Schaafskind - Pit Ferman - E-Book

Schaafskind E-Book

Pit Ferman

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Beschreibung

Pit Ferman, Autor der Edgar-Schaaf-Krimireihe, klagt über eine Schreibblockade. Nicht aus sich heraus, sondern weil sein Protagonist seit über einem halben Jahr keinen Stoff für einen neuen Roman geliefert hat. Und auch Kriminaloberkommissarin Rita Böhringer kann ihm da nicht aus der Verlegenheit helfen. Es gibt einfach keine literarisch verwertbaren Fälle. Edgar Schaaf selbst ist mit der Ausübung der Bauaufsicht über den Umbau des Türmchenhauses in Gengenbach zwar beschäftigt, aber nicht ausgelastet. Allein durch das Sammeln von Polizeiberichten aus der Zeitung ist seine Spürnase längst nicht befriedigt, und allmählich beginnt sich der Kriminalist in ihm zu langweilen. Da entdeckt seine Frau Melanie Köninger eines Morgens an der Tür ihres Geschäftes Aquarelle und Poesie die Zeichnung eines Kindes.

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Pit Ferman, Autor der Edgar-Schaaf-Krimireihe, klagt über eine Schreibblockade. Nicht aus sich heraus, sondern weil sein Protagonist seit über einem halben Jahr keinen Stoff für einen neuen Roman geliefert hat. Und auch Kriminaloberkommissarin Rita Böhringer kann ihm da nicht aus der Verlegenheit helfen. Es gibt einfach keine literarisch verwertbaren Fälle.

Edgar Schaaf selbst ist mit der Ausübung der Bauaufsicht über den Umbau des Türmchenhauses in Gengenbach zwar beschäftigt, aber nicht ausgelastet. Allein durch das Sammeln von Polizeiberichten aus der Zeitung ist seine Spürnase längst nicht befriedigt, und allmählich beginnt sich der Kriminalist in ihm zu langweilen.

Da entdeckt seine Frau Melanie Köninger eines Morgens an der Tür ihres Geschäftes Aquarelle und Poesie die Zeichnung eines Kindes.

Für Fatma

Inhaltsverzeichnis

Teil I

Ein Freitag im Mai 2022

Montag, 25. März 2024

Ein Freitag im Juni 2022

Montag, 08. April 2024

Ein Montag im Juni 2022

Montag, 22. April 2024

Mittwoch bis Montag im Juni 2022

Dienstag, 23. April 2024

Ein Mittwoch im August 2022

Donnerstag, 25. April 2024

Ein Freitag im August 2023

Montag - Samstag, 22. – 27. April 2024

Freitag – Montag, 26. – 29. April 2024

Dienstag, 30. April 2024

Dienstag, 30. April 2024

Mittwoch, 01. Mai 2024

Donnerstag, 02. Mai 2024

Freitag, 03. Mai 2024

Samstag, 04. Mai 2024

Teil II

Montag, 06. Mai 2024

Dienstag, 07. Mai 2024

Mittwoch, 08. Mai 2024

Donnerstag, 09. Mai 2024

Freitag, 10. Mai 2024

Samstag, 11. Mai 2024

Sonntag, 12. Mai 2024, und folgende Tage

Dienstag, 28. Mai 2024

Tage im Juni/Juli 2024

Mittwoch, 31. Juli 2024

09. September 2024

Mittwoch, 11. September 2024

Anmerkungen des Autors

Schaafswinter

Schaafssturm

Schaafshammer

Schaafsgold und der ungelesene Autor

Schaafsinsel

Schaafshunde

Schaafsfrauen

Schaafssteine

Schaafsherbst

Teil I

Schaafskind

Ein Freitag im Mai 2022

Provinz Taza/Fès (Marokko)

Meryem

Meryem war dreiundzwanzig Jahre alt, als sie mit ihrer siebenjährigen Tochter die Flucht ergriff.

Der Platz zwischen den gepressten Ballen aus Schafswolle war eng. Der Fahrer des Lastwagens, der die Ballen im Lager abgeholt hatte, raste rücksichtlos über die unbefestigte Schotterpiste. Meryem Abdehabi kauerte mit ihrer kleinen Tochter Dahbia auf dem Boden der Ladefläche in einer Art Höhle, die der Fahrer bei der Verladung der Ballen extra für sie freigelassen hatte. Freilich nur gegen entsprechende Bezahlung.

Auf drei Seiten war sie von Rohwolle eingezwängt, maximal schulterbreit, und über ihrem Kopf türmten sich Tonnen davon. Sicht nach draußen bekam sie nur über die rückwärtige Klappe der Ladefläche, hinter der sich der Weg und die verstreut am Rande stehenden Häuser in schwindelerregendem Tempo entfernten. Wenn die Räder über eine Unebenheit donnerten, schlugen die Hinterradachsen mit einem Knall auf den Fahrzeugrahmen durch und stauchten Meryems Rückgrat bis in den Nacken. Das Mädchen schmiegte sich zitternd an ihren angespannten Körper.

Meryem ertrug die Erschütterungen mit stoischer Ruhe. Sie kannte sich in der Gegend bestens aus und wusste, dass der Lastwagen bald die asphaltierte Straße erreichen würde. Die Straße, die sie und ihre Tochter fortbringen würde. Fort von diesem Ort, aus diesem Tal, aber hauptsächlich fort von diesem Leben und weg von ihrem Mann.

Auf einmal bremste der Fahrer so hart, dass der Laster samt Ladung bedenklich schwankte. Meryem hielt das Mädchen fest umklammert. Es folgte ein hässliches metallisches Geräusch, als der Fahrer brutal in einen tieferen Gang schaltete. Ein abrupter Ruck, und der Lastwagen nahm wieder an Fahrt auf. Ein Blick nach hinten besagte ihr, dass sie sich nun auf der gut ausgebauten Straße bei Taza befanden, der nächst gelegenen größeren Stadt der Gegend. Nach ungefähr einer halben Stunde sah Meryem die Stadtsilhouette nur noch als immer kleiner werdendes Bild verschwinden.

Nur hundertzwanzig Kilometer bis nach Fès, dachte sie. Hundertzwanzig. So weit bin ich noch nie von zu Hause weg gewesen.

In das Profil eines der Reifen musste sich ein Stein gequetscht haben, denn bei jeder Radumdrehung klackte es auf dem Asphalt, als würde jemand rhythmisch die Hände klatschen. Meryem konnte jetzt hören, ob der Laster langsamer wurde oder schneller fuhr. Klack – klack – klack.

Es hatte etwas Beruhigendes, dem Klack – klack zu lauschen. Jede Radumdrehung brachte sie ein Stück weiter weg, und je länger es dauerte, desto besser.

Dahbia an ihrer Brust bewegte sich unruhig. „Essaie de dormir, ma petite. Tout va bien se passer.“ (Versuch´ zu schlafen, meine Kleine. Alles wird gut.) Sie dachte an die Schläge, die sie dafür bekommen hatte, wenn sie mit Dahbia Französisch anstatt des Berberdialekts sprach und dabei erwischt worden war.

Meryem drückte den Oberkörper stärker gegen den Wollballen in ihrem Rücken. Sie ärgerte sich, dass sie nicht wenigstens an einen Jutesack oder etwas ähnliches als Sitzunterlage gedacht hatte. So hockte sie auf dem blanken Stahlblech der LKW-Pritsche und spürte, wie allmählich die Kälte in ihr hoch kroch. Aber sie hatte keine Zeit zu verlieren gehabt. Plötzlich hatte alles schnell gehen müssen, und in ihr keimte der Verdacht, dass sie schlecht vorbereitet gewesen war. Aber wie hätte sie wissen können, dass ausgerechnet heute der Tag der Entscheidung sein würde?

Sie trug nur das Wichtigste bei sich. Das Bündel, bestehend aus einem zusammengeknoteten Bettbezug, lag unter den angewinkelten Knien. Es enthielt Wechselwäsche für Mutter und Tochter, Seife, Zahnbürsten, Kamm, ein Handtuch, den Ausweis mit eingetragenem Kind, eine Kleinigkeit zu essen sowie eine Flasche Wasser. Ach ja, und das Geld natürlich. Sein Geld.

Als sie an ihn dachte, überfiel sie eine aufwallende Panik. Das Blut sackte in den Bauch und ihr wurde schwindelig. Und es wurde ihr klar, dass es kein Zurück mehr geben konnte, selbst wenn sie jetzt vom Lastwagen springen und nach Hause gehen würde. Er würde sie totschlagen.

Zudem erübrigte die hohe Geschwindigkeit des Lasters jeden weiteren Gedanken an eine Umkehr. Meryems Herz klopfte hoch im Hals. Sie mochte es kaum glauben, dass sie unterwegs war.

Er wird nach mir suchen, dachte sie. Aber nicht, weil ich seine Frau bin, sondern wegen des Geldes.

Jetzt, da sie die Entscheidung wahrgemacht hatte, tauchten Bilder vor ihren Augen auf, die sie in Wirklichkeit nie mehr wiedersehen durfte. Bilder der Heimat. Des wunderschönen Hochtals im Atlas-Gebirge. Bilder des Dorfes und Bilder ihrer Schafs- und Ziegenherden. Doch so schön es auch für die Augen gewesen sein mochte – für das Leben war es die Hölle. Mit der Erinnerung daran schmolz die aufsteigende Wehmut wie im Sommer der Schnee auf den Bergen.

Der Gedanke an die Flucht nagte schon lange in ihr. Im Prinzip ab dem zweiten Mal, als er sie geschlagen hatte. Beim ersten Mal hatte sie noch an einen Ausrutscher geglaubt. An ein Versehen. Doch die Schläge hatten sich wiederholt, und zu den Schlägen mit den bloßen Fäusten waren regelmäßige Prügel mit einem Stock gekommen. So waren die Saatkörnchen zu einem Keimling aufgegangen, und jeder seiner Wutausbrüche hatte, ohne dass er sich dessen gewahr wurde, das Pflänzchen genährt. Allerdings war sie zu verunsichert und zu ängstlich gewesen, um je einen fertigen Plan entwickelt zu haben, sodass sie an eine Umsetzung fast nicht mehr geglaubt hatte. Nur fort, fort, fort. Von diesem Wunsch war sie beseelt gewesen.

Es hatte nie ein Wann gegeben, denn Wann war immer. Jede Stunde und jeden Tag. Und auch nicht ein Wohin. Einfach nur irgendwohin, denn jeder andere Ort musste besser sein als der bei ihm. Aber das Wie hatte das große Hindernis dargestellt. Sie besaß kein eigenes Geld, und jenes, das er ihr zum Einkaufen gab, musste sie auf jeden einzelnen Dirham bei ihm abrechnen. Autofahren konnte sie nicht. Also wie?

Und dann war heute gänzlich unerwartet ein Fenster aufgegangen, und blitzartig, während eines einzigen Herzschlags, hatte sie die Möglichkeit erkannt und die Gelegenheit beim Schopf ergriffen.

Normalerweise zählte Bahir Fouhami, wie ihr Mann hieß, es zu seinen ureigenen Aufgaben, die Verladung der Winterwolle zu kontrollieren. Der Firmen-LKW der Genossenschaft aus der Stadt sammelte, beginnend am zuhinterst gelegenen Hof des Tales, die Wollballen ein. Bahirs Wolle wurde traditionsgemäß zuletzt aufgeladen. Obwohl sich der Fahrer und Bahir seit Jahren kannten, war das Verladegeschäft ein sich jährlich wiederholender Akt des Misstrauens. Doch es gehörte ebenfalls zur Tradition, dieses Misstrauen nach einem scheinbar vorgegebenen Drehbuch abzuspulen und zu pflegen.

Die Rolle des Fahrers war, die Qualität der Wolle madig zu machen, um den Preis zu drücken, und die des Schafbauern anhand von entnommenen Stichproben und mit gespielter Entrüstung das Gegenteil zu beweisen. Handeln und Feilschen waren seit jeher reine Männersachen.

Heute jedoch hatte er unvorhergesehenerweise einen Termin wahrnehmen müssen, für den, wie abgesprochen, eigentlich sein Bruder Farid zuständig gewesen wäre. Doch ein lästiger Unfall Farids hatte die Planung übereinandergeworfen.

Es ging um eine abendliche Konferenz von Vertretern der verschiedenen Berberstämme Marokkos in Beni Mellal, einer am westlichen Rand des Mittleren Atlas gelegenen Stadt. Wichtigster Tagespunkt: Gleichberechtigung der Berberdialekte mit den Amtssprachen Arabisch und Französisch, sowie das Begehren, die Berbersprache als Unterrichtsfach in den Schulen der Berbergebiete einzuführen. Wobei gerade der letztgenannte Punkt voller Schwierigkeiten steckte und nicht einfach zu lösen war, denn es existierte gar keine einheitliche Berbersprache. Die Dialekte waren von Stamm zu Stamm verschieden und teilweise so gravierend, dass nicht mal eine Verständigung untereinander möglich war. Außerdem war man sich bislang nie darüber einig geworden, wie die Kosten für die Schulbücher in unterschiedlichen Dialekten verteilt werden sollten.

Bahir hatte geschäumt vor Wut über Farid, diesen Idioten. Musste sich der ausgerechnet gestern das Bein brechen? Aber Bruder war Bruder, und Termin war Termin, und so kam Meryem so kurzfristig wie überraschend dazu, die Verladung der Wolle zu übernehmen.

„Aber pass auf, dass richtig gezählt wird und die Qualität stimmt. Sonst bescheißt er dich, und dann gnade dir Gott.“

Da war sie, die Chance.

Sobald er nachmittags aus dem Haus und fortgefahren war, hatte sie im Bruchteil einer Sekunde erkannt, dass sie wahrscheinlich nie wieder eine günstigere Konstellation der Dinge vorfinden würde als die augenblickliche, und handelte umgehend und in fiebriger Eile. Zum einen wartete der Lastwagen vor der Tür, und somit ihr Fluchtfahrzeug. Zum anderen erhielt sie unvermittelt Zugriff auf die andere wichtige und unverzichtbare Komponente: das Geld. Denn ohne finanzielle Mittel konnte sie eine Flucht vergessen. Das Geld, das Bahir in einer Kassette aufbewahrte und das er wie seinen Augapfel hütete.

Den Schlüssel zur Kassette trug er üblicherweise ständig in der Jackentasche bei sich. Nur hatte er diesmal für die Fahrt zur Konferenz eine andere Jacke angezogen. Die Jacke mit dem Schlüssel hing also am Kleiderhaken, und Meryems Griff in die Jackentasche bedeutete für sie auch, den Schlüssel zur Freiheit zu ergreifen. Behände und ohne mit der Wimper zu zucken hatte sie die Kassette geleert.

Den Rest hatte sie mit fliegendem Atem erledigt. Bettüberzug, Kleider, Zwieback und Käse, Ausweis. Das Allernötigste eben. Sie hatte das Kind an die Hand genommen, den Fahrer mit vierhundert Dirham bestochen, die Wolle aufgeladen und war in die konstruierte Höhle gekrochen.

Die Wolle wurde ins Industriegebiet der großen Provinzhauptstadt Fès gekarrt, wo sie sortiert, verarbeitet oder weiterverkauft wurde. Fès.

Als die Sonne unterging, leuchteten die Berge ihrer Heimat wie Halden feuerglühender Kohleschlacke oder wie von Lavaströmen überzogene Vulkane. Beides hatte Meryem aus der neuen und ungewohnten Perspektive noch nie gesehen.

Meryem erwachte aus einem Dämmerschlaf, als mit lautem Krachen die Pritschenwand zu ihren Füßen geöffnet wurde und nach unten gegen das Rahmengestell klappte.

„Station terminale!", blaffte der Fahrer, eine Zigarette im Mundwinkel. „Sortez d´ici!“ (Endstation! Raus hier!)

Dahbia rieb sich verschlafen die Augen. „Qu´est-ce que c´est, Maman?“ (Was ist, Maman?)

„Nous devons descendre.“ (Wir müssen aussteigen.)

„Où sommes-nous? Il fait nuit.“ (Wo sind wir? Es ist Nacht.)

„Keine Angst, mein Schatz, ich bin bei dir.“ Meryem sprang von der Ladefläche und half ihrer Tochter herunter. Dann schwang sie ihre Habseligkeiten auf eine Schulter und schaute sich um. Der Fahrer des LKW schlurfte durch ein offenstehendes Schiebetor in eine Halle, in der riesige Mengen von Schafswolle bewegt und sortiert wurden. Meryem folgte ihm. Einige Männer in blauen Arbeitskleidern liefen umher. Meryem sprach den Erstbesten an. „Wie komme ich in die Stadt? Zu einem Hotel? Zu einem Logis?“

Der Mann fasste sie am Ellbogen, lenkte sie so vor die Halle und deutete mit langem Arm in die Richtung, über der eine helle Lichtkuppel die Sterne am Himmel verschluckte. „Immer da lang“, sagte er. „Da findest du alles.“

Meryem bedankte sich, nahm das Mädchen an der Hand, ihren Beutel unter den Arm und strebte den unzähligen Lichtern zu, zwischen denen die beiden alsbald wie die Sterne am Himmel verschwanden.

*

Farid.

Dass es ausgerechnet ihm hatte passieren müssen. Der er schon seit Jahren und bei jedem Wetter mit den Schafen von Weide zu Weide zog. War in ein verdecktes Loch getreten, zur Seite gestürzt – knack, Bein kaputt. Komplizierter Bruch. Ein dummer Unfall. Und das einen Tag vor der wichtigen Konferenz in Beni Mellal.

Er wäre gern dabei gewesen. So aber hatte sein Bruder für ihn einspringen müssen. Der Bruder, der ihn einen Idioten nannte.

Als er nach ein paar Tagen mit eingegipstem Bein aus dem Krankenhaus wieder nach Hause kam, war sie nicht mehr da. Abgehauen, wie der Bruder tobte, mit all dem Geld.

Und das Mädchen?

Abgehauen! Und du bist schuld, du erbärmlicher Idiot! Musst du dir auch den Haxen brechen!

Sein Herz hatte ihr von Anfang an gehört. Seit er ihr zum ersten Mal begegnet war. Eines Tages war sie plötzlich da gewesen. Ein junges Ding, kaum eine Frau, aber er hatte auf den ersten Blick gesehen, dass sie ein Kind erwartete. Als Schäfer hatte man ein Auge für sowas.

Er hatte nicht gewusst, dass sein älterer Bruder auf Freiersfüßen unterwegs gewesen war. Wie auch, denn Bahir redete ja kaum mit ihm. Hätten sie die Schafe nicht gehabt, würde eisiges Schweigen geherrscht haben. So war er, als er eines Tages von den entfernten Schafsherden zurückkehrte, praktisch vor vollendete Tatsachen gestellt worden.

Sie wohnt ab jetzt hier. Ihr Name ist Meryem.

Und somit war sie für ihn unantastbares Gut gewesen, denn sie war die Frau seines Bruders.

Seit sie im Haus war, hatte er die oft tagelangen Besuche bei den Schafherden in den Tälern und auf den Hängen des Mittleren-Atlas-Gebirges reduziert und dafür den angestellten Schäfern mehr Verantwortung für die Tiere übertragen. Freilich musste er nach wie vor draußen auf den Weiden nach dem Rechten sehen, doch er verbrachte jetzt etwas mehr Zeit auf dem Hof, in den Ställen und Scheunen, und jeder Gang, der ihn entweder am Küchenfenster vorbei oder gar direkt in die Küche führte, war ihm willkommen.

Sie war freundlich zu ihm, mehr ließ sie aber nicht erkennen. War sein Bruder, also ihr Ehemann in der Nähe, dann war es auch mit der Freundlichkeit vorbei. Er hatte sich gefragt, wie ein so nettes Mädchen einen so garstigen Mann, wie sein Bruder einer war, lieben konnte.

Farid hatte sich schon lange damit abgefunden, dass sich für ihn keine Frau interessieren konnte. Es lag an den unkontrollierbaren Zuckungen seiner Gesichtsmuskeln. Und da er gerne sang und mit sich selbst redete, hielten ihn die meisten Leute für verrückt. Aber das war er nicht. Er war nur nicht so, wie die anderen dachten, dass man sein müsse.

Doch auch er hatte Träume und Gefühle, und er war sicher, dass er Meryem an einem einzigen Tag mehr liebte als sein Bruder es über sieben Jahre tat.

Und jetzt war sie weg. Der Sonnenstrahl, der sein einsames Herz erwärmte. Abgehauen.

Das hat er jetzt davon, mein Herr Bruder, dachte Farid.

Montag, 25. März 2024

Gengenbach

Wenn man hunderte Male, tausende Male, dieselbe Treppe hinaufgegangen war und genauso oft die obenliegende Glastür aufgeschlossen hatte, dann fiel einem, falls man im Laufe der Jahre nicht in der Routine dieses Vorgangs erblindete, wahrscheinlich der kleinste Fliegendreck an der Scheibe auf. Oder eben nicht.

Melanie fiel er auf. Zwar kein Fliegendreck, doch jene unscheinbare, fast unsichtbare Spur, die ein Klebstreifen auf Glas hinterlässt, wenn er, einmal angebracht, entweder wieder abgenommen worden oder abgefallen war.

Die Eingangstür zu ihrem Geschäft Aquarelle und Poesie in Gengenbachs Altstadt gehörte, neben dem Schaufenster, sozusagen zu Melanies Visitenkarte. Gepflegt und einladend. Sie selbst und ihre treue Vertreterin Frau Holzer, achteten mit Argusaugen darauf, dass die Glasscheiben stets blitzblank und streifenfrei waren. Darum hielten sie die Scheiben auch selber sauber, anstatt eine Firma mit der Reinigung zu beauftragen.

Melanies Überlegung galt nicht der Frage, wie sie die winzigen Spuren, drei hauchfeine Linien in Form eines nach unten offenen Rechtecks, entfernen konnte – da genügte ein Schuss Spiritus in einem bisschen klaren Wasser – sondern was hier angeklebt worden sein mochte. Eine Nachricht an sie? An Frau Holzer? Wenn ja, von wem? Oder irgendeine Reklame? Sie mochte es nicht, wenn man die Fassade ihres Ladens als Werbefläche missbrauchte. Obwohl, das war eigentlich so gut wie noch nie vorgekommen.

Sie drehte sich, noch immer vor der Ladentür stehend, zur Straße hin um. Es war ein regnerischer und windiger Frühlingstag, und die Straße einschließlich des Rathausplatzes menschenleer. Bereits in Begriff aufzuschließen, entdeckte sie das Papier am Fuße der Wand des Nachbargebäudes, vom Wind gegen die Mauer gepresst. Rechteckig, etwa DIN-A4-Größe.

Melanie stieg die Treppe wieder hinunter, überquerte die Gasse und bückte sich nach dem Papier. Eine Zeitung. Vielmehr eine als Verpackung verwendete Zeitungsseite, an den Ecken mit Klebstreifen zugehalten und mit einem abstehenden Klebstreifen in der Mitte des Randes.

Sie schaute sich um. Doch da war niemand, der sie heimlich beobachtete.

Mit dem seltsamen Umschlag betrat sie das Aquarelle und Poesie. Rasch den Regenmantel und die Handtasche zur Seite gelegt, öffnete sie die Zeitung vorsichtig. Mit Fingerspitzen zog sie ein Blatt Papier hervor. Eine Zeichnung. Eindeutig von Kinderhand gefertigt. Aber es war mehr als das. Melanie spürte sofort, dass der Begriff Zeichnung viel zu profan für das war, was sie in den Händen hielt. Es war ein opulentes Gemälde, ohne erkennbaren Rand oder unbemalte weiße Stellen. Melanie betrachtete es fasziniert. Sie entdeckte leuchtende Orchideen; bunte Kolibris; langschnäblige Tukane; rote und gelbe Blütensterne; eine gemusterte Boa Constrictor, die sich um einen Ast wand; Lianen und grüne Blätter, die einen schwarz gepunkteten Panther verbargen; Äffchen, die im Wipfel eines Baumes herumtollten. Die Szenerie eines südamerikanischen Dschungels, festgehalten von einem Kind auf Zeichenblockpapier.

Melanie kehrte den Blick nach innen und ließ die Erinnerung daran erwachen, wie sie selbst von der Liebe zur Malerei erfasst worden war. Elf oder zwölf Jahre alt war sie gewesen, und die Leidenschaft dafür hatte sie bis heute nicht wieder losgelassen.

Sie drehte das Bild um. Auf der Rückseite, in eine Ecke gequetscht, stand in Großbuchstaben der Name der Künstlerin: SAIDA.

Die Qualität der Farben, stellte Melanie fest, hinkten den Fähigkeiten der Zeichnerin weit hinterher. Als Fachfrau erkannte sie das sogleich. Es handelte sich um billige Buntstifte, deren Minen vermutlich ständig abbrachen und sich nicht mehr nachspitzen ließen. Dennoch hatte diese Saida das unter diesen Umständen bestmögliche Resultat erzielt.

Saida, dachte Melanie, dürfte kein hiesiger Name sein. Aber er klingt nach einem Mädchen.

So legte sie sich fest, es mit einem Mädchen zu tun zu haben.

Kurz huschte Melanie der Gedanke durch den Kopf, wozu das Mädchen fähig sein würde, wenn ihm gutes Material zur Verfügung stünde. Sie dachte dabei an Aquarellfarbstifte, einen Deckfarbkasten und ein entsprechendes Pinselsortiment. Dann folgte sie einer Blitzeingebung: Sie fand einen passenden Bilderrahmen, steckte das Kunstwerk hinter Glas und stellte es, irgendwie stolz darauf, von der Künstlerin ausgewählt worden zu sein, nach ganz vorne in ihr Schaufenster.

*

Edgar Schaaf, seines Zeichens frischgebackener Bauherr, umschritt die flache Baugrube an der Rückseite des Türmchenhauses. Eine schwarze Baseballkappe mit angenähtem Pferdeschwanz schützte sein Haupt vor dem sanften Regen. Melanie hatte sie ihm im vergangenen Jahr geschenkt, um ihn über den Verlust seiner langen Haare hinwegzutrösten.

Im September 2023 wegen einer Hirnblutung notwendigerweise kahlrasiert, war das Haar mittlerweile wieder sechs bis sieben Zentimeter gewachsen. Ein ansehnlicher Schopf, ohne Zweifel, doch für einen Pferdeschwanz immer noch zu kurz.

Die Zwillingsbrüder Güdüler gossen gerade die stahlarmierte Plattform, auf der künftig die neuen Räume, Badezimmer und der Wintergarten, stehen sollten, mit Fertigbeton aus. Während der eine mit einem dicken Schlauch den flüssigen Beton zwischen die Gitterstäbe versenkte, verdichtete der andere mit einem elektrischen Beton-Vibrator den Baustoff zu einer kompakten Masse. Wie Gedärm ragten die Sanitärrohre für die späteren Abwässer über die Stahlmatten hinaus. Die Leerrohre zur Aufnahme elektrischer Leitungen wiegten sich wie Schilfstängel sacht im leichten Wind. Der Lärm der Beton-Pumpe am Lastwagen und des Rüttlers war infernalisch. Die Erschütterungen des Bodens ließen das Regenwasser in den Pfützen erzittern.

Am achtzehnten März, vor genau einer Woche und just an Edgars einundsiebzigstem Geburtstag, hatten die Gebrüder Güdüler mit dem Aushub der Baugrube begonnen. Bis zum Wochenende waren die Stahlmatten verlegt und die Versorgungsleitungen an die bestehenden Systeme angeschlossen, beziehungsweise vorbereitet. Heute also wurde das Fundament zementiert. Edgar war stolz wie Bolle.

Neben der Remise, in der Edgars Harley Davidson den Winterschlaf gehalten hatte, lagerte unter Abdeckplanen bereits das Bauholz, auf Maß zugeschnitten und durchnummeriert vom ersten bis zum letzten Balken. Ein Baukastensystem gewissermaßen, und sozusagen idiotensicher. Die Gebrüder Güdüler hatten schon Erfahrungen damit gesammelt und schworen alle Eide auf die Qualität.

Unter einer weiteren Plane lagen die Wärmedämmplatten; feuerfestes biologisches Isoliermaterial, das in den Hohlräumen zwischen den äußeren und inneren Balkenwänden in Sandwich-Bauweise angebracht wurde. Es wäre auch ohne Dämmung gegangen, vor allen Dingen schneller und billiger, doch Edgar hatte sich von der komfortableren Lösung überzeugen lassen. Wenn schon, denn schon.

Es ging ihm gut. Durch den Streifschuss aus Balko Schirlings Pistole würde eine Narbe an Edgars Stirn zurückbleiben. Ein Kratzer an der Verpackung, wie er sagte. Die Qualität des Inhalts sah er keinesfalls beeinträchtigt und lehnte eine eventuelle kosmetische Operation kategorisch ab. Was den Inhalt betraf, so hatten sich im Laufe der vergangenen Wochen und Monate die Schatten der Angst vor dem Verlust seines Gedächtnisses zurückgezogen. Was nicht hieß, dass die Angst vollständig verschwunden war. Doch hielt er sie durch kontinuierliche Trainingseinheiten und Erinnerungsleistungen seines Gehirns in Schach und kam sich dabei vor wie ein Dompteur bei der Dressur seiner Raubtiere. Er verschonte auch die vier Frauen im Türmchenhaus nicht mit seinem Eifer, allen voran Melanie. „Frag´ mich was“, verlangte er des Öfteren, nur um daraufhin mit einer Antwort glänzen zu können.

Im Winter waren Melanie und er, zusammen mit ihren Freunden Eliza Wohlbrecht und Pit Ferman, auf die Ostseeinsel Kritaholm gefahren. Drei Wochen in derselben Ferienwohnung, die sie schon einmal vor einem Jahr von der jungen Kommissarin Birke Klang gemietet hatten. Drei Wochen Ruhe. Jeden Tag eine Wanderung; vorzügliches Essen; abends lange gute Gespräche. Edgar hatte kein einziges Mal mehr über Kopfschmerzen geklagt. Gerti, Rita und Janna hatten sich daheim um das Haus und die Hunde gekümmert. Also Erholung pur.

In Edgars Hosentasche vibrierte das Handy. Melanie rief an.

„Melanie?“

„Ja, mein Edgar, ich bin´s. Hast du gerade Zeit?“

Der Baustellenlärm übertönte ihre Stimme. „Moment, ich versteh´ dich so schlecht. Warte bitte, ich geh´ ein Stück ums Haus herum.“ In Altherrenmanier joggte er aus dem hinteren Teil des Gartens bis zur Haustreppe und meldete sich wieder. „Ja, Melanie, was gibt´s?“

„Hoppla, bist du gerannt? Du bist etwas außer Atem.“

„Für dich würde ich sogar fliegen, mein Engel“, behauptete er.

„Gut zu wissen. Hast du gerade Zeit? Ich will dir etwas zeigen“, sagte sie. „Ziemlich laut bei dir“, fügte sie an.

„Ist bald vorbei, der Krach. Was Neues bei dir im Geschäft?“

„Ja, sehr interessant. Kommst du?“

Knappe zehn Minuten später sprang er die Treppe zum Aquarelle und Poesie hinauf und betrat den Laden. Aktuell befanden sich keine Kunden im Verkaufsraum. Melanie winkte ihm aus dem Hinterzimmer zu. „Hier, Edgar. Komm rein und schau dir das an.“

Sie stand am Schreibtisch und wies auf das Dschungelmotiv, das sie am Morgen auf der Gasse vorgefunden und zu Edgars Beschau wieder aus dem Schaufenster geholt hatte. „Was meinst du dazu?“

Edgar nahm den Rahmen in die Hand und betrachtete das Bild. Es zauberte ein Lächeln in sein Gesicht.

Melanie, die seine Mimik beobachtet hatte, sagte: „Genau so ist es mir auch ergangen, Edgar. Es hat mich fröhlich gestimmt.“

Er nahm das Gemälde in beide Hände und hielt es mal näher an die Augen, mal weiter weg. „Es ist im wahrsten Sinne des Wortes ausgezeichnet“, murmelte er. „Wunderbar, diese Tiefe und die Details. Woher hast du es?“

Melanie erzählte, wie sie das Bild entdeckt hatte. „Ich hatte es umgehend ins Schaufenster gestellt, und dort kommt es nachher gleich wieder hin. Edgar, das hat ein Kind gemalt. Ein Kind, verstehst du?“

„Ja, ich verstehe, mein Engel. Es muss unglaublich talentiert sein. Hast du einen Namen?“

Melanie nickte. „SAIDA steht auf der Rückseite, ohne weitere Angaben. Ich nehme an, es handelt sich um ein Mädchen.“

Edgar legte das Bild zurück. „Ich nehme an, das ist das erste Bild, das du sozusagen gefunden hast?“

Melanie bestätigte es. „Gefunden ist wohl nicht der richtige Ausdruck. Es muss an die Tür geheftet worden sein. Also gezielt angebracht, damit ich es finden musste.“

„Fragt sich, mit welcher Absicht?“

„Nun, dass ich mit Aquarellen handle, ist ja wohl offensichtlich. Vielleicht hat ein begabtes Kinderherz den Mut gefasst, auf sich aufmerksam zu machen?“

„Möglich, ja“, antwortete Edgar. „Hast du die Zeitung noch, in der das Bild verpackt gewesen war?“

Melanie bückte sich nach dem Papierkorb. „Ja, natürlich“, sagte sie und legte die Zeitung auf den Schreibtisch.

„Das ist eine französische Zeitung“, stellte Edgar mit einem Blick fest.

„Oh, siehst du, das war mir gar nicht aufgefallen, aber du hast recht“, gab Melanie zu.

Edgar suchte die obere Randzeile ab. „Februar 2022. Zwei Jahre alt. Wer bewahrt eine so alte Zeitung auf?“

„Na, du zum Beispiel“, erwiderte Melanie und stupste ihn mit dem Zeigefinger in die Rippen. „Siehst du, woher sie kommt oder wie sie heißt?“

„Hm, Tanger le Jour. Das ist Marokko. Wie kommt eine marokkanische Zeitung nach Gengenbach?“, fragte er rhetorisch.

„Das Kind, Saida – vielleicht ist es ein marokkanischer Name?“, schlug Melanie vor.

„Du meinst, eine marokkanische Familie wohnt hier und hat als Erinnerung an die Heimat Zeitungen aufgehoben?“

„Kann doch sein, oder? Denk´ nur an die vielen Flüchtlinge“, sagte Melanie.

Edgar brummte eine Art von Bestätigung. „Ich nehm´ die Zeitung mal mit nach Hause“, entschied er und faltete die Seite auf Briefkuvertgröße. „Wenn du das Bild wieder ins Schaufenster stellst, dann häng´ ein Schild dran: unverkäuflich. Danke, dass du es mir gezeigt hast. Ein Lichtstrahl an diesem regnerischen Tag.“ Er gab ihr einen Kuss auf den Mund und verließ das Geschäft.

Er erreichte das Türmchenhaus, als gerade der leere Betonmischer-LKW abfuhr und der nächste Fahrmischer die Betonpumpe anwarf.

Ahmet, einer der Zwillingsbrüder, winkte ihn zu sich. „Diese Fuhre noch, Chef, dann ist fertig“, sagte er.

Edgar nickte. „Okay, und wie geht´s dann weiter? Ich denke, der Beton muss ein paar Tage trocknen.“

Ahmet grinste und wackelte mit dem Zeigefinger vor Edgars Nase. „Nicht trocknen, Chef. Aushärten. Braucht vier Wochen.“

„Was?“, entfuhr es Edgar. „Vier Wochen? Dann ist ja Mitte April.“

„Wenn du nicht glaubst, frag´ Mehmet. Vier Wochen Faustregel. Vorher darfst du nicht draufstehen. Ist so. Aber danach geht alles schnell, wirst sehen. Im Mai alles fertig.“ Ahmet klatschte ihm strahlend die Hand an den Oberarm.

Ein Freitag im Juni 2022

Fes/Tanger (Marokko)

Meryem

„Est-ce la mer, Maman?“ (Ist das das Meer, Maman?)

Dahbia stand an der Hand der Mutter neben der breiten Avenue Mohammed VI und zeigte mit ausgestrecktem Arm über den Strand. „C´est énorme.“ (Es ist riesig.)

„Oui, c´est ça, la mer, Dahbia“ (Ja, das ist es, das Meer, Dahbia), antwortete Meryem. „Tu aimes une glace aux fruits?“ (Magst du ein Fruchteis?)

„Plus tard. D´abord je veux aller à l´eau.“ (Später. Zuerst möchte ich zum Wasser.)

„D´accord. Bonne idée. Allons-y. La première qui es au bord de l´eau a gagné.“ (Einverstanden. Gute Idee. Gehen wir. Wer zuerst am Wasser ist, hat gewonnen.)

Meryem ließ Dahbia natürlich gewinnen. Und als sie kurz darauf mit gerafften Kleidern bis zu den Knien im Wasser standen und sich gegenseitig nass spritzten, flog zum ersten Mal seit Langem wieder fröhliches Lachen über ihre Lippen. Meryem konnte sich nicht daran erinnern, wann und ob sie jemals so ausgelassen gewesen waren.

In einer Verschnaufpause sagte Meryem: „Attends, Dahbia, attends.“ (Warte, Dahbia, warte.) Sie lenkte die Augen zu jenem fernen Punkt, wo das Meer und der Himmel miteinander verschmolzen. Die Richtung, in die sie schaute, stimmte. Doch die Erdkrümmung ließ das europäische Festland hinter dem Horizont verschwinden.

Spanien, dachte Meryem. Dort wollte sie hin.

Noch allerdings befanden sie sich in Tanger, der Millionenstadt an der Straße von Gibraltar. Ihr ersehntes Sprungbrett in eine bessere Welt. Gestern erst waren sie hier angekommen.

*

In Fès war es nicht mal besonders schwierig gewesen, eine Arbeit zu finden. Meryems ursprünglicher Plan hatte so ausgesehen, dass, falls ihr die Flucht aus der Heimat gelänge, sie mit dem Mädchen in Fès bleiben wollte.

Fès ist eine große Stadt, hatte sie gedacht. Eine Million Einwohner schienen ihr Menschen genug, um in der Menge untertauchen und anonym bleiben zu können. Eine Arbeit, eine kleine Wohnung – mehr Ansprüche wollte sie vorerst nicht stellen. Nur selbstbestimmt wollte sie sein. Und sicher.

Gegen einen Aufpreis, den der schmierige Portier vermutlich in die eigene Tasche wandern ließ, hatte sie für drei Nächte, von Freitag bis Montag, ein schäbiges Zimmer in einem heruntergekommenen Hotel gebucht. Zwei Tage wollte sie sich und Dahbia Ruhe gönnen. Zwei Tage, an denen nichts wichtiger war als unbeschwert und frei zu sein. Erst am Montag hatte sie vorgehabt, in der Stadt nach einer Arbeit zu suchen.

Die erste Nacht im Hotel. Meryem hatte noch nie in einem Hotel übernachtet, weswegen ihr jegliche Vergleichsmöglichkeiten bezüglich Qualität, Sauberkeit und Preis-Leistungsverhältnis fehlten. So war sie zufrieden, ein breites Bett, einen Schrank sowie einen Tisch mit Stühlen vorzufinden, und natürlich ein Badezimmer mit Dusche.

Da die Nacht bei ihrem Check-in schon begonnen hatte, kuschelte sie sich mit Dahbia sogleich aufs Bett. Minuten später war Dahbia bereits eingeschlafen. Meryem selbst fand keinen Schlaf. Ihr Herz klopfte wie wild. War tatsächlich sie es, die den Mut aufgebracht hatte, diesen Schritt zu wagen? Sie atmete tief. Auch wenn die Luft im Zimmer muffig und abgestanden roch, war es für sie der Duft der Freiheit. Ihre Gedanken spielten verrückt, fuhren Karussell, eines jener waghalsigen Dinger, die einen schwindeln ließen und zum Schreien brachten. Aber sie schrie nicht, sondern schloss die Augen. Hinter den Lidern fand ein farbenprächtiges Spektakel statt, als wäre der Sehnerv ein Kaleidoskop. Explosionen von bunten grellen Lichtern, als wäre sie auf einem Trip mit irgendeiner Droge, ohne freilich je damit in Berührung gekommen zu sein.

Diese erste Nacht in Freiheit – ohne Angst, ohne Qual und Schmerz, und fern von der Sorge um das, was morgen sein würde – die wollte sie bewusst erleben. Und sollte ihre Flucht aus irgendeinem Grund doch nicht gelingen, so würde diese eine Nacht in ihren persönlichen Besitz übergehen und sie stolz daran erinnern, sie gehabt zu haben.

Meryem schlief keine Minute, und als der Morgen graute, war sie nicht eine Spur müde. In ihrer Bauchkuhle schlummerte friedlich Dahbia. „Viel Glück, meine Kleine“, flüsterte Meryem und strich dem Kind zärtlich übers Haar.

*

Sie hatte geglaubt, Glück zu haben, als schon ihre erste Anfrage mit Erfolg beschieden worden war. In einer Lederfärberei im Gerberviertel unter freiem Himmel sollte sie die gefärbten Häute zum Trocknen über Gestelle hängen.

Dahbia, die in der fremden Stadt selbstverständlich nicht allein bleiben konnte, verbrachte die Zeit, in der Meryem arbeitete, am Rande der Färberei unter einem Sonnendach und malte mit Bleistift in einem dünnen Heft.

Die erste und die folgende Nacht schliefen sie mit Erlaubnis des Arbeitgebers in einem in der Nähe befindlichen Schuppen auf Rohlederhäuten. Es gab nur einen einzigen Wasserhahn, an dem sich alle Arbeiter die Farben und Chemikalien abwuschen, und hinter dem Schuppen ein Plumpsklo.

Zwei Tage hielt Meryem die Knochenarbeit durch. Dann konnte sie nicht mehr. Der Gestank aus den Gerb- und Farbbottichen war unerträglich. Die farbtriefenden Häute waren schwer, und außerdem brannten deren Ausdünstungen in den Augen.

Und wieder hatte sie Glück. In Sichtweite der Färberei war eine Gebäudereinigungsfirma niedergelassen. Meryem konnte bereits am nächsten Tag, einem Mittwoch, mit der Arbeit beginnen und bekam gegen eine geringen Lohnabschlag ein Bett, das sie mit Dahbia teilte, in einem Gemeinschaftsraum für Frauen.

Gearbeitet wurde in Gruppen, die morgens entweder zu Fuß, lag der Arbeitsort weiter weg, mit einem Kleinbus, in die festgelegte Straße marschierten oder gefahren wurden. Dahbia durfte ihre Maman zu den Orten begleiten und wartete geduldig, bis Maman und die Gruppe mit der Arbeit fertig waren und zum nächsten Einsatzort liefen oder fuhren.

Diese Arbeit gefiel Meryem sehr viel besser. Sie verdiente zwar nicht viel, aber immerhin reichte es für zwei Essen am Tag und das Bett, und sie brauchte das eigene Geld, das sie unter ihrem Kleid in einem gefalteten Tuch um die Hüfte trug, nicht anzugreifen.

Zwei Wochen war es gut gegangen. Dann, es war ein Donnerstag, Meryem putzte gerade ein Schaufenster in einer belebten Straße, hatte sie sich plötzlich Farid gegenübergesehen. Farid, der komische Bruder ihres Mannes, mit Gips am Bein, auf Krücken. Und vielleicht war Bahir in der Nähe.

Ohne ein Wort hatte sie die Stange mit dem Putzschwamm fallengelassen, war in die nächste Passage zwischen zwei Geschäften gehuscht, wo sie wusste, dass Dahbia dort wartete, hatte deren Hand gepackt und war mit ihr davongerannt. Durch das Gewimmel von Leuten, fort, fort, fort.

„Meryem, warte!“, hatte Farid gerufen. „So warte doch! Lauf doch nicht weg! Ich tu´ dir nichts!“

Aber niemand hatte verstanden, was der brüllende Mann meinte, vielleicht war er ja verrückt, und niemand hielt Meryem und Dahbia auf.

Sie waren schnurstracks zu ihrem Bett geflohen, hatten atemlos ihr dürftiges Bündel geschnappt und waren erst am Busbahnhof wieder stehen geblieben. Tanger, war an einem der Busse angeschrieben gewesen. Tanger.

Tanger liegt Europa am nächsten, hatte Meryem gedacht und Dahbia mit sanftem Druck in den Bus geschoben.

*

Farid.

Das Bein. Das verdammte Bein.

Nach über zwei Wochen Gips sollte man doch eine signifikante Besserung erwarten können. Dass die Schmerzen endlich nachließen. Aber das war nicht der Fall, absolut nicht, und er hegte den Verdacht, dass sie im Krankenhaus in Taza vielleicht gepfuscht hatten. Ach, er ist ja nur ein dummer Schafbauer aus den Bergen. Nagel rein, Schiene dran und Gips drum, fertig.

Er musste ja schließlich wieder richtig arbeiten können. Hundert Prozent, und nicht, wie seit einer Woche, nur die Hälfte. Ja, er wusste, dass er überhaupt nicht hätte arbeiten sollen, nicht arbeiten dürfen, – aber mach´ das mal mit mehreren Schafherden plus einer Ziegenherde und bei einem Bruder, der, seit Meryem mit ihrer Tochter nicht mehr im Haus war, von Tag zu Tag mehr durchdrehte und zunehmend unausstehlich wurde. Mach´ das mal.

