Schaafsgold und der ungelesene Autor - Pit Ferman - E-Book

Schaafsgold und der ungelesene Autor E-Book

Pit Ferman

0,0

Beschreibung

Blitzeinbrüche und Geldautomatenraube. Eine Bande treibt seit drei Jahren ihr Unwesen. Aber letztlich ist es Gold, weswegen die Dinge in Offenburg und Umgebung gefährlich aus dem Ruder laufen. Nicht weil es da ist, sondern weil es nicht mehr da ist. Pit Ferman, Autor der Edgar Schaaf-Krimis, wird unerwartet und äußerst schmerzhaft mit den Auswüchsen der Suche nach dem Gold konfrontiert. In der Not wendet er sich an seinen Freund Edgar Schaaf.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 569

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Blitzeinbrüche und Geldautomatenraube. Eine Bande treibt seit drei Jahren ihr Unwesen. Aber letztlich ist es Gold, weswegen die Dinge in Offenburg und Umgebung gefährlich aus dem Ruder laufen. Nicht weil es da ist, sondern weil es nicht mehr da ist.

Pit Ferman, Autor der Edgar Schaaf-Krimis, wird unerwartet und äußerst schmerzhaft mit den Auswüchsen der Suche nach dem Gold konfrontiert. In der Not wendet er sich an seinen Freund Edgar Schaaf.

Für Eliza

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

24. Juni 2022

25. Juni 2022

26. Juni 2022

27. Juni 2022

28. Juni 2022

28. Juni 2022

29. Juni 2022

30. Juni 2022

01. Juli / 02. Juli 2022

03. Juli 2022

04. Juli 2022

08. Juli 2022

09. Juli 2022

10. Juli 2022

24. Juni 2022

11. Juli 2022

11. Juli 2022

12. Juli 2022

13. Juli 2022

14. Juli 2022

14. Juli 2022

15. Juli 2022

16. Juli 2022

17. Juli 2022

18. Juli 2022

18. Juli 2022

19. Juli 2022

20. Juli 2022

22. Juli 2022

24. Juli 2022

25. Juli 2022

26. Juli 2022

29./30. Juli 2022

30. Juli 2022

Vorwort

Im Jahr 2019, also vor drei Jahren, begann im mittelbadischen Raum eine Serie von Verbrechen, die, von der Öffentlichkeit anfänglich nur en passant wahrgenommen, die Staatsanwaltschaften und die Polizeibehörden der betroffenen Städte zunehmend vor einige Probleme stellte.

Zum einen handelte es sich um sogenannte Blitzeinbrüche. Eine Art von Verbrechen, die besonders durch ihre rabiate und dadurch unheimlich effektive Ausführung auffiel. Das Prinzip der Blitzeinbrüche war bekannt und einfach. Die Verbrecher lenkten kurzerhand ein Fahrzeug in die Schaufensterauslagen von vorher ausgespähten Juwelieren, um nach dem Bruch der in der Regel panzerglasgeschützten Scheiben die darin ausgestellten Schmuckwaren und Uhren eilig und doch gezielt zusammenzuraffen und mit der Beute zu fliehen. In den meisten Fällen erwiesen sich die Tatfahrzeuge als kurzfristig vorher und ausschließlich zu diesem besonderen Zweck gestohlene Autos, die nach der Tat vor Ort stehen gelassen wurden. Die Flucht der Täter wurde mit einem anderen Fahrzeug durchgeführt. Solche Überfälle dauerten nach Erkenntnissen der Polizei in den meisten Fällen nicht länger als eine Minute.

Die Serie von Blitzeinbrüchen in Mittelbaden unterschied sich dahingehend von der üblichen Vorgehensweise, indem das Tatfahrzeug, ohne dass es je bei einem Tathergang gesehen oder per Überwachungskamera aufgenommen wurde, den Tätern auch als Fluchtfahrzeug diente. Und noch eine Ausnahme. Die Überfälle fanden ausnahmslos nachts statt. Der gravierendste Unterschied jedoch war die spezielle Ausführungsmethode, die sich explizit auch an besonders durch starke Stahlgitter gesicherten Juweliergeschäften auszeichnete. Sie bedienten sich einer bislang unbekannten mechanischen Vorrichtung, die in der Lage war, die heruntergelassenen oder vorgezogenen Gitter sowohl in vertikaler als auch in horizontaler Richtung in für sie ausreichendem Maß auseinanderzudrücken oder aufzuspreizen, und zwar in denkbar kürzester Zeit. Damit fielen Ziele in ihren Fokus, die bis dahin als uneinnehmbar galten und die, entsprechend dem Grad ihrer Sicherheitsmaßnahmen, eine ungleich höhere Qualität an Waren und Werten auszustellen bereit waren.

Insgesamt zählte die Polizei zwölf erfolgreiche Angriffe dieser Art innerhalb von drei Jahren. Das Betätigungsfeld der Räuber reichte von Lahr (Schw.) bis nach Baden-Baden, wobei in Baden-Baden, nicht verwunderlich angesichts der Ansammlung namhaftester Schmuck- und Uhrenhändler, allein fünfmal, und anhand vorgelegter Versicherungsunterlagen am lukrativsten, zugeschlagen worden war. Die restlichen Blitzeinbrüche verteilten sich auf Bühl (zweimal), Achern (einmal), Offenburg (zweimal), Lahr (einmal) und Kehl (einmal).

Zum Zweiten gab es im gleichen Zeitraum eine Serie von Geldautomatendiebstählen, in der Zahl acht Stück. Es wurden bevorzugt Geldautomaten ausgewählt, die in Vorräumen von Geldinstituten oder gar außerhalb aufgestellt waren.

Die Vorgehensweise zur Entwendung der Geldautomaten ähnelte in groben Teilen der Praxis der Blitzeinbrüche. Fest stand, dass ein kräftiges Fahrzeug mit spezieller Ausrüstung dafür verwendet werden musste, denn die Automaten wurden mit brachialer Gewalt aus ihren Verankerungen gerissen. Lange Zeit stellte die Polizei den Gebrauch eines Fahrzeuges jedoch in Frage, waren doch die Positionen der Geldautomaten, was die Abstände zu den Türen der Bankhäuser betraf, ausreichend bemessen, und die Türen waren für die Breite eines Fahrzeugs zu schmal. Es war ausgeschlossen, dass ein Fahrzeug direkt in die Vorräume hineinfuhr. Und doch war es nicht anders denkbar, als dass es sich um ein Fahrzeug handeln musste, das zu genau diesem Zweck umgebaut war, das mit Werkzeugen die Distanz zwischen Tür und Automat überbrücken und immer noch genügend Kraft aufwenden konnte, den Automat wie auch immer zu packen und zu entfernen.

Die Geldautomaten wurden komplett entwendet und in Gänze fortgeschafft. Wohin sie gebracht wurden, um sie zu öffnen, beziehungsweise, wo die geöffneten und geleerten Automaten verblieben, war den ermittelnden Behörden ein Rätsel. Der Schaden, der allein den entwendeten Geldautomaten zuzurechnen war, ging in die Hunderttausende. Von den Blitzeinbrüchen auf Juweliergeschäfte gab es nur geschätzte Zahlen, aber man befasste sich mit Millionenbeträgen.

Es existierte eine einzige, grobkörnige Nachtaufnahme einer Handykamera, die ein dunkles, in der Farbe undefinierbares Fahrzeug zeigte, vermutlich, den Abmessungen nach, ein sogenannter Unimog, mit diversen, unkenntlichen Auf- und Anbauten. Des Weiteren gab es die Aufnahme einer Reifenspur, die von der Größe und vom Profil her auf ein Fahrzeug des genannten Typs schließen ließ.

Es kursierten die tollsten Gerüchte über die Bande, aber niemand wusste etwas Konkretes. Die Zeitungen spekulierten ohne wirklich zufriedenstellende Recherchen wild durcheinander. Die Öffentlichkeit hielt sich in klammheimlicher, sprichwörtlich diebischer Freude über das Gelingen der Coups bedeckt. Leserbriefe schmähten entweder die Polizei oder sympathisierten unverblümt mit der Bande, die jeweils wie aus dem Nichts auftauchte und dort wieder verschwand.

Vom Autor

Vor dem Verfassen dieses Romans habe ich mir überlegt, ob ich die Geschichte in der Ich-Form erzählen soll, denn schließlich geschah es das erste Mal, dass ich mehr oder weniger direkt in die Handlung eingebunden wurde, was freilich so nicht vorgesehen war. Normalerweise ziehe ich es nämlich vor, mir von Edgar Schaaf seine Erlebnisse schildern zu lassen, um dann mit einigem zeitlichen und relativ sicheren Abstand einen „Edgar Schaaf-Krimi“ daraus zu produzieren. Obwohl das Hauptaugenmerk der folgenden Geschichte auf meine Partnerin Eliza und mich gerichtet ist und Edgar Schaaf beinahe zur Nebenfigur degradiert wird, bleibt es ein echter „Edgar Schaaf-Krimi“, und das war letztlich der ausschlaggebende Punkt, sie aus meiner Sicht in der dritten Person zu schreiben.

Ich bin Pit Ferman.

24. Juni 2022

Silvio brachte ihm das zweite Glas Weißwein und stellte es vor ihn auf den Tisch. Billigen Landwein im geraden Glas, ohne Henkel. Pit Ferman mochte die behenkelten Weinschoppengläser nicht. Henkel waren seiner Meinung nach etwas für Kaffeetassen und Kochtöpfe, nichts für Trinkgläser.

