere. Es war eine teure Nachtschicht für ihn gewesen. Nicht nur, weil ihm ein Ladendieb mit einer Flasche Wodka entwischt war und er mit seinem Geld die Kasse ausgleichen musste. Auch, weil er einmal beim Herausgeben auf Bargeld einen Fehler gemacht hatte. Ein Kunde hatte eine Schachtel Zigaretten für acht Euro mit einem Hunderteuroschein bezahlt. Adrian hatte ihm nicht nur das Rückgeld gegeben, sondern den Hunderteuroschein, der eigentlich in seine Kasse gehört hätte, gleich mit. Sehr, sehr ärgerlich, das alles.

Aber Schuld daran, und darin steckte die Hauptursache für seinen Blackout in der Nacht und die jetzige Schlaflosigkeit, war sie. Natürlich sie. Mona. Mona Schott.

Ob sie heute noch Mona Schott hieß, wusste er nicht. Damals jedenfalls hatte sie so geheißen. Vielleicht war sie mittlerweile verheiratet und trug einen anderen Namen. Oder verheiratet und geschieden, was vom Nachnamen her aufs Gleiche hinauslief. Er wusste es nicht. Solch eine Frau blieb nun mal, das war erstens das Gesetz der Natur, und zweitens das Los der Schönheit, nicht lange allein. Aber eines hatte ihn dann doch gewundert: Dass er in ihrem schönen Gesicht überhaupt keine Narben gesehen hatte.

Er rollte sich aus dem Bett, stolperte zum Esstisch, der gleichzeitig auch Schreibtisch und Werkbank sein musste, und soff direkt aus dem Fünf-Liter-Weinkarton einen tiefen Schluck. Ein Blatt Papier lag auf dem Tisch. Er ergriff es, nahm ein Feuerzeug und zündete das Papier an einer Ecke an. Rasch züngelte die Flamme am Rand des Blattes entlang. Durch geschicktes Drehen hielt er das Feuer davon ab, sich in die Mitte zu fressen. Schnell wurde die Fläche des unversehrten Papiers kleiner. Was ihm sonst durch jahrelange Übung gelang, nämlich dass er am Schluss ein briefmarkengroßes Stückchen Papier zwischen den Fingern hielt, ging heute schief. Mit den Gedanken woanders, verpatzte er die letzte Drehung und verbrannte sich die Finger. Das brennende Papier fiel zu Boden und hinterließ dort einen dunkelbraunen Fleck im PVC-Bodenbelag.

Über das eigene Missgeschick wütend, warf er sich erneut aufs Bett und versuchte in Schlaf zu fallen. Die Bilder von Mona im Kopf wurde er indes nicht los.

Dann kamen, quasi zur Selbstrettung, die Zweifel. Zweifel, ob es überhaupt Mona gewesen war, die er gesehen hatte. Alsbald schritt mit den Zweifeln die Hoffnung einher, dass sie es gar nicht gewesen sein konnte. Und aus der Hoffnung wurde eine Einrede, die einer vom Schlage Adrians gerne als Wahrheit vertrat, wenn man sie nur oft genug wiederholte.

Denn ja, seine Mona musste Narben im Gesicht zurückbehalten haben. Die Haut dieser Frau aus der Tankstelle aber, von der Adrian nun überzeugt war, dass sie nicht Mona gewesen sein konnte, war makellos rein wie ein gesunder Pfirsich gewesen. Und die Geschichte mit der richtigen Mona hatte zu einer ganz anderen Zeit, in einer ganz anderen Stadt, in einem ganz anderen Leben stattgefunden. Außerdem hätte Mona nie im Leben solch einen Auftritt hinlegen können wie die Tussi in der Tanke. Niemals. So what.

Eineinhalb Stunden später jedoch schlief Adrian noch immer nicht. Welche Schlafposition er auch einnahm – der Kopf spielte ihm einen Streich. Er probierte es mit der 4711-Variante: Vier Sekunden lang tief einatmen, sieben Sekunden lang ausatmen, und das elfmal nacheinander. Es wirkte nicht. Auch der fragwürdige Versuch mit nassen gekühlten Füßen brachte nicht den erhofften Erfolg. Dafür bekam er Kopfweh.

