Schaafshunde - Pit Ferman - E-Book

Schaafshunde E-Book

Pit Ferman

0,0

Beschreibung

Während Melanie Köninger ihr Gelübde ableistet und in Spanien auf dem Jakobsweg pilgert, weilt Edgar Schaaf mit den Hunden Müller und Lydia allein zu Haus. Zufällig wird er Zeuge eines perfiden, durch einen präparierten Hackfleischköder verursachten Anschlags auf einen Hund. Bald stellt er fest, dass es sich nicht um einen Einzelfall, sondern um eine regelrechte Serie von Anschlägen handelt. Als auch Edgars eigene Hunde Ziele eines Hundehassers werden, beginnt er sich zu wehren.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 413

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Während Melanie Köninger ihr Gelübde ableistet und in Spanien auf dem Jakobsweg pilgert, weilt Edgar Schaaf mit den Hunden Müller und Lydia allein zu Haus. Zufällig wird er Zeuge eines perfiden, durch einen präparierten Hackfleischköder verursachten Anschlags auf einen Hund. Bald stellt er fest, dass es sich nicht um einen Einzelfall, sondern um eine regelrechte Serie von Anschlägen handelt. Als auch Edgars eigene Hunde Ziele eines Hundehassers werden, beginnt er sich zu wehren.

Für alle Hunde

Inhaltsverzeichnis

Erster Tag

Zweiter Tag

Dritter Tag

Vierter Tag

Fünfter Tag

Sechster Tag

Siebter Tag

Achter Tag

Neunter Tag

Zehnter Tag

Elfter Tag

Zwölfter Tag

Dreizehnter Tag

Vierzehnter Tag

Fünfzehnter Tag

Sechzehnter Tag

Siebzehnter Tag

Nächster Tag

Schaafswinter

Schaafssturm

Schaafshammer

Schaafsgold und der ungelesene Autor

Schaafsinsel

Erster Tag

Samstag, 06. Mai 2023

Der Elektromotor des Reisebusses summte leise wie ein Bienenstock im Hochsommer. Einer der beiden Fahrer paffte nervös eine letzte Zigarette. Er zog so heftig am Glimmstängel, dass seine Wangen tiefe Mulden bildeten. Er versteckte sich hinter dem Heck, als würde er sich schämen. Noch standen die Ladeluken für das Gepäck der Passagiere offen, gaben den Blick auf Koffer, Taschen, Rollstühle, Rollatoren und Krücken frei.

Melanie umarmte Edgar Schaaf seit geraumen Minuten. Sie schniefte: „Ich hab´ jetzt schon Heimweh nach dir, mein Lieber. Jetzt, da es losgeht, möcht´ ich am liebsten daheim bleiben.“

„Das könnte dir so passen“, raunte er ihr ins Ohr und presste sie noch fester an sich.

„Du gibst acht auf dich. Versprich mir das. Und kriminalisiere nicht herum.“

„Ich geb´ acht, versprochen.“

„Und auf Lydia und Müller.“

„Und auf Müller und Lydia“, antwortete Edgar. „Hast du auch nichts vergessen? Jetzt hast du noch eine Chance. Telefon? Laptop? Sonnenbrille? Geldbörse? Wasserflasche? Sonnencreme?“

Melanie zwickte ihn in die Seite. „Ich heiße Melanie Köninger, und nicht Edgar Schaaf, wenn dir das als Erklärung reicht.“

Er drückte ihr einen langen Kuss auf die Stirn.

Der Busfahrer schnippte die Zigarettenkippe achtlos unter den Bus, klappte die Gepäckfächer zu und hangelte sich schwerfällig auf seinen Sitz.

„Es wird Zeit, mein Schatz. Ich liebe dich“, sagte Melanie.

„Ja. Ich dich auch.“

Sie küssten sich innig.

Melanie reihte sich in die Schlange der Leute ein, die den Reisebus durch die Hintertür erklommen, unmittelbar hinter ihrer Freundin Gerti, die sie als private Reisebegleitung hatte gewinnen können. Ein stummer Blick noch durchs Fenster, ein gehauchter Kuss, dann schwoll das Summen des Elektromotors um eine Terz an. Zischend schlossen sich die Türen. Mit knirschenden Reifen setzte sich der Bus in Bewegung. Zwei weitere Stufen in der Drehzahl, und Edgar hörte nur noch ein Säuseln, nicht lauter als ein Zimmerventilator. Ein letztes Winken. Der Bus entfernte sich geräuschlos Richtung Spanien.

Edgar trottete, Hände in den Hosentaschen, nachdenklich nach Hause. Er trug leichte, dunkelgraue Leinenhosen und ein um eine Nuance helleres Hemd. Es war Frühling, sechster Mai 2023. Es versprach ein sonniger Tag zu werden. Gutes Reisewetter.

Zweieinhalb Wochen würde er alleine sein. Sechzehn oder siebzehn Tage ohne Melanie, je nach Anzahl ihrer Ruhetage. Die Rückreise mitgerechnet sogar einen Tag länger.

„Du willst das wirklich machen? Den Camino?“, hatte er gefragt, als sie ihm ihre Pläne unterbreitet hatte. Das war im März gewesen.

„Ich habe es mir geschworen, Edgar, als du auf Kritaholm im Koma lagst. So was wie ein Gelübde, verstehst du? Wenn du wieder aufwachst, und wenn ich dich gesund wiederbekomme, habe ich mir dort gesagt, pilgere ich nach Santiago de Compostela. Man sollte solche Worte nicht in den Mund nehmen, wenn man es nicht ernst meint. Ich habe es ernst gemeint.“

Es handelte sich um das Angebot eines Busunternehmens, körperbehinderten Menschen diese Pilgerreise zu ermöglichen. Inklusive geschultem Begleitpersonal und medizinischer Betreuung durch mitreisende Ärzte. Zweieinhalb Wochen den Pilgerpfad in Nordspanien über rollstuhlgängige Wege, mit Übernachtungen in ausgesuchten Hotels, flexiblen Ruhetagen, und garantierter Ankunft in der Kathedrale von Santiago de Compostela.

El Camino also. Nord-Spanien. Knappe zweihundert Kilometer in elf Etappen. Keine ganz billige Sache. Dafür waren aber alle Übernachtungen und Mahlzeiten gesichert, das Gepäck wurde an die jeweils nächste Station vorausgeliefert. Die Betreuer und Ärzte begleiteten die Pilger auf der gesamten Wegstrecke. Man befand sich in guten Händen.

Melanies Behinderung resultierte von ihrem amputierten linken Fuß. Eine Leitplanke hatte ihn beim Sturz mit einem Motorrad vom Knöchel bis zu den Zehen abrasiert. Sie selber betitelte den Stumpf manchmal sarkastisch als ihren Huf, besonders wenn sie, selten genug, über etwas ungehalten war und am liebsten mit dem Fuß auf den Boden stampfen würde.

Als sie das Inserat des Busunternehmens entdeckt hatte, war es für sie perfekt gewesen. „Anders würde ich es nicht wagen“, hatte sie gesagt. Mit anders meinte sie alleine und ohne Begleitung. „Ich bin zwar nicht schwerbehindert, aber doch beeinträchtigt“, gab sie zu.

Als Edgar seine Mitreise angeboten hatte, hatte sie strikt abgelehnt. „Nein, Edgar, das ist zwar lieb von dir, aber das muss ich ohne dich durchstehen. Schließlich hab´ ich das Gelübde geleistet, und nicht du. Zudem muss jemand bei den Hunden bleiben. Über zwei Wochen in fremden Händen – das geht nicht. Ich belaste die Vertretung in meinem Geschäft Aquarelle und Poesie, Frau Holzer, schon genug. Kümmere du dich um die Hunde und die Kellergalerie, und schau´ ab und zu bei Frau Holzer nach dem rechten. Wenn mich jemand begleitet, wird es Gerti sein. Allerdings hat sie noch nicht zugesagt.“

Gib acht auf dich. Versprich mir das. Und kriminalisiere nicht herum.Ich liebe dich.

