Schabrack - Pit Ferman - E-Book

Schabrack E-Book

Pit Ferman

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Beschreibung

Jacques Brasseur, Spitzname Schabrack, trifft während eines seiner regelmäßigen Besuche in Hamburg auf Charlotta, kurz Lotta genannt, deren bisheriges Leben gerade Schiffbruch erleidet und von Jacques´ Hartnäckigkeit zunächst wenig erbaut ist. Keineswegs geplant, landet sie letztlich aus Mangel an Perspektiven mit ihm zusammen in seiner zweiten Heimat Talhalden, wo auch Lotta rasch einen Spitznamen abkriegt: Schaluppe. Bald stoßen die beiden durch Lottas Neugier eine Geschichte an, die viele Jahre lang unentdeckt an einem geheimen Ort schlummerte. Und Jacques macht sich Gedanken, ob in dem beschaulichen Ort vielleicht ein Mörder wohnt.

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Jacques Brasseur, Spitzname Schabrack, trifft während eines seiner regelmäßigen Besuche in Hamburg auf Charlotta, kurz Lotta genannt, deren bisheriges Leben gerade Schiffbruch erleidet und sie von Jacques´ Hartnäckigkeit zunächst wenig erbaut ist. Keineswegs geplant, landet sie letztlich aus Mangel an Perspektiven mit ihm zusammen in seiner zweiten Heimat Talhalden, wo auch Lotta rasch einen Spitznamen abkriegt: Schaluppe.

Bald stoßen die beiden durch Lottas Neugier eine Geschichte an, die viele Jahre lang unentdeckt an einem geheimen Ort schlummerte. Und Jacques macht sich Gedanken, ob in dem beschaulichen Ort vielleicht ein Mörder wohnt.

„Ich erschaff´ ein Reich,

wo nur Liebe ist,

wo du Herrin bist,

einer Königin gleich.“

(aus dem Chanson „Ne me quitte pas“, im Original von Jacques Brel. Deutsche Übersetzung „Geh´ nicht fort von mir“ von Heinz Riedel. Interpretiert u. a. von Klaus Hoffmann.)

Inhaltsverzeichnis

Teil I

Schabrack

Mai 2015

August 2015

September 2015

Samstag, 26. September 2015

Samstag, 26. September 2015

Sonntag, 27. September 2015

Montag, 28. September 2015

Teil II

Montag, 28. September 2015

Dienstag, 29. September 2015

Dienstag 29. September

Donnerstag, 01. Oktober 2015

Donnerstag – Samstag, 01. – 03. Oktober 2015

Teil I

Schabrack

Der Plattensee in Ungarn ist der flächenmäßig größte Binnensee Mitteleuropas. Bei einer durchschnittlichen Wassertiefe von nur etwas mehr als drei Meter und im Sommer mit garantiert warmen Wassertemperaturen ist er neben der Hauptstadt Budapest das beliebteste Urlaubsgebiet Ungarns.

Zu Zeiten des Eisernen Vorhangs, der die geopolitischen Systeme in Ost und West trennte, war der Plattensee, auch Balaton genannt, eines der bevorzugtesten Reiseziele für DDR-Touristen. Was die DDR-Oberen zwar wussten, aber nicht gerne sahen, war, dass sich am Plattensee viele Ost-Familien und Angehörige mit Familien und Verwandten, die sich, unter welchen Umständen auch immer, in den Westen abgesetzt hatten, unter Umgehung der DDR-staatlichen Restriktionen zu treffen pflegten. Denn innerhalb des sogenannten Ostblocks Urlaub zu machen, war den DDR-Bürgern nicht verboten. Ebenso war es für Westdeutsche ungleich einfacher nach Ungarn zu reisen, als unter diversen schikanösen Auflagen in die DDR.

In der zweiten Hälfte des Jahres 1989 änderte sich jedoch alles.

„Hast du das gehört, was die Leute sagen? Sie sagen, die Grenze nach Österreich sei offen.“ Manu nahm die Eiswaffel, die sie am Kiosk gekauft hatte, und warf sie ihrer Freundin gezielt auf den Bauch.

„Igitt“, kreischte Gerda und schreckte hoch. Die dunkelhaarige Freundin, die auf der Decke neben dem Iglu-Zelt lag und sich sonnte, richtete sich abrupt auf. „Wer hat dir denn diesen Schwachsinn erzählt?“

„Vorne am Kiosk reden sie davon. Sind alle total aus dem Häuschen. Einige brechen ihre Zelte ab.“ Manu war sehr aufgeregt und setzte sich mit erhitztem Kopf im Schneidersitz neben sie.