Ganz so einfach ließ sich der Datenspeicher im Gehirn nun doch nicht überlisten. Denn was, wenn es doch Mona gewesen war? Er würde schwören, dass es ihre Stimme war, die er gehört hatte. Und plastische Chirurgen gab es wahrscheinlich wie Sand am Meer. Aber wieso hatte dannsiesich nicht zu erkennen gegeben? Lag es daran, dass er im Gegensatz zu früher die Haare kurz geschnitten und keinen Bart mehr trug? Oder hatte sie ihn erkannt und einfach nichts gesagt? Nach ihren eigenen Worten hatte sie eine geschlagene Minute Zeit gehabt, sich zu beherrschen und sich nichts anmerken zu lassen. Welche Haarfarbe hatte sie überhaupt gehabt? Früher war sie dunkelbraun gewesen. Und heute? Honigblond? Hellbraun? Er war ein miserabler Beobachter.

Wie aus dem Nichts fiel ihm plötzlich die Kamera ein, die den Zapfsäulenbereich erfasste und aufzeichnete. Adrian purzelte geradezu aus dem Bett. Die erste Idee war, seine Kollegin von der Frühschicht anzurufen, sie möge bitte die gespeicherten Aufnahmen des gestrigen Abends durchsehen und ihm die Autonummer eines roten Mercedes Zweisitzer angeben. Der zweite Gedanke war, dass diese Sache die Kollegin absolut nichts angehen würde, und er verwarf die erste Idee sofort wieder. Am Ende würde sie vielleicht noch lästige Fragen stellen, und das war etwas, das er so gar nicht gebrauchen konnte. Ergo: Er musste die Überprüfung selber erledigen.

In fliegender Hast zog er Jeans und T-Shirt an, krallte den Zündschlüssel des ausgeliehenen Motorrads und befand sich eine Minute später auf dem Weg zur Tankstelle.

*

Mona.

War das wirklich sie gewesen? Sie, Mona, das scheue Reh?

So hatte sie sich selbst noch nie erlebt. Nicht mal im Gerichtssaal, wenn es darum ging, der Gegenseite mit knallharten Fakten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Als kratzbürstiges egozentrisches Weibsbild.

Lena, Monas beste Freundin, hatte recht gehabt. Bei dem Kerl in der Tankstelle handelte es sich tatsächlich um Adrian.

Wenn er gewusst hätte, dass sie sich vor lauter Angst beinahe in die Hose …

Mona wollte die Vorstellung nicht zu Ende denken.

Sie hatten sich am Donnerstag nach Monas Training und Lenas Yogastunde auf einen Drink in einem italienischen Café verabredet, wobei die Drinks eher nebensächlicher Natur gewesen waren. Wichtiger für beide war das unbekümmerte Tratschen und Quatschen zwischen seelenverwandten Frauen. Da keine von ihnen aktuell an einen Partner oder eine Partnerin gebunden war, gab es auch keine Tabuthemen, die man fallbezogen vorsichtig umschiffen musste. Dem ungehinderten Redefluss waren demnach keine Grenzen gesetzt.

Freilich gab es geschlechtsspezifische Themen, über die man mit einer Frau besser sprechen konnte als mit einem Mann, wie zum Beispiel Cellulitis und PMS. Sofern man selber eine Frau war, versteht sich. Darüber hinaus redeten sie aber genauso ungezwungen über breit gestreute Interessensgebiete wie Figur, Kosmetik, Kinofilme, Musik, Ferienziele, Mode und Ernährung, ohne festgelegte Reihenfolge oder Gewichtung bestimmter Themen.

Als jedoch die Sprache auf Männer gekommen war, hatte Lena für eine faustdicke Überraschung gesorgt.

„Hast du mir nicht erzählt gehabt, dass der Typ in Bamberg ein Augenbrauenpiercing trug? Links?“

„Ja, schon, aber wie kommst du jetzt darauf? Das ist Jahre her“, antwortete Mona, die sofort eine Veränderung auf der Haut spürte. Die Härchen richteten sich auf. Es fühlte sich an wie eine elektrostatische Spannung.

„Heute Nachmittag hab´ ich an der Grünen Tankstelle in Magerbüchel getankt. Der Kerl an der Kasse hatte solch ein Ding. Wie hieß er gleich wieder?“

Monas Miene verriet Unwille. „Du, ich möchte eigentlich ungern an die damalige Sache erinnert werden.“

„Entschuldige, ich hab´ halt nur gedacht … er trägt auch keinen Bart und hat kurze Haare … anders, als du ihn mir beschrieben hast. Aber vom Alter her könnte es stimmen. Und dann auch wiederum nicht, wenn man bedenkt, dass der Angriff in Bamberg passiert war. Das wäre dann schon ein großer Zufall, oder?“

Na, so groß wäre der Zufall dann auch wieder nicht, dachte Mona, denn er hatte ja behauptet, dass er aus dem Raum Baden stamme, ohne je präziser geworden zu sein. Wenn das nicht ebenfalls erlogen gewesen war wie alles andere auch. „Wo hast du gesagt, dass du ihn gesehen hast? In …“

„In Magerbüchel. Das liegt auf der Strecke Richtung Durlangen“, warf Lena geschäftig ein.