Die Worte hingen ihm nach. „Ich liebe dich auch, Melanie“, murmelte er, als er das Gartentor zum Türmchenhaus öffnete. Zwei Vierbeiner rasten aus den hinteren Bereichen des Gartens auf ihn zu. Müller und Lydia, ihre Hunde. „Und euch liebe ich auch“, sagte er laut. „Guck nicht so doof, Müller, du vierbeiniger Affe, und du Lydia, meine Schöne.“ Er hob einen zerschlissenen Ball aus dem Kies des Weges auf und schleuderte ihn vehement weit in das Grundstück hinein. Wie von der Sehne geschnellt jagten die Hunde hinterher. Immer wieder phantastisch, dachte er.

Edgar schloss die Tür auf und betrat das Haus. Abrupt blieb er stehen und spürte die Leere, als hätte eine riesige Vakuumpumpe jede Erfüllung, die in diesen Räumen stattgefunden hatte, abgesaugt. Das Klirren des Schlüsselbundes in der Hand war das lauteste Geräusch. Er steckte ihn in die Hosentasche und lauschte der anschließenden Stille. An und für sich war er, wenn sich Melanie im Aquarelle und Poesie aufhielt, häufig allein zu Haus, daher sollte es keine neue Erfahrung für ihn darstellen. Doch diese Leere und diese Stille besaßen eine andere Qualität. Eindeutig. Die Leere schien über die Wände und Mauern hinauszuwachsen, das gesamte Inventar bis zur Bedeutungslosigkeit und Unkenntlichkeit zu minimieren, ja, sogar bis in seine Seele zu dringen und sich dort einzunisten. Die Stille hingegen war so stumpf wie ein abgewetztes Messer und so dumpf wie ein Konzertsaal voller Watte. Er ahnte, dass dieses Haus und diese Räume nur durch Melanies Präsenz und Aura lebten, dass es ohne sie nichts weiter war als eben bloß ein x-beliebiges Haus. Ein Haus ohne Seele, ohne Charakter und ohne Geschichte. Auch wenn er mittlerweile seine Spuren sichtbar hinterlassen hatte, er dachte an die Wandverkleidungen, die er erneuert, und an das Türmchenzimmer, das er renoviert hatte, so waren es noch lange keine beweiskräftigen Fingerabdrücke, mittels derer man ihn mit diesem Haus in Verbindung bringen konnte.

Und kriminalisiere nicht herum.

Er grinste, weil er sich selber dabei ertappt hatte, wieder mal in seine Berufssprache abgerutscht zu sein.

Ach Melanie, wie soll ich es ohne dich nur aushalten? Du bist doch hier zu Hause. Nicht ich. Jedenfalls nicht ohne dich.

Er warf einen Blick auf die Küchenuhr. Acht Uhr morgens. Erst eine halbe Stunde, seit sie weggefahren ist, und schon krieg´ ich den Koller.

Es war nicht so, dass ihm die Decke auf den Kopf zu fallen drohte. Da hatte er vorgedacht und sich dieses und jenes vorgenommen.

Zum Beispiel würde er, vorausgesetzt das Wetter ließ es zu, etwas mehr mit seiner Harley Davidson fahren. Vielleicht sich mit seinem Freund Peter Seibelt in Weinbuch kurzschließen und gemeinsam mit ihm die eine oder andere Tour unter die Räder nehmen.

Oder er würde sich zum Beispiel um sein umfangreiches kriminalistisches Archiv kümmern, das überwiegend aus Zeitungsartikeln, eigenen Notizen und Randbemerkungen zu den jeweiligen Fällen bestand. Möglicherweise stieß er dabei auf einen sogenannten Cold case, also einen polizeilich und juristisch ungelösten Fall, zu dem sich ein paar Nachforschungen lohnten. Harmloser Natur natürlich, um nicht mit Melanies mahnenden Worten Kriminalisiere nicht herum zu kollidieren.

Die Kellergalerie musste betreut werden, obwohl sich die Schar der Interessenten sehr in Grenzen hielt. Gleichwohl war er durch die Öffnungszeiten angehalten, vor Ort zu sein.

Und dann selbstverständlich die Hunde, Müller und Lydia, denen er mindestens zweimal pro Tag verpflichtet war. Zweimal die Tour über die Felder, absolute Must-haves für die beiden, egal bei welchem Wetter. Aber das machte ihm nichts aus, praktizierte er dabei doch seine persönliche Art von Meditation, indem er die Gedanken schweifen ließ. Unersetzlich.

Die erste Tour über die Felder lag für heute bereits hinter ihm. Noch bevor er Frühstück bereitet und Melanie zur Bushaltestelle begleitet hatte, war er mit Müller und Lydia unterwegs gewesen. Raus aus dem Haus, durch die übliche Passerelle zwischen zwei eingezäunten Gartengrundstücken, welche die Hunde schon automatisch ansteuerten, um vor die Stadt zu gelangen. Tau auf den Gräsern, eine Schicht Nebelschlieren über den Ackerböden, noch zu schwer, um von der Sonne verscheucht zu werden.

Solange wir Hunde haben werden, wird das jeden Morgen unser Ritual sein, hatte er gedacht.

Bevor er seinem zweiten Ritual frönte, spülte er das Frühstücksgeschirr. Das zweite Ritual: Duschen und Haarwäsche. Seit dem Wohnmobilbrand im vergangenen September auf Kritaholm, bei dem sein Pferdeschwanz zur Hälfte dem Feuer zum Opfer gefallen war, hatte seine Kopfzierde wieder einige Zentimeter zugelegt. Er hatte sich nicht dazu überwinden können, der Verlockung eines praktischen Kurzhaarschnitts nachzugeben. Es musste etwas geben, das ihn auch rein optisch von der Masse des uniformgleichen Senioren-Outfits abgrenzte, und das waren eben die Haartracht als auch die Wahl seiner Kleider. Edgars Farbspektrum reichte von allen dunkleren Grautönen über Anthrazit bis Schwarz. Zeigte er sich ausnahmsweise in einem etwas hellerem Grau, beschränkte es sich entweder auf ein Hemd, T-Shirt oder ein Accessoire wie zum Beispiel ein Schal. Einzige Farbtupfer erlaubte er sich nur bei den karierten Flanellhemden, die er ausschließlich zu Hause trug.

Gegen zehn Uhr öffnete er die Remise, die im Garten hinter dem Haus stand, und schob die Harley ins Freie. Er steckte den Zündschlüssel ins Schloss, drückte das Fußpedal in die Leerlaufstellung und betätigte den Anlasser – der Motor begann zu grollen. Müller und Lydia hielten respektvoll Abstand.

Edgar liebte diesen satten Sound, das tiefe Bollern der Zylinder und Auspufftöpfe. Wenn er je Mitglied einer Rockband gewesen wäre, dann nur als Bassist. Das war für ihn so sicher wie der Lauf der Erde um die Sonne.

Eine erneute Drehung des Zündschlüssels, und das Grummeln erstarb. Er holte das Chrompflegemittel und einige weiche Putzlappen aus der Remise. Heute würde er die Maschine mit ihren blitzenden Teilen auf Hochglanz wienern. Ein prüfender Blick zum Himmel – und ja, für eine Ausfahrt würde die Zeit auch noch reichen.

Ab vierzehn Uhr saß Edgar auf einem Gartenstuhl an einem Gartentisch neben der Treppe, die zur Kellergalerie hinabführte, und blätterte in einem der Ordner, die er mit Zeitungsberichten über Kriminalfälle in Deutschland gefüllt hatte. Als Schutz gegen die Sonneneinstrahlung trug er einen Strohhut, und um die Sache erträglich zu gestalten, standen je eine Flasche Weißwein und Mineralwasser nebst einem Glas auf dem Tisch, sowie ein Aschenbecher, in dem eine Zigarette qualmte. Im Schatten eines Rhododendronstrauchs dösten die Hunde faul vor sich hin.

Eliza Wohlbrecht, Pit Fermans Ehefrau, hatte in der Kellergalerie ihre Grafiken wieder aufgehängt, nachdem sie den Platz kurzfristig für die Illustrationen Stephen Marquarts anlässlich der Lesung Walter Hardtwalds im vergangenen Dezember hatte räumen müssen. Aktuell befand sich eine einzelne Besucherin in der Ausstellung, die sich für Elizas Grafiken interessierte. Wie abzusehen war, würde es ein ruhiger Nachmittag werden. Edgar hatte partout nichts dagegen.