Gerda schob die Sonnenbrille auf die Stirn. „Ich halte diese Geschichten alle für erstunken und erlogen. Genauso wie den angeblichen Paneuropäischen Picknicktag von vor drei Wochen auf dem Grenzstreifen der ungarisch/österreichischen Grenze, wo mehrere hundert Menschen Republikflucht begangen haben sollen. Das ist alles vom Klassenfeind gesteuert. Oder glaubst du im Ernst, unsere Bonzen würden so etwas zulassen? Eine Massenflucht aus dem real existierenden Sozialismus unserer DDR? Wenn dieser Picknicktag tatsächlich stattgefunden hätte, dann würden uns die Grenzschützer die Ausreise nach Ungarn nie erlaubt haben. Die hätten die Grenzen dichtgemacht, verstehst du? Pah, von wegen die Grenzen sind offen. So ein Unsinn.“

„Aber im Kiosk zeigen sie die Bilder im Fernsehen. Leute aus der DDR, die einfach über die Grenze marschieren als sei es ein Spaziergang. In den Westen.“ Manus Augen schienen zu glühen.

„Wenn du in Polen leben würdest, wäre die DDR der Westen“, konterte Gerda kalt.

Manu kaute nervös an den Fingernägeln. Gerda registrierte das und sagte: „Weißt du was ich denke? Dass diese Bilder gestellt sind. Nichts einfacher als das. Du nimmst auf irgendeiner Kuhweide einen Zaun, ein paar Schauspieler und Statisten, schneidest den Zaun durch, die Statisten trampeln darüber hinweg, und die Schauspieler werden auf der anderen Seite von ein paar Reportern empfangen, die natürlich ebenfalls Schauspieler sind. Und die einen Schauspieler jubeln und lachen und tanzen und begrüßen vor den laufenden Kameras die Freiheit. So wird das gemacht, meine Liebe. Kostet wahrscheinlich keine tausend Mark. Aber die Wirkung ist enorm. Man will mit solchen Nachrichten die Staatstreue der DDR-Bürger unterwandern. Und jetzt verschone mich bitte mit deinen Märchen.“

„Aber …“

„Manu, bitte!“

Ein Campingplatz am flachen Südufer des Plattensees in Ungarn. Das erschwingliche Feriendomizil im erlaubten Ausland für die Arbeiterklasse der DDR.

Gerdas Vater hatte ihnen den Trabi zur Verfügung gestellt. Iglu-Zelt, Schlafsäcke, Gaskocher, Campingtisch und -stühle. Dafür brauchte man kein Reisebüro. Man sorgte dafür, dass genug Benzin im Tank war, und dann ab durch die Tschechoslowakei nach Ungarn.

Die beiden Frauen verband neben ihrer Freundschaft und dem gleichen Alter, nämlich vierundzwanzig, dass sie gebürtige Cottbusserinnen und ausgebildete Erzieherinnen waren. Doch während Manu in Cottbus in relativ ruhiger Umgebung den staatlichen Bildungsauftrag versehen konnte, stand Gerda bei der gleichen Tätigkeit für den Nachwuchs der gewählten Parteigenossen im engeren Dunstkreis der Volkskammer in Ost-Berlin unter immerwährender Beobachtung.

Auf Linientreue geprüft und getrimmt waren sie beide. Sonst hätte man ihnen diese basisrelevanten Arbeitsstellen nicht anvertraut. Was bei Manu in Cottbus jedoch nur an der Oberfläche glänzte, hatte sich bei Gerda in Ost-Berlin zur verinnerlichten Überzeugung verfestigt. So war es nicht verwunderlich, dass Gerda solchen Gerüchten zum Trotz größtes Misstrauen entgegenbrachte.

Manu erhob sich aus der Sitzposition und schaute über den See. „Ich geh´ schwimmen“, sagte sie. „Kommst du mit?“

„Ja, machst du die Luftmatratze fertig?“

Beim Abendessen stocherte Manu geistesabwesend auf dem Teller herum. Ravioli made in Brandenburg.

„Schmeckt es dir nicht, oder was ist los mit dir?“

Manu legte die Gabel weg. „Was ist, wenn wir beide rübermachen? Abhauen?“ Jetzt ist es raus, dachte sie atemlos.

„Du spinnst ja total“, antwortete Gerda, blieb aber äußerlich ruhig. „Selbst wenn ich wollte – was natürlich nicht der Fall ist – ich könnte gar nicht. Ich könnte das Papa und Mutti niemals antun. Dass Mutti krank ist, weißt du ja. Außerdem sind all meine Freunde in Berlin. Nee, Manu, das ist nichts für mich. Und ich verstehe dich nicht und ich will dich auch nicht verstehen. Zeig´ mir ein besseres System als das unsrige. Uns allen geht es gut. Der Staat sorgt für uns. Siehst du das denn nicht?“

Manu nahm die Gabel wieder in die Hand und schob die Ravioli von einer Tellerseite auf die andere.