Silvio blieb neben ihm stehen, ein Geschirrtuch über den Unterarm geworfen. Pit Ferman grunzte unverständlich. Das Glas war beschlagen und er bekam nasse Finger, als er es zum Trinken ansetzte. Außer ein paar Jugendlichen, die im anderen Flügel der Eckkneipe lautstark Billard spielten, war er der einzige Gast. Er wartete darauf, dass Silvio etwas sagen würde, aber der zog es vor, aus dem Fenster auf die Straße hinauszuschauen, wo es außer Pit Fermans taubenblauem Autodach nichts zu sehen gab. Aus der Küche hinter dem Tresen erklang das Klirren von zerdeppertem Porzellan, gefolgt vom Fluch einer weiblichen Stimme. Silvio verdrehte die Augen, murmelte irgendetwas auf Italienisch, schnappte sich das leere erste Weinglas vom Tisch und eilte mit wehendem Geschirrtuch in die hinteren Räumlichkeiten. Bald darauf hörte Pit eine kurze heftige Diskussion. Silvio erschien wieder, schwungvoll die Küchentür zur Theke aufstoßend, kramte in einer Schublade unter dem Spirituosenregal herum, und verschwand mit einer Erste-Hilfe-Box erneut in der Küche.

Kurz darauf betrat Silvio mit der Besitzerin der weiblichen Stimme den Schankraum, griff eine Flasche mit einer klaren Flüssigkeit aus einem Regal und schenkte zwei Schnapsgläser voll. Grappa. Eigenimport direkt aus Italien. Er nahm ein drittes Glas und gab Pit Ferman ein aufforderndes Zeichen. Sollte wohl so viel heißen wie: na, auch einen? Pit Ferman lehnte ab. Er würde noch fahren müssen und bewegte sich mit den zwei Gläsern Wein bereits in der Grauzone, die er meinte gerade noch verantworten zu können.

„Was ist passiert?“, fragte er stattdessen. Selbstredend kannte er die junge Frau, die bei Silvio die Küche leitete. Christina, Silvios blonde hübsche Tochter mit den markanten Augen.

Sie hob wortlos die linke Hand in die Höhe, an der ein Pflaster zwischen Daumen und Zeigefinger klebte, und grinste. Silvio lugte um die Ecke nach den Jugendlichen am Billardtisch, ob sie noch mit Getränken versorgt waren, schlenderte wieder zu Pit Fermans Tisch und setzte sich ihm vis-à-vis auf die äußerste Kante des Stuhls, jederzeit bereit, bei Bedarf aufzuspringen. „Das iste eine Seißmonat, Pit“, sagte er mit liebenswürdigem Akzent.

„Wem sagst du das“, antwortete der schwer schnaufend.

„Die junge Leute, sie make viele Radau und nixe esse, versteh? Esse drübe andere Straß´ diese amerikanise Seiß.“

Pit Ferman verstand. Er fragte sich schon lange, wovon Silvio eigentlich lebte. Er hatte nicht den Eindruck, dass sich in den Zeiten, in denen er nicht als Gast zugegen war, mehr Kundschaft im Gasthaus Zum grauen Eck aufhielt als jetzt. Dabei war Christinas Küche exzellent, keine Frage. Sie war eine gute Köchin, beschränkte sich auf wenige mediterrane Gerichte, mit denen sie keinen Vergleich mit anderen italienischen Restaurants der Stadt zu scheuen brauchte. Vielleicht war die Lage nicht gerade eine der besten. Nomen est Omen, Zum grauen Eck stieß allein schon vom Namen her den einen oder anderen möglichen Besucher ab, und tatsächlich wirkte auch die äußere Erscheinung des Hauses nicht einladend. Silvio müsste Geld in die Hand nehmen, um eine Totalrenovierung anzugehen, viel Geld sogar, aber er hatte dieses Geld nicht, zumindest nicht flüssig. Das Gasthaus mit angeschlossener Wohnung war sein Eigentum und er hielt nichts davon, es zum Zwecke einer lukrativeren Vermarktung einer Brauerei oder gar der Mafia zu überschreiben. Zu viele Erinnerungen steckten darin. Die meiste Zeit seines Lebens hatte er hier verbracht. Hier war seine Tochter zur Welt gekommen und hier war seine Frau gestorben. Wenn Christina von der Kocherei bei ihm einmal die Nase voll haben oder sich anderweitig nach einer geeigneteren, besser bezahlten Stelle umsehen sollte, würde er aufhören. Dann würde es das Zum grauen Eck, Ecke Hauptstraße/Prälat-Hoffinger-Straße in Offenburg nicht mehr geben. So sah´s aus.

Von außen besehen wäre aus dem Haus doch einiges herauszuholen. Es verfügte über zwei breite Rundbogenfenster, je eines links und rechts der Eingangstür am Hauseck. Der raue Verputz jedoch war abstoßend rußgrau und bedeckte die gesamte Fassade des im Pseudo-Jugendstil erbauten vierstöckigen Hauses. Zudem waren dem Restaurant nur zwei Parkplätze zugewiesen, von denen einer ständig für Pit Fermans Fahrzeug reserviert war. Ohne diese Parkmöglichkeit wäre auch Pit Ferman kein Stammkunde, denn die Parksituation in der Stadt im Allgemeinen, und in diesem Wohnviertel im Besonderen, war prekär.

Das iste eine Seißmonat betraf in diesem Sinne auch Pit Ferman, denn es war der vierundzwanzigste Juni, und in der Regel war Pit Ferman ab dem vierundzwanzigsten, spätestens fünfundzwanzigsten eines jeden Monats pleite. Er hatte es sich angewöhnt, an diesem Tag mit dem Rest seines zur Verfügung stehenden Geldes Lebensmittel einzukaufen, die bis zum Ende des Monats reichen mussten, wobei, er ohne mit der Wimper zu zucken, nebst Wein auch Zigaretten zu den Lebensmitteln zählte. Ab dem vierundzwanzigsten eines Monats ließ er bei Silvio anschreiben. So auch heute. Es bedurfte dazu keiner weiteren Worte, die Absprache geschah stillschweigend. Silvio wusste, dass er am zweiten des Folgemonats den ausstehenden Betrag erhalten würde. Genauso stillschweigend.

Pit Ferman trank das Glas leer und erhob sich. Silvio zeigte mit einem Finger in die Ecke hinter Pits Rücken, wo so etwas wie Silvios persönlicher Reliquienschrein hing, was aber nichts anderes war als eine Glasvitrine auf der Basis von billigen Resopal-Brettern. Darin befanden sich das Plastik-Modell eines Fiat Cinquecento und ein Vereinswimpel von Juventus Turin, sowie Fotos von Silvios Familie, als seine Frau noch lebte. Daneben stand eine Reihe von Büchern, neun an der Zahl, die Silvio zwar nicht gelesen hatte und nicht lesen würde, aber hoch in Ehren hielt. Pit Fermans Bücher. Also Bücher, deren Autor Pit Ferman war und die er seinem Freund jeweils schenkte. „Haste du viele Büker verkaufe, Pit?“

Pit Ferman fragte sich, ob Silvio bloß aus purer Freundlichkeit Interesse zeigte, oder ob vielleicht dahinter der Wunsch stecken mochte, Pit könnte durch den Verkauf der Bücher eventuell zu Geld gekommen sein, was ihm die peinliche Verwendung des Schuldendeckels für den Rest des Monats ersparte.

„Jeder Monat ist ein Scheißmonat, Silvio“, antwortete er und klopfte dem Wirt auf die Schulter. „Bis morgen, Christina“, rief er auf dem Weg zum Ausgang Richtung Küche, ohne auf ihre Antwort zu warten.

Auf seinem Parkplatz stand der Citroën Typ H, Baujahr 1981, einer der letzten seiner Art. Der französische Kult-Kastenwagen aus Wellblech mit sagenhaften achtundfünfzig PS und taubenblauer Lackierung. Er öffnete die Fahrertür, die praktischerweise von vorne nach hinten schwenkte und einen bequemen Einstieg garantierte, zündete den Motor und fuhr davon.

Selten benutzte Pit Ferman, wenn er von Offenburg kommend nach Hause ins Rothbachtal fuhr, die Bundesstraße, und freitagnachmittags so gut wie nie. Er hasste es, im Stau zu stehen, und freitags erlitt die Bundesstraße Richtung Süden regelmäßig den Verkehrsinfarkt. Der Citroën Typ H war über vierzig Jahre alt und absolut kein staugeeignetes Fahrzeug, befand sich der Zylinderkopf des Motors mit Schaltgestänge praktisch direkt neben dem rechten Knie des Fahrers. Man sollte sich der Tortur des Lärms in gesteigerter Stauausführung nicht unbedingt hörenden Ohres unterziehen. Pit Ferman zog die Route über die Landstraße entlang der Bahnlinie vor, um später unter dieser hindurch nach links in die Vorberge des Schwarzwaldes abzubiegen.

Das Rothbachtal umfasste die Orte Rothweiler, Grünweiler, Gehlheim und St. Paulsberg, wobei St. Paulsberg die letzte Ortschaft im Tal darstellte. Im Volksmund wurde das Tal auch Ampeltal genannt, bleibendes Ergebnis eines Faschingsbeitrags, in dem findige Köpfe aus den Ortsnamen Rothweiler, Grünweiler und Gehlheim die Farben einer Verkehrsampel gelesen hatten.