Er mischte gerade ein zweites Glas Weinschorle, als ein Schatten auf den Tisch fiel. Verwundert blickte Edgar auf, denn er hatte den Besucher gar nicht kommen hören. Ein Mann in weißen Turnschuhen, Blue Jeans und einem beigen Blouson. „Hallo, geht´s hier zur Kellergalerie hinunter?“

Edgar schaute in ein ovales Gesicht, das überhaupt nicht so einfältig wirkte, wie er aufgrund der Frage hätte schließen können. Immerhin stand es unübersehbar in großen Lettern über dem Torbogen unterhalb der Treppe: Kellergalerie. Edgar betrachtete das Gesicht des Mannes und fühlte sich augenblicklich an die weiße Maske eines Pantomimen erinnert. Denn die hervorstechendsten Merkmale waren die bleiche, wächserne Haut und die starren Züge, möglicherweise jederzeit bereit, eine x-beliebige Emotion auszudrücken. Für den Augenblick jedoch schien die Fähigkeit zur Mimik eingefroren zu sein Dann der kleine, fast spitz zulaufende Mund. Dünne, hoch geschwungene Augenbrauen. Und die Frisur: Nach vorne gekämmte struppige braune Haare, die mit einer auffälligen Strähne die Stirn in zwei Hälften teilten. Edgar schätzte ihn auf ungefähr fünfzig Jahre. „Jawohl, der Herr“, antwortete er.

„Kostet es Eintritt?“

Edgar schüttelte den Kopf. „Es steht aber eine Kiste für freiwillige Spenden unten. Wenn Sie also wollen?“

„Schöne Hunde haben Sie“, sagte der Mann ohne jegliches Mienenspiel, und schaute zu Müller und Lydia hinüber, die noch immer beim Rhododendron lagen.

„Ja, das sind sie.“

„Na, dann wollen wir mal“, sagte der schmale Mund, und stieg die Treppe hinunter.

Edgar widmete sich wieder seiner Lektüre, war jedoch nicht ganz bei der Sache. Ein merkwürdiger Gedanke beschäftigte ihn. Es gibt über acht Milliarden Menschen auf der Welt, dachte er, und alle gleichen einander, weil auf wenigen Quadratzentimetern des Gesichts jeder die gleichen Merkmale an gleicher Stelle besitzt: Augen, Nase, Mund. Und doch sind alle verschieden, niemals wirklich dieselben. Er überlegte weiter. Wenn ich acht Milliarden unterschiedliche Gesichter zeichnen müsste, wäre es ein Ding der Unmöglichkeit. Spätestens ab dem tausendsten würde ich beginnen mich zu wiederholen. Wie schafft die Natur das?

Er dachte in diesem Kontext an das Mysterium der Fingerabdrücke, mit denen er im Zuge seiner Polizeilaufbahn zu tun gehabt hatte. Gleichfalls ein Wunder, dessen Einmaligkeit er sich beruflich zwar zunutze machen, aber biologisch nicht plausibel erklären konnte.

Er zündete sich eine Zigarette an und schaute dem Rauch hinterher. Die Scherz-Postkarte fiel ihm ein, die Melanie kürzlich erhalten und wegen des aufgedruckten Sinnspruchs mit einem Magnet an die Kühlschranktür geheftet hatte: Sei du selbst. Alle anderen gibt es schon. Er trank einen Schluck Wein.

Wohl wahr, dachte er, und doch rotten sich die Menschen mit Gleichgesinnten zusammen; gründen Vereine und Parteien, strömen in Scharen in Fußballstadien oder zu Mega-Events, müssen überall und jederzeit dort mit dabei sein, wo der Bär tanzt, wollen gleich sein wie die anderen, und vielleicht noch ein bisschen gleicher. Wo bleibt da die Singularität?

Es war die Blase, die ihn drückte und weshalb er sich erhob, um sich zu erleichtern. Der Einfachheit halber und weil der Weg zum WC in der Kellergalerie kürzer war als zur Toilette in der Wohnung, eilte er die Treppe hinunter. Als er den Gewölbekeller betreten wollte und die Hand nach der Tür ausstreckte, wurde diese von innen ungestüm aufgestoßen. Edgar nahm das unheilvolle Knacken im Handgelenk nur nebenbei wahr, denn an ihm vorbei rauschte, offensichtliche Entrüstung im Gesicht, die Besucherin der Galerie. „Geh´n Sie mir aus dem Weg“, schnaubte die Frau, stürmte die Treppe empor und entschwand seinen Blicken. Jetzt erst spürte er den Schmerz, der vom Handgelenk über eine Starkstromleitung direkt ins Hirn geleitet wurde. Edgar krümmte sich vor Pein, ihn schwindelte, und so sank er auf eine der Stufen. Tränen schossen ihm in die Augen, sodass er kaum mitbekam, wie der Mann mit dem bleichen Gesicht ungerührt die Galerie verließ, teilnahmslos an ihm vorbei die Stufen hinaufstieg und sich in stoischer Ruhe entfernte.

Wie immer an Wochenenden war die Notfallaufnahme des Ortenau Klinikums Offenburg überfüllt gewesen. Als Edgar nach zweieinhalb Stunden mit einem Gips am rechten Arm die Klinik wieder verließ, hatte er noch Glück gehabt, dass sein Fall als dringend eingestuft worden war. Seit Jahren schon war die flächendeckende medizinische Versorgung der Bevölkerung gerade an Wochenenden ein Ärgernis, und es gab zu viele Gründe, warum das so war.

Edgar hatte mit zusammengebissenen Zähnen die Kellergalerie geschlossen, die Hunde ins Haus gescheucht und für die Fahrt in die Klinik ein Taxi gerufen. Röntgen, Diagnose Handgelenkbruch, Gipsmanschette von den Fingern bis zum Ellbogen. Aus die Maus mit Motorradfahren.

Jetzt saß er am Bahnsteig der S-Bahn in Offenburg und versuchte, während er auf den Zug nach Gengenbach wartete, sich an das Aussehen der Frau aus der Kellergalerie zu erinnern, die ihm so prächtig die Tür gegen die Hand gedonnert hatte. Viel brachte er nicht zustande. Alter zwischen vierzig und fünfzig Jahre, Größe um die ein Meter sechzig, schlank, dunkelbraune glatte Haare. Schulterlang? Oder kürzer? Bei der Kleidung musste er komplett passen. Er war zu sehr in sein Archiv vertieft gewesen und gehörte sowieso nicht zu der Sorte Männer, die jedem Rockzipfel hinterhergafften. Dennoch: Als Ex-Bulle durfte er eine höhere Qualität an Beobachtungsgabe von sich erwarten. Aber da war nichts.

Du wärst ein lausiger Zeuge, Herr Kriminalhauptkommissar a. D. Edgar Schaaf, schalt er sich. Vielleicht würde es klick machen, wenn er die Dame wiedersehen würde. Aber Vielleichts waren immer schlechte Vorzeichen für Ermittlungsarbeiten gewesen. Daran würde sich auch heute nichts ändern, falls er versuchen wollte, die Frau zu ermitteln. Kriminalisiere nicht herum. Da war es wieder. Wie ein Mantra. Und automatisch die Verbindung zu Melanie.

Melanie. Durfte er ihr von dem Unfall überhaupt erzählen? Würde sie nicht auf der Stelle ihre Pilgerreise abbrechen und nach Hause kommen? Zu ihrem lädierten Mann? Verdammt, was für ein Dilemma.

Sie hatten abgesprochen, dass sie sich jeden Abend bei ihm melden sollte. Ob per Bildtelefonie oder per WhatsApp oder SMS würde sich vor Ort in Spanien ergeben, je nachdem was technisch gerade zur Verfügung stand. Für heute indes rechnete Melanie mit einer sehr späten Ankunft in Ponferrada, dem Ausgangsort ihres Pilgerweges.

Gerade war es neunzehn Uhr geworden. Melanie war somit seit knappen zwölf Stunden unterwegs. Unmöglich, die Strecke mit dem Bus in dieser Zeit zu schaffen, überschlug Edgar, rief die Hunde zu sich, schnappte die Leinen vom Haken und verließ das Haus für eine letzte Runde.

