Schaafshammer - Pit Ferman - E-Book

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Pit Ferman

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Beschreibung

Die Geschäftsführerinnen zweier Spielcasinos werden tot aufgefunden. Eine junge Frau wird missbraucht und liegt im Koma