Der Zinken, in dem Pit Fermans Haus stand, gehörte zur Gemeinde Grünweiler. Die Adresse lautete Im Hahnenfuß 1, womit die Lage noch recht treffend beschrieben war, denn tatsächlich gedieh auf der Wiese rings um sein Anwesen der gelbblühende Hahnenfuß in Massen. Es existierte keine weitere Hausnummer Im Hahnenfuß, denn sein Haus war das einzige, das auf einer weiten Lichtung stand, die man über eine befestigte Schotterpiste von der Talstraße aus erreichte. Die Abzweigung von der Talstraße, in unmittelbarer Nähe einer Bushalterstelle, ging nach links ab, wenn man aus Richtung Rothweiler kam, und war zu beiden Seiten mit Begrenzungspfosten aus vierzig Zentimeter hohem scharfkantigem Granit gekennzeichnet, auf denen Reflektoren angebracht waren. Pit Ferman brauchte die Reflektoren eigentlich nicht, denn er fuhr selten nach Einbruch der Dunkelheit. Die Ausnahmen bildeten die Donnerstage, denn donnerstags traf er sich mit anderen Männern zum Stammtisch im Ochsen in Rothweiler, und da konnte es, je nach Gelegenheit, elf oder zwölf Uhr werden. Davon abgesehen vertraute er sonst gerne auch den Selbstfindungskräften seines Citroën, obwohl er wusste, wie leichtsinnig und unvernünftig das war.

Die Lichtung war nach allen Seiten von Mischwald umschlossen und von keiner Stelle des Ortes einsehbar, es sei denn, man begab sich auf entsprechende Bergeshöhen der gegenüberliegenden Talseite.

Pit Fermans Haus war vollständig aus Holz erbaut und mehr als hundert Jahre alt. Bis in die vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts fungierte es als Forsthaus für den gemeindeeigenen Förster. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde es als Armenhaus für bedürftige Familien benutzt. Ende der siebziger Jahre wurde Holzwurmbefall festgestellt und das Haus für Bewohner geschlossen. Es diente fortan als geduldetes Vereinsheim und Lager auf eigene Gefahr des Sportangel- und Karpfenzüchtervereins, der auch für die landschaftliche Besonderheit des kleinen Seitentales verantwortlich zeichnete: Nämlich eines für diese Zwecke extra angelegten und überambitionierten Teiches. Mithilfe eines breiten und stabilen Dammes und einer Betonmauer hatte man den kleinen Bach, der durch den Talesgrund floss, zu einem kleinen See aufgestaut, der ungefähr die Fläche eines Fußballplatzes einnahm. Aus der Mitte des Sees ragte, etwa dort wo der Mittelkreis des Fußballplatzes wäre, eine kleine Insel aus dem Wasser, befestigt mit wuchtigen Sandsteinblöcken, auf der eine junge, prächtige Erle wuchs. Wenn man also auf der Schotterpiste, von der Rothbachtalstraße kommend, aus dem Wald auf die Lichtung gefahren kam, bot sich dem Betrachter ein pittoreskes Bild. Das Ensemble aus kleinem See, Insel und dem Holzhaus am Ende des Sees, blühender Hahnenfuß von Mai bis Oktober, bildete ein wunderschönes Panorama. Solch eine Postkartenidylle, redete er sich ein, fand man sonst nur in der Abgeschiedenheit der Wildnis Kanadas.

Die Karpfenzucht funktionierte nicht. Aus einem Grund, den niemand genau wusste, wobei es in dem Dorf Grünweiler natürlich viele Leute gab, die es vorher schon gewusst hatten, verendeten alle Fische kurz nach dem Aussetzen in das Gewässer. Am wahrscheinlichsten noch war das Argument, dass die Karpfen den Hahnenfuß nicht vertrugen. Kostspielige Untersuchungen des Wassers durch unabhängige Labors brachten schließlich Klarheit: Das Wasser war zu sauer und zu sauerstoffarm. Kurz: Das Projekt wurde nach jahrelangen vergeblichen Bemühungen aufgegeben.

Pit Ferman erfuhr durch Zufall vom Verkauf des Hauses. Gegen Ende des ersten Jahrzehnts im neuen Jahrtausend verbrachte er wegen einer akuten Depression einige Wochen in einer psychiatrischen Klinik in Hohenterzen im Schwarzwald. Eine Krankheit, die ihn kurz darauf auch zur Aufgabe seines Berufes zwang. Einer der Mitpatienten erzählte von dem leerstehenden Haus in dessen Heimatgemeinde, und dass die Gemeinde es für einen Schleuderpreis verkaufen würde. Fotos von dem Objekt, die der Mitpatient vorzeigen konnte, weckten in Pit nicht nur das Interesse, sondern die Sehnsucht nach einem erfüllbaren Traum, die von Stund´ an stärkter und stärker wurde. Umgehend stellte er im Grobverfahren seine verfügbaren und die erreichbaren Mittel zusammen, erkundigte sich bei der Rentenkasse nach der Höhe seiner zu erwartenden Rente, kalkulierte die geschätzten Ausgaben für den normalen Lebensunterhalt und die Summen für Versicherungen, Energie und Fahrzeug, überschlug die Raten für einen eventuellen Kredit und kam endlich zu dem Schluss, dass es reichen könnte.

Unmittelbar nach Beendigung des Klinikaufenthalts fuhr er mit dem Citroën nach Grünweiler im Rothbachtal und besah sich das Objekt. Überwältigt von der Größe des Sees stand für ihn fest, dass er das Wagnis eingehen würde. Bei der Gemeindeverwaltung vorstellig, erfuhr er den Betrag für das Haus. Schlappe fünfundzwanzigtausend Euro, wenn man den Holzwurm als Untermieter übernahm. Für den doppelten Betrag würde auch der See ihm gehören, allerdings mit der Auflage, den Damm und die Mauer ständig intakt zu halten. Dass es neben ihm keine weiteren Interessenten gab, konnte er zwar nicht verstehen, doch es war ihm mehr als recht, weshalb er den Kaufvertrag so bald als möglich unterschrieb. Er war fünfundfünfzig Jahre, als er in den Vorruhestand ging und gleichzeitig Hausbesitzer wurde.

Der Holzwurmbefall stellte ihn nur anfänglich vor Probleme. Hauptsächlich trat er dort verstärkt auf, wo ihm der Aufenthalt künstlich kommod gemacht worden war, also unter Flächen, die nicht oder schlecht belüftet waren und Auflagen wie zum Beispiel Linoleum ein bequemes Klima für die Holzfresser darstellten. Dazu zählten in erster Linie die Fußböden, denn im ganzen Haus lag besagtes Linoleum auf den Böden. Nachdem dieses entfernt und die befallenen Bretter herausgerissen und durch neue ersetzt waren, hielten sich die Schäden in Grenzen und er bekämpfte den Holzwurm punktuell mit Giftinjektionen in die Wurmlöcher. Im Erdgeschoss des kellerlosen Hauses brach Pit Ferman bis auf die Stützbalken alle Zwischenwände heraus, was wiederum nicht nur für Entlastung sorgte, sondern dem entstandenen Raum Licht, Luft und Platz verschaffte, einem Loft nicht unähnlich. In diesem Raum würde er leben und arbeiten. Im Obergeschoss änderte er raumtechnisch nichts. Das größte von drei Zimmern richtete er als sein Schlafzimmer her und verschaffte lediglich durch eine nachträglich eingebaute Tür einen Zugang zum Bad mit WC. Ein weiteres WC gab es als Anbau zum Erdgeschoss an der Hausrückseite.

Etwa zehn Meter von der Rückseite des Hauses entfernt wucherte eine wilde Brombeerhecke, von deren Früchten er gegen Ende des Sommers Gelee herzustellen pflegte, das er so liebte. Hinter der Hecke verborgen, vom Haus praktisch unsichtbar, befand sich ein gedeckter übermannshoher Unterstand, der zu Zeiten des Sportangelvereins einen Fischernachen beherbergte, und den er jetzt praktischerweise als Carport für den Citroën nutzte.

Insgesamt arbeitete er zwei Jahre intensiv an dem Haus, was nicht bedeutete, dass er mit allem fertig war. An kleineren und kosmetischen Arbeiten mangelte es ihm praktisch nie, wie zum Beispiel ein Komplettanstrich mit witterungsbeständiger Farbe. Des Weiteren investierte er über einen Kredit in ein neues Dach und neue Fenster. Im Großen und Ganzen jedoch konnte er im Jahre 2013 den Hammer zur Seite legen und sich als Herr eines wundervollen Heimes fühlen. Zuletzt leistete er sich ein kleines Holzruderboot, denn schließlich lag vor seiner Haustür das eigene Meer.

Als er mit dem alten Citroën Typ H auf die Lichtung fuhr, blühten die ersten Hahnenfüße. Spät dran, dieses Jahr, dachte Pit. Sichtbare Folgen der Frostnächte im April. Normalerweise begann die Blüte im Mai. Vom See aus gesehen links vom Haus saß eine Biege von ungefähr zehn Ster Buchenholz. Daneben lag bereits in passende Länge zersägtes Holz und stand der Spaltklotz, auf dem er die Holzabschnitte ofenfertig zerhackte. Die Holzscheite stapelte er hinter dem Haus in einem überdachten Verschlag.

Er parkte vor dem Haus, trug die Einkäufe hinein und kam mit einer Dose Bier wieder heraus auf die Terrasse. Er setzte sich auf die Bank neben der Eingangstür, die mit einem Tisch und zwei Stühlen eine Sitzgruppe bildete, und nahm einen tiefen Schluck von dem kalten Getränk. Einige Meter weiter weg stand ein aus Feldsteinen gemauerter Grill mit Eisenrost. Sein Blick wanderte über den See. Es fühlte sich wie immer gut an. Das hier war sein Sehnsuchtsort.

Er erhob sich nochmal und holte aus der Wohnung den Laptop, schaltete ihn ein. Sein letzter Roman war erst seit einigen Tagen im Handel erhältlich. Schaafshammer, der dritte Roman aus der Edgar Schaaf-Krimi-Reihe. Er klickte die Seite seines Verlags an und scrollte zu den Verkaufsanzeigen. Ein rasches Lächeln huschte über sein Gesicht. Ein Buch verkauft. Aber nicht einer der Krimis, sondern ein anderes Werk aus seiner Feder. Drei Männer, zwei Boote, ein Fluss und der Blues. Das Buch, eigentlich war es eher eine kurze Reisebeschreibung, von dem er am wenigsten erwartet hatte, verkaufte sich am besten, wenn man ein verkauftes Buch pro Vierteljahr als gut bezeichnen mochte. Jetzt wirkte sein Lächeln etwas gequält.