Er trug den verletzten Arm in einer Schlinge vor der Brust, um die Schmerzen in Zaum zu halten. Eigentlich spürte er nur noch ein dumpfes Pochen, wie der Arzt es ihm beschrieben hatte, und auch das würde sich allmählich legen. Noch aber war vor allmählich und er fand es ärgerlich, dass die Verletzung so viel von seiner Konzentration in Anspruch nahm.

Er ließ die Hunde entscheiden, welche Strecke sie nehmen wollten, und bald kristallisierte sich heraus, dass es an das Flüsschen Kinzig gehen sollte. Während er bequem auf der Krone des Hochwasserdamms entlangschritt, tollten Müller und Lydia am Wasser herum. Lydia hatte einen angeschwemmten Ast entdeckt. Edgar wusste, dass damit die Beschäftigung für beide gesichert war und setzte sich auf eine Bank, um dem Spiel der Hunde zuzuschauen.

Es mochten etwa zehn Minuten vergangen sein, als Edgar Rufe vernahm. Rufe, die lauter wurden, weil jemand winkend auf ihn zugelaufen kam. Er erhob sich und ging der Person entgegen. Nahe genug gekommen, erkannte er, dass es eine Frau war. Sie schien in großer Sorge zu sein, denn sie rief noch in geraumem Abstand:

„Haben Sie ein Telefon? Sie müssen mir helfen, mein Hund stirbt!“ Dann war sie bei ihm angelangt.

„Wie? Ist Ihrem Hund etwas passiert?“ Edgar reichte ihr sein Handy.

Mit zitternden Händen wählte sie die Notrufnummer der Polizei. „Kommen Sie schnell. Mein Hund hat einen vergifteten Köder gefressen. Er blutet aus dem Maul. Bringen Sie einen Tierarzt mit. Wo? Auf dem Kinzigdamm bei Gengenbach. Schnell.“

Und an Edgar gewandt fragte sie mit Tränen in den Augen: „Sie sind nicht zufällig Tierarzt?“

Edgar verneinte. „Aber kommen Sie. Zeigen Sie mir, wo Ihr Hund ist.“ Er pfiff Müller und Lydia, die ihr Spiel sofort abbrachen und hinter ihm und der Frau her rannten.

Edgar meinte, die Frau irgendwo schon einmal gesehen zu haben. Er griff auf seine zwischen den Ohren liegende Bio-Festplatte zu und wählte Eigene Bilder, doch er fand die passende Datei nicht. Vielleicht habe ich mich geirrt, dachte er, vielleicht liegt es an der Extremsituation, dass ich ihr Gesicht nicht finde.

Sie erreichten den am Boden liegenden Hund fast gleichzeitig. Ein schönes Tier mit weiß-braun geflecktem Fell, etwa in gleicher Größe wie Lydia. Das Röcheln beim gequälten Ein- und Ausatmen war nur schwer zu ertragen. Vor seinem Maul bildete sich rötlicher Schaum. Die Frau kauerte sich zu ihm hin und nahm den Kopf des Tieres auf den Schoß. Es sah nicht gut aus.

Edgar wählte noch einmal die Nummer der Polizei.

„Edgar Schaaf hier. Der Notruf wegen des Hundes. Kollegen, Ihr könnt mein Handy orten, dann seht Ihr, wo genau wir uns befinden. Verständigt bitte die nächste Tierklinik. Es ist ein Notfall. Danke.“

Er ging neben der Frau in die Hocke. „Mein Name ist Edgar Schaaf. Ich bin Polizist im Ruhestand. Was genau ist passiert?“

„Es ist meine Schuld“, schluchzte die Frau verzweifelt. „Meine Bella ist zu weit vorausgelaufen. Normalerweise darf sie das nicht, denn sie frisst fast alles, was sie findet, zum Beispiel auch Hundescheiße. Aber ich habe nicht aufgepasst. Dann kam sie plötzlich taumelnd auf mich zu, die Schnauze voller Blut ...“

„Es ist kein Gift“, behauptete Edgar, „sie würde sonst nicht so stark bluten. Gift wirkt langsamer. Haben Sie die Stelle gefunden, wo sie den Köder gefressen hat?“

„Nein, natürlich nicht, ich habe mich zuerst um Bella gekümmert. Aber wenn es kein Gift ist, was könnte es dann sein?“

„Es klingt zwar brutal, aber es könnten Rasierklingen oder Nägel sein. Es wäre nicht der erste Fall in dieser Gegend. Kann ich Sie allein bei Bella lassen? Die Polizei wird gleich hier sein. Ich gehe mich mal umsehen. Vielleicht finde ich noch Reste des Köders.“

Edgar entdeckte Blutspritzer im Gras. Er zeigte sie seinem Müller: „Such, Müller, such!“

„Haben Sie keine Angst, dass Ihre Hunde auch ...?“ Die Frau ließ die Frage unvollendet.

„Sie fressen nichts außerhalb des Hauses. Man kann es ihnen antrainieren. Such, Müller!“

Müller schnüffelte los, die Nase auf dem Boden. Lydia folgte ihm spielerisch. Schon nach wenigen Metern blieb Müller stehen und bellte Vollzug. Edgar lobte ihn und inspizierte die Stelle. Es war so, wie er gedacht hatte. Ein Rest des Köders lag noch im Gras, vermutlich Hackfleisch. Edgar markierte den Ort mit einem Papiertaschentuch und kehrte zu der Frau zurück. Im gleichen Augenblick sah er auch schon einen Streifenwagen mit Blaulicht über den Kinzigdamm kommen.

Nach einigen erklärenden Worten handelten die beiden uniformierten Polizisten. Gemeinsam hoben sie die verletzte Hündin in eine Kunststoffwanne und schoben diese auf den Rücksitz. Einer packte den Rest des Köders in eine Plastiktüte und nahm ihn mit.

„In welche Tierklinik bringt ihr sie? Kehl am Rhein oder Haslach im Kinzigtal?“, fragte Edgar den Fahrer des Streifenwagens.

„Haslach“, antwortete er. „Ist näher.“

Bevor die Frau sich zu Bella in den Streifenwagen setzte, fragte sie Edgar nach dem Namen: „Sie hatten sich zwar vorgestellt, aber ich habe ihn vor lauter Aufregung vergessen.“

„Edgar Schaaf in Gengenbach. Schaaf mit zwei a. Ich steh´ im Telefonbuch“, sagte er.

Dann fuhr der Streifenwagen mit Blaulicht und Martinshorn davon.

In der Zwischenzeit war die Dämmerung hereingebrochen, und als Edgar die Hunde in den Garten des Türmchenhauses entließ, leuchtete im Westen über den Vogesen das Abendrot. Seltsamerweise, und das fiel ihm erst jetzt zu Hause auf, hatte er über die Dauer des Vorfalls mit der Hündin Bella keinerlei Schmerz gespürt.

Er nahm sich vor, bis zu Melanies Anruf wach zu bleiben. Gleichzeitig überfiel ihn der Hunger. Er entdeckte Reste vom gestrigen Abendessen im Kühlschrank: Kartoffeln. Rasch stand eine Pfanne auf dem Herd. Und da er sich beim Eieraufschlagen mit der linken Hand total ungeschickt anstellte, gab es Rührei mit Eierschalensplittern dazu. Ja, verdammt. Wie hilflos man ohne beide funktionstüchtigen Hände ist, erfuhr er hinterher beim Geschirrspülen.

Gegen zweiundzwanzig Uhr schaltete er wegen der Nachrichten den Fernseher ein. Ein Glas Rotwein auf dem Tisch, die Flasche ziemlich umständlich, doch letztlich erfolgreich entkorkt, flimmerten die Bilder an ihm vorbei, ohne dass er deren Sinn verstand. Denn zum zweiten Mal an diesem Tag versuchte er vergeblich, sich an das Aussehen einer Person zu erinnern. Die Hündin Bella könnte er ohne weiteres, von der Schnauze bis zur Schwanzspitze, beschreiben. Die Frau jedoch? Blackout.