„Italien, Riviera. Frankreich, Côte d´ Azur. Spanien, Costa del Sol. Amerika, Florida, Kalifornien, San Francisco. Interessiert dich das denn nicht?”

“Wenn du Sehnsucht nach der Riviera oder der Côte d´Azur verspürst, kannst du genauso ans Schwarze Meer fahren. Rumänien, Bulgarien oder auf die Krim.“

„Aha, und wen treff´ ich dort, hm?“, fragte Manu schnippisch. „Die Partei-Bonzen und DDR-Rentner, die sich das leisten können. Da kann ich ebenso gut daheim bleiben.“

Obwohl sie sich zu zweit eine Flasche Rotwein teilten, verlief der Abend im Zelt nicht harmonisch und ungewohnt einsilbig. Dennoch schlief Gerda ruhigen Gewissens bald ein. Manu hingegen taumelte wie im Fieber zwischen Kälte- und Hitzewallungen hin und her. Unterlag sie einerseits als kühne Traumtänzerin den Verlockungen einer unsterblichen Sehnsucht, erhob sich andererseits sogleich der warnende Finger der Vernunft und damit einhergehend die heiße Schuld des Verrats.

Am Tag darauf sprachen sie kaum miteinander. Gerda gefiel sich in der Rolle der Überlegenen, aber auch Beleidigten, und Manu hing überwiegend im Kioskbereich herum, wo sie mit Gleichgesinnten die zunehmend sensationeller werdenden Nachrichten über die Grenzöffnung wie die Atemluft in sich aufsog.

Mit der obligatorisch gewordenen Flasche Rotwein als Schlaftrunk beendeten Gerda und Manu den zur Farce gewordenen Abend. Dessen ungeachtet schlief Gerda im Schutz ihrer unerschütterlichen Überzeugung selig wie ein Kind ein. Manu dagegen blieb hellwach.

Als Gerda am nächsten Morgen aufwachte und nach Manu tastete, war diese nicht da. Rasch stellte sie fest, dass Manu nicht nur nicht da war, sondern samt ihrer Kleider und des Rucksacks weg. Und mit ihr die Urlaubskasse.

Hat sie etwa rübergemacht?

Mai 2015

Welcher der Schnarchnasen vom Stammtisch ihm den Namen Schabrack gegeben hatte, wusste er nicht mehr. Und wann es gewesen war, lag schon Jahre zurück, sodass er sich nur vage daran erinnern konnte, und vielleicht war derjenige, der ihn als Erster so geheißen hatte, schon lange tot. Er achtete nicht auf die Typen, die dort jahraus jahrein und Tag für Tag hockten und ihren Lohn oder die Rente versoffen. Die Stammtischler bildeten einen eigenen Kosmos, und Personalwechsel fand nur selten statt, meistens bedingt durch den Tod eines der Eingeschworenen. Säuferleber, wie die respekteinflößende Diagnose in der Regel lautete.

Es ging das Gerücht, dass eine geheime Warteliste auf jeden frei werdenden Stammtischplatz existierte. Manch einer der Stammtischbrüder hielt es deswegen für ein starkes Motiv, das Freiwerden eines Platzes durch unlauteres Einwirken von außerhalb des Zirkels zu beschleunigen. Das Misstrauen gegenüber fremden Gesichtern war groß, und so beäugte man jeden Neuankömmling in der Kneipe als potenziellen Bewerber und Nachfolger. Was wiederum voraussetzte, dass einer aus der illustren Runde dafür ins Gras beißen würde. Man belauerte sich gegenseitig zwar unauffällig, aber argwöhnisch. Die Allerweltsfrage Wie geht´s? machte vor diesem Hintergrund tatsächlich Sinn, denn es war die einfachste Art und Weise zu erfahren, wen es als Nächsten treffen könnte.

Schabracks Name stand auf keiner Liste. Er hatte das nicht nötig, denn ihm gehörte seiner Ansicht nach der beste Platz an der Theke. Saß er ordentlich auf dem Barhocker, also beide Hände fest mit dem Trinkglas auf dem Tresen verschraubt, kehrte er dem Stammtisch die Breitseite seines Rückens zu. Eine sehr bewusst gewählte Haltung, mit der er seine Missachtung ausdrückte, die ihn dennoch nicht davor zu schützen vermochte, Zielscheibe verbaler Anzüglichkeiten zu sein. Aber es war schon immer so gewesen: Feiglinge und Idioten griffen bevorzugt von hinten an.