Er erinnerte sich an seinen ersten Roman. Ein Krimi mit Edgar Schaaf. Titel: Schaafswinter.

Er hatte ungefähr sechzig Verlage angeschrieben. Sechzig Mal zwanzig bis dreißig Manuskriptseiten ausgedruckt. Sechzig Mal ein Kuvert mit Manuskriptblättern gefüllt. Sechzig Mal eine Verlagsadresse draufgeschrieben, eine Briefmarke geklebt, sechzig Hoffnungen damit verbunden inklusive Wartezeit von bis zu einem dreiviertel Jahr auf eine Antwort. Kein einziger echter Verlag wollte einen Edgar Schaaf-Krimi verlegen. Er erhielt über vierzig Absagen von den renommierten Verlagen.

Sogenannte Bezahlverlage hingegen wollten das Buch allerdings schon herausgeben. Gegen Bezahlung von einigen tausend Euro freilich wäre Schaafswinter veröffentlicht worden. Das, hatte er sich gedacht, war nicht im Sinne des Erfinders. Deswegen war er durch einen Tipp auf einen Self-Publishing-Verlag gestoßen. Der übernahm gegen eine einmalige Gebühr den Druck der Bücher, er kaufte sie dem Verlag je mehr desto günstiger ab und verkaufte sie dann in Eigenregie weiter. Heute war er froh darüber, keinem echten Verlag zu Diensten sein zu müssen. Er hätte überhaupt keine Lust, für eines seiner Werke auf Lesereisen zu gehen, damit es unter die Leute gebracht werden konnte, was er zweifellos im Auftrag des Verlags hätte auf sich nehmen müssen. Klinkenputzen war ihm völlig zuwider und er war überhaupt ein total nichtöffentlicher Mensch. Ein Soziopath par excellence. Allerdings müsste er auch als Self-Publisher mehr Reklame für seine eigenen Werke betreiben, um den stagnierenden Verkauf anzukurbeln. Er sollte die Buchhandlungen in erreichbarer Nähe abklappern und seine Romane wie Sauerbier anbieten; er sollte eigene Lesungen in der Gegend organisierten; er sollte mit einem eigenen Verkaufsstand auf den regionalen Märkten präsent sein; er sollte mit seinen Büchern hausieren gehen. Wollte er aber nicht. Dieses mehr für den Verkauf tun würde nämlich auch ein Mehr an Zeitaufwand bedeuten. Zeit, die ihm fehlen würde, um die Dinge tun zu können, die er liebte. Wie zum Beispiel Silvio in der Kneipe Zum grauen Eck besuchen, oder auf der Bank vor seinem Haus sitzen, oder rücklings in seinem Ruderboot zu liegen und sich auf dem See treiben zu lassen. Ihm genügte, dass man seine Bücher überall kaufen konnte. Nur wollte eben auch das kaum einer, weil auch kaum einer wusste, dass er ein Buchautor war.

Er nannte sich bewusst Autor, und nicht Schriftsteller. Ein Unterschied, wie er fand. Schriftsteller waren Leute, die durch Ausbildung oder Studium eine gewisse intellektuelle Grundlage für das Schreiben besaßen und hauptberuflich von ihrer Schreibarbeit leben konnten. Autoren indes waren Menschen, die vielleicht einige Sätze zu einer Geschichte formen konnten und selber davon überzeugt waren, schreiben zu können, was wiederum Voraussetzung dafür war, es überhaupt zu tun. Es war vom Naturell nicht jedem gegeben, Autor zu sein oder zu werden, denn Schreiben verlangte ein erkleckliches Maß an Demut und eine größere Menge an Geduld. Geduld, die auch Pit Ferman bisweilen fehlte oder die einfach mit ihm durchging, wenn sich die Entwicklung einer Geschichte allzu zählflüssig hinzog. Etwas, woran er persönlich arbeiten musste.

Dennoch drängte es ihn zu schreiben und er liebte es über alles. Da er eine ansehnliche Sammlung von Teddybären besaß, schrieb er nebenbei Bücher über Teddybären und illustrierte sie selber, was aber sehr mühsam von der Hand ging. Er verfasste Gedichte und Kurzgeschichten, um sie gelegentlich zu veröffentlichen, wagte sich ab und zu auch an andere Belletristik, wie zum Beispiel in seinen Büchern Teddor oder Aus der Sicht des Pumas. Sein Haupterzählstrang jedoch lag bei den Edgar Schaaf-Krimis. Nur eben die Verkäufe, die hinkten hinterher. Davon würde er nie leben können.

In diesem Zusammenhang tauchte bei ihm die Frage auf, was sein Freund und Protagonist Edgar Schaaf zurzeit eigentlich trieb? Ja, er bezeichnete ihn, wenn es um die schriftstellerische Verwendung ging, gerne als Protagonist. Der Autor in ihm verlangte, seinem Hauptdarsteller gebührlichen Respekt entgegenzubringen. Bekanntschaften, die zu nahe gerieten, waren für objektive Beobachtungen bezüglich einer Kriminalerzählung nicht förderlich. Aber durfte er ihn nicht fragen, ob er nicht vielleicht wieder an einem neuen Fall arbeitete? Eine frische Ermittlung, über die er, Pit Ferman, dann wieder einen Roman schreiben konnte? Es kribbelte ihn förmlich in den Fingern. Ja, letztlich lief es darauf hinaus. Sie pflegten ein Joint Venture. Es war ein Geben und Nehmen. Nächste Woche, dachte Pit Ferman, werde ich ihm in seinem hübschen Türmchenhaus in Gengenbach einen Besuch abstatten. Es lag ja nur kurz über den Berg. Und natürlich Edgars schöner Frau, der Melanie.

Er holte ein zweites Bier aus dem Kühlschrank und dachte an das Paar Melanie und Edgar. Sie hatten vor etwa einem halben Jahr geheiratet, quasi zwischen zwei Ermittlungen, oder, anders ausgedrückt, zwischen den Edgar Schaaf-Krimis „Schaafssturm“ und „Schaafshammer“.

Er selber war zweimal verheiratet gewesen. Aus der ersten Ehe hatte er zwei Kinder, die heute beide in der Schweiz wohnten. Er war jung gewesen und hatte einen gravierenden Fehler begangen, der das Ende für die Ehe bedeutete. Der große Knackpunkt in seinem Leben, weil er gleichzeitig und für viele Jahre auch seine Kinder verlor. Damals hatte er sich in den Alkohol geflüchtet, die einzige Droge, derer er, ohne kriminell zu werden, habhaft werden konnte. Vor seiner Depression. Lange Geschichte, beinahe ewig her. Runde vierzig Jahre. Kein Ruhmesblatt in seiner Vita. Er schaute nicht gern darauf zurück und versuchte, den Gedanken rasch in seinen Komposthaufen im Kopf zu verschieben, bevor er sich mit Widerhaken in der Abendstimmung lästig einnistete. Es gelang nicht zu seiner Zufriedenheit, weshalb die atmosphärische Balance aus dem Gleichgewicht geriet und das Bier plötzlich schal schmeckte. Ach Scheiße.

Er begab sich in die offene Küche und schüttete den Rest des Bieres in den Abguss. Jetzt half nur noch ein Glas Wein. Er erinnerte sich einer halbvollen Flasche, die er gestern in den Kühlschrank gestellt hatte, und nahm sie mit nach draußen.

Er hatte für eine große deutsche Transportfirma in der Schweiz gearbeitet. In Basel, um genau zu sein. Die gleiche Firma übrigens, für die auch Peter Seibelt tätig gewesen war, nur in einer anderen Abteilung. Jener Peter Seibelt, wie sich der Leser seines ersten Krimis Schaafswinter erinnern mochte, dem durch den Mörder Bodo Schneider auf so tragische Weise gleich dreimal die geliebten Frauen geraubt worden waren. Doch das nur nebenbei.

Die zweite Ehe, die er dort um die Jahrtausendwende mit Gerlinde eingegangen war, hatte nicht lange gedauert. Aus heutiger Sicht hätte er vorher auf seine innere Stimme hören sollen, doch er hatte alle Warnungen in den Wind geschlagen. Letztlich hatte er das Ja-Wort gegeben, um nicht als Spielverderber dazustehen. Das Vertrauen war bald in Misstrauen umgeschlagen, bis es zum Schluss nur noch Verletzungen gehagelt hatte und er in eine eigene Wohnung gezogen war, um dem Abgrund aus Zerstörung, Schmach und Peinlichkeit zu entfliehen. Danach hatte er nur noch Scham gespürt – und dann war die Depression gekommen.

Die erlösende Depression, wie er heute in der Nachbetrachtung zugeben konnte, denn sie stellte den entscheidenden Wendepunkt in seinem Leben dar.

Gegen Abend wagte sich seit einigen Tagen eine Gruppe von fünf Rehen aus dem Wald zu seiner Linken, um zwischen Waldrand und See zu äsen. Er wusste nicht, ob sie sich am Hahnenfuß gütlich taten oder nach anderen Kräutern dazwischen gierten. Sie schienen zu wissen, dass sie beobachtet wurden, denn ständig hielt eines der Rehe die Nase in seine Richtung. Er schaute mit einem Fernglas zu den Tieren und spürte, wie sich in der Folge sein Wohlbefinden wieder einstellte. Er blickte zum Himmel. Durch die hohen Bäume ringsum war ihm zwar die Sicht in die Ferne und somit die Verfolgung der Wolkenentwicklung verwehrt, aber auch so konnte er erkennen, dass es zumindest heute Nacht und vielleicht auch morgen regnen würde. In dieser Beziehung dachte er pragmatisch. Das, was er nicht durch eigenes Handeln ändern konnte, musste er nehmen wie es kam.