Er haderte mit sich selbst: Mensch, Edgar, schon auf Kritaholm hattest du Probleme, dich an diverse Dinge zu erinnern. Einmal war es die Lesung einer Schriftstellerin, für die Pit Ferman eingesprungen war; das andere Mal war es jener ominöse Hammer, der mir erst durch Zufall wieder eingefallen war. Der Hammer. Die Tatwaffe. Mir, dem Kriminalhauptkommissar, der sonst so akribisch arbeitete.

Und heute gleich zwei Personen, die du nicht erschöpfend beschreiben kannst. Liegt es daran, dass es sich um Frauen handelt? Oder was ist mit dir und deinem Gedächtnis los? Zudem hast du weder die eine noch die andere nach ihrem Namen gefragt. Wirst du eventuell altersvergesslich? Alzheimer? Demenz?

Ende der Nachrichten. Wäre die Botschaft gewesen, dass ein Meteorit auf Gengenbach gestürzt wäre, so hätte er sie versäumt. Er stellte sich die Schlagzeilen vor: Gengenbach von Meteorit getroffen. Alle Einwohner, bis auf einen, konnten sich rechtzeitig in Sicherheit bringen. Er stand auf, ging mit dem Weinglas zum Wohnzimmerfenster, und schaute hinaus in die Nacht. Lange Zeit realisierte er nichts. Es war einfach dunkel, und hauptsächlich stand er bloß stumm und unbeweglich vor dem schwarzen Schatten, den er, von hinten angestrahlt, selbst auf die Scheibe warf.

Ist es das?, fragte er sich. Noch bin ich hier. Aber irgendwann werde ich nur noch ein Schatten sein, so wie die dunkle Gestalt im Fenster.

Er nippte am Weinglas. Plötzlich eine Bewegung draußen. Im Garten. Ein Schemen huschte vorbei. Da! Noch eines. Zum Teufel, wer erlaubt sich ...

Mit energischen Schritten war er an der Hautür, riss sie auf und spähte hinaus. „Ist da jemand?“

Müller und Lydia kamen um die Ecke geflitzt, blieben hechelnd am Fuß der Treppe stehen.

Endlich kapierte Edgar. „Ach du meine Güte, Müller, Lydia, ich ...“

Die Hunde flutschten wie die Wiesel an ihm vorbei ins Haus.

„... habe euch völlig vergessen.“

Um halb zwei Uhr in der Nacht rief sie schließlich an. Melanie.

Edgar war auf der Couch eingenickt und schreckte hoch.

„Melanie?“

„Edgar? Edgar? Entschuldige, dass es so spät geworden ist, aber wir sind jetzt erst in unserem Hotel angekommen. Eine elendig lange Fahrt. Wir sind hundemüde. Doch ich wollte dir unbedingt Bescheid sagen. Hast du so lange gewartet?“

„Ich habe auf dem Sofa gedöst, meine Liebe. Reden wir nicht ewig. Hauptsache, du bist am Ziel und kommst ins Bett. Lieb, dass du angerufen hast.“

„Edgar? Deine Stimme klingt so komisch. Als hättest du geweint. Ist bei dir alles in Ordnung?“

„Da musst du dich verhört haben, Melanie. Hier ist alles in Ordnung“, schwindelte er.

Zweiter Tag

Sonntag, 07. Mai 2023

„Schaaf.“ Edgar gähnte.

„Guten Morgen, Edgar. Ich weiß, es ist früh, aber ...“

„Melanie? Du? Was ist los? Wir wollten doch erst heute Abend telefonieren.“

„Machen wir auch. Aber hör´ zu. Es hat mir heute Nacht einfach keine Ruhe gelassen. Du klangst wirklich merkwürdig gestern Abend. Sag´ mir, was passiert ist, und binde mir keinen Bären auf.“

Edgar seufzte vernehmlich. So war sie nun mal, seine Melanie. Sie hörte die Flöhe husten und roch den Braten selbst im fernen Spanien. In Windeseile versuchte er abzuwägen, was er ihr gestehen konnte, ohne dass sie sich zu sehr beunruhigte. Den Handgelenkbruch, oder dass er tatsächlich vor Angst geweint hatte, das Gedächtnis zu verlieren?

Er entschied sich für das Erste, denn es konnte durchaus sein, dass er den Verband noch tragen würde, wenn sie zurückkäme.

Allerdings kann es auch sein, dass ich Melanie vergessen haben werde, wenn sie zurückkommt, schoss es ihm durch den Kopf.

„Ich hab´ mir das Handgelenk gebrochen. Ein dummer Unfall. Nichts Schlimmes. Alles schon in Gips.“

Er schilderte, wie es dazu gekommen war.

„Ahnte ich´s doch. Und deswegen hast du geweint, mein Armer?“

„Äääh, jaaa, des – we – gen. Weil ich befürchtet hatte, dass ich dir damit die Pilgerfahrt vermasselt habe. Eigentlich war es mehr aus Ärger über mich selbst, verstehst du?“

Es rauschte in der Leitung. Für Edgars Empfinden etwas zu lange. „Melanie? Bist du noch da?“

„Ja, mein Lieber, ich bin noch da. Du meinst also, dass ich nicht zurückzukommen brauche?“

„Nein, auf keinen Fall“, antwortete er schnell. „Ich meine natürlich, ja, du brauchst nicht zurückzukommen. Es geht mir gut.“

„Und Lydia und Müller?“

„Bestens. Wir gehen zweimal täglich spazieren, das weißt du doch.“

„Und sonst?“

„Melanie!“, sagte er laut. Jetzt lass´ mal gut sein, dachte

er.

„Okay, mein lieber Edgar. Dann hören wir heute Abend wieder voneinander. Wir brechen jetzt gleich zu unserer ersten Etappe auf. Richtung Villafranca del Bierzo. Über zwanzig Kilometer. Mal sehen, ob wir die schaffen. Das Wetter ist optimal. Ich liebe dich, mein Edgar.“

„Ich dich auch, meine Schöne, ich dich auch.“

Genau besehen war es gar nicht so früh, wie Melanie gemeint hatte. Acht Uhr. Gut, sonntags blieben sie immer länger im Bett. Das Aquarelle und Poesie blieb geschlossen. Selbst Müller und Lydia hatten sich daran gewöhnt, dass an Sonntagen der erste Ausflug über die Felder später stattfand. So lange mussten sie ihre Bedürfnisse halt verkneifen. Und heute war Sonntag. Dass Melanie es als früh empfand, war sicher ihrer späten Ankunftszeit im Hotel und der kurzen Nacht geschuldet.

Edgar war einigermaßen erleichtert gewesen, als Melanie die Begleitung ihrer besten Freundin Gerti in Aussicht gestellt hatte. Er hatte Gerti an Weihnachten vor eineinhalb Jahren näher kennengelernt, als sie gemeinsam mit anderen Freunden im Türmchenhaus gefeiert hatten. Vorher waren es nur sporadische Begegnungen mit ihr gewesen, meist in Melanies Geschäft. Allerdings hatte er sie seither nicht mehr gesehen, und im Grunde wusste er auch nicht viel über sie. Zum Beispiel nicht, ob sie verheiratet war, und nichts über ihre Familien- oder Beschäftigungsverhältnisse. Melanie tratschte nicht über beste Freundinnen. Und als Gertis Mitreise nach Spanien definitiv feststand, war es für ihn eine enorme Beruhigung. So auch jetzt, da er Melanie nicht alleine wusste.

Denn sonst wäre sie Frau genug, koste es was es wolle, die Zelte abzubrechen, Pilgerweg Pilgerweg sein zu lassen und auf denkbar schnellstem Weg nach Hause zu fahren. Zu ihm. Ihrem geliebten Edgar. Das wusste er und fühlte sich darum nicht ganz so miserabel, ihr seine Angstzustände und Befürchtungen bezüglich seiner Erinnerungslücken nicht bierwarm aufgetischt zu haben.

Oh nein, nicht aufgetischt, revidierte er sich sofort. Auftischen hat einen negativen Klang, klingt nach Betrug und Lüge. So habe ich es nicht gemeint. So einer bin ich nicht. War ich noch nie gewesen, und fange heute nicht damit an.