Sein richtiger Name war Jacques Brasseur. Jawohl, Jacques Brasseur; der Name klang französisch, und das allein war schon Grund genug, ihn gewissermaßen unter Generalverdacht zu stellen. Doch bereits bei diesem ersten Zugriff auf seine Person unterlagen die Stänkerer einem fatalen Irrtum, indem sie dachten, wessen Name französisch klang, der auch Franzose sein musste.

Jacques beließ sie in dem Glauben. Er hielt es für müßig, den Dumpfbacken die wahre Herkunft seines Namens, und somit gleichzeitig seine und die Geschichte seiner Familie zu erklären.

Für heute hatte er genug und schob dem Wirt den Bierdeckel zum Abkassieren über den Tresen zu. Zwei Striche, zwei Pils, sechs Euro. Die Zeiten, als ein Bier noch für achtzig Pfennig zu haben gewesen war, waren längst vorbei. The times they are a changing.

Er rutschte vom Hocker, setzte die rote Baseballkappe auf das graue Haar und wandte sich dem Ausgang zu.

„Na, Schabrack? Gehst heim in dei Barack´?“, tönte es vom Stammtisch her.

Aha, es befindet sich also ein Lyriker unter den Honoratioren, dachte er und ließ das Gelächter hinter sich, indem er die Kneipentür von außen schloss.

So ganz unrecht hatte der rufende Spötter vom Stammtisch jedoch nicht, denn seine Behausung war mit der Definition des Rechtschreibe-Duden ziemlich gut beschrieben: Baracke, die; -n <franz.> (leichtes, meist eingeschossiges Behelfshaus). Aber auch darüber war Jacques erhaben. Was dem einen seine Freud´, ist dem anderen sein Neid, dachte er in Abwandlung einer Redewendung gelassen und lenkte die Schritte der Straße zu, an deren Ende er wohnte.

Früher war es das Vereinsheim des örtlichen Hundesportvereins gewesen. Damals noch ein gutes Stück vom Ortsrand entfernt, war in späteren Jahren Baugrund entlang der Straße und beidseitig des Bächleins erschlossen, und der Abstand zwischen Hundezwingern und Wohngebäuden stetig geringer geworden. So war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sich die Anwohner über das ständige Gebell beschwerten. Mit Erfolg, denn die Gemeinde, bemüht, die solventen Neubürger nicht zu verprellen, vermittelte dem Verein ein neues Gelände außerhalb der bebauten Zonen.

Es war nicht weniger als ein Tauschgeschäft gewesen, an dem Jacques nicht unmaßgeblich beteiligt war. Denn das neue Gelände für den Hundesportverein hatte seiner Familie gehört und war nach dem Tod der Mutter in seinen Besitz übergegangen. Da er für das brachliegende flache Stück Land keine Nutzungsmöglichkeit gesehen hatte, war ihm das Tauschangebot mit dem Vereinsheim gerade recht gekommen. Und nachdem er der Miete für die Altbauwohnung, in der er bisher gehaust hatte, überdrüssig geworden war, hatte er die Baracke für seine Bedürfnisse hergerichtet und sie zu seinem jetzigen Domizil gemacht.

Er schritt an all den neuen tollen Häusern vorbei, einem bunten Gemisch der von Architekten verwirklichten Wunschträume ihrer Besitzer. Manch eine der Doppelgaragen nahm mehr Raum ein als seine Baracke, und mittlerweile betrachteten die Bewohner sein simples Heim als Schandfleck für die Straße. So gab es alsbald Bestrebungen, die darauf abzielten, die hässliche Baracke aus dem Straßenbild zu tilgen, und man stellte sich bereits die frei werdenden wunderbaren Bauplätze vor.

Die Straße, das Bächlein zur linken Hand, stieg leicht an. Die Grundstücke, die auf der anderen Seite des Baches direkt an das Ufer grenzten, waren begehrter gewesen als jene rechts der Straße. Der Zugang zu frischem kühlen Wasser vom eigenen Garten aus war für manchen Bauherren entscheidend gewesen. Der Nachteil war, dass es auf der jenseitigen Talseite einer neuen Straße bedurft hatte, um die Häuser verkehrstechnisch von der dem Bach abgewandten Seite mit den Autos überhaupt zu erreichen. Da sie parallel zur bestehenden alten Straße verlief, lag der Gedanke nicht fern, die beiden Straßen vor Jacques´ Hütte mittels einer einfachen Schleife oder Querung zu verbinden. Jedoch war die Verwirklichung bisher aus unerfindlichen Gründen in den Gemeinderatssitzungen gescheitert. So blieb es vorerst bei zwei Sackgassen: Wäschbachstraße die ältere, Bierkellerstraße die jüngere Straße. Jacques´ Baracke lag am Ende der Wäschbachstraße und trug die Hausnummer zweiunddreißig. Die Häuser an der Bierkellerstraße hatten ungerade Nummern.