Er schlug in seinem Computer die Seite mit den gespeicherten Dokumenten auf und überlegte, ob er an der Fortsetzungsgeschichte der Teddybären mit dem Titel Weltreise arbeiten sollte, aber er fand den roten Faden nicht, um fortfahren zu können. Über die Beschreibung der Entstehung der Idee war er noch nicht hinausgekommen. Zwar hatte sich in seinem Kopf das Gerüst für die Geschichte entwickelt, doch sprühte er im Augenblick nicht gerade vor Einfällen. Zunehmend schauderte ihn vor der Pflicht, entsprechende Zeichnungen zu kreieren. Und überhaupt: War das nicht eine Arbeit für die langen Wintertage?

Er klappte den Deckel des Laptops zu, goss den Rest Wein aus der Flasche ins Glas und streckte die Beine aus. Morgen würde er nach Offenburg fahren. Christina kochte jeden Samstag Spaghetti Carbonara und es waren die besten, die er außerhalb Italiens je gegessen hatte.

25. Juni 2022

Die Ahnung von gestern Abend hatte sich bestätigt. Über Nacht war die Temperatur um zehn Grad förmlich abgestürzt. Über dem See vor der Haustür hingen Dunstschwaden und die Sicht reichte kaum bis zu den ersten Bäumen des Waldes. Die Erle auf der Insel schien meilenweit in die Ferne gerückt zu sein und wirkte unheimlich. Es regnete. Wenn jetzt eine Schar mittelalterlicher Ritter aus dem Nebel auf ihn zugeritten käme, würde es ihn nicht wundern, meinte er doch bereits das Klirren von Pferdegeschirren zu hören.

Er stand in Schlafshorts und T-Shirt in der Haustür und fröstelte. Das Klirren, fand er in die Wirklichkeit zurück, stammte natürlich von einem metallenen Windspiel, das er an der Dachtraufe aufgehängt hatte. In der einen Hand dampfte Kaffee in einer Tasse mit Micky-Mouse-Sujet, in der anderen Hand die erste Zigarette des Tages. Er rauchte, seit er achtzehn war, und konnte sich von den Glimmstängeln nicht befreien. Noch bereitete es ihm Genuss, und solange er keine ernsteren Beschwerden davon ableiten konnte, wollte er auf das Ritual am Morgen nicht verzichten. Nicht innerhalb der vier Wände zu rauchen war für ihn schon Einschränkung und Kompromiss genug.

Pit Ferman war eins achtzig groß und wog sechsundsiebzig Kilo. Seit er vor drei Jahren Edgar Schaaf kennengelernt hatte, ließ auch er seine grauen Haare wachsen und hatte es bis heute zu einem ansehnlichen Pferdeschwanz gebracht. Vielleicht war ansehnlich nicht das richtige Wort, vielleicht war es zu subjektiv, aber wem außer ihm selbst sollte es sonst gefallen? Seine beiden Kinder, die in der Schweiz lebten und die er zugegebenermaßen viel zu selten sah, enthielten sich ob seines Aussehens jeglicher Kommentare, und sonst hatte er in der näheren Umgebung weder Anhang noch Verwandtschaft, auch keine entfernte, und er hatte nie das Gefühl gehabt, dass ihm Entscheidendes fehlen würde. Er nahm die Tasse Kaffee mit in den ersten Stock ins Bad und zurrte vor dem Spiegel mit einem schwarzen Samtband die langen Haare zusammen. Erst jetzt war er bereit zu einem mageren Frühstück, das in der Regel aus einer Scheibe Pumpernickel mit dickem Butteraufstrich und Brombeergelee bestand.

Christinas Spaghetti Carbonara waren nicht der einzige Grund, der ihn nach Offenburg lockte. Er hatte bei einem Ersatzteilhändler im Industriegebiet, der sich auf Autoteile spezialisierte, einen kompletten Auspuff für seinen Citroën Typ H entdeckt und zurücklegen lassen. Sündhaft teuer, das Teil, aber er hatte es zähneknirschend bezahlt und würde es heute abholen und von einer neutralen Werkstatt in der Nähe gleich einbauen lassen. Er war stets mit sich zufrieden, wenn er mehrere Vorhaben sinnvoll an einem einzigen Tag erledigen konnte. Nach einem Blick auf die Uhr machte er sich auf den Weg. Bei der Gelegenheit, dachte er, während der Regen auf die Windschutzscheibe prasselte, lass´ ich mir auch neue Scheibenwischergummis montieren. Ist nötig.

Silvio sah ihm beim Essen zu. Christina hatte ihm natürlich wieder eine extra große Portion auf den Teller geladen. Aber es schmeckte einfach köstlich. Wie immer trank er Landwein dazu. Er sah nicht ein, für einen Markenwein viel Geld auszugeben, wenn es der süffige Landwein auch tat. Silvio verstand das und lamentierte deswegen auch nicht mit ihm. Beide wussten voneinander, dass sie finanziell nicht auf Rosen gebettet waren, und durch einen teureren Wein würde ihre Freundschaft auch nicht wertvoller werden.

„Deine Tochter ist eine Künstlerin, Silvio“, nuschelte Pit zwischen zwei Gabeln Spaghetti.

„Musste du ihr sage selber“, lächelte der schmale Italiener mit den traurigen Charlie-Chaplin-Augen, dessen gelocktes Haar schneeweiß war. „Wo iste deine alte Auto? Kaputt?“

„Nein, es steht in der Werkstatt. Ich bin zu Fuß gekommen. Ich kann es nachher wieder abholen“, erklärte Pit.

„Willste du nit emal eine geseite Auto? Viellei eine Fiat oder so? Kann i dir gebe eine gute Adress.“

„Du gibst wohl nie auf, was?“, lachte Pit. „Lass´ mal. Mein alter Citroën wird mich noch überleben. Du wirst sehen.“

„Ach, Pit, das i glaube nit.“

„Warum nicht? Was ist los?“

Silvio überlegte, ob er Pit die traurige Nachricht überbringen sollte. „Christina. I glaube, sie eine Freund hat.“

„Aber Silvio, sie ist jung, sie ist schön, sie ist eine Frau. Irgendwann wird sie einen Freund und Mann haben. Das ist das Leben.“

„Ja son, aber dann i musse sließe das Lokal, versteh?“

„Vielleicht auch nicht. Vielleicht ist der Freund auch ein Mann für das Lokal?“

Silvio seufzte. „I habe no nit gesehe diese Mann. Aber Christina, in letzte Zeit sie make si immer sminke. Das iste keine gute Zeike.“

„Dann sprich´ mit ihr, Silvio. Du musst mit ihr reden.“

Silvio wrang mit seinen Händen ein imaginäres Handtuch aus. „I habe gedak, dass du viellei kannste sprek´ mit ihr? Zu dir sie hat Vertraue.“

Das war´s also. Silvio hatte Angst vor der Wahrheit. Vor der Endgültigkeit. Pit wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen und sagen, dass es absolut Silvios eigene Aufgabe wäre, mit seiner Tochter zu reden.

„Pass´ auf, Silvio. Nächste Woche habe ich Zeit. Dann setzen wir drei uns mal zusammen und sprechen wie ganz normale Erwachsene miteinander. Heute habe ich leider keine Zeit. Ich muss zu Fuß ins Industriegebiet und mein Auto abholen. Nächste Woche. Einverstanden?“

Silvios Augen glänzten wässrig. Wenn er jetzt nur nicht anfängt zu weinen, dachte Pit. Er mochte den kleinen Kerl und hatte ihn ins Herz geschlossen. Silvio nickte ergeben.

„Näkste Woke, Pit. Dann wir rede. Einverstande.“ Er erhob sich schwer von seinem Platz, um nach den anderen Gästen zu schauen. Samstags war das Lokal Zum grauen Eck zur Mittagszeit gut besetzt.

Er war durchnässt, als er im Industriegebiet ankam. Es gab so gut wie keinen öffentlichen Nahverkehr in der Stadt, was er als eine Schande betrachtete. Ein Taxi konnte er sich nicht leisten und auf einen Schirm verzichtete er aus Prinzip.

Das Auto war fertig. Die alte Auspuffanlage lag im Transportraum. Bei den exorbitanten Preisen für Ersatzteile lohnte es sich eventuell noch, den alten Auspuff zu schweißen. Das musste er jedoch nicht heute entscheiden.

Er fuhr zurück Richtung Rothbachtal. Der Regen hatte an Stärke zugenommen. Die Scheibenwischergummis hatte er dummerweise vergessen. Wenn ich mir nicht bald meinen Namen auf einen Zettel schreibe, vergess´ ich den auch noch, dachte er.

Wie immer war die Landstraße entlang der Bahnlinie fast verkehrsfrei. Die Scheibenwischer schafften mit Mühe, der Regenmassen Herr zu werden. Er reduzierte das Tempo, um besser sehen zu können. Er befasste sich gedanklich mit Silvio und dessen Tochter, als er in letzter Sekunde am Straßenrand eine Gestalt bemerkte, nicht mehr als eine verschwommene Silhouette, die in seiner Richtung ging. Er riss das Lenkrad herum, horchte mit panisch geschärften Ohren auf einen möglichen Schlag an der Karosserie, aber außer dass er höllisch in die Bremsen trat und schlingernd den Kastenwagen zum Stillstand brachte, geschah nichts. Er schaute in den Rückspiegel, sah jedoch niemanden. Er stieg aus in den Regen und ging um die Front des Autos herum. Neben dem Wagen stand eine Frau auf der Bankette, vom Regen durchgeweicht, einen Rollkoffer in der Hand. Er ging auf sie zu, sprach sie an.