Es würde Gespräche darüber geben müssen, so viel war ihm klar. Aber vielleicht war alles auch nur halb so wild, wie die unterschwellige und lauernde Angst ihm versuchte zu suggerieren, und es musste bestimmt nicht in den nächsten drei Wochen sein. Edgar gewährte sich selbst eine Galgenfrist.

Es war einer dieser instabilen Mai-Tage, die einem Rückfall in winterliche Verhältnisse näher waren als der Sehnsucht nach dem Sommer. Ein unangenehm eisiger Wind trieb pappnasse Schneeflocken über die Felder, und die Hunde klemmten missmutig die Schwänze zwischen die Hinterbeine. Sie bewegten sich steif und unlustig, schielten Edgar vorwurfsvoll von unten an. Dackelblicke.

Während des Frühstücks hatte er in seinem Kriminal-Ordner geblättert. Sein Interesse galt den Berichten über Tierquälerei, im Speziellen den gemeldeten Fällen, bei denen präparierte Köder verwendet worden waren. Eingedenk, dass er mit einer hohen Dunkelziffer rechnen musste, handelte es sich bei den veröffentlichten Fällen um eine stattliche Anzahl. Edgar stellte fest, dass hauptsächlich das Gebiet zwischen Offenburg und Hausach im Kinzigtal, aber auch das benachbarte Rothbachtal, wo sein Freund Pit Ferman wohnte, im Fokus des oder der Hundehasser(s) lagen, und dass das Phänomen ungefähr vor einem guten Jahr begonnen hatte. Frühere Meldungen darüber hatte er jedenfalls keine gefunden.

Die Möglichkeiten der Polizei, derartige Täter zu ermitteln, beschränkten sich auf eine sehr überschaubare Zahl von Maßnahmen. Die Schwierigkeiten lagen in der Natur der Verbrechen begründet. Außer einem gerüttelt Maß an Feigheit, gepaart mit Böswilligkeit, brauchten die Täter keine herausragenden Fähigkeiten. Da man so gut wie nie einen solchen Tierquäler auf frischer Tat ertappte, war man überwiegend auf die Mithilfe der Bevölkerung angewiesen. Man konnte im besten Fall das grobe Tätigkeitsfeld erkennen, ein Bewegungsmuster erarbeiten, die Leute sensibilisieren. Sonst blieben in der Regel nur die Aussagen aufmerksamer Beobachter. Zeugen also. Denn die Zutaten für einen heimtückischen Köder konnte jedermann jederzeit überall kaufen.

Edgar sah die gequälte Bella vor Augen. Er konnte keine Garantie dafür abgeben, den Verursacher nicht zu erschlagen, falls er ihn zwischen die Finger bekommen würde. Oder vor die Fäuste. Unbewusst ballte er die linke Hand und murmelte lästerliche Flüche.

Seine Stimmung war ohnehin nicht die beste. Die Prozedur des Haarewaschens hatte ihm, bedingt durch die unbrauchbare rechte Hand, nicht den gewünschten Kick-Off in den Tag gegeben. Er hatte den Gipsarm in eine Plastiktüte gepackt und sich in der Dusche so elegant wie ein Tanzbär bewegt. Auch die Zubereitung des Müslis, insbesondere das ungewohnte Schnippeln des Apfels mit der linken Hand, glich einer Lachnummer fürs Variete. Selbst die Tour über die Felder machte heute keinen Spaß. Der Wind pfiff ihm in den Nacken. Er stellte den Jackenkragen hoch und drehte um. Als hätten Müller und Lydia nur auf das Signal gewartet, stoben sie an ihm vorbei, jagten voraus, und Edgar wusste, dass er sie erst wieder vor dem Gartentor zu Gesicht bekommen würde, wartend, dass er endlich aufschloss.

Sonntag. Das Aquarelle und Poesie in der Stadt war geschlossen, ergo brauchte er dort nicht nach dem Rechten zu schauen. Ein Telefonat mit Frau Holzer würde genügen, um sich der Ordnung zu versichern. Auf dem Rückweg zum Haus war ihm spontan die Idee gekommen, mit der S-Bahn nach Haslach im Kinzigtal zu fahren und die Tier-Klinik zu besuchen. Einfach so.

Nein, nicht einfach so. Das Schicksal der Hündin Bella bewegte ihn doch mehr. Und ein weiterer Grund zog ihn dorthin. Mehr oder weniger ein Selbstversuch. Er wollte wissen, ob er Bellas Besitzerin, falls er sie dort zufällig treffen sollte, wiedererkennen würde. Nicht aus Interesse an der Frau, du meine Güte, nein, sondern als Test seiner Erinnerungsfähigkeit. Es ließ ihm keine Ruhe.

Edgar steckte den MP3-Player ein, setzte den Kopfhörer auf, und stellte Psychedelic Pill von Neil Young and Crazy Horse ein. Erster Titel: Driftin´ Back. Siebenundzwanzig Minuten und sechsunddreißig Sekunden Dauer. Das würde bequem reichen, um ihn bis nach Haslach mit sattem Sound zu versorgen.

Normalerweise war die Tierklinik Haslach sonntags geschlossen, für Notfälle jedoch ständig besetzt.

Edgar wurde nach dem Klingeln an der Hauptpforte und der Angabe seines Grundes eingelassen. Bella.

Er musste zugeben, dass er die Frau an einem anderen Ort und ohne Hund nicht wieder erkannt hätte. So aber, da sie die einzige Frau im Wartezimmer war, knüpfte er die Verbindung zu einer hohen Wahrscheinlichkeit. Außerdem bemerkte sie ihn und kam auf ihn zu. Jetzt gelang es ihm, einige Äußerlichkeiten abzuscannen. Alter um die sechzig Jahre, etwa ein Meter siebzig groß, dunkelgraue kurze Haare, schmales ungeschminktes Gesicht, gerade Nase, schlanke Figur.

„Herr Schaaf, nicht wahr?“

Edgar reichte ihr die Hand. „Ja., ich grüße Sie, Frau ...?“

„Ach ja, entschuldigen Sie. Solberg. Wilma Solberg. Ich hätte Sie anrufen sollen, aber ich habe es gestern einfach nicht geschafft. Ich war ...“

„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, es ist ja verständlich. Was wissen Sie heute über Bellas Zustand?“

„Ich warte drauf, dass Sie aufwacht. Sie liegt noch im künstlichen Koma. Aber sie hat wohl Glück gehabt. Dank Ihnen. Dass Sie gerade mit einem Telefon in der Nähe waren. Das hat ihr vermutlich das Leben gerettet.“

„Gottseidank, das freut mich aber.“

Frau Solberg nickte. „Ja. Sagen Sie, sind Sie extra wegen Bella hierhergekommen?“

„Ja“, bestätigte er. „Wie ich sagte, war ich Polizist. Ich habe mich gestern etwas mit dieser Variante der Tierquälerei befasst. Die Fälle in der Region haben nämlich stark zugenommen, wie ich festgestellt habe, und das gefällt mir nicht. Ich bin ja selber Hundebesitzer und es ärgert mich, dass man so wenig gegen diese Schweine, entschuldigen Sie den Ausdruck, aber so sehe ich diese Verbrecher nun mal, ausrichten kann. Was hat man eigentlich bei Bella gefunden?“

„Dadurch, dass wir relativ schnell hier in der Klinik waren, konnte man ihr den Magen auspumpen, bevor der Köder in den Verdauungstrakt gelangte. Er war gespickt mit Nägeln. Das Blut stammte von Verletzungen im Maul- und Rachenraum. Die Speiseröhre war zum Glück nicht perforiert. Man wird Bella später noch einmal röntgen und eventuelle Fremdkörper mit einem endoskopischen Werkzeug entfernen. So lange warte ich hier, und dann kann ich sie vielleicht wieder mit nach Hause nehmen. Glück gehabt, Herr Schaaf.“

Edgar lächelte. „Stimmt. Wo sind Sie denn daheim?“

„In Berghaupten.“

„Ach, das ist ja ziemlich vis-à-vis von uns. Besuchen Sie uns doch mal mit Ihrer Bella. Meine Frau wird sich freuen. Ihr gehört das Aquarelle und Poesie in Gengenbach ...“

„Ach nee, das glaub´ ich jetzt nicht. Sie heißt nicht zufällig Melanie Köninger und befindet sich aktuell auf einer Pilgerwanderung in Spanien? Dem Jakobsweg?“

Edgar guckte verdutzt. „Jetzt bin ich es, der sprachlos ist. Wie kommen Sie denn darauf, beziehungsweise woher wissen Sie davon?“

Sie grinste wissend. „Von meinem Mann. Er ist ebenfalls dort. Gestern früh abgereist.“

„Im Bus mit dieser Behindertengruppe?“, fragte Edgar ungläubig.