Das äußere Erscheinungsbild des Vereinsheims war den Leuten vom Hundesportverein stets wichtig gewesen. Komplett aus Holz errichtet, hatte man an Farbe nie gespart. Das Satteldach war gut in Schuss. An der gemauerten Treppe mit ihren zwanzig Stufen vom Wendehammer bis zum höher gelegenen Hauseingang wackelte kein einziger Stein. Sehr solide das Ganze.

Jacques schloss die Haustür auf und warf den Schlüssel in eine alte Zigarrenkiste, die einmal seinem Vater gehört hatte. Es war das einzige Erinnerungsstück an ihn, das er seinerzeit aus Kanada mitgebracht hatte.

Noch mit der Baseballkappe auf dem Kopf, goss er eine Daumenbreite Bourbon in ein Glas und setzte sich in seinen Lieblingssessel. Erst jetzt nahm er die Kappe ab und betrachtete versonnen die Farbe des Whiskeys. Alles Gute zum Siebenundfünfzigsten, Alter, sagte er zu sich selbst und nippte am Glas.

Er war ein hagerer Kerl um die eins achtzig, mit tiefen Linien im Gesicht. Es lohnte nicht, dem Haupthaar eine Frisur geben zu wollen. Der eine oder andere Wirbel verhinderte hartnäckig jeden modernen Schnitt. So sah er, ob er gerade aus dem Bett stieg oder abends unter die Decke schlüpfte, stets ungekämmt aus, und verdeckte die Unordnung, sobald er das Haus verließ, mit der roten Baseballkappe. Eine Angewohnheit, die er, wie die Zigarrenkiste, aus Kanada mitgebracht hatte. Die Farbe Rot passte am besten zu seinem Gesicht, wie er meinte. Ansonsten sah man ihn außerhalb seiner Behausung in grauen Anzügen mit dünnen Nadelstreifen aus dem Secondhandladen im Dorf, bevorzugt eine oder zwei Nummern größer als nötig. Er besaß gleich mehrere davon. Die Qualität war gut, und er wollte nicht einsehen, weshalb er für ähnliche Ware den großen Markenkonzernen, wie immer sie auch heißen mochten, Geld in den Allerwertesten schieben sollte.

Der Innenraum der Hütte betrug stolze zehn auf sechseinhalb Meter. Fünfundsechzig Quadratmeter. Nur der Toiletten- und Badezimmerbereich war durch Wände abgetrennt.

Bei seinem Einzug waren noch eine Theke und ein Zapfhahn vorhanden gewesen, sowie eine kleine Bühne für allfällige Feierlichkeiten des Hundesportvereins. Für das eine wie das andere hatte Jacques keine Verwendung gehabt.

In viel Eigenarbeit hatte er die Wände von Nut- und Federbrettern befreit, die Flächen zwischen dem zutage tretende Balkengerüst aufwendig isoliert und mit Massivholzplatten ausgekleidet. Hatte er in den ersten Jahren noch mit Holz geheizt, stets bemüht, genügend Brennholzvorrat zu bunkern, war er vor fünf Jahren auf die Wärmepumpentechnik mit Fußbodenheizung umgestiegen. Sündhaft teuer, die Investition, doch hatte er die Wahl nie bereut. Als studierter Geologe hatte er das thermische Potenzial des Berges, aus dem der Wäschbach entsprang und an dessen Fuß seine Hütte stand, erkannt. Die Wärmepumpe war an Effizienz einfach nicht zu überbieten. Den Holzofen entzündete er praktisch nur noch aus nostalgischen Gründen.

Im Prinzip wussten nur der Briefträger, sowie der Ortsvorsteher mit den Gemeinderäten, wie er richtig hieß. Für die anderen Stadtbewohner hatte sich im Laufe der Jahre der Spitzname Schabrack mehr oder minder als unverwechselbare Markenbezeichnung eingeprägt und verselbstständigt. Schabrack? Ach der.

Von den vielen Hundezwingern, die rund um das Vereinsheim errichtet worden waren, hatte er bis auf einen alle abgerissen. Wenn im Sommer die Temperaturen in die Höhe schossen, wurde es nachts in der Hütte unerträglich heiß. So hatte er für die Tropennächte im letzten verbliebenen Zwinger eine Schlafstatt eingerichtet, von drei Seiten mit luftigem Maschendraht umgeben und gegen Regen durch eine einfache Dachkonstruktion geschützt. Er hatte es so angelegt, dass er durch eine Seitentür direkt aus dem Haus in den Zwinger gelangte, und natürlich wieder hinein. Zum Schutz vor Insekten hing über dem bescheidenen Lager ein Moskitonetz. Manch einer nannte ihn wegen des Freiluftbettes den letzten Hund vom Wäschbach. Wäschbach hieß das Flüsschen, das durch das Tal plätscherte und im Winter niemals zufror, was den Frauen in früheren Zeiten ermöglichte, auch in der kalten Jahreshälfte die Wäsche am Bach zu waschen.