„Um Gottes Willen. Ist Ihnen etwas passiert?“

Keine Reaktion. Die Augen niedergeschlagen, die Lippen zitternd.

„Kann ich Ihnen helfen?“

Die Augen öffneten sich und schauten ihn an. Zwei schwarze Tunnel ohne Licht am Ende.

„Kommen Sie. Steigen Sie ein. Ich fahre Sie, wohin Sie wollen.“

Pit ging um die Fahrzeugschnauze herum zur Fahrerseite, kletterte auf den Sitz, öffnete von innen die Beifahrertür und wartete. Es kam niemand.

„Kommen Sie“, rief er. „Steigen Sie ein.“

Die Frau wurde im Profil sichtbar. Langsam kam sie zur Beifahrertür und blickte ins Fahrzeuginnere.

„Steigen Sie ein“, sagte Pit geduldig. „Sie holen sich ja den Tod.“

Er stieg wieder aus, umrundete das Auto erneut und half ihr beim Einsteigen. Er hob ihr den Koffer entgegen, den sie abnahm und vor ihre Füße stellte.

Er kletterte wieder auf den Fahrersitz, schaltete den Motor ein. „Hallo“, sagte er und versuchte ein Lächeln. „Ich heiße Pit. Wo kann ich Sie hinbringen?“

„Weg“, sagte die Frau mit leiser Stimme. Aus ihren Haaren tropfte der Regen.

Er wünschte sich, dass die Heizung besser funktionierte. Das Gebläse. Durch die feuchten Kleider beschlugen die Fensterscheiben von innen im Nu. Er wühlte blind neben dem Sitz herum, bis er einen schmuddeligen Lappen gefunden hatte, mit dem er die Scheiben notdürftig trocknete.

Er schaute rasch zur Seite. Sie saß stocksteif auf dem Beifahrersitz, die Augen starr nach vorne gerichtet. Er versuchte es nochmal. „Wo soll ich Sie hinfahren?“

Er erhielt keine Antwort.

„Ich fahre Sie nach Hause“, sagte er entschieden.

„Nein, nicht nach Hause, bitte“, kam die Reaktion von ihr und sie legte ihm fast flehend eine Hand auf den Arm. „Nicht nach Hause.“

„Ich meine zu mir nach Hause. In mein Haus. Okay?“ Er schaute sie an. Dass sie „okay“ formulierte, konnte er nur an ihren Lippen ablesen.

„Wie heißen Sie? Wie ist Ihr Name?“

„Eliza“, flüsterte sie.

„Elisa von Elisabeth?“

„Nein, nur Eliza. Eliza mit zett.“

Er bog von der Landstraße ab, fuhr unter der Bahnlinie hindurch ins Rothbachtal. Sie passierten Rothweiler, fuhren nach Grünweiler hinein. Als er dort von der Talstraße abbog und zwischen den Granitpfosten die Schotterpiste hinauf in den Wald fuhr, bemerkte er, wie sie den Atem anhielt und sich im Sitz versteifte. Oh Gott, dachte er, sie wird doch hoffentlich nicht denken, dass ich sie im Wald ...?

„Keine Angst“, bemühte er sich rasch zu sagen, „ich wohne gleich da vorne.“

Zwei Minuten später hielten sie vor seinem Haus. Es regnete weiter in Strömen. Er half ihr beim Aussteigen, trug ihren Koffer, der nicht allzu schwer war, ins Haus und schloss die Tür. Er bat um ihre nasse Jacke, drapierte sie über eine Stuhllehne und stellte den Stuhl vor den mächtigen gusseisernen Holzofen, der mitten im quadratischen Raum thronte. Obwohl es mitten im Sommer war, steckte er behände einige Holzscheite in den Ofen, einen Anzünder dazu, und bald flackerten die ersten Flammen auf. Sie stand regungslos im Raum.

Er stieg eilig die Treppe hinauf in den ersten Stock, klaubte rasch seinen alten Trainingsanzug, den er nicht mehr benutzte, aus dem Schrank, eine seiner Unterhosen, Socken und ein T-Shirt. Dann rief er: „Eliza, wenn Sie bitte kommen wollen?“

Er zeigte ihr das Bad, überreichte ihr die Ersatzkleider und ein Handtuch. „Hier. Sie können warm duschen oder baden, wie Sie wollen. Ziehen Sie diese Sachen an, während Ihre Kleider trocknen.“ Er nickte ihr aufmunternd zu und ließ sie im Badezimmer allein. Bald hörte er das Wasser rauschen.

Als sie die Treppe herunterkam, kochte bereits eine Fertigsuppe auf dem E-Herd. Er nahm ihr die nassen Kleider ab und gemeinsam hängten sie die Sachen über weitere Stühle rund um den Holzofen auf.

„Wenn Sie wollen, fahre ich Sie nachher wohin Sie wollen. Oder Sie können telefonieren. Sie können aber auch hier übernachten. Sagen Sie einfach Bescheid.“

Schweigsam saßen sie sich gegenüber und löffelten die Suppe. Er stellte Brotscheiben, Butter und Dosenwurst auf den Tisch und bat sie, zuzugreifen, was sie genierlich auch tat. Weil er es für ungehobelt und peinlich hielt, sie während des Essens ständig zu begaffen oder zu mustern, suchte er nach einer Beschäftigung und stellte die Teller in die Spüle, entschuldigte sich kurz bei ihr, um vor der Tür eine Zigarette zu rauchen. Seine Gedanken fuhren Karussell, sodass er gar nicht bemerkte, dass sie unhörbar neben ihn getreten war und auf die Zigarette deutete, die er in der Hand hielt. Umständlich hielt er ihr die Packung hin. Als er ihr die Zigarette anzündete, fragte sie: „Kann ich bitte hierbleiben?“

26. Juni 2022

Er hatte Kopfbrummen und Nackenschmerzen, als er aufwachte. Aber nicht vom Wein von gestern Abend, sondern von der unbequemen Lage auf dem Sofa. Es brauchte einige Sekunden, bis ihm der Grund, weshalb er auf dem Sofa lag, wieder einfiel. Ächzend wuchtete er sich in sitzende Position und hievte die Beine über den Rand auf den Boden. Na, also ein bisschen spürte er die Nachwirkungen des gestrigen Abends doch. Barfüßig tappte er zur Anrichte im Küchenbereich und schaltete den Wasserkocher ein. Drei Minuten später stand er mit der Micky-Mouse-Tasse und einer Zigarette in der Haustür und begrüßte den Sonntag. Der Regen hatte irgendwann in der Nacht aufgehört. Der See lag wie eine Wanne flüssigen Quecksilbers vor ihm. Keine Welle zerstörte den Spiegel der Oberfläche. Schwer vom Regen hingen die Blüten des Hahnenfußes nach unten. Der Himmel hatte die Farbe von oxidiertem Aluminium. Es würde ein sonniger Tag werden.

Als er die Toilettenspülung rauschen hörte, erinnerte er sich des Gastes, der so unverhofft bei ihm Unterschlupf gefunden hatte. Eliza, dachte er. Er sprach den Namen aus:

„Eliza.“

Er schlüpfte in dem Moment ins Haus zurück, als Eliza die Treppe herunterkam. Dass er sie mit offenem Mund anglotzte, bemerkte er nicht. Vielleicht lag es daran, dass er noch nie vorher einen fremden Übernachtungsgast im Haus gehabt hatte, egal ob männlich oder weiblich (seine Kinder betrachtete er nicht als fremd), und dass dieser jetzige Gast ausgesprochen weiblich war, wurde ihm gerade deutlich vor Augen geführt. Was ihm gestern zu keiner Zeit aufgefallen war, registrierte er nun beinahe mit Erschrecken. Trotz des für sie übergroßen Trainingsanzugs zeichnete sich darunter ab, dass Eliza eine anmutige Frau war. Ihr Gang die Treppe herunter hatte etwas Elegantes, für das er auf die Schnelle keinen adäquaten Vergleich fand. Sie gab dem unförmigen Kleidungsstück den Glanz eines Abendkleides. Das ovale Gesicht, meinte er zu erkennen, war ungeschminkt, was ihr sehr gut stand. Ihre Lippen waren fein geschwungen, die Nase schmal und gerade, die Augen blickten melancholisch unter unbehandelten Augenbrauen. Im langen braunen Haar versteckten sich einige Silberfäden. Sie mochte etwa zwanzig Jahre jünger sein als er, schätzt er. Als sie auf ihn zukam und ihm ein einfaches „Danke“ sagte, reichte ihr Scheitel nicht höher als zu seinem Kinn.

Peinlich wurde er sich seines Aufzugs bewusst: Schlafshorts, ausgeleiertes T-Shirt, barfuß und die langen grauen Haare wild um den Kopf. „Guten Morgen“, raunte er, und „kann ich mal eben rasch ins Bad?“ Die Andeutung eines verlegenen Lächelns zierte ihr Gesicht.

Während er im Bad war, hatte sie den Tisch mit allem gedeckt, was im Kühlschrank zu finden gewesen war. Sie konnte nicht wissen, dass er morgens nur eine Scheibe Pumpernickel mit Butter und Brombeergelee zu sich nahm, dafür erstaunte es ihn, wie sie sich selber kräftig an dem Angebot bediente.

„Was machen wir heute“, fragte er seltsam befangen. Er wollte sie nicht mit Fragen nach ihrer Herkunft, ihren Absichten, ihren Plänen, und schon gar nicht nach dem Grund ihrer Situation löchern. Das zu erzählen, fand er, musste er ihr überlassen. Sie war sein Gast, und er war nicht mehr als ihr Schirm in der Not. Denn dass sie in Not, oder Mehrzahl, in Nöten steckte, war offensichtlich.