„Genau“, antwortete Frau Solberg. „Ihm wurde vergangenes Jahr ein Bein amputiert. Unfall. Trägt seither eine Prothese. Er betrachtet es als ein Geschenk, dass er überhaupt wieder gehen kann. Er ...“

„Er hat ein Gelübde abgelegt“, stellte Edgar fest. „Wie meine Melanie. Da muss ich sie heute Abend direkt drauf ansprechen. Die Welt ist echt ein Dorf, finden Sie nicht?“

„Das ist wohl wahr“, sagte sie. „Überhaupt fällt bei mir jetzt der Groschen. Sie sind das Paar, das wegen einer Ihrer tollkühnen Aktionen in Kroatien schon im Fernsehen kam. Sie sind der Kriminalhauptkommissar, nicht wahr?“

Edgar schaute sich um, als würde er Mithörer befürchten. Dann raunte er: „Ich bin außer Dienst, Frau Solberg. Pensionär. Trotzdem würde ich gerne herauskriegen, wie man diesem Tierquäler das Handwerk legen kann. Wenn Sie eine Idee haben – rufen Sie mich an.“

Eine Angestellte der Praxis in grünem Kittel rief Frau Solbergs Namen.

„Oh, ich glaube das bedeutet, dass Bella aufgewacht ist. Ich muss gehen“, sagte sie. „Danke für Ihre Anteilnahme, Herr Schaaf. Und grüßen Sie Ihre Frau von mir. Wir sehen uns sicher einmal wieder.“

„Bestimmt. Und viel Glück“, sagte Edgar.

Edgar saß in der S-Bahn nach Gengenbach und schaute aus dem Fenster. Verdammt viele Kilometer zwischen Hausach und Offenburg, dachte er. Verdammt viele Möglichkeiten für einen Hundehasser, präparierte Köder auszulegen. Wie soll man das bei über dreißig Kilometer überwachen?

Er sinnierte weiter: Moment. Moooment. Muss ich das zur Aufgabe des Kriminalhauptkommissars Edgar Schaaf machen? Eine Herausforderung? Unsere Hunde sind ja nicht gefährdet. Sie haben das Training beim Hundeflüsterer mit Bravour abgeschlossen. Sie fressen keine Fundsachen. Was also geht es dich an, Herr Kriminalhauptkommissar?

Edgar schüttelte den Kopf. Er wusste, dass er mit solcher Denke nicht weit kommen würde. Er war nicht der Typ, der sagte: Freund, geh´ du voran, lass´ mich hinter´n Baum. Aber was tun?

Die gesamte Strecke mit Überwachungskameras auszurüsten war ein Ding der Unmöglichkeit. Wer sollte das finanzieren? Und alle Geschäfte und Märkte, die Hackfleisch im Angebot hatten, zu überwachen, war nicht machbar. Heutzutage war es Usus, die Einkäufe an Selbstscannerkassen abzurechnen, und davon gab es unzählige. Brachte es eventuell etwas, eine Interessengemeinschaft zu gründen? Eine IG aus Hundebesitzern, Hundefreunden, Haustierfreunden und Sympathisanten? Leute, die bereit waren, von früh bis spät, natürlich abwechselnd, im Schichtbetrieb sozusagen, einen bestimmten Geländeabschnitt unauffällig zu beobachten? Mit Fern- und Nachtsichtgläsern?

Würde ich das tun?, fragte er sich, und beantwortete die Frage mit ja. Also auch andere? Und was, wenn sich gerade derjenige am eifrigsten beteiligt, der selber der Täter ist? Wie der Feuerwehrmann, der die zu löschenden Brände eigenhändig legt?

Also Ausschlussverfahren. Es kommen nur Hundebesitzer in Frage, und Personen, für die man die Hand ins Feuer legen würde. Keine Unbekannten. Und wie kriegt man die unter einen Hut? Besser gefragt: Wo findet man sie, und vor allen Dingen wie? Machte es überhaupt Sinn? Kann man es rein organisatorisch auf die Beine stellen? Zu seiner Bestürzung musste er zugeben, dass er nicht einen einzigen anderen Hundehalter persönlich kannte. Er ging immer allein mit Müller und Lydia über die Felder oder an der Kinzig entlang. Er verabredete sich nie mit anderen zu gemeinsamen Touren. Weil er keine Gesellschaft ertragen konnte. Weil er keine Konversationen führen wollte, mit wem auch immer. Melanie freilich ausgenommen.

Das macht die Sache nicht einfacher, dachte er.

In Edgars Kopf begannen die Räder zu laufen. Etwas musste geschehen, so viel war klar. Wenn er es nicht in die Hände nahm, würde es keiner tun. Derart in Gedanken vertieft, verpasste er den Zughalt in Gengenbach und war gezwungen, bis nach Offenburg zu fahren. War das ein weiteres Indiz für seine zunehmende Vergesslichkeit?

Im Innenohr meckerte sein kleiner ureigener Klugscheißer: Du beginnst schusselig zu werden, Edgar Schaaf. Du lässt dich ablenken. Hoffentlich weißt du noch, wo du wohnst. Schreib´ sicherheitshalber einen Zettel mit deiner Adresse drauf und trage ihn an einer Schnur um den Hals.

In Offenburg wartete er auf dem Bahnsteig auf den Gegenzug. Als er eine Dreiviertelstunde später als ursprünglich vorgesehen in Gengenbach aus der S-Bahn stieg, war er einer Antwort auf seine Fragen nicht näher gekommen. Aber der Entschluss stand für ihn fest. Edgar Schaaf wird etwas tun, und dieser Edgar Schaaf bin ich.

Müller und Lydia warteten schon. Edgar, eigentlich müde, stöhnte: „Also gut, ihr Racker, streunen wir auf eine Runde draußen herum. Aber mit etwas mehr Enthusiasmus als heute Morgen, wenn ich bitten darf.“

Er öffnete die Haustür und ließ die beiden ins Freie. Komischerweise sprangen die Hunde nicht wie gewohnt sofort zur Gartenpforte, sondern über den Rasen in die Nähe des Rhododendronstrauches. Dort verharrten sie und beugten die Köpfe über eine Stelle am Boden. Müller hob seinen Kopf und drehte sich suchend nach Edgar um.

„Auf, ihr beiden, kommt schon“, rief er, doch sie folgten nicht. „Müller, Lydia, hoppla, was habt ihr denn.“

Edgar grummelte etwas in seinen Bart hinein und stapfte zu ihnen hinüber. Lydia fiepte ängstlich.

„Was habt ihr denn da. Was ist so interessant, dass ...“ Er sah den Klumpen im Gras liegen. Die rötliche Farbe. Er sah aus wie Hackfleisch. Faustgroß. „Verdammter Mist“, fluchte Edgar. „Kommt weg hier“, befahl er den Hunden und zog sie an den Halsbändern von dem Klumpen weg. „Brav gemacht, Müller. Superbrav, Lydia. Dafür habt ihr eine Belohnung verdient. Nachher. Versprochen. Eine Belohnung. Nachher. Aber jetzt kommt erst mal mit.“ Er zückte sein Handy und rief die Polizei.

Es waren dieselben Beamten wie gestern auf dem Kinzigdamm. Einer sicherte den Köder in einer Plastiktüte, der andere nahm Edgars Anzeige auf. Auf dem Rasen wurden sonst keine verwertbaren Spuren festgestellt.

„Wir werden die Nachbarn befragen, ob sie verdächtige Personen beobachtet haben“, versprach der eine Beamte.

Edgar nickte. Die übliche Vorgehensweise. Er verstand, dass der Handlungsspielraum der Polizei damit ausgeschöpft war. Umso mehr sah er sich bestätigt, selbst aktiv zu werden. Er bedankte sich, bat um eine Rückmeldung bezüglich der Zusammensetzung des Köders, und verabschiedete die Polizisten.