„Ich weiß, wo das ist. Ich wohne seit fünf Jahren in der Gegend“, erwiderte Mona schärfer als beabsichtigt, und erlag gleichzeitig einem merkwürdig kribbelnden, aus der für Warnungen zuständigen Hirnregion herbeigeflogenen Reiz, näher am Ball zu bleiben. Und tatsächlich sendete ihr das Unterbewusstsein ein alarmierendes Sirenengeheul auf die Ohren. Ungeachtet dessen fragte sie: „Ist dir sonst noch etwas an ihm aufgefallen? Muttermale, Leberflecken, Tätowierungen, Zahnlücken?“

Lena prustete: „Hallo, erlaube mal! Ich war nur tanken, und nicht mit ihm im Bett.“

Es verstrichen ein paar Sekunden, die Mona für eine Entscheidung brauchte. „Okay, du hast mich überredet. Ich muss sowieso bald tanken. Aber ich möchte, dass du mitkommst. Zum Schutz oder als Zeugin. Ist es dir morgen recht?“

Ja, es war Adrian. Daran biss keine Maus einen Faden ab.

Während Lena draußen im Auto gewartet hatte, war Mona zum Bezahlen in den Verkaufsraum gegangen und hatte ihn sogleich erkannt. Es waren seine Augen und das Piercing, die Nase, die Größe und die Statur. Er hatte auf einen bestimmten Punkt neben der Kasse gestiert und von ihr überhaupt keine Notiz genommen. Natürlich hatte er mit ihrem Erscheinen nicht rechnen können, wie sollte er auch. Aber wie Lena gesagt hatte: Ihre Beschreibung vom damaligen Aussehen passte nicht mehr zum heutigen.

Mona hatte dann spitzbekommen, dass er es wohl auf einen Ladendieb abgesehen hatte, doch sie hatte dazwischengefunkt, Ja, guten Abend, der Herr. Ich stehe hier schon seit einer geschlagenen Minute … und hatte ihm die Tour vermasselt.

Sie also hatte ihn identifiziert. Trotz neuer Frisur und rasiertem Gesicht. Und er? Hatte er sie erkannt? So wie er geglotzt hatte? Hätte ich ihn ansprechen sollen?

„Ist er es? Hast du mit ihm geredet?“, hatte Lena sie gleich mit Fragen bombardiert.

„Erste Frage: ja, zweite Frage: nein“, hatte Mona geantwortet, den Motor gestartet und Gas gegeben. „Nix wie weg hier, bevor er auf die Schnapsidee kommt und mir hinterherrennt.“

Lena wäre noch gerne auf ein Bier in den Irish Pub in Offenburg gegangen, doch Mona wollte alleine sein.

Sie lud die Freundin an ihrer Adresse ab und fuhr auf direktem Weg nach Hause. Sie hatte eine Dachwohnung in einem Einfamilienhaus am Stadtrand Offenburgs gemietet. Überall zwar schräge Wände, doch die Kniestockhöhe war hinreichend bemessen, sodass sie bei ihrer Größe von ein Meter fünfundsechzig nirgendwo Gefahr lief, den Kopf anzustoßen. Es gehörte ein Balkon dazu, der über die gesamte Breite des Hauses reichte. Die Giebelfront zum Balkon war vom Fußboden bis in die Dachspitze mit Rauchglas versehen. Die Dachschrägen waren innen wie außen mit Holz verkleidet. Unterhalb des Balkons erstreckte sich die weitläufige Terrasse des Hausbesitzers mit anschließender Rasenfläche, Zwei markante Trauerweiden bildeten einen dichten Sichtschutz sowohl zum als auch vom Trampelpfad, der am Grundstück vorbei führte und es begrenzte.

Im Kühlschrank wusste sie noch eine halbe Flasche Weißwein. Sie schenkte ein Glas ein und machte es sich damit auf dem Balkon bequem. In der Wohnung herrschte zwar Rauchverbot, doch auf dem Balkon hatte der Vermieter nichts dagegen.

Sie zündete eine Zigarette an und inhalierte den ersten Zug tief in die Lunge. Ihre Gedanken eilten fünf Jahre zurück, als sie sich in Bamberg als Rechtsreferendarin auf das zweite Staatsexamen vorbereitete.

Januar 2019

Bamberg

Adrian.