„Ich muss zurück“, antwortete sie leise. „Aber nicht heute. Morgen.“

Pit nickte langsam. „In Ordnung“, sagte er und dachte sehr spontan und darum auch ziemlich ehrlich: Schade. Später konnte er nicht mehr nachvollziehen, aus welchem vergessenen Verlies der Impuls dafür gekommen sein mochte.

„Ich muss noch mehr Sachen holen“ erklärte sie. „Sachen zum Anziehen. Ich habe gestern hastig und ohne Überlegung nur einiges in den Koffer geworfen. Damit komme ich nicht weit. Morgen.“

„Warum nicht heute?“, fragte er und bereute es augenblicklich. Mist.

Sie kaute einen Bissen Brot. „Heute ist Sonntag. Da schläft er seinen Rausch aus. Morgen ist er auf der Arbeit.“

„Er? Ihr Mann?“

Sie schüttelte den Kopf. Ihre Gesichtszüge verdunkelten sich. „Mein Freund.“

Jetzt pfeif´ ich drauf, dachte er, von wegen Anstand und so. „Was ist passiert, Eliza?“

Ihre Blicke trafen ihn wie Pfeile. Er konnte nicht unterscheiden, ob sie böse oder verbittert war. Ihr Kehlkopf hüpfte auf und nieder. Sie überlegte, ob sie diesem Mann von ihren Niederlagen erzählen sollte. Er war ja schließlich selber einer der Gattung, ein Mann. „Er hat mich geschlagen.“

Er hatte sich etwas in der Art schon gedacht. „Aber Ihr Gesicht ...“

Sie sprang vom Stuhl ihm gegenüber auf, riss die Trainingsanzugjacke und das T-Shirt hoch bis zum Hals, zog mit dem Daumen die Hose runter bis zum Ansatz der Schamhaare. Wortlos präsentierte sie ihm ihren Leib.

Pit erschrak. Ihr ganzer Körper war übersät mit grünen und dunkelblauen Flecken: Brust, Brüste, Bauch, Unterleib, ein Fleck neben dem anderen. Entsetzlich. Er wurde käseweiß im Gesicht, es wurde schwarz vor seinen Augen, und er spürte unmittelbar, wie Kaffee und Pumpernickel die Speiseröhre emporschossen. Er taumelte vom Tisch, wankte quer durch den Raum, versuchte, die Hand vor den Mund gepresst, die Toilette im angebauten Kabuff zur erreichen, aber er stürzte vorher und entleerte seinen Magen auf den Bretterboden.

Eliza war sofort bei ihm, fasste ihn bei den Schultern. „Das ...das ...wollte ich nicht“, stammelte sie, „das ...wollte ...ich ...nicht.“

Pit benötigte alle Kraft, um sich auf Hände und Knie zu stemmen. „So ein Schwein“, würgte er, und Schleim troff ihm von der Nase. „So ein Schwein.“

Sie saßen im Sonnenlicht nebeneinander auf der Bank vor dem Haus. Der See reflektierte die Strahlen und funkelte wie eine Schüssel voller Brillanten. Es wehte ein lauer Wind.

„Es ist schön hier, Pit“, sagte sie. „So ruhig. So friedlich.“

„Ja, das ist es“, sagte er. „Ich liebe es.“

Er dachte an gestern Abend zurück. Sie hatten eine Flasche Landwein aufgemacht und es sich mit einer Tüte Kartoffelchips auf dem Sofa bequem gemacht und im Fernsehen eine Quiz-Show angesehen. Ab und zu war er aufgestanden, um Holz im Ofen nachzulegen, aber irgendwann hatte Eliza dann einfach eine Decke genommen, die auf der Sofalehne lag, und sie über beide ausgebreitet. Sie spielten das Spiel, wer von den Fragen im Fernseher am meisten beantworten konnte. Eliza hatte haushoch gewonnen. Sie hatte alles gewusst.

Pit hatte ihr vorgeschlagen, dass sie in seinem Bett schlafen könne. Sie hatte nicht abgelehnt und gemeinsam mit ihm das Bett mit frischer Wäsche bezogen. Er war mit dem Sofa zufrieden gewesen.

„Das Frauenhaus in Offenburg war belegt. Frauen mit Kindern, hauptsächlich. Sie hatten keinen Platz für mich alte Frau“, begann sie und bat ihn um eine Zigarette. „Deswegen bin ich einfach losgegangen, in irgendeine Richtung. Hauptsache weg.“

„Wollen wir nicht du zueinander sagen? Es ist so ...“

Sie zuckte mit den Schultern. „Meinetwegen, Pit.“

„Danke. Wie alt bist du, wenn ich fragen darf?“

Eliza blies Luft durch die Nase. „Dreiundfünfzig.“

„Hast du jemals daran gedacht, deine Verletzungen von einem Arzt dokumentieren zu lassen? Das könnte unter Umständen noch wichtig werden.“

Sie bedankte sich und zündete die Zigarette an. „Nein. Ich glaube, ich habe mich zu sehr geschämt.“

„Wenn wir morgen in die Stadt fahren, würdest du das machen lassen? Es dauert bestimmt nicht lange.“

Sie schwieg zuerst und blickte über den See. „Und dann? Ich weiß nicht, wo ich hin soll. Weißt du, wie das ist, wenn man nicht weiß, wo man hingehört?“

Pit nahm sich ebenfalls eine Zigarette. „Ich mach´ dir einen Vorschlag“, sagte er.

Der weitere Sonntag verlief in einer merkwürdigen Stimmung. Eine Mischung aus Anstand, Befangenheit und Respekt lähmte die beiden, was Sprache und Umgang miteinander betraf. Eliza hatte bald nach einer Decke gefragt, die sie über den feuchten Hahnenfuß breitete und die meiste Zeit des Nachnmittags schlafend oder dösend darauf zubrachte. Pit war dermaßen von Gedanken besetzt, dass er kaum geradeaus gehen oder eine sinnvolle Tätigkeit ausüben konnte. Er verlagerte seine Unsicherheit auf die penible Kontrolle der Wohnung, schielte peinlich verschämt in die Ecken am Fußboden und an den Wänden, ob nicht vielleicht eine Wollmaus oder eine Spinnwebe sichtbar sei; strich beiläufig mit dem Finger über Möbel, um feinsten Staub aufzuspüren. Er beobachtete Eliza auf der Decke, registrierte jede Veränderung ihrer Lage, und fühlte sich in einer Art erhöhter Alarmbereitschaft, als läge Frau Bundespräsidentin höchstpersönlich vor seiner Haustür.

Gegen Abend bruzzelte er eine Pfanne mit Kartoffeln, fast schon eine Verzweiflungstat, schnippelte Wurstreste dazu und rief Eliza dann zum Essen, das sie unter strikter Vermeidung problembehafteter Themen verzehrten. Irgendwann gingen ihnen die belanglosen Floskeln aus und sie flüchteten sich in eine kitschige Liebes-Schmonzette im Fernsehen.

27. Juni 2022

Der Häuserblock, in dem Eliza wohnte, lag am Rande der Stadt. Ein dreistöckiges Gebäude mit grauen Eternitplatten als Fassadenverkleidung, an denen dunkle Witterungsstreifen schon von weitem davor warnten, das Gebäude zu betreten. Es war kein Straßenschild zu sehen, aber wenn Eliza behauptete, in dieser Straße zu wohnen, musste es die Clemens-von-Brentano-Straße sein. Ein wohlklingender Name für eine so schäbige Gegend. Die ehemals vorgesehenen Grünflächen waren zu einem braunen Filz mutiert und mit Schutt und Müll überzogen. Hier fühlte sich niemand verantwortlich, aufzuräumen. Etliche Fenster hielten nur mit Folie oder Klebstreifen zusammen oder waren mit Pappe notdürftig repariert. Es gab noch zwei weitere Blocks identischer Bauweise daneben, von denen keiner einladender aussah. Hier würde er nicht wohnen wollen, dachte Pit, und doch schien es Menschen zu geben, die keine andere Wahl hatten. Vielleicht gehörte Eliza dazu.

Als sie den Hausflur betraten, schimmerten vom Kellerboden Wasserlachen empor. Es roch entsprechend feucht und klamm. Eliza öffnete mit ihrem Schlüssel eine Wohnung im zweiten Stock. Im Wohnungsflur stank es stark nach kaltem Zigarettenrauch. Während Eliza von Zimmer zu Zimmer hastete, pendelte Pit im Flur hin und her. Eine Neonröhre an der Decke verbreitete hartes Licht wie in einer Werkstatt. Ein Blick ins Wohnzimmer offenbarte die Hinterlassenschaften einer stattgefundenen Party für zwei Personen. Auf einem Couchtisch standen leere Alkoholflaschen: Wodka, Wein, Bier. Ein Aschenbecher quoll vor Kippen über. Brandlöcher im Teppich zeugten nicht gerade von einem sorgfältigen Umgang mit Zigaretten. Auf der Couch lagen zwei leere Verpackungen von Pizzas und Pommes frites. Eliza würdigte die Unordnung keines Blickes. Sie schaute ins Bad. Der Klodeckel war geöffnet. Kippen schwammen im Klowasser. Sie nahm einige Kosmetika an sich und warf alles in eine Plastiktüte. Dann ging sie ins Schlafzimmer. Das Bett natürlich ungemacht und zerwühlt. Dass frische Spermaflecken die Laken zierten, kümmerte sie nicht. Sie öffnete den mitgebrachten Koffer und füllte ihn mit ihren Kleidern aus dem Schrank und der Leibwäsche aus einer Kommode. Sie nahm sich nicht die Zeit, alles fein säuberlich zu falten, sondern nahm es so, wie sie es vorfand.