Die Hunde waren nun nicht mehr zu halten. Sie trippelten ungeduldig vor dem Gartentor hin und her, und drängten fast gewaltsam hinaus, sobald Edgar auch nur einen Spalt öffnete. Er folgte ihnen gemächlich. Irgendwo würden sie, das war immer so, schon auf ihn warten.

Das Wetter hatte sich beruhigt. Der Himmel war zwar von dicken grauen Wolken bedeckt, doch es war spürbar wärmer geworden. Der Trend der meteorologischen Vorhersage versprach einen Wonnemonat Mai. Also war das Schneetreiben heute Morgen bloß ein winterliches Intermezzo gewesen.

Edgar schlenderte, Hände auf dem Rücken, den Blick vor seine Füße gerichtet, durch die Passerelle den entschwindenden Hinterteilen der Hunde hinterher. Er dachte an den Tierquäler, der die Unverschämtheit besessen hatte, am helllichten Tag die Unberührbarkeit seines Hauses zu verletzen. Diesen Frevel hatte sich erst einmal einer erlaubt: Bodo Wessels, beziehungsweise Bodo Schneider, Vierfach-Mörder. Es war ihm nicht gut bekommen. Edgar hatte ihn gejagt. (Schaafswinter)

Die Frage war, wer es gewagt hatte, den Köder praktisch vor seinem Wohnzimmerfenster zu platzieren? Entweder war derjenige besonders dreist, oder er hatte gesehen, dass Edgar das Haus verlassen hatte. Die einfache Risikoabwägung ließ auf die zweite Möglichkeit schließen. Aber dann hätte sich der Täter quasi in unmittelbarer Nähe aufhalten und ihn beobachten müssen. Er muss gewusst haben, dass Edgar hier wohnte und dass er zwei Hunde besaß. War dem so?

Es muss etwas geschehen, dachte Edgar wiederholt. Er ist mir zu nahe gekommen.

Ganz wohl war ihm mit dem Gedanken zur Selbsthilfe nicht. Die Nähe zur Selbstjustiz war gefährlich. Es bedurfte nur eines kleinen Schrittes, um die Tabu-Grenze zu überschreiten, und das durfte nicht passieren. Je mehr Menschen jedoch eingebunden waren, desto unkontrollierbarer wurde die Sache. Wenn eine Situation eskalierte, und das war bei einem so sensiblen Thema wie Tierquälerei nicht auszuschließen, stoppte keiner mehr die Lawine. Es brauchte nur einige Hitzköpfe, und wo gab es die nicht?

Genauso wenig schmeckte ihm die Ähnlichkeit mit einer sogenannten Bürgerwehr. Im Grunde waren ihm Menschen, die sich berufen fühlten, in Eigenregie für Recht und Ordnung zu sorgen, überaus suspekt. In der Regel legten solche Gruppen Recht und Gesetz bald nach eigenen Kriterien aus, verübten aus diesem Grund selber Straftaten, die dann untereinander gedeckt wurden. Zudem waren die meisten Bürgerwehren völkischnationalistischen Grundsätzen zugeneigt.

Solche Tendenzen musste Edgar für sein Projekt von vornherein versuchen zu unterbinden. Aber wie?

Edgar blieb stehen. Er schaute sich um. Wo war er? Wie kam er hierher? Und wo, verflixt und zugenäht bitteschön, waren Müller und Lydia?

Ihn schwindelte kurz. Für die Dauer einer Sekunde verlor er das Gleichgewicht.

Ruhig, Edgar, ruhig.

Er drehte sich um. In einiger Entfernung sah er Häuser. Gengenbach? Natürlich Gengenbach, zum Donner, was soll es sonst sein. Noch bin ich nicht verrückt. Wieder eine Drehung in die ursprüngliche Richtung. Er fasste eine Gartenhütte ins Auge, die auf halbem Weg zu den aufsteigenden Hügeln stand. Finger an die Lippen, ein greller Pfiff. Dort kamen sie hinter der Hütte hervor, hielten nach ihm Ausschau. Noch ein Pfiff, und sie zottelten auf ihn zu. Müller und Lydia. Edgar atmete aus. Na also. Nur keine Panik. Alles ganz normal.

Zu Hause gab er ihnen die versprochene Belohnung. Je ein getrocknetes Schweinsohr. „Hab´s nicht vergessen, hört ihr? Hab´s nicht vergessen“, sagte er ihnen. Müller und Lydia trollten sich mit ihrer Beute unter den Tisch. Für sich selbst warf er ein Schnitzel in die Pfanne.

Er schaute auf die Uhr, als das Telefon klingelte. Zwanzig Minuten nach sieben. Der erste Gedanke galt Melanie, doch es war einer der Polizisten von der Streife.

„Guten Abend, Herr Schaaf. Nur zu Ihrer Information. Von Ihren Nachbarn haben wir nur einen angetroffen, und der hat nichts Auffälliges bemerkt. Der andere Nachbar war nicht zu Hause. Den Köder haben wir in den Kühlschrank gelegt. Er wird morgen untersucht.“

Edgar bedankte sich, griff eine Dose Bier und nahm das schnurlose Telefon mit auf die Couch. Er lehnte sich zurück, aber die erhoffte Entspannung stellte sich nicht ein. Er heftete den Blick auf das Telefon, als sei es die Nabelschnur, die ihn mit Leben versorgte. Der Rettungsring, der ihn davor bewahrte, in der Einsamkeit zu ertrinken.

Die jahrelange Erfahrung als Junggeselle war ihm keine Hilfe. Sein Leben hatte sich von Grund auf verändert. Dazwischen lagen Welten. Das Wunder lag im Vertrauen, woraus alles möglich wurde, selbst die Hingabe während der schutzlosesten Stunden der Nacht neben einem anderen Menschen.

Er meldete sich, kaum dass der Klingelton seine Ohren erreicht hatte. „Melanie?“

„Ja, mein Liebster, ich bin´s. Sag´ mal, wohnst du im Telefon? Das ging ja superschnell.“

Edgar lachte. Alle Anspannung war plötzlich wie weggewischt. „Ich habe auf deinen Anruf gewartet, mein Herz.“

„Früher ging´s leider nicht. Ich wollte nicht während des Abendessens telefonieren. Wir sitzen da alle zusammen und alle reden durcheinander.“

„Versteh´ ich doch, Melanie. Wie war dein erster Tag auf dem Camino? Erzähl´.“

Edgar hörte sie pusten. „Das war ganz schön anstrengend. Wir sind ungefähr fünfzehn Kilometer gewandert. Ich bin ja noch einigermaßen gut zu Fuß, Edgar, aber ohne Stöcke hätte ich es nicht geschafft. Es sind Leute drunter, die auf Krücken gehen, einen Rollator schieben oder einen Rollstuhl fahren. Für die ging das echt an die Substanz. Dazu ständig leicht bergauf und in der Sonne. Fünfzehn Kilometer also, dann haben die Ärzte abgebrochen und der Bus hat uns abgeholt und ins Hotel nach Villafranca del Bierzo gebracht. Hier sind wir nun und pflegen unsere Blessuren.“

„Das kann ich mir gut vorstellen. Ja, wirklich.“

„Das Tollste kommt noch. Bevor wir überhaupt in Ponferrada losgewandert sind, hat uns der Bus zum berühmten Cruz de Ferro ganz in der Nähe gebracht, das auf einem Hügel aus lauter Steinen steht, die Pilger dort abgelegt haben. Ein Stein als Symbol für Sünden, die man hinter sich lässt. Erst dann sind wir zum Startplatz der ersten Etappe gefahren.“

„Soso, Frau Köninger hat also gesündigt. Hattest du überhaupt einen Stein dabei?“

Sie kicherte. „Einen klitzekleinen, für klitzekleine Sünden. Was macht dein verletzter Arm?“

„Du wirst lachen, aber da hab´ ich den ganzen Tag kaum dran gedacht. Nur Duschen und Schneiden brauchen Übung. Sonst geht´s relativ gut. Tut nix weh oder so. In eurer Gruppe soll ein Herr Solberg sein. Hast du ...?“

„Aus Berghaupten