Einer seiner zahllosen Bekannten hatte ihm dann den Tipp gegeben: In Fès, hatte er gesagt. Ein Knochenflicker. Dort musst du hin. Aber du musst ihn bar bezahlen.

In Fès also.

Er mochte die großen Städte nicht, egal wie sie hießen. Sie standen als Gegenentwurf zu dem, was er als Traditionalist zu bewahren versuchte: Die ursprüngliche Berberkultur; die Berbersprache; die Architektur; die Ethnien. Zwar hatten neunzig Prozent aller Einwohner des Landes berberische Wurzeln; doch es gab zu viele Einflüsse von außen, die die Gebräuche und Traditionen verwässerten. Vor allem die jüngeren Generationen schienen für eine Aufrechterhaltung des Berbertums verloren zu sein. Von einer Wiederbelebung ganz zu schweigen. Diese Entwicklungen machten Farid traurig.

Mit der Adresse des Knochenflickers und genug Geld in der Tasche fuhr er mit dem Bus in die Millionenstadt. Schon bald nach Abfahrt überließ man ihm wegen seines sonderbaren Gebarens genug Platz, damit er das verletzte Bein ausstrecken konnte. Wer wollte schon neben jemandem sitzen, der ständig Grimassen schnitt und Selbstgespräche führte?

Er war trotz seiner achtunddreißig Jahre erst zweimal in Fès gewesen. Das erste Mal als junger Mann, das zweite Mal vor drei Jahren als Abgesandter seines Stammes zu einer Konferenz. Nun würde es das dritte Mal sein, und er hatte nicht die Absicht, länger, als der Aufenthalt beim Arzt dauerte, dort zu bleiben. Mit dem Gipsbein machte es keinen Sinn, durch die Straßen zu flanieren oder den Souk zu besuchen.

Bahir, sein Bruder, hatte eine Haushaltshilfe engagiert, die sich schon nach wenigen Tagen im Haus einnistete und das Regime übernahm. Karima. Eine freudlose Frau mit stechendem Blick und harter Stimme. Sie war eine Qual für Augen und Ohren, besonders, wenn man sie mit Meryem verglich. Was hatte Bahir bloß dazu bewogen, einen solchen Hungerhaken bestimmen zu lassen, was es zu essen gab?

War sie seinem Bruder anscheinend hündisch ergeben, legte sie gegen Farid eine geradezu freche Hochnäsigkeit an den Tag. Die Abneigung war somit von Herzen gegenseitig, doch damit entwickelte sich das Verhältnis der Kräfteverteilung auf dem Hof zu Farids Ungunsten.

Er stieg an einer Haltestelle zwischen der historischen Altstadt und der sogenannten Neustadt aus und geriet, ehe er sich versah, in die gegeneinander fließenden Mahlströme tausender von Menschen, zwischen denen er als Fremdkörper mit den Krücken die Wirkung eines Wellenbrechers entfaltete. Er wurde angerempelt, geschubst, gestreift, überholt, geschnitten, gedrückt und geschoben. Es half ihm nichts, er musste quer hindurch, und handelte sich durch sein Ungeschick manch erniedrigendes Schimpfwort ein, was ihn wiederum selbst erzürnte. Er blieb mitten im Gewühl stehen, machte sich mit Hilfe der Krücken breit und fluchte gotteslästerlich über die Verrohung der Welt im Allgemeinen und die Rücksichtslosigkeit gegenüber den Schwachen und Behinderten im Besonderen. Mit zuckenden Gesichtsmuskeln erreichte er schließlich die Schaufensterfront, wo er sich wieder zur Ruhe zwang.

Die Praxis des Knochenflickers befand sich zwei Seitenstraßen weiter. Er hangelte sich dicht an den Glasscheiben entlang - Krücke, Fuß, Krücke, Fuß – hatte nur noch die eine Einmündung im Blick, wo er hin musste, als er auf einmal und völlig unerwartet vor iihhrr stand. Meryem.

Und auch sie erkannte ihn. Ihr Arbeitsgerät fiel zu Boden, und dann floh sie von ihm weg, in eine Passage zwischen zwei Geschäften, tauchte mit ihrem Kind an der Hand gleich wieder auf und hastete durch die Menschenmenge davon.

„Meryem, warte!“, rief er ihr hinterher. „So warte doch! Lauf doch nicht weg! Ich tu´ dir nichts!“

Den Versuch, ihr zu folgen, brach er bald ab. Mit den Krücken hatte er keine Chance.

Aber sie lebt, dachte er, und ich schwöre, dass ich sie finden werde, wo immer sie sich aufhalten mag.

Der Besuch beim Orthopäden war das Geld wert. Mit einer verbesserten Schiene und einer leichten stabilen Manschette anstelle des Gipses fuhr er am Nachmittag mit dem Bus nach Hause zurück. Die Begegnung mit Meryem erwähnte er dort jedoch mit keinem Wort.

Montag, 08. April 2024

Gengenbach

Sie sah das Zeitungspapier an der Ladentür schon von Weitem und beschleunigte die Schritte. Die Spannung trieb ihr augenblicklich den Herzschlag in den Hals. Dass es sich erneut um eine französischsprachige Zeitung handelte, registrierte sie eher nebenbei. Der Klebstreifen, stellte sie fest, war diesmal etwas länger als beim ersten Mal. Zudem war es windstill, sodass kein Windhauch den Umschlag, denn nichts anderes konnte die Zeitung sein, bewegte. Fast ehrfürchtig löste sie das Papier von der Scheibe, eilte ins Büro und packte, noch bevor sie die Jacke auszog, die zu erwartende Kostbarkeit aus.

Gleiches Format wie vor zwei Wochen: DIN-A4. Ein völlig anderes Sujet: Eine Unterwasserwelt. Genauer gesagt: Die lebendige Darstellung eines Korallenriffs mit all seinen Bewohnern.

Melanie seufzte. Sie würde eine Enzyklopädie zurate ziehen müssen, wollte sie alle Tiere namentlich benennen. Auf Anhieb erkannte sie den Clownfisch, den Seestern, den Feuerfisch und die Seeanemone. Im tieferen Gewässer paddelte eine Meeresschildkröte und zog ein Hai seine Bahn. Die meisten gemalten Lebewesen waren ihr jedoch fremd.

Die Korallen blühten in allen Farben. Unter einem Geröllhaufen lugte der Deckel einer Schatzkiste hervor. Ein Schiffsanker lag verloren und zur Hälfte verschüttet im Sand. Das flache Wasser über den Korallen war von Sonnenstrahlen durchdrungen.

Melanie fühlte sich wie ein Taucher, dem die Luft knapp wurde. Erregt schaute sie auf die Rückseite. SAIDA, las sie und schmunzelte. Wer sonst?, dachte sie.