In der Küche öffnete sie die Schiebetür eines Hängeschranks, griff hinein, holte eine Blechdose heraus, öffnete den Deckel und entnahm ihr ein Bündel Bargeld. „Es ist meins“, war ihr ganzer Kommentar. Das schmutzige Geschirr in der Spüle übersah sie geflissentlich. Dann unternahm sie einen letzten Rundgang durch die Zimmer, prüfte, ob noch etwas aus ihrem Besitz es wert wäre, mitgenommen zu werden, aber dem schien nicht so zu sein. Sie nickte Pit zu, er nahm ihr den Koffer ab, und sie verließen die Wohnung. Den Haus- und Wohnungsschlüssel warf sie in den Briefkasten.

Pit konnte ihrem Tempo auf dem Weg zum Citroën kaum folgen. Wie ihr zumute sein musste, würde sie ihm vielleicht eines Tages erzählen können, wenn sie soweit war. Wenn sie damit abgeschlossen hatte. Aber auch, wenn sie ihm vertrauen konnte.

Plötzlich stolperte er über die eigenen Füße, weil ihn eine heiße Lohe durchfuhr. Was dachte und redete er denn da? Er tat ja gerade so, als würde es unumstößlich feststehen, dass sie bei ihm einziehen würde. Nur weil sie zwei Tage bei ihm übernachtet hatte, bedeutete das noch lange nicht, dass sie bei ihm bleiben würde. Pits Kopf wurde knallrot. Die Frau besaß immerhin ein eigenes Leben. Sie hatte mit Sicherheit einen Beruf oder eine Arbeit. Freunde, Freundinnen, im In- oder Ausland. Und er bildete sich hier ein, dass sie eventuell bei ihm ... Auch wenn sie gestern noch seinem Vorschlag zugestimmt hatte. In der Not stimmt man vielem zu, nicht wahr? Er war ein alter Mann, und sie war eine junge Frau. Eines Tages wird sie gehen, also ...

„Was ist, Pit? Ist dir nicht gut? Oh Gott, du bist ja ganz rot im Gesicht ...“

Er verstand sie nicht mehr, begann zu hyperventilieren. Seine Brust verkrampfte, die Hände verkrampften und bogen sich nach innen. Er bekam Angst. Er sah, wie sie die Plastiktüte mit den Kosmetikartikeln auf den Gehweg leerte und ihm die Tüte vor Mund und Nase hielt. Er atmete ein, aus, in die Tüte, ein und aus. Sie stützte ihn, forderte ihn auf, beruhigte ihn, obwohl er nichts verstand, folgte er ihr, und nach einiger Zeit lösten sich die Krämpfe, hörte er ihre Stimme wieder. Er schaffte es, sich wieder aufzurichten, lehnte sich an die Karosserie des Wagens. „Es war ...es war ...“ Nein, er konnte es ihr nicht sagen, sie würde es nicht verstehen. Sie hatte genug mit sich selbst zu tun, hatte zu viel durchgemacht, hatte es am eigenen Leib zu spüren bekommen, er hatte es ja mit eigenen Augen gesehen. „Es geht wieder“, sagte er und grinste gequält. Sie beobachtete ihn, wie ein Arzt einen Patienten beobachtet, und stieg dann ins Auto, als würde sie alles wissen, alles kennen. Beim Quiz hatte sie alles gewusst. Aber das war kein Quiz.

Sie fuhren vom Stadtrand in die Stadtmitte. Er begleitete sie zu ihrem Frauenarzt. Obwohl sie keinen Termin vorweisen konnte, wurde sie, nachdem sie ihre Situation geschildert hatte, außer der Reihe zu einer Untersuchung vorgelassen. Es ging hauptsächlich um die augenscheinliche Dokumentation der Hämatome durch Fotoaufnahmen und des Entstehungszeitraumes der Verletzungen. Dennoch nahm die Prozedur inklusive Wartezeit mehr als zwei Stunden in Anspruch.

Es war schon Nachmittag, als sie zu ihrer letzten Station unterwegs waren, dem Möbellager der Arbeiterwohlfahrt in Lahr (Schw.), kurz der AWO.

Pits Vorschlag war gewesen, für Eliza eines der unbenutzten Zimmer in seinem Haus zu möblieren, damit sie länger bei ihm zur Ruhe kommen konnte und Zeit bekam, ihre nächsten Schritte zu überlegen und anzugehen. Nebenprodukt: Er würde dann wieder in seinem eigenen Bett schlafen, anstatt auf dem Sofa. Er wusste aus eigener Anschauung, dass die gebrauchten Möbel bei der AWO von guter Qualität waren und man sehr günstig einkaufen konnte.

„Kann ich meinen Vorschlag von gestern noch mal korrigieren?“

Sie schaute ihn etwas verwirrt an. „Heißt das, dass du dir´s anders überlegt hast? Hast du deswegen vorhin diesen Anfall gehabt?“

„Ja, ich hab´s mir anders überlegt, aber nicht wie du meinst“, antwortete er.

„Aha, und wie mein ich´s?“

„Du meinst, dass ich dich rausschmeißen will.“

„Und? Willst du nicht?“

„Quatsch“, wiegelte er ab. „Ich sehe es folgendermaßen: Du behältst das große Zimmer, das Bett ist sowieso schon für dich bezogen, und wir suchen uns die Möbel von der AWO für mich aus.“

„Das ...das ...kann ...“

„Doch, kannst du. Der Kleiderschrank ist größer, direkter Zugang zum Badezimmer. Für eine Frau ist das einfach besser. Sieh´s praktisch.“

Sie schwieg. Überlegte sie? „Es ist mir nicht recht. Ich will dich nicht verdrängen. Du tust schon so viel für mich. Nachher ist der Dank, den ich dir schulde, größer, als ich aufbringen kann. Verstehst du das? Denn geht nicht immer alles darauf hinaus, dass man zu Dank verpflichtet ist? Ich will ehrlich zu dir sein, Pit. Ich habe meinen Dank sehr oft in Naturalien ableisten müssen, weil ich nichts anderes hatte oder weil das, was ich hatte, nicht genug war, wenn du verstehst, was ich meine.“

Pit schluckte schwer. „Entschuldige, Eliza. Das wusste ich nicht.“

„Jetzt weißt du´s.“

Eliza hatte sich für sagenhafte hundertzwanzig Euro komplett eingerichtet, und alles fand auf der Ladefläche des Citroën Typ H Platz. Zum ersten Mal seit ungezählten Jahren und überhaupt schallte Lachen durch das Haus, als sie die Möbel ins Haus trugen und gemeinsam in einem der Zimmer aufstellten. Was Eliza auch ausgesucht hatte, passte in Holzart und Stil zueinander. Es war nicht modern, eher alt, fügte sich in den Raum mit hölzernen Wänden, Boden und Decke jedoch ein, als wäre es von vornherein dafür vorgesehen gewesen. Pit hatte lediglich darauf geachtet, dass auch alles, das Bett ausgenommen, aus Echtholz war. Die AWO war in dieser Hinsicht eine wahre Fundgrube.

Sie hatte nun ein Messing-Bett mit passender Matratze und Bettwäsche, einen Kleiderschrank mit wunderschönen Intarsien, einen Schreibtisch im Biedermeierstil, ein Nachttischchen, einen hohen Spiegel (allerdings mit einigen Flecken, die kaum störten), eine Kommode mit geschwungenen Beinen, einen großen Webteppich, eine Decken- und eine Schreibtischlampe sowie einen Karton voller Bücher, die sie alle zu lesen gedachte.

Als Pit mit der EC-Karte bezahlte, wusste er zwar, dass er damit in die roten Zahlen rutschte, doch immer noch innerhalb des Dispo-Kredits blieb. Er war glücklich.

„Wollen wir darauf anstoßen?“

„Ja, wenn du mir hilfst, die Lampe aufzuhängen und die Möbel einzuräumen?“

Rasch holte er zwei Gläser und eine Flasche Landwein vom Erdgeschoss. „Darf ich etwas sagen, ohne eine anzügliche Absicht damit zu verbinden?“

„Ich warte drauf, Pit.“

„Danke, dass du hier bist.“

Pit saß auf der Bank vor dem Haus, las die Zeitung vom Morgen, während Eliza einen Spaziergang um den See unternahm. Er entdeckte sie auf dem Damm stehend, dort, wo der Überlauf des Sees ins Tal rauschte. Vorher hatte sie sich etwas gründlicher im Haus umgesehen. Besonders der Ofen hatte es ihr angetan, ein Prachtstück aus Eisenguss. Er erklärte ihr die Funktionsweise, zeigte ihr, wo das Brennholz geschützt hinterm Haus gestapelt war, und wie man über Schiebeklappen in der Holzdecke die oberen Räume mit Warmluft versorgen konnte. Ihm hatte diese Sekundärwärme bisher immer ausgereicht, auch im kältesten Winter. Oben hielt er sich für gewöhnlich nur zum Schlafen auf und mochte es sowieso lieber kühl im Zimmer. Selbst wenn er krank war und siechte, bezog er sein Lager auf dem Sofa.

Bei ihrem Rundgang durchs Haus konnte ihr natürlich nicht sein Schreibtisch mit dem Computer und das Regal mit den Büchern verborgen bleiben.

„Du bist Schriftsteller?“, fragte sie staunend. „Auf den Büchern steht dein Name.“

„Ich ziehe es vor, Autor zu sein“, versuchte er richtigzustellen. „Es ist eher ein Hobby als ein Beruf. Davon leben kann ich nämlich nicht.“

Sie entdeckte die Bärenbücher und die anderen, auf denen nicht Pit Ferman stand.

„Auf den anderen Büchern steht Peter Siefermann als Autor. Wer ist das?“

Er räusperte sich verlegen. „Nun, ja, das bin auch ich. Es ist mein alter Name.“