Bis zu Beginn der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hatte eine ortsansässige Brauerei ein Stück weiter den Hang hoch ein Ausflugslokal betrieben. Vollkommen aus Holz, barg es neben den Plätzen für die Bewirtung auch eine Kegelbahn, die eifrig benutzt wurde. Zur Lagerung und Kühlung des Bieres hatte der Betreiber einen ungefähr dreißig Meter langen Stollen in den Hang graben lassen. Allerdings funktionierte das mit der Kühlung nicht wie beabsichtigt. Es wurden Unmengen von Eis verbraucht, das man in den heißen Sommermonaten gar nicht schnell genug beschaffen konnte. Man vermutete, dass es mit einer geologischen Eigenart des Berges zusammenhing, konnte dies jedoch nie restlos klären, genauso wenig wie das Mysterium des Wäschbachs, der im Winter nicht zufror. Vielleicht, meinten einige, war in der räumlichen Nähe zu Baden-Baden die Ursache zu finden, wo bekanntermaßen thermische Quellen aus dem Boden sprudelten.

Das Ausflugslokal war eines Nachts einem Feuer zum Opfer gefallen und nie wieder aufgebaut worden. Der Stollen indes existierte bis heute und war durch ein Eisentor verschlossen.

Jacques Brasseur war in Quebec geboren. Seine Mutter Mildred war der Liebe wegen einem kanadischen Soldaten nach Beendigung von dessen Militärzeit in Deutschland nach Kanada gefolgt.

Der Vater, Giles Brasseur, war Einzelkind einer wohlhabenden Familie gewesen. Dass er eine Ausländerin als Kriegsbeute mit ins Haus gebracht hatte, war ihm nie verziehen worden. Diese Ablehnung hatte auch Mildred stets zu spüren bekommen.

Jacques verbrachte Kindheit, Schulzeit und die Zeit des Geologie-Studiums in Quebec. Nach dem überraschenden Tod des Vaters zog es seine Mutter nach Deutschland in ihr Elternhaus zurück. Als Alleinerbin hätte ihr das Vermögen der Brasseurs ein sorgenfreies Leben ermöglicht, doch leider verstarb auch sie nur drei Jahre später allein in ihrem Elternhaus, was Jacques zum Abbruch des Studiums bewegte und er Kanada für immer den Rücken kehrte.

Da er die deutsche Familie seiner Mutter nie kennengelernt hatte und sich keine weiteren lebenden Verwandten finden ließen, stellte er Mutters Haus der Gemeinde zur Verfügung, die es wiederum für Flüchtlingsunterkünfte herrichten ließ. Selber begnügte er sich mit einer Ein-Zimmer-Wohnung, bis es zu jenem Tauschgeschäft mit dem Hundesportverein gekommen war und er das Vereinsheim als seinen Wohnsitz auserkoren hatte.

Einmal im Jahr fuhr Jacques mit dem Nachtzug nach Hamburg, wo er jeweils vier Tage lang blieb und in diesen Tagen stets das gleiche Programm absolvierte. Erster Tag: Besuch der Hamburger Kunsthalle; zweiter Tag: Besuch des Internationalen Maritimen Museums am Kaispeicher B der Speicherstadt; dritter Tag: Besuch des Miniatur Wunderland in der Speicherstadt; vierter Tag: Hafenrundfahrt mit anschließendem Verzehr von Fish, Chips and Beer an den Landungsbrücken beim Fischmarkt.

Er übernachtete stets im selben Hotel am Glockengießerwall, dessen Zimmerausweis gleichzeitig als Netzkarte für Hamburgs ÖPNV galt. Ein Service, den er weidlich auskostete und dank dessen er sich nach all den Jahren in der Stadt bestens auskannte. Gleichwohl wäre ihm nie eingefallen, sein Besuchsprogramm um die eine oder andere Sehenswürdigkeit zu erweitern.

Morgen würde es wieder so weit sein. Hamburg. Nicht, dass er dort leben wollte, wo es ihn jährlich einmal hinzog. Wenn er in Hamburg wohnen würde, wüsste er nicht, wohin er einmal im Jahr fahren könnte. Andere Städte interessierten ihn nicht.