Alle anderen hatten gewusst, was sie nach bestandenem Abitur machen wollten. Alle hatten zumindest einen Plan. Einen Lebensplan. Drei Viertel wollten ein Studium beginnen, der Rest sich in der freien Wirtschaft bewerben. Nur er nicht. Adrian.

Gerade so, dass er das Abi geschafft hatte. Mit Ach und Krach durchgebrunzt.

Sein Vater hätte ihn erschlagen, wenn er durchgerasselt wäre, doch er lebte noch und sah sich in seiner Lebenseinstellung bestätigt: Auch ein faules Huhn findet ein Korn, solange es mit den anderen Hühnern gackert.

Aber zu Hause hatte er nicht bleiben können und nicht bleiben wollen. Schade für die Mutter. Mit ihr verstand er sich relativ gut, und sie konnte ja eigentlich nichts dafür, dass sich ihr Mann im Lauf der Jahre zu solch einem Despoten entwickelt hatte.

Es war eher eine Laune als eine Überlegung gewesen, dass er sich für das Lehramtstudium für Grundschule an der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg beworben hatte. Nicht gerade das, was er sich als freier Geist entfernungsmäßig vorgestellt hatte, aber die Hauptsache war die Distanz zu dem elterlichen Dunstkreis. Sechs oder, je nachdem, sieben Semester bis zum ersten Staatsexamen – Donner und Doria – die sollten doch abzusitzen möglich sein. Und dann, verdammt, ran an die jungen hübschen Lehrerinnen.

Ein Dummkopf war Adrian nicht. Das musste man ihm zugestehen. Wer beinahe drei Jahre Studienzeit, oder annähernd sechs Semester, ohne geringsten eigenen Aufwand über die Runden brachte, der brauchte schon eine gehörige Portion Cleverness. Die war, wie´s schien, bei Adrian in überreichem Maße vorhanden. So schlüpfte er wie ein nasser Aal durch alle notwendigen Seminare und lieferte in den Wahlfächern Deutsch, Mathematik und Musik erforderliches und ausreichendes Grundwissen ab. Was ihm zugutekam, war die Fähigkeit, aus den Fachsimpeleien seiner Studienkollegen und -kolleginnen, in die er sich mit geradezu unangestrengter Leichtigkeit einklinken konnte, die Essenzen ziehen zu können. Oft genug geschah das abends in einer der angesagten Kneipen, denn zum Feiern war er stets aufgelegt. Bei erkanntem Nachholbedarf gelang es ihm auch, durch eine belanglos hingestreute Frage eine entsprechende Diskussion zu initiieren, um daraus sein Pseudowissen zu eruieren. Sich jedoch selber hinzusetzen und Fachliteratur zu wälzen, war ihm viel zu lästig und stupid. Pädagogik? Didaktik? Hat sich was, wie er zu denken pflegte.

Im Verlauf eines solchen Abends lernte er in der Studentenkneipe Zum goldenen Hahn eine Frau kennen. Zwar von einer anderen Fakultät und mit dem ersten Staatsexamen bereits in der Tasche, hielt sie sich mit Fachkollegen an der Theke in dem Lokal auf.

Quatsch! Er lernte sie nicht kennen, wie man üblicherweise jemanden kennenlernente. Weder saß sie an seinem Tisch noch wurde sie ihm vorgestellt. Erst stach sie ihm, dann fasste er sie ins Auge.

Adrian, sonst gerne einer der Lautstärksten und keiner Albernheit abgeneigt, fühlte sich bei ihrem Anblick wie vom Schwert getroffen. Hinter ihrer Stirn erkannte er, trotz ihrer Ponyfrisur, auf Anhieb die absolute Reinheit. Die vollständige Abwesenheit alles Bösen. Sie trug ihre natürliche, unverfälschte Schönheit wie eine unsichtbare Krone und, entsprechend ihrer königlichen Seriosität, mit dem Bewusstsein und dem latenten Schmerz einer Bürde. Er spürte instinktiv, dass diese Frau mit gockelhaftem Balzgehabe, das er normalerweise veranstalten würde, nicht zu erobern sein würde. Dass er mit seiner Einschätzung richtig lag, musste sein Studienfreund Leroy, Spitzname GröFaz, was für Größter Ficker aller Zeiten stand, peinlich erfahren. Sie würdigte ihn ob seiner aufdringlichen Anmache nicht eines Blickes, was ihm seitens der Kumpel vom Tisch eine volle Breitseite des Hohns einbrachte. Gerade deswegen nahm Adrian sich vor der erste zu sein, der bei ihr das Fenster zur Seligkeit eindrücken durfte. Sozusagen.