Schaafsherbst - Pit Ferman - E-Book

Schaafsherbst E-Book

Pit Ferman

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Beschreibung

Ein Banküberfall in Durlangen entwickelt sich anders, als von den Bankräubern geplant. Doch nicht, zumindest was die Beute betriff, unbedingt zu ihrem Nachteil. Mit einer Geisel gelingt ihnen die Flucht, wobei sie die Verfolger vom SEK und den Ermittler des LKA an der Nase herumführen, und unerkannt entkommen. Der pensionierte Kriminalhauptkommissar Edgar Schaaf wird am gleichen Tag von einer schweren Krankheit betroffen und überlebt nur durch die Soforthilfe seiner Frau Melanie. Nach einer Woche Klinikaufenthalt steht plötzlich die junge Kommissarin Rita Böhringer vor ihm und bittet ihn um Hilfe. Immer noch angeschlagen, steht Edgar vor seiner größten Herausforderung, denn seine Intuitionen muss er mit Schmerzen bezahlen.

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Ein Banküberfall in Durlangen entwickelt sich anders, als von den Bankräubern geplant. Doch nicht, zumindest was die Beute betrifft, unbedingt zu ihrem Nachteil. Mit einer Geisel gelingt ihnen die Flucht, wobei sie die Verfolger vom SEK und den Ermittler des LKA an der Nase herumführen – und unerkannt entkommen.

Der pensionierte Kriminalhauptkommissar Edgar Schaaf wird am gleichen Tag von einer schweren Krankheit betroffen und überlebt nur durch die Soforthilfe seiner Frau Melanie. Nach einer Woche Klinikaufenthalt steht plötzlich die junge Kommissarin Rita Böhringer vor ihm und bittet ihn um Hilfe. Immer noch angeschlagen, steht Edgar vor seiner größten Herausforderung, denn seine Intuitionen muss er mit Schmerzen bezahlen.

Im Namen der Liebe: Für Rita und Ulf.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Teil I

Schaafsherbst

Dienstag, 19. September 2023

Dienstag, 19. September 2023

Dienstag, 19. September 2023

Dienstag, 19. September 2023

Dienstag, 19. September 2023

Dienstag, 19. September 2023

Dienstag, 19. September 2023

Mittwoch, 20. September 2023

Mittwoch, 20. September 2023

Mittwoch, 20. September 2023

Mittwoch, 20. September 2023

Mittwoch, 20. September 2ß23

Mittwoch, 20. September 2023

Mittwoch, 20. September 2023

Mittwoch, 20. September 2023

Mittwoch 20. September 2023

Teil II

Donnerstag, 28. September 2023

Donnerstag, 28. September 2023

Donnerstag, 28. September 2023

Freitag, 29. September 2023

Freitag, 29. September 2023

Samstag, 30. September 2023

Samstag/Sonntag, 30. September/01. Oktober 2023

Sonntag, 01. Oktober 2023

Teil III

Sonntag, 01. Oktober 2023

Montag, 02. Oktober 2023

Montag, 02. Oktober 2023

Montag 02. Oktober 2023

Dienstag, 03. Oktober 2023

Mittwoch, 04. Oktober

Mittwoch, 04. Oktober 2023

Mittwoch, 04. Oktober 2023

Donnerstag, 05. Oktober 2023

Teil IV

Donnerstag, 05. Oktober 2023

Donnerstag, 05. Oktober 2023

Donnerstag, 05. Oktober 2023

Freitag, 06. Oktober 2023

Freitag, 06. Oktober 2023

Fünfzehn Jahre vorher.

Freitag, 06. Oktober 2023

Samstag, 07. Oktober 2023

Teil V

Samstag/Sonntag, 07./08. Oktober 2023

Montag, 09. Oktober 2023

Dienstag, 10. Oktober 2023

Dienstag, 10. Oktober 2023

Dienstag, 10. Oktober 2023

Teil VI

Dienstag, 10. Oktober 2023

Mittwoch, 11. Oktober 2023

Mittwoch, 11. Oktober 2023

Donnerstag, 12. Oktober 2023

Freitag, 13. Oktober 2023

Samstag, 14. Oktober 2023

Teil VII

Sonntag, 15. Oktober 2023

Montag, 16. Oktober 2023

Teil VIII

Montag, 16. Oktober 2023

Mittwoch, 18. Oktober 2023

Epilog

Anmerkungen des Autors

Schaafswinter

Schaafssturm

Schaafshammer

Schaafsgold und der ungelesene Autor

Schaafsinsel

Schaafshunde

Schaafsfrauen

Schaafssteine

Weitere Bücher von Peter Siefermann im Twentysix-Verlag

Prolog

Mike und Golo hatten die Wahl gewonnen. Die längsten zwei von zehn Streichhölzern gezogen. Sie würden heute die Gejagten sein.

Zwei Gejagte und acht Verfolger. Eine der einerseits beliebtesten, andererseits der gefürchtetsten Übungen des SEK-Teams. Beliebt bei den Gejagten, weil sie die Bösen darstellen durften; bei den Jägern gefürchtet, weil sie unter Erfolgsdruck standen.

Die Gejagten waren mit ziemlich viel Freiheiten ausgestattet. Schnelles Auto, zwei Pistolen, zwei Maschinenpistolen mit Laserzieltechnik, ein Handy und eine Stunde Vorsprung. Im Übrigen konnten sie ihr Ziel im Umkreis von fünfzig Kilometer selber festlegen. Bedingung: Es durfte sich nicht in Nähe bewohnter Gebiete befinden.

Die Vorgabe betreffs des Handys lautete, es jede Viertelstunde für die Dauer einer Minute einzuschalten.

Während die Gejagten relativ unabhängig agieren konnten, standen die Verfolger unter ständiger Beobachtung und Bewertung des Teamleiters. Sinn und Zweck der Übung war, die Gejagten so schnell wie möglich zu stellen und zu fassen.

Die Ausrüstung der Jäger war, was die Schusswaffen betraf, denen der Gejagten gleichwertig. Darüber hinaus waren sie in Sachen Technik jedoch im Vorteil. Allein in den Schutzhelmen waren Kameras und Kommunikationstechnik installiert. Eine Drohne sandte Luftaufnahmen direkt auf die Datenbrille des Teamleiters. Blendgranaten und Tränengaspatronen gehörten ebenso zur Grundausstattung wie schusssichere Westen, und, für den Ernstfall, Sprengkapseln mit Zeitzündereinrichtung.

Ein eventueller Schusswechsel zwischen Gejagten und Verfolgern wurde freilich nicht mit scharfer Munition abgehalten, sondern per Laserzieltechnik, wobei jedes Auslösen eines Schusses mit genauer Zeit, Zielerkennung und Trefferbild per Kamera registriert und gespeichert wurde. Bei der Analyse im Anschluss an die Übung wurden die Daten der Waffen ausgelesen.

„Auf geht´s, Männer“, sagte Teamleiter Ulf Thommen mit Blick auf die Uhr, „die Stunde ist um. Fangen wir die Hasen.“

Nach der zweiten Handyortung kristallisierte sich allmählich die Fluchtrichtung der Gejagten heraus, und nach zwei weiteren Peilungen konzentrierten sich die Jäger auf ein Gebiet in der Nähe von Kleinkems. Die Drohne wurde gestartet.

Über Wikipedia fand Ulf Thommen heraus, dass es in Kleinkems ein stillgelegtes Zementwerk gab. Ein idealer Ort für die Gejagten, sich dort zu verstecken, wie die Luftbilder der Drohne zeigten. Mehrere leerstehende Gebäude, darunter einige Abrissruinen, würden die Suche nicht einfach gestalten. Als die Drohne eine Aufnahme des Fluchtwagens auf dem Gelände lieferte, dirigierte Ulf das Team zu der Industriebrache.

Bevor die acht SEK-Männer mit der Durchsuchung des ersten Gebäudes begannen, richtete Ulf die Drohne auf autonomen Flugbetrieb in zentraler Position über dem Gelände ein. Über seine Datenbrille hatte er jederzeit Zugriff auf die Luftaufnahmen.

Zwei der Männer stellte er zur Bewachung der beiden Ausgänge des Gebäudes ab. Die restlichen sechs fingen mit dem Durchkämmen des Erdgeschosses an. Raum für Raum arbeiteten sie sich vorwärts, stets auf Eigensicherung bedacht, und nachdem dieser Teil des Gebäudes als „sauber“ gemeldet wurde, setzte sich die Suche eine Etage höher nach dem gleichen Prinzip fort.

Auf Mike stießen sie in einem der mittleren Räume, wie er gerade versuchte, aus dem Fenster zu springen. Zwei Kollegen rissen ihn zurück und erklärten ihn für verhaftet. Golo indes war in diesem Objekt nicht aufzufinden, weshalb sich das Team umorientieren musste.

„Du hast es uns aber leicht gemacht, Mike“, flachsten die anderen, während Ulf die Luftaufnahmen zu Rate zog.

Gebäude für Gebäude zoomte er heran, um eventuelle Auffälligkeiten zu entdecken. Zunächst sah es so aus, als müssten sie sich Haus für Haus nacheinander vornehmen, doch dann stieß er auf eine Merkwürdigkeit. Er zog das Bild noch näher auf die Brille. Und dann grinste er: Er kann es nicht lassen, der Golo, dachte er und dirigierte das Team entsprechend zu einem benachbarten Gebäude gleicher Bauart. Die Drohne hatte ihm gezeigt, dass aus einem der Fenster Zigarettenrauch geblasen wurde. Aus welchem Stockwerk allerdings war nicht zu erkennen. Da sich deren Anzahl jedoch auf zwei beschränkte, blieb die Auswahl überschaubar.

Die Zuordnung des Teams geschah genau wie beim ersten Mal: Zwei an den Ausgängen; sechs, die das Haus durchsuchten, wobei Ulf registrierte, dass seine Truppe die Regeln missachtete.

Im Eifer des Gefechts nämlich handelten die Männer doch nicht ganz so konzentriert wie es hätte sein sollen, denn die ungefähre Lage, wo der Rauch zu sehen gewesen war, war bekannt. Also kümmerten sie sich mehr oder weniger bloß um die zwei Varianten: Erster oder zweiter Stock, und nur die infrage kommende Haushälfte.

Die erste Etage war negativ. Nun umso sicherer, stürmte das Team förmlich die Treppe hinauf in den zweiten Flur. Dabei ließ es die Räume, die links des Flures lagen, sträflich außer Acht, denn der Rauch war ja, wie gesehen, nach rechts hinaus geweht. Das Team platzte in den einen Raum – und fand nichts. Doch, da war etwas: Eine Zigarette, noch qualmend, lag auf dem Fensterbrett vor dem offenen Fenster. Es roch verdammt nach einer Falle.

„Hände hoch! Alle fünf!“, sagte Golo in ihrem Rücken vom Flur her und hielt die Maschinenpistole in den Raum hinein. „Ihr seid alle tot.“

„Das wirst du ganz schön bleiben lassen, Golo“, antwortete Ulf, der seitlich von Golo im Flur auftauchte. Er war dem Sturmlauf seiner fünf Kollegen nicht gefolgt, sondern hatte sich um die linksgelegenen Räume gekümmert. Die Maschinenpistole hielt er lässig im Arm, die Mündung wie zufällig auf den Gejagten gerichtet. „Du bist verhaftet, Golo.“

Da hob Golo die Hände über den Kopf und lächelte breit, ohne dass es seine Augen erreichte. „Du hast gewonnen, Ulf“, sagte er. „Hab´ ich dir eigentlich schon gesagt, dass ich dich hasse?“

Teil I

Schaafsherbst

September 2023 war der Monat, der, meteorologisch gesehen, die Erlösung vom Sommer hätte einleiten sollen. Es hatte heißere Jahre gegeben, aber noch nie ein trockeneres seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Vereinzelte Starkregenereignisse im August hatten den verheerenden und zunehmenden Wassermangel nicht zu kompensieren vermocht. Neben der Landwirtschaft litten vor allen Dingen die Flüsse und die Wälder. In den Flüssen floss kaum noch Wasser, und es bestand die allerhöchste Waldbrandgefahr.

In Kirchenrottach war eine Rotte Wildschweine ums Leben gekommen, weil sie, vor Durst halber verrückt, in das Freibad eingebrochen und im Schwimmbecken jämmerlich ertrunken waren. Überlebt hatten nur die Säue, die sich an das Planschbecken für Kleinkinder gehalten hatten.

Auch die Menschen reagierten auf die Dauer gereizt. Schönes Wetter war recht und gut, aber wenn man sich vorkam wie ein Stockfisch auf dem Dörrgestell, dann hörte der Spaß auf.

Endlich, und von der ganzen nördlichen Hemisphäre erhofft, hatte es Anfang September einen Systemwechsel des Wetters gegeben. Irgendein Jetstream in großer Höhe korrigierte seine Bahn, und tiefergelegene Wetterzellen bekamen die Gelegenheit zur Entfaltung. Tiefs mit moderaten Winden und Niederschlägen hatten den Herbst eingeläutet und ließen die Menschen viel zu schnell vergessen, dass der Klimawandel kein Zukunftsszenario darstellte, sondern bereits längst eingetroffen war und das Leben mit all seinen Facetten nachhaltig beeinflusste. Doch es blieb, in Betrachtung der Gesamtsituation, im wahrsten Sinne des Wortes, der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.

Folgen der Trockenheit, die ausnahmslos jeder zu spüren bekam, waren Preiserhöhungen der Lebensmittel. Grundnahrungsmittel wie Kartoffeln, Getreide, Gemüse, Obst und der daraus hergestellten Produkte für die Menschen, sowie Soja und Mais für die Nutztiere, verzeichneten erhebliche Ernteausfälle. Dass sich einzig die Winzer über hervorragende Qualitäten ihrer Trauben freuten, konnte die düstere Stimmung bei den Landwirten und letztlich bei den Verbrauchern nicht aufhellen. Europaweit entwickelten sich nationale Bestrebungen, sich und dem eigenen Volk durch Preisüberbietungen sondergleichen die Nahrungsmittelressourcen anderer Erdteile zu sichern. Es kam zu erheblichen politischen Verwerfungen unter den Staaten, gegen die die Befremdungen aus der Corona-Pandemie vor drei Jahren ein Klacks waren. Mancherorts sprach man sogar von Krieg.

Klagte man im Binnenland über zu wenig Wasser, herrschte an den Küsten des Landes Alarmstimmung, denn dort wurde man der Wassermassen kaum noch Herr. Wovor man lange Zeit die Augen verschlossen hatte, traf mit erschreckender Wucht und wachsender Geschwindigkeit ein: Das reale und messbare Steigen des Meeresspiegels. Im Eiltempo und mit erheblichen Kosten verbunden, wurden die Hochwasserschutzmaßnahmen vorangetrieben. Größter Einzelposten: Die arbeits- und kostenintensive Erhöhung der Deiche. Erste Flüchtlinge aufgrund des Klimawandels hierzulande waren die Bewohner der Halligen vor Schleswig-Holsteins Westküste. Sozusagen die Malediven Deutschlands.

Dann traf es die Bewohner der Alpenregion. Dörfer wurden evakuiert, weil der Klebstoff für die Gebirge, der Permafrost, auftaute, und Felsmassen in die Täler stürzten.

*

Im Gengenbacher Türmchenhaus hatte Gerti mit den Tücken des Klimawandels zu kämpfen. Nicht im Haus selbst, versteht sich, sondern in ihrem Garten, den sie sommers angelegt hatte. Sommers, ja, denn sie war erst Ende Mai bei Melanie Köninger und Edgar Schaaf eingezogen.

Zuerst war es die ständige Trockenheit gewesen. Harkte sie den Boden, stiegen kleine Staubwölkchen auf, und Pflanzen, die sie in die Erde brachte und mit Leitungswasser angoss, ließen am nächsten Tag schon die Köpfe hängen. Woran es mangelte, war ein von Feuchtigkeit durchdrungener Boden. Aber so tief Gerti auch grub – es krümelte ihr nur hellbraune lockere Erde durch die Finger.

Im August, als es endlich regnete, schüttete es gleich so stark, dass aus ihren liebevoll angelegten Beeten Schwemmland wurde, das nach zwei Tagen intensiver Sonnenbestrahlung eine harte Oberflächenglasur bekam, die in flache Platten zerriss. Zu viel Wasser in wenigen Minuten, dessen Wucht ihre Setzlinge in den Schlamm drückte, und doch zu wenig, um tief in den Boden einzudringen.

Gerti hatte sich das irgendwie anders vorgestellt.

Am Ende war es ihrer Hartnäckigkeit und Engelsgeduld zu verdanken, dass sie das eine oder andere Gemüse ernten und auf den Tisch bringen konnte.

September

Vier Wochen und vier Tage war es her, seit Edgar Schaaf das Vernehmungszimmer der Kriminalpolizei in Offenburg verlassen hatte. Das Vernehmungszimmer mit der jungen Kriminalkommissarin Rita Böhringer, und mit Theo Schmied, dem vierfachen Mörder. Vier Wochen, in deren Verlauf er immer tiefer in eine Sinnkrise gerutscht war.

Dabei mangelte es ihm mit seinen siebzig Jahren an nichts. Alle Komponenten für ein zufriedenes und glückliches Leben waren vorhanden. Er liebte seine Frau Melanie, und sie liebte ihn. Er besaß mit ihr ein prächtiges Haus und zwei Hunde. Er fuhr die neueste Harley Davidson, verfügte über beruhigende finanzielle Mittel inklusive einer stattlichen Pension, und schließlich über ein respektables Ansehen. Was Letzteres betraf, verteilte es sich allerdings auf eine überschaubare Anzahl von Personen. Handvoll, in etwa.

Es war ein schleichender Prozess, der sich jedoch seit einiger Zeit angedeutet hatte, ohne auf einen genauen Beginn festgelegt werden zu können. Kein bewusster Kick-off also. Selber bemerkte Edgar die Veränderung am Verlust seiner Souveränität. Schmerzlich wurde ihm klar, dass ihm ausgerechnet auf dem vertrautesten aller Gebiete, der Kriminalistik, Fehler unterliefen, was ihn in höchstem Maße verunsicherte. Schlimmer noch als die eigene Befremdung darüber war, dass auch anderen Personen nicht verborgen blieb, wie er zunehmend die Situationskontrolle verlor. Rita Böhringer zum Beispiel; Pit Ferman zum Beispiel. Und nicht zuletzt seine Melanie. Mehr oder weniger versank er in Scham, verkroch sich, sich umstülpend, nach innen, wo er brütend um seinen ziemlich ramponierten Altar kreiste.

Oder, um es mit anderen Worten zu sagen: Der Heiligenschein des Kriminalhauptkommissars a. D. Edgar Schaaf hatte seinen Glanz eingebüßt. Hinzu kam, dass er dem Weltgeschehen und seiner daraus resultierenden Wut nichts entgegenzusetzen wusste.

Sie haben eine herrliche Grundwut, hatte Frau Dr. Lazlo, Psychologin der Psychiatrischen Akut- und Reha-Klinik in Haldensee, zu ihm gesagt. Ihm aber auch die Frage gestellt: Können Sie mit Ihrer Wut umgehen?

Edgar musste eingestehen, dass er es nicht konnte, und da sein Ego ohnehin auf dem Zahnfleisch daherkam, fehlte ihm die mentale Größe, um über die globalen, gesellschaftlichen und sozialen Missstände generös hinwegsehen zu können. So fühlte er sich von der einen inneren Seite geschwächt und angegriffen, von der anderen äußeren Seite empört und gereizt.

War Edgar Ende August noch zuversichtlich gewesen, die von Frau Dr. Lazlo angestoßene Behandlung mit der Psychologin Gudrun Torwall in Gengenbach weiterführen zu können, hatte sein Optimismus einen schweren Einbruch erlitten, nachdem diese aus gesundheitlichen Gründen alle weiteren Termine absagen musste. Für einen nächsten Anlauf nach professioneller Hilfe fühlte er sich aus diversen lähmenden Gründen nicht gewappnet.

*

Melanie Köninger registrierte Edgars Veränderung sehr wohl. Obwohl sich im Oktober ihre Hochzeit erst zum zweiten Mal jähren würde, kannte sie ihren Mann besser als jeder andere Mensch. Nie im Leben hätte sie sich für ihn entschieden, wenn sie nicht im Vorfeld gespürt und gefühlt hätte, aus welchem Holz er geschnitzt war. So waren für sie sein Tiefgang und seine Bodenschwere keine unbekannten Größen einer Rechnung. Spätestens als er ihr von seinem bei der Geburt gestorbenen Zwillingsbruder erzählt hatte, wusste sie um die verborgenen Dimensionen, mit denen er gesegnet war, wenn sie es positiv betrachtete; oder behaftet, wenn er wie derzeit dabei war, seine finsteren Räume auszuloten.

Sie sorgte sich durchaus um ihn, doch sie zeigte es ihm nicht. Sie versuchte sie selbst zu sein und zu bleiben, indem sie mit ihm redete, ohne ihn zu Antworten zu drängen, und sie schwieg mit ihm, wenn auch ihr danach zumute war.

Manchmal, wenn er ohne ersichtlichen Grund das Haus verließ, um nach einiger Zeit, Minuten, halbe Stunde, mit geröteten Augen wiederzukommen, wusste sie, dass er geweint hatte. Er verneinte es zwar, doch die im Bart hängengebliebenen Tränen verrieten es ihr. Sie bohrte niemals nach. Sie wusste, er würde nicht antworten. Nicht, weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte.

Vielleicht würden andere Frauen anders gehandelt haben. Wären zu Hause geblieben. Hätten ihrem Mann Gesellschaft geleistet. Gegenwärtigkeit und Betreuung rund um die Uhr. Melanie mit ihrem Ladengeschäft Aquarelle und Poesie in Gengenbachs Altstadt jedoch hatte einen anderen Weg gewählt und ihren Tagesrhythmus mit Bedacht beibehalten. Denn es machte Sinn, den Tagen eine verlässliche Struktur zu geben. Einen Rahmen für ein Stück weit Normalität. Wichtig für ihn, und wichtig für sie. Dass sie sich auf diese Weise selber vor dem Sturz in eine Verzweiflung bewahrte und schützte, half ihr, mit der Situation umzugehen. Zudem bestand Edgar darauf.

Aber sie wäre nicht Melanie gewesen, wenn die Wahrnehmung der Geschäftsinteressen sich als ihre einzige Option herausgestellt hätte. Die Erinnerungen an Edgars Aufenthalt in der Psychiatrischen Klinik in Haldensee, besonders seine Schilderungen der Sitzungen bei der Psychologin, waren bei ihr noch sehr präsent. Nach Abwägung des Für und Wider fasste Melanie am achtzehnten September schließlich einen Entschluss und setzte ihn noch am selben Tag vom Festnetzanschluss des Aquarelle und Poesie um.

*

Vier Wochen und vier Tage. Dienstag, neunzehnter September, acht Uhr fünfundvierzig. Edgar befand sich allein im Haus. Melanie hatte sich ins Aquarelle und Poesie verabschiedet, und Gerti arbeitete im Garten. Angelegt in diesem Sommer, der Trockenheit die Stirn bietend, hatte sie Tag für Tag, in unzähligen Gängen, schier unermüdlich Wasser an ihre Pflanzen geschleppt, um sie nicht verdorren zu lassen. Bestes Leitungswasser, wohlgemerkt.

Edgar beobachtete sie durchs Fenster seines Büros. Was genau sie tat, wusste er nicht. Es sah aus, als würde sie die Gemüsebeete abräumen. Tomatenstauden, Zucchinistrünke. Sie hatte einen dieser Falt-Container neben sich stehen, in den sie alles hineinwarf. Edgar interessierte sich nicht besonders für Gartenarbeit. Gerade noch, dass er den Rasen vor dem Haus und dem Zugang zur Kellergalerie gemäht brachte. Aber seit Gerti im Haus wohnte, hielt er sich auch von dieser Pflicht entbunden.

Er begab sich zurück an den Schreibtisch und setzte sich ächzend auf den Stuhl. Seit einer Dreiviertelstunde blätterte er lustlos in einem seiner Aktenordner mit den gesammelten Zeitungsberichten über Kriminalfälle. Hauptsächlich Fälle aus der Region, aber auch deutschlandweite, sofern sie den Weg in die Redaktion der Badischen Zeitung gefunden hatten. Er fühlte, wie sich ein stählerner Ring um seine Brust enger zog und atmete angestrengt. Wehmut kletterte seine Kehle empor.

Ruhelos stand er auf und ging wieder zum Fenster. Gerti war nicht mehr zu sehen, aber ihre Gerätschaften lagen noch auf dem Gartenweg.

Vielleicht musste sie aufs Klo, dachte er und knirschte mit den Zähnen, eine Eigenart, die erst seit kurzem bei ihm aufgetaucht war und die er selber gar nicht bemerkte.

Eigentlich ist das Wetter ideal zum Motorradfahren. Er drehte sich zum Kleiderständer um, an dem die Lederjacke und der visierlose Helm hingen, aber so unvermittelt der Gedanke aufgeblitzt war, so rasch verlor er die Lust.

Verdammt. Ich bin zu nichts mehr zu gebrauchen.

Schnaufend klappte er den Aktenordner zu und stieß ihn in das Regal zu den anderen Sammlungen zurück. Gleichzeitig klingelte das Smartphone. Ein Blick auf das Display zeigte ihm die Nummer eines Anrufers, die er nicht kannte. Neun Uhr. Er drückte den grünen Knopf.

„Schaaf!“, bellte er in das Gerät.

„Guten Morgen, Herr Schaaf“, sagte eine fröhliche Frauenstimme. „Dr. Lazlo am Apparat. Es ist neun Uhr. Zeit für Ihre Sprechstunde.“

Dienstag, 19. September 2023

Gengenbach

Es dauerte eine geraume Weile, bis die Worte in Edgars Bewusstsein angekommen und eingeordnet waren. Als die Erkenntnis gegriffen hatte, sagte er mit vibrierendem Atem:

„Das war Melanie.“

„Natürlich war das Ihre Melanie, Edgar. Melanie liebt Sie. Sie liebt Sie sehr“, antwortete Frau Dr. Lazlo mit warmer Stimme.

„Ich weiß“, bestätigte er, noch immer bass erstaunt. Wie in Zeitlupe sank er auf den Bürostuhl.

„Das ist das Allerwichtigste, was Sie haben: die Liebe“, fuhr Frau Dr. Lazlo fort. „Werden Sie mit mir reden, Edgar?“

Eine gute Stunde später machte er sich auf den Weg in die Stadt. Verließ er das Haus und den Garten noch gemessenen Schrittes, legte er unterwegs stetig an Tempo zu, das zu einer Art Sturmlauf wurde, als er das Aquarelle und Poesie erreichte. Mit zwei drahtigen Sätzen sprang er die Treppe zur Ladentür hinauf und platzte in den Laden hinein. Dass Melanie gerade in ein Kundengespräch vertieft war, ignorierte er. Mit zwei langen Schritten war er bei ihr, drängte sich zwischen seine perplexe Frau und die Kundin – und schlang die Arme um Melanie.

„Danke, danke, danke, dass du das arrangiert hast, mein Engel“, flüsterte er ihr ins Ohr.

„Edgar, ich …“, versuchte Melanie eine Erklärung, doch er verschloss mit einem Kuss ihren Mund.

„Pschscht. Nichts sagen. Nicht jetzt. Alles ist gut“, beruhigte er sie. An die Kundin gewandt, sagte er:

„Entschuldigen Sie den Überfall, aber ich …“, schon hatte er das Geschäft wieder verlassen und marschierte mit federndem Elan zurück nach Hause. Er fühlte sich so fit wie schon lange nicht mehr, und irgendwie um Jahre jünger.

Ich bin Edgar Schaaf, umriss er in Gedanken die Quintessenz aus dem einstündigen Telefonat mit der Psychologin.

Wenn ich abends als Edgar Schaaf schlafen gehe, wache ich am Morgen als Edgar Schaaf wieder auf. Fakt. Aber wie ich es auch drehe und wende, der Edgar des Morgens wird nie derselbe sein wie der des Abends. Das heißt, ich verändere mich, ob ich will oder nicht, wie im übrigen jeder andere Mensch auch. Ich habe weder einen biologischen noch einen physischen noch einen rechtlichen Anspruch auf ein lebenslanges unveränderbares Sein. Was ich an Fähigkeiten verliere, muss nicht unbedingt ein Nachteil sein. Viel mehr erweitert sich der Blickwinkel dahingehend, vermeintliche Verluste durch Alternativen zu kompensieren. Und das kann ich auch in meinem Alter noch lernen. Durch Aufmerksamkeit. Durch Konzentration. Durch Loslassen und Zutrauen.

Am kommenden Freitag findet meine nächste Sprechstunde mit Frau Dr. Lazlo statt. Aber dann per Skype. Sie will wissen, wie ich zu dem wurde, der ich heute bin.

„Überlegen Sie. Schreiben Sie es auf. Führen Sie ein rückwärtsgewandtes Tagebuch. Versuchen Sie es“, hat sie gesagt.

Da verlangt sie allerhand von mir. Und ob ich die bösen Geister, die ich längst verdrängt zu haben glaubte, zu neuem Leben erwecken soll?

Edgar schaute sich skeptisch um, als wären die bedachten Geister bereits im Anmarsch. Also ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist, dachte er, denn im Grunde bin ich doch froh, den alten Mist hinter mir zu wissen.

„Versuchen Sie es“, wiederholte er Frau Dr. Lazlos Worte, als er das Haus betrat. Und: „Die hat gut reden“, brabbelte er.

„Wer hat gut reden, Edgar?“ Gerti. Er hatte nicht bemerkt, dass sie in der Küche war.

„Ach Gerti, äääh… nichts von Belang. Ich führe bloß Selbstgespräche, weißt du?“

„Na dann hoffe ich, dass ihr zwei auch mal was zu lachen habt“, scherzte sie.

Aber da war Edgar schon die Treppe hinauf und in sein Büro gehuscht.

Dienstag, 19. September 2023

Durlangen

Tiefgarage in der Stadtmitte, unterste Parkebene. Das Auto stand beinahe unsichtbar hinter einem Betonpfeiler. Das Parkdeck hier unten war beinahe leer. Nur drei oder vier andere Fahrzeuge; so gut wie kein Publikumsverkehr. Schon eine Etage höher herrschte erheblich mehr Betrieb, denn heute war Markttag in der Stadt.

Der Chief hatte die östliche Einfahrt genommen. Die sei wieder einmal außer Betrieb, hatte er gesagt und überlegen gegrinst. Rich vermutete, dass er selber für den Ausfall gesorgt hatte. Der Chief konnte sowas. Es war ihm durchaus zuzutrauen.

Rich war nervös. Heute sollte es stattfinden. Der Chief laberte ihm seit über einer Stunde die Hucke voll, auf was er achten solle und was er auf gar keinen Fall tun dürfe.

„Es muss blitzschnell gehen. Die dürfen überhaupt nicht zum Nachdenken kommen. Laute klare, unmissverständliche Befehle. Einschüchterung mit der Pistole, aber ohne zu schießen. Wenn du rumballerst, breche ich die Aktion sofort ab. Ist das klar? Sonst aber rigoroses Auftreten, damit denen gleich die Muffe geht. Keine Kompromisse. Rein in den Laden, Geld her, raus aus dem Laden, verstehst du? Und um Gottes Willen keine Namen, hörst du? Keine Unterhaltung zwischen uns. Wir müssen uns blind verstehen.“

So ging das andauernd, seit sie sich getroffen hatten. Warum quasselte er so viel? War er etwa auch nervös, der Chief?

Endlich guckte der Chief auf die Uhr. Siebzehn Uhr fünfzig. „Los geht´s!“

Rich machte sich beinahe in die Hose. Sie verließen das Auto. Geklautes Auto, natürlich. Geklautes Nummernschild, natürlich. Hatte alles der Chief besorgt. Rich steckte die Makarov in den Hosenbund und schnappte Chiefs großen Matchsack.

Wenn der voll ist, haben wir ein paar Tausend, dachte er und steuerte auf den Aufzug zu.

„Nicht den Aufzug!“, befahl der Chief. „Wenn er ausgerechnet jetzt steckenbleibt, war ´s das mit der Knete. Wir nehmen die Treppe.“

Also die Treppe rauf. Vier Etagen. Es begegneten ihnen nur ein paar Leute. Menschen, die vom Markt oder vom Einkaufen kamen. Wenn die wüssten.

Raus aus der Tiefgarage auf die Straße, zwanzig Meter auf dem Gehweg, dann Sturmhaube über die Nase, Pistole in die Faust und rein in die Bank.

„Überfall! Alle auf den Boden! Auf den Boden! Finger weg vom Alarmknopf!“

Pures Adrenalin strömte durch Richs Adern. Er tauchte in einen Tunnel ein. Vor Aufregung konnte er kaum atmen. Es fühlte sich an wie ein Sprung vom Zehn-Meter-Brett im Schwimmbad. Nur dass der Sprung nicht enden wollte. Er schleuderte den Matchsack über den Tresen und richtete die Pistole auf die junge Frau, die dahinter auf dem Boden lag.

„He, du da! Steh´ auf! Mach´ schon! Geld rein! Aber dalli, dalli!“

Was links und rechts von ihm passierte, bekam Rich nicht mit. Zum Beispiel, dass drei Kunden in der Bank waren. Er konzentrierte sich auf die Frau an der Kasse. Wieso reagierte sie nicht?

„Hey, aufwachen! Hörst du schlecht? Geld in den Sack, aber plötzlich!“ Er hob die Pistole und zielte auf ihr Gesicht. Da bewegte sie sich endlich.

„Wir … wir … haben … kein … Geld … hier“, stotterte sie.

Was sagte die Tussi da? Ist es nun eine Bank oder ist es eine Bank?

„Willst du mich verarschen? Geld her, verdammt“, drohte er.

„Wir … wir fordern es jeweils elektronisch an“, sagte sie. „Wie viel soll ich …?“

„Bist du blöd, oder was? Hunderttausend! Los, hunderttausend! Wird´s bald?“

Da vernahm er wie durch Watte plötzlich Chiefs Stimme.

„Scheiße, die Bullen sind draußen.“

Was sagt er da? Die Bullen? Wieso die Bullen?

Es war das zweite Mal innerhalb weniger Minuten, dass Rich beinahe in die Hose gemacht hätte. Das ist das Ende, dachte er. Das war ´s dann mit dem Reichtum.

Aber dann nahm der Chief die Zügel in die Hand. „Wir ändern den Plan“, sagte er. „Vergiss´ die paar Kröten. Wir gehen aufs Ganze.“

Dienstag, 19. September 2023

Offenburg-Bohlsbach

Im Backofen brodelte der Nudelauflauf mit Spinat. Nicht gerade ihrer beider Lieblingsmenü, aber darum ging es sowieso nur am Rande. Fundamental wichtig war, dass sie es zusammen zubereitet hatten. Testlauf für eine gemeinsame Zukunft, als Teil einer ungeschriebenen Liste zu absolvierender Dinge, die erledigt werden mussten, wenn man sich ewig binden wollte. Gewissermaßen.

Ulf Thommen kauerte vor der Backofentür und warf einen kritischen Blick auf die Auflaufform in der Röhre.

„Gleich hebt der Deckel ab“, sagte er. „Meiner unmaßgeblichen Meinung nach ist es fertig.“

„Fertig ist es, wenn ich es sage“, erwiderte Rita Böhringer, steckte das Salatbesteck in die Salatschüssel und beugte sich zum Backofen. Ein kurzer Blick durch das Sichtfenster: „Fertig, mein Lieber. Du kannst den Auflauf herausholen, aber verbrenn´ dir nicht die Pfoten.“ Sie schmatzte ihm einen feuchten Kuss auf die Backe.

Ihm fauchte zweihundertzwanzig Grad heiße Luft ins Gesicht, als er die Ofenklappe öffnete. Leise fluchend zuckte er zurück, derweil Rita schelmisch grinste.

Sie hatte früher Feierabend gemacht, was nicht oft vorkam. Aber es war Ulfs freier Tag, und wenigstens den Abend und die Nacht wollten sie zusammen in Ritas kleiner Wohnung verbringen. Ein einziger Raum ohne Zwischenwände mit integrierter Küche im vierten Stock unter dem Dach eines Mehrfamilienhauses in Bohlsbach, was jede Menge schräger Wände bedeutete, aber auch viel Gemütlichkeit ausstrahlte. Nur das Bad mit Toilette war durch Wände abgeteilt.

Zur guten Laune der beiden trug zusätzlich die Neuigkeit bei, dass Ulf am kommenden Montag zum Oberkommissar befördert werden würde.

„Wirst du dann noch mit einer einfachen Kommissarin Tisch und Bett teilen?“, frotzelte sie und war ein klein wenig stolz auf ihn. So jung und schon Oberkommissar.

Sie hatten sich fürs Selberkochen entschieden, um die wertvolle Zeit nicht durch unnötigen Ausgang in die Stadt zu vergeuden.

Das Essen war fertig, der Tisch gedeckt und eine Flasche Weißwein entkorkt. Es war achtzehn Uhr fünfzehn, als ein Telefon klingelte.

„Es ist deins“, beeilte sich Ulf mit vollem Mund zu nuscheln.

„Nein, es ist deins“, behauptete Rita.

Sinnigerweise hatten sie die identischen Klingeltöne auf ihren Smartphones installiert.

Rita legte Messer und Gabel weg und trippelte zum Couchtisch, wo ihre Handys lagen. „Es ist deins, wie ich gesagt habe“, triumphierte sie.

„Mist. Siehst du, wer es ist?“

Sie beugte sich über das Display. „Golz? Golz? Ist das nicht dein …“

„Verdammt“, zischte er. „Nimm´ das Gespräch an und sag´ ihm, dass ich nicht da bin.“

„Soso. Und wie erkläre ich bitte, warum ich mit deinem Handy telefoniere, hm?“

Mit verdrießlichem Gesichtsausdruck streckte Ulf die Hand nach dem Telefon aus und nahm das Gespräch an. „Paul! Wage es nicht …“

„Tja, Ulf, tut mir leid, aber die anderen beiden Teams sind im Einsatz. So ist es nun mal in unserem Job. Hör´ zu …“

Rita lag auf der Couch, den aufgeklappten Laptop auf dem Bauch. Sie verfolgte die Nachrichten von Baden-News, dem etablierten Online-Nachrichtensender, der rund um die Uhr die aktuellen Neuigkeiten ins Netz stellte. Speziell verfolgte sie die Berichterstattungen über die Geiselnahme in einer Bank in Durlangen.

Eine Reporterin, die Außenansicht einer Sparkasse im Hintergrund, schilderte die momentane Lage. Offenbar hatten zwei Bankräuber kurz vor Schalterschluss um achtzehn Uhr die Sparkasse betreten. Einem Angestellten der Bank war es gelungen, aus einem Rückraumbüro den Überfallalarm auszulösen, woraufhin eine Polizeistreife vor dem Gebäude vorgefahren war. Die Bankräuber hatten sich infolgedessen mit mehreren Geiseln in der Bank verschanzt. Über die genaue Anzahl der Geiseln bestand noch Unklarheit. Die Polizei hatte das Gebäude und die Straße davor weitläufig abgeriegelt. Ein SEK Spezialeinsatzkommando der Polizei war angefordert und unterwegs. In diesem Falle Ulf mit seinen Männern.

„Stell´ das Essen kalt, Liebes“, hatte er gemeint, bevor er gegangen war. Alle anderen Kommentare, von wegen einer Ungerechtigkeit betreffend, hatten sie sich erspart. Wie Ulfs Disponent Paul Golz schon sagte: So ist nun mal der Job. Beide wussten das und lamentierten nicht lange herum.

Ulf war Ritas erste ernsthafte große Liebe. Der Mann ihres Lebens. Er hatte es fertiggebracht, eine Gewissheit in ihr Herz zu pflanzen. Mit ihm wurden die vagen Träume und die streng gehüteten Vorstellungen über ihre private Zukunft auf einmal sehr konkret. Auch wenn sie die stillen Gedanken in diese bestimmte Richtung eigentlich für ziemlich antiquiert hielt, wusste sie es glasklar: Der oder keiner. Und im Laufe der vergangenen knapp vier Monate seit ihrer Erstbegegnung hatte sich das Gefühl verfestigt.

Sie fand es gut, dass er ebenfalls Polizist war. Das gegenseitige Verständnis für den unregelmäßigen Dienst musste somit nicht mühsam erkämpft und erklärt werden. Ein permanentes Konfliktthema war dadurch von vornherein ausgeschaltet.

Zwanzig Uhr fünf. In Durlangen tat sich etwas. Die Kamera schwenkte von der Sparkasse weg auf einen schwarzen Mercedes-Kombi, der außerhalb der Polizeiabsperrung zum Halten kam. Die Stimme der Reporterin kündigte das Eintreffen des SEK an. Das Bild wackelte leicht, als das Fahrzeug näher herangezoomt wurde und das Aussteigen der Männer filmte. Alle bis an die Zähne bewaffnet, in schwarzen Overalls und mit schwarzen Sturmhauben. Sofort trat ein uniformierter Polizist, Rita vermutete darin den örtlichen Einsatzleiter, auf einen der Schwarzhauben zu. Obwohl äußerlich kaum von den anderen zu unterscheiden, wusste Rita anhand der Figur und Körperhaltung, dass es Ulf war. Der Uniformierte und Ulf kletterten zwecks Situationsanalyse in einen blauweiß lackierten Kombi der Landespolizei und entzogen sich so dem Kameraauge. Ein neuerlicher Schwenk der Kamera rückte die Reporterin wieder ins Bild, die versprach, sich dann wieder zu melden, wenn es in Durlangen Veränderungen oder Neuigkeiten gäbe.

Abermals flackerte das Computerbild. Es dauerte einige Sekunden, bis es sich stabilisiert hatte und andere Nachrichten gesendet wurden. Rita blendete den Ton aus.

Dienstag, 19. September 2023

Gengenbach

Etwa zur gleichen Zeit führten Melanie und Edgar bei milder Abendtemperatur im Garten vor der Kellergalerie ein sehr intimes Gespräch über Edgars gefährdeten Gemütszustand. Gerti, anfänglich noch mit am Tisch, hatte sich diskret ins Haus zurückgezogen, sobald eine Tendenz der Unterhaltungsrichtung erkennbar geworden war. Ihren Wunsch zur Anschaffung einer Regentonne musste sie auf später verschieben.

Melanie nannte das Kind beim Namen: „Edgar, du musst zugeben, dass du Anzeichen einer seelischen Erkrankung zeigst. Man nennt sie landläufig Depression.“

Umso mehr begrüßte sie die Tatsache, dass Edgar auf ihre heimliche Vermittlungsaktion mit Frau Dr. Lazlo so positiv angesprungen war.

„Das ist der Schritt in die richtige Richtung, mein Edgar“, sagte sie. „Es ist unbestritten, dass sie ihr Fach beherrscht. Noch jedes Mal, wenn sie mit dir gesprochen hat, hat es dir gut getan.“

„Aber sie verlangt, dass ich in meiner Vergangenheit herumkrame“, maulte er halbherzig. „Meine Vergangenheit hat siebzig Jahre auf dem Buckel. Das ist ein weites Feld, Melanie.“

„Ja, natürlich. Sie betreibt Ursachenforschung“, erwiderte sie. „Irgendwo muss der Kopf des Fisches ja versteckt sein.“

„Kopf des Fisches?“ Er stellte sich ahnungslos, wobei ihm klar war, worauf sie abzielte. Doch er wollte es von ihr hören, weshalb er anfügte: „Du sprichst in Rätseln.“

„Der Fisch beginnt am Kopf zu stinken. Ich meine das als Metapher, mein Guter“, sagte Melanie. „Wo würdest du, wenn du in deinem Fall ermitteln müsstest, mit den Nachforschungen beginnen?“

Auch du beherrschst dein Fach, meine geliebte Melanie, dachte er. Denn mit Schrecken stellte er fest, dass seine Gedanken, ohne sie steuern oder gar verhindern zu können, bis weit in die Kindheit zurückkatapultiert wurden. Mit Entsetzen verfiel er in die gleiche Angst, die sich damals zuerst durch Schreien, und später, als das Schreien mit Gewalt unterdrückt worden war, durch Verstummen ausgedrückt hatte. Eine Stummheit, die ihm praktischer- wie auch fälschlicherweise als Dummheit und Unvermögen angekreidet worden war. Gegen den Psychoterror hatte er sich als sensibler Junge nicht zu wehren gewusst, weshalb ihm nichts anderes übriggeblieben war, denn sich zu beugen. Als in jugendlichen Jahren andere Kinder gleichen Jahrgangs sich gegen die elterliche Autorität auflehnten, war er als Heranwachsender längst gebrochen und auf seines Vaters herzenskalter Opferstätte hingerichtet. Aus dieser Sicht heraus verschloss es ihm auch heute den Mund, denn er hatte nie gelernt, die damalige Angst zu beschreiben oder über sie zu reden.

Es begann Edgar zu frösteln. Ein Symptom, das ihm so gut wie fremd war und das er praktisch nur vom Hörensagen her kannte. Andere Leute bekamen solche Anfälle, ja sicher. Er selber jedoch war gegen derartige Anwandlungen irgendwie immer resistent gewesen. Immun, wenn man so wollte.

Aber jetzt fröstelte es ihn plötzlich, und nicht nur das: Aus heiterem Himmel fuhr wie der kalte Stahl eines Messers ein stechender Schmerz in die rechte Seite seines Kopfes. Er begann zu zittern. Zitterte, dass es Melanies scharfen Augen nicht verborgen blieb.

„Edgar, was ist? Du zitterst. Ist dir nicht gut?“

Sie streckte ihre Hand über den Tisch, um nach der seinigen zu greifen, aber Edgars Arm rutschte kraftlos von der Tischplatte in seinen Schoß. Gleichzeitig bedeckte kalter Schweiß seine Stirn. Das Gesichtsfeld verengte sich schlagartig zu einem Tunnel, an dessen Ende er Melanie nur verschwommen und nicht größer als eine Briefmarke erfasste. Sie schien ihn anzusprechen, ihre Lippen bewegten sich, doch ihn erreichten nur Schallwellen unterhalb der Wahrnehmungsgrenze.

Er versuchte seinerseits zu sprechen, wollte sagen, dass ihm schlecht sei. Aber die für verständliche Sprache zuständigen Organe versagten ihren Dienst, weshalb er nur ein speichelfeuchtes Lallen zustande brachte. Als Letztes hörte er das Rauschen der fieberheißen Brandung, die haushoch auf ihn zugerast kam und der er fasziniert entgegenblickte wie ein wehrloses Kind. Dann riss ihn die Hitzewelle vom Stuhl und trug ihn in einem wilden Mahlstrom fort in die gnädige Dunkelheit.

Dienstag, 19. September 2023

Offenburg-Bohlsbach

Rita hatte den Ton abgeschaltet. Was von Baden-News an Nachrichten verbreitet wurde, ging ihr auf die Nerven. Alle anderen Geschehnisse im Land schienen wichtiger zu sein als der Banküberfall auf die Sparkasse in Durlangen. Rita konnte nicht verstehen, dass man von einem Feuerwehreinsatz zur Rettung eines Dackels aus einem Abwasserrohr berichtete, während anderswo Menschen als Geiseln festgehalten wurden. Oder dass ein Reporter die Wiedereröffnung eines jahrzehntelang stillgelegten Eisenbahnabschnitts zwischen Schopfheim und Wehr (Baden) feierte, indes in Durlangen Menschen um ihr Leben bangten. Oder was war dort los? Wieso schaltete Baden-News nicht dorthin?

Rita konnte das nicht einfach so hinnehmen. Übers Internet besorgte sie die Telefonnummer von Baden-News und rief dort an. Nach einigen Minuten in der Warteschleife drang sie zu einer Mitarbeiterin der Tagesredaktion durch.

Die Auskunft war niederschmetternd. Dass Baden-News nicht mehr aus Durlangen sendete, war eine Bedingung der Bankräuber. Aktuell, erfuhr Rita weiter, bereitete sich die Polizei auf einen Austausch der Geiseln in der Bank gegen einen Polizeibeamten vor. Weitere Bedingungen der Geiselnehmer: Vier Millionen Euro, ein schnelles Fluchtfahrzeug, keine Presse, keine Verfolgung. Dass die Geiseln noch immer nicht ausgetauscht waren, lag vermutlich an den Problemen der Polizei, die vier Millionen Euro zu beschaffen. Immerhin sei es nach zwanzig Uhr und alle Banken geschlossen. Meinte die Mitarbeiterin von Baden-News.

Wer ´s glaubt, dachte Rita. Normalerweise gehört es zur Taktik der Polizei, die Gangster so lange wie möglich hinzuhalten. Wenigstens würde ich es so machen.

Rita bedankte sich und schaute ihrerseits auf die Uhr. Es war in der Tat zwanzig Uhr fünfzig. Was konnte sie tun? Es juckte sie in den Fingern, Ulfs Handynummer zu wählen, aber sie wusste, dass sie das nicht durfte. Knallharter Verhaltenskodex. Sie wählte stattdessen die Nummer des Polizeireviers Offenburg.

„Polizeirevier Offenburg, Polizeihauptmeister Oberländer. Was kann ich für Sie tun?“

Rita atmete auf. Der gute alte Ferdinand, dachte sie.

„Hallo, Ferdinand. Rita hier. Na, ruhiger Abend?“

„Wenn´s noch ruhiger wäre, fände ich das schon fast verdächtig. Hallo Rita, was hast du auf dem Herzen?“

„Durlangen“, sagte sie geradeheraus. „Weißt du, was dort los ist?“

Die nächsten Sekunden hingen bedeutungsschwer in der Luft. Dann räusperte sich Ferdinand Oberländer geräuschvoll.

„Wir sind mit zwei Streifenwagenbesatzungen dort vertreten“, drückte er sich vorsichtig aus. „Warum fragst du?“

Rita spürte einen Kloß im Hals. „Baden-News hat die Berichterstattung eingestellt. Läuft es dort etwa aus dem Ruder?“

„Nachrichtensperre, Rita.“

„Heißt das, dass du nichts weißt, oder dass du mir nichts sagen darfst? Du stehst doch garantiert in Funkkontakt mit deinen Leuten.“

„Äääh … Rita … ich …“

„Mein Freund ist dort. Kommissar Ulf Thommen vom SEK.“

Oberländer schnaufte schwer. „Wie gesagt, Rita …“ Sie vernahm eine Reihe gemurmelter Flüche. Dann sagte der Revierleiter: „Hör´ zu. Ich ruf´ dich an, sobald ich einen Funken weiß, okay?“

„Danke, Ferdinand“, antwortete Rita. „Danke.“

Dienstag, 19. September 2023

Offenburg

Unter dem nervösen Flackern einer Neonröhre hockte Melanie auf der Kante eines an der Wand befestigten Klappstuhls. Eine Reihe weiterer Klappstühle befand sich neben ihr, aber sie war die alleinige Wartende in dem Flur. Schräg gegenüber lag das verglaste Stationsbüro, doch im Moment war es verwaist. Lediglich einige leuchtende Computerbildschirme ließen ahnen, dass dort noch gearbeitet wurde.

Gelegentlich huschte eine Krankenschwester auf quietschenden Schuhsohlen durch die Schwenkflügeltür, hinter der die Operationssäle der Ortenau Klinik lagen, entweder hinein oder heraus, aber immer in Eile, und ein neutraler Beobachter würde sehen, dass sie in Höhe der sitzenden Melanie stets einen kleinen Bogen schlug, als würde sie ihr ängstlich ausweichen. Sie signalisierte: Bitte frag´ mich nicht.

Melanie fragte nicht. Sie dachte: Wenn ich keine Fragen stelle, geht alles gut. Die rührende Strategie einer Liebenden.

Seit ungefähr zwei Stunden saß sie in unveränderter Haltung hier. Zwei Stunden für sie bedeuteten auch zwei Stunden für Edgar im OP. In dieser Zeit war die Sonne mit einem wunderbaren Abendrot im Westen untergegangen und die Nacht war hereingebrochen. Melanie hatte es nicht bemerkt. Sie würde auch nicht mitbekommen, wenn die Ortenau Klinik in Flammen stünde. Ihr Herz war so heiß, dass kein anderes Feuer ihr etwas anhaben könnte.

Melanie hatte reagiert wie ein Profi. Als hätte sie zeitlebens nie etwas anderes getan als Leben zu retten. Keine zehn Sekunden, nachdem Edgar vom Stuhl gestürzt war, hatte sie die 112 gewählt und erste Symptome geschildert. Zuerst gewillt, Edgars Beine hochzulegen, hatte sie nach rascher Abwägung davon abgesehen, um einem eventuellen Schlaganfall durch erhöhte Blutzufuhr nicht noch Vorschub zu leisten. Also hatte sie ihn in eine stabile Seitenlage gebracht und seinen Puls und Atem überwacht. Binnen einer Viertelstunde waren Notarzt und Rettungswagen zur Stelle gewesen.

Trotz aller Hektik war es Melanie sogar gelungen, die vom Blaulicht der Rettungsdienste alarmiert und aufgelöst aus dem Haus stürzende Gerti zu beruhigen und zu trösten. „Alles wird gut, Gerti.“

Über dem Stationsbüro tickte eine Uhr. Einundzwanzig Uhr dreiundfünfzig, registrierte Melanie. Entweder es dauert so lange, weil sie es besonders gut machen, oder weil es so schwierig ist. Womit Melanie mit sie die Ärzte meinte, die sich um Edgar kümmerten.

Sie dachte zurück. Vor ziemlich genau einem Jahr war ein Mordanschlag auf Edgar verübt worden, und er war nur knapp mit dem Leben davongekommen. Ein Autofahrer hatte ihn absichtlich von hinten gerammt, als er mit dem Fahrrad von der Insel Kritaholm nach Deuzin unterwegs gewesen war, um einen Mietwagen abzuholen. Damals hatte Melanie an Edgars Krankenbett in der Klinik ein Gelübde abgelegt. Dass sie auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela pilgern würde, falls Edgar überleben sollte.

Er hatte überlebt, und im Mai dieses Jahres hatte Melanie in Begleitung ihrer Freundin Gerti das Gelübde abgeleistet.

Herrgott, Edgar, ich kann nicht schon wieder ein Gelübde ablegen, verstehst du? So viel Kredit steht keinem sterblichen Menschen zu, dachte sie, und zum ersten Mal zerbröckelte ihre steinerne Gesichtsmaske, um einem müden Lächeln Platz zu machen. Hörst du, mein Edgar?

Ob ihr Appell Edgar wirklich erreichte, blieb unbeantwortet, doch noch in derselben Minute öffnete sich wieder einmal die Flügeltür, und ein grauhaariger Mann mit grüner Kopfhaube und Mundschutz trat aus dem OP-Bereich. In einer fließenden Bewegung nahm er den Mundschutz ab.

„Sind Sie Frau Köninger?“

Melanies Herz klopfte bis zum Hals, als sie sich vom Klappsitz erhob. Sie nickte stumm.

„Ihr Mann, Herr Schaaf, liegt jetzt auf der Intensivstation. Er wird durchkommen. Das ist die gute Nachricht. Aber …“

Vor Melanies Augen neigten sich die Flurwände Richtung Boden. „Aber?“, schluckte sie.

„Welche Folgen die Hirnblutung hat, können wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen.“

„Hirnblutung?“

„Ja. Wir mussten seinen Schädel öffnen, um den Druck auf das Hirn zu mindern und die Blutung zu stillen. Das ist uns weitestgehend gelungen. Er braucht nun absolute Ruhe.“

Wie nebensächlich ihre nächste Frage war, merkte sie erst, nachdem sie sie gestellt hatte. „Mussten Sie ihm den Schädel rasieren? Den Pferdeschwanz?“

Der Grauhaarige breitete die Arme aus wie ein Priester, der den Segen erteilte: „Leider war es unumgänglich.“

Melanie stützte sich mit einer Hand an der Wand ab. „Kann ich ihn sehen?“, fragte sie, obwohl sie die Antwort im Voraus kannte.

Der Arzt, Melanie nahm an, dass es sich um einen solchen handelte, schüttelte langsam den Kopf. „Heute nicht mehr, Frau Köninger. Er kann von Glück reden, dass Sie in seiner Nähe waren und das Richtige getan haben. Gehen Sie nach Hause und versuchen Sie ein paar Stunden zu schlafen. Morgen können Sie ihn dann besuchen.“

Als Melanie kurz nach dreiundzwanzig Uhr in Gengenbach aus dem Taxi stieg, sah sie eine Gestalt auf der Treppe ihres Hauses kauern. So wie sie das Gartentor öffnete, sprang die Gestalt auf und kam ihr wie ein Nachtschatten in die Arme geflogen. Gerti. Dankbar, die nächsten Stunden nicht alleine verbringen zu müssen, fing Melanie die Freundin auf.

Dienstag, 19. September 2023

Offenburg-Bohlsbach

Es hatte sich nichts geändert. Baden-News sendete keine Bilder aus Durlangen. Mittlerweile lief am unteren Rand des Bildschirms in Dauerschleife der Hinweis, dass aus Rücksichtnahme auf die Sicherheit der Geiseln die Live-Übertragung in Wort und Bild bis auf Weiteres eingestellt blieb.

Rita klapperte die sozialen Netzwerke nach hochgeladenen Handy-Aufnahmen ab, denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass hinter den Polizeiabsperrungen keine Gaffer das Geschehen rund um die Sparkasse verfolgten. Und tatsächlich stieß sie unter dem Namen True Helmet auf einen Livestream-Freelancer, der, offensichtlich mit einer Helmkamera ausgestattet, aus einiger Entfernung Bilder von der Sparkasse und der Straße davor kommentarlos ins Netz stellte. Am rechten unteren Bildrand lief die Uhrzeit. Zweiundzwanzig Uhr dreiunddreißig.

Scheinbar kam Rita gerade zur rechten Zeit, denn ein mattschwarzer BMW wurde mit geöffneter Fahrertür vor dem Eingang der Sparkasse abgestellt. Wenig später trat ein Mann, nur mit Unterhose bekleidet, in jeder Hand einen Metallkoffer, neben den BMW und blieb dort stehen.

Zugegeben, die Aufnahmen waren aufgrund der Entfernung und ohne Stativ von schlechter Qualität, aber Rita erkannte in dem nackten Mann Ulf auf Anhieb. Wie er dastand. Jeder Muskel, jeder Quadratzentimeter seines Körpers waren ihr vertraut. Ihre Gedanken schlugen Kapriolen. Nein, nein, schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel, tu´ das nicht, Ulf.

Was sich exakt in oder an der Sparkasse tat, war von der Kamera nicht einzusehen, aber Ulf setzte sich plötzlich in Bewegung und verschwand mit den beiden Koffern im Gebäude. Dann dauerte es quälende zehn Minuten, in denen absolut nichts geschah.

Nach Ablauf dieser Zeit wurde der Livestream allerdings jäh gestört. Rita wurde Zeuge, wie unverhofft ein uniformierter Polizist auf ihrem Display auftauchte und den Helmträger unmissverständlich aufforderte, die Kamera auszuschalten und sich zu entfernen. Es sah aus, als würde der Helmträger den Anweisungen des Polizisten zumindest teilweise folgen und den Beobachtungsplatz verlassen, denn die Bilder zeigten auf einmal wirre Aufnahmen von Gaffergesichtern, als würde er durch eine Menschenmenge pflügen. Die Kamera jedenfalls sendete weiter.

Dann Bilder einer Hausfassade. Eine Haustür. Klingelschilder. Eine Hand, die beliebige Klingelknöpfe drückte. Ein Summton. Tür auf. Ein Treppenhaus. Treppe aufwärts, schwindelerregend. Ein Fenster. Fenster auf. Dort die Sparkasse. Position der Kamera jetzt ungefähr zehn Meter über dem Straßenniveau.

Soeben wurde die Tür zur Sparkasse geöffnet. Ein Pulk von etwa zehn Personen verließ zusammengedrängt die Bank. Gut erkennbar in deren Mitte zwei Maskierte mit Faustfeuerwaffen – und Ulf. Es war klar ersichtlich, dass die Gangster die anderen Personen als lebende Schutzschilde benutzten. In Trippelschritten erreichte die Gruppe den BMW.

Rita sah, dass einer der Maskierten sich mit einem Matchsack über den Fahrersitz auf den Beifahrersitz schob. Wie Ulf, noch immer nackt, sich nach ihm ans Steuer setzte, und der zweite Maskierte mit einem Koffer auf den Rücksitz kletterte. Drei Sekunden später raste der BMW mit einem Kavalierstart davon, während die Geiseln von Polizisten in Empfang genommen wurden.

Aus einer verwaschenen Eingebung heraus nahm Rita einen Zettel und notierte den Namen: True Helmet.

Mittwoch, 20. September 2023

Offenburg

Intensivstation. Melanie wurde mit Schutzbekleidung, Atemschutzmaske und Kopfhaube ausgestattet. Dermaßen unkenntlich gemacht, durfte sie in Begleitung einer Krankenschwester in ähnlichem Outfit die Station betreten. Überhaupt in die Intensiv gelassen zu werden, betrachtete Melanie als gutes Zeichen: Dass er lebte. Und sie war gewillt, diesen ersten Schritt bewusst zu gehen, denn er konnte nach ihrer Interpretation nur in eine Richtung führen: aufwärts.

Die Krankenschwester, eine kleine, wuselige Person unbestimmbaren Alters, öffnete für sie die Tür zum Krankenzimmer und ging auch zu Edgars Bett voraus. Mit routiniertem Blick überprüfte sie die Geräte, die neben Edgars Bett aufragten; verstellte ein Schlauchventil, das irgendeine Flüssigkeitszufuhr regelte; bedachte Melanie mit einem ernsten Blick und ließ diese dann allein mit Edgar zurück.

Er hatte die Augen geschlossen, atmete aber, mit unterstützender Sauerstoffspende in die Nase, selbstständig. Im Mund steckte ein Kunststoffschlauch, der permanent und röchelnd Speichel absaugte. Das bisschen Gesicht, das der voluminöse Kopfverband übrig ließ, schimmerte im kalten Neonlicht in der Farbe vergossenen Kerzenwachses.

Melanie war geschockt, ihren sonst so präsenten Mann auf so schreckliche Weise reduziert zu sehen. Man hatte ihm den Bart gelassen. Ob ihm tatsächlich, wie der Arzt gestern Abend gesagt hatte, das silberne Haupthaar inklusive Pferdeschwanz abrasiert worden war, konnte sie wegen des Verbandes nur ahnen. Doch warum sollte man etwas behaupten, was nicht stimmte. Melanie dachte an den biblischen Samson, dem Delila das Haar hatte schneiden lassen, wodurch der starke Held seine übermenschliche Kraft verlor. Tränen stiegen ihr in die Augen.

Ich weiß nicht mal, was ihm wichtiger wäre, dachte sie. Die Haare zu behalten oder das Leben. Gottseidank war er nicht vor die Wahl gestellt worden.

Die Intensivstation mit ihren Krankenzimmern war wirklich nicht für Besuche ausgelegt. Melanie schaute sich um. In der Ecke unter dem Fenster entdeckte sie einen spartanisch anmutenden Hocker. Drei Metallbeine und eine Sitzfläche aus hartem Holz. Sie zog ihn neben das Bett und setzte sich. Minutenlang beobachtete sie, wie sich Edgars Brustkorb hob und senkte.

Wenigstens das, dachte sie. Dann wagte sie, seine Hand zwischen ihre Hände zu nehmen und leicht zu drücken, nur um mehr für ihn zu sein als bloß eine stille Beobachterin.

„Liebe Grüße von Gerti“, sagte sie und kam sich dabei so komisch vor wie früher im Beichtstuhl, wo sie als Kind ihre lächerlich erfundenen und auswendig gelernten Sünden aufzählte, ohne hinter dem Gitterfenster jemanden zu sehen. Ich habe gelogen; ich war unartig; ich habe meiner Mutter Kummer bereitet; ich habe Würfelzucker stibitzt.„Und natürlich auch von Eliza und Pit. Gute Besserung und so. Na, du weißt es ja.“

Die Schwester hatte gesagt: „Frau Köninger, Sie dürfen ihn berühren und können mit ihm sprechen. Ob er etwas spürt oder versteht, wissen wir nicht. Aber es kann ihm jedenfalls nicht schaden. Der Chefarzt, Dr. Matumgo, ist momentan außer Haus. Er wird mit Ihnen reden, wenn er wieder da ist. Okay?“

„Matumbo?“, hatte Melanie gefragt. „Klingt afrikanisch.“

„Matumgo. Von der Elfenbeinküste. Er ist schwarz wie poliertes Ebenholz.“

Melanie ließ Edgars Hand los, um in ihrer Tasche zu kramen.

„Ich habe zwei Bücher mitgebracht. Gedichte von Ringelnatz, und eine Autobiografie von Neil Young. Was willst du hören, mein Edgar? Ringelnatz? Neil Young? Ringelnatz! Gute Wahl. Hätt´ ich auch genommen.“ Sie setzte ihre Lesebrille auf, legte, um ihn die Vibrationen spüren zu lassen, seine Hand auf ihre Brust, und begann vorzulesen: „Kuttel Daddeldu …“

Mittwoch, 20. September 2023

Offenburg

Zu Hause hatte es Rita nicht ausgehalten. Mitten in der Nacht war sie zur Polizeidirektion gefahren und ins Polizeirevier geplatzt, wo Polizeihauptmeister Ferdinand Oberländer eine einsame aber bewegte Nachtschicht schob. Alle Streifenwagen befanden sich wegen erhöhter Einsatzbereitschaft auf den Straßen.

Oberländer war angespannt. Rita erkannte es am Spiel seiner Kiefermuskeln. Seine Miene war nicht freundlicher geworden, als sie ins Büro gepoltert kam. Eher im Gegenteil.

„Mensch Rita, dich kann ich jetzt überhaupt nicht hier gebrauchen“, schnappte er und präsentierte ihr die Zornesfalte zwischen den Augen. „Überhaupt nicht“, legte er nach.

Was Rita als Aufforderung betrachtete, die Schranke am Besuchertresen zu passieren und sich frech an den zweiten Schreibtisch Oberländer gegenüber zu pflanzen. Er grummelte etwas, das sie nicht verstand.

„Die Lage, Ferdinand. Wie sieht´s aus da draußen? Und erzähl´ mir keinen Mist. Du weißt, was ich meine.“ Rita vermied es, explizit nach Ulf zu fragen.

In Oberländers Gesicht arbeitete es. „Die Lage ist, dass wir momentan keine Lage haben. So sieht´s aus, Rita. So sieht´s aus.“

Rita blieb provozierend stumm, quälte ihn jedoch mit ihrem Laser-Blick.

„Die Streifenwagen wurden abgezogen“, fuhr Oberländer fort. „Meine Leute müssten jeden Augenblick aus Durlangen zurückkommen. Das LKA ist jetzt an dem Fall dran. Du verstehst?“

Rita nickte. Eine Verfolgung des Fluchtfahrzeugs mit Streifenwagen würde die Bankräuber unter unberechenbaren Stress setzen und somit die Geisel, Ulf, zusätzlich gefährden. Rita kaute nervös auf der Unterlippe.

„Ich weiß, was du jetzt denkst, Rita. Aber die vom LKA werden bestimmt einen Plan haben.“

Rita schnaubte zynisch durch die Nase. „Das LKA und seine Pläne. Das ist in etwa so, wie wenn Donald Duck einen Plan hat. Aber danke für den netten Versuch, Ferdinand. Beruhigt mich ungemein.“

Oberländer tat beleidigt: „Du wolltest es wissen, nun, ich hab´ es dir gesagt.“ Er widmete sich demonstrativ einem Stapel offiziell aussehender Papiere.

Rita gab noch nicht auf. „Und wie komm´ ich jetzt an Informationen über Ulf?“

Oberländers Augen blieben wie festgeschraubt auf den Papieren hängen, als er sagte: „Du bist doch hier die Ermittlerin, Rita, und dein Büro befindet sich meines Wissens nach eine Etage höher.“

Das war ein Rauswurf erster Klasse. Soviel hatte Rita kapiert. Sie blieb noch eine kurze Weile sitzen und beobachtete, wie Oberländers Mundwinkel ein merkwürdiges Eigenleben führten. Böse war sie ihm aber nicht. Er war der beste Revierleiter ever und wurde von all seinen Leuten wegen seiner Fairness und Unbestechlichkeit geschätzt.

Wenige Minuten später knallte sie die Tür ihres Büros hinter sich zu. Niemand außer ihr hielt sich zu dieser Nachtstunde im ersten Stock auf. Würde es sich um ein anderes Gebäude handeln – vermutlich käme es ihr unheimlich vor. Aber so war ihr alles vertraut. Dennoch blieb sie regungslos neben ihrem Schreibtisch stehen und lauschte. Lauschte in die Dunkelheit und zum Fenster hinaus, ob da nicht doch das Geräusch eines flügelschlagenden Engels zu hören sei, der auf dem Weg zu ihr wäre und sagen würde: Alles wird gut, mein Mädchen.

Aber da war nichts.

Sie schimpfte sich töricht, als nüchterner Mensch Hoffnungen mit sentimentalen esoterischen Bildern zu verknüpfen. Dann wiederum fand sie es schade, dass das kurze Leben so verdammt realistisch sein musste. Spontan fiel ihr die alte Nachbarin ein, die angeblich mit Engeln reden konnte. Alle hielten sie deswegen für verrückt. Allein Rita bewunderte sie. Wenn die Alte sterben müsste, würde sie glücklich sterben.

Sie knipste das Licht an. Doch das harte Neonlicht leuchtete ihre Hilflosigkeit so respektlos aus, dass sie sich beobachtet und nackt fühlte. Rasch schaltete sie es wieder aus und ließ sich vom Mantel der Dunkelheit einhüllen.

Oberländers Stimme hallte in ihr nach: Du bist doch hier die Ermittlerin.

Wen konnte sie anrufen? Wer würde am ehesten etwas über Ulfs Rolle und Verbleib in dem Geiseldrama wissen oder erfahren und es ihr sagen? Der oberste Dienstherr des SEK war der Innenminister des Landes. Der schied schon mal von vornherein aus. Ansonsten war das SEK dem LKA zugeordnet. Für gewöhnlich ließen sich die als arrogant verschrienen LKA-Leute nicht in eine angerichtete Suppe spucken. Zudem würden sie sich dort vor Lachen am Boden kringeln, wenn die kleine Kommissarin Rita Böhringer wegen eines aktuellen Einsatzes anrief. Hallo? Bin ich beim großen LKA? Ich bin Klein-Rita. Kriminalkommissarin Rita Böhringer, und Ulf Thommen ist mein Freund … Nein! Unmöglich!