*

Er kam vom Internationalen Maritimen Museum, der zweiten Station seines Pflichtprogramms. Obgleich durch und durch eine Landratte, konnte er sich dem Reiz der Dauerausstellung nicht entziehen. Auf mehreren Stockwerken zusammengetragen, fand er all das, was ihn von Kindesbeinen an faszinierte. Die Seefahrt im Allgemeinen, aber auch die Vielzahl an Schiffsmodellen. Die meiste Zeit allerdings schenkte er den Gemälden. Ob es Schiffe unter Segeln auf hoher See waren, oder Darstellungen stürmischer Ozeane – sie zogen ihn magisch in ihren Bann.

Vor Jahren hatte er auf einem Flohmarkt in Offenburg ein kleines Ölgemälde eines unbekannten Künstlers entdeckt. Gerade mal vierzig auf dreißig Zentimeter, zeigte es das tobende Meer bei Mondschein. Die Wellenspitzen durchdrungen von sanftem grünlichen Licht, die Gischt in der Sekunde des Verwehens festgehalten – er hatte nicht widerstehen können. Nicht bei dem Preis von zwanzig Euro. Wahrscheinlich hätte er auch das Zehnfache bezahlt, aber das war nicht das Kriterium. Es lag an der Ausstrahlung des Bildes. Manchmal hockte er minutenlang davor und ließ es auf sich wirken. Und so wie das echte Meer von Augenblick zu Augenblick niemals dasselbe sein konnte, sah er auch in dem kleinen Ausschnitt eines Ozeans von Mal zu Mal neue Stimmungen, je nach Tageslicht, Tagesform oder Laune. Er liebte dieses Fundstück und hütete es wie einen wertvollen Schatz.

Auf einer der Treppen zur S-Bahn-Station fiel ihm eine Frau auf, die sich augenscheinlich in großer Verzweiflung befand. Eine Weile beobachtete er sie, die auf einer der Stufen hockte und von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. An ihrer Seite stand ein Koffer und zu ihren Füßen zwei prall gefüllte Leinenbeutel. Sie trug Blue Jeans und eine braune weiche Stoffjacke. Den Kopf gebeugt, verdeckte langes braunes Haar ihr Gesicht.

Jacques trat näher an die Frau heran. Wo ihr Haar gescheitelt war, bildete sich ein zentimeterbreiter Streifen nachwachsender weißer Haare heraus. Als sein Schatten auf die Frau fiel, schaute sie auf.

„Was willst du? Noch nie eine heulende Frau gesehen?“, traf ihn ihre Frage wie eine Ohrfeige.

„Entschuldigung“, sagte er, „ich dachte, vielleicht brauchen Sie Hilfe?“

„Pah“, platzte es aus ihr heraus. „Hilfe? Jetzt, wo alles zu spät ist?“ Sie schnaubte zynisch.

Jacques schluckte betroffen. „Naja, ich will mich ja nicht aufdrängen, aber ich habe vor, dort drüben im Café einen Happen zu essen. Wenn Sie mir Gesellschaft leisten wollen, hätte ich nichts dagegen.“

Die Frau musterte ihn von Kopf bis Fuß. Und so wie sie ihn einzuschätzen schien, betrachtete er auch sie. Sie musste Ende der Vierzig, Anfang der Fünfzig sein. Er bezeichnete ihr Gesicht als sehr anziehend, wenn auch verhärmt. Unter der weiten Jacke mutmaßte er einen schlanken Körper, was sich bestätigte, als sie sich mühsam erhob, ihre Taschen und den Koffer ergriff und an ihm vorbei auf die Straße ging.

„Danke für das Angebot“, keuchte sie, „aber so tief bin ich noch nicht gesunken, als dass ich Almosen annehmen müsste.“

Jacques hob den Arm und holte Luft, um ihr hinterherzurufen, aber dann ließ er den Arm wieder sinken und blieb stumm.

Zwei Tage später, am vierten Tag seines Aufenthalts, entdeckte er sie wieder. Es war gegen die Mittagszeit, und er schickte sich an, eines der Hafenrundfahrt-Boote zu buchen. Sie saß mit ihrem Gepäck auf den breiten Stufen der Treppe, über die man von den Landungsbrücken beim Fischmarkt zur Straße hinaufgelangte.

Über den kurzen Gedankenweg kaufte er kurzerhand zwei Tickets für die Hafenrundfahrt und steuerte dann schnurstracks auf sie zu.

„Hallo“, rief er fröhlich und streckte ihr eines der Tickets entgegen, „heute ist Ihr Glückstag. Sie haben eine Hafenrundfahrt gewonnen.“

Sie hob die Augen, und ein helles Aufflammen des Wiedererkennens streifte ihr Gesicht. „Ach, Sie schon wieder. Verfolgen Sie mich etwa? Lassen Sie mich in Ruhe.“

Jacques setzte sich umständlich neben sie. „Jetzt kommen Sie schon. Heute ist mein letzter Tag in Hamburg. Machen Sie mir die Freude und leisten Sie mir Gesellschaft. Bitte.“

Zum ersten Mal kollidierten die Blickachsen ihrer Augenpaare. Ihre grün, seine blau. „Was soll das?“, fragte sie, doch eher amüsiert als empört. „Wollen Sie mich anmachen?“

Jacques grinste: „Vielleicht. Also was ist? Kommen Sie? Das Boot fährt gleich ab.“

Wie selbstverständlich trug er ihren Koffer von erstaunlichem Gewicht voraus, während sie ihm mit den beiden Taschen folgte. Er hörte, wie sie hinter ihm murmelte: „Was tu´ ich hier eigentlich?“, und lächelte still in sich hinein.

Sie nahmen die hintersten Plätze an Bord der Barkasse. Er stellte den Koffer zwischen die Knie, sie nutzte die prallen Leinentaschen als Abstandshalter zu ihm.

„Haben Sie schon einmal eine Hafenrundfahrt gemacht“, fragte er, um so etwas wie ein Gespräch zu beginnen.

„Ich bin in Hamburg aufgewachsen“, antwortete sie mit nordischer Kühlheit.

„Ach so, ja dann … dann ist das für Sie ja nichts Neues.“

„Nee, wirklich nicht“, gab sie zurück.

Noch lag die Barkasse am Steg und war erst zur Hälfte besetzt. Der Lockvogel draußen an der Landungsbrücke versuchte noch mehr Fahrgäste zu ködern. Die Abfahrt würde sich verzögern.

Jacques nahm einen neuen Anlauf. „Was ist passiert?“, fragte er mitfühlend.

Zuerst sackten ihre Schultern nach unten. Dann jedoch straffte sie sich, stand auf, nahm ihre Taschen in die eine, und streckte die andere Hand nach dem Koffer aus. „Ich wüsste nicht, was Sie das angeht. Was ich jetzt am allerwenigsten gebrauchen kann, ist so ein geheucheltes Mitleidsgedöns.“

Er wusste nicht wie, aber plötzlich hatte er ihre ausgestreckte Hand in der seinigen. „Halt, laufen Sie bitte nicht weg. Weglaufen bringt nichts. Reden Sie mit mir. Ich höre Ihnen zu und bewerte nichts. Bitte, setzen Sie sich wieder.“

In ihrem Gesicht arbeitete es. Sie kaute auf der Unterlippe und guckte über den Steg. Der Lockvogel hatte Erfolg gehabt, denn neue Fahrgäste betraten das Boot. Dann sank sie matt auf die Sitzbank zurück, als hätte man ihr den Energiestecker gezogen. Mit schräg gelegtem Kopf schaute sie ihn an. „Wer sind Sie?“

Er probierte ein Lächeln. „Jacques. Mein Name ist Jacques.“ Er wartete auf eine Reaktion. Als keine kam, fragte er direkt: „Und Sie? Wie heißen Sie?“

„Charlotta“, antwortete sie nach einigen tiefen Atemzügen. „Die meisten nennen mich Lotta.“

„Darf ich zu den meisten gehören?“, fragte er.

Während der Rundfahrt hatten sie kaum miteinander gesprochen. Der Lautsprecher an Bord, der die Touristen ununterbrochen auf die Sehenswürdigkeiten hinwies, quäkte in einer Lautstärke, dass eine normale Verständigung unmöglich war. Erst als sie wieder am Ausgangspunkt angekommen waren und die Barkasse sich leerte, sagte Jacques: „Zu meinen Gewohnheiten nach der Hafenrundfahrt zählt eigentlich immer ein Besuch in der Fischbraterei. Fish, Chips and Beer. Ist gleich um die Ecke. Darf ich dich einladen?“

„Ich weiß, wo das ist“, antwortete Lotta. „Du hast heute wohl die Spendierhosen an, was?“

Er winkte ab und studierte seine Schuhspitzen. „Es geht nicht ums Geld. Ich bin nur nicht gern allein, wenn ich das so sagen darf.“

„Und warum ich? Du siehst doch, wie es um mich bestellt ist. Denkst du vielleicht, so eine alte Schabracke wie ich ist billig zu haben?“

Sein Blick ging plötzlich durch sie hindurch, als sei sie aus Glas, und betrachtete irgendeine Erinnerung in weiter Ferne. Seine Stimme klang belegt, als er antwortete: „Ich mach´ dir einen Vorschlag. Lass´ uns essen gehen, dann erzähle ich dir meine Geschichte. Und danach, wenn du willst, höre ich dir zu. Okay?“

„Fish, Chips and Beer? Darf es auch alkoholfreies sein?“

Jetzt lächelte er. „Alles was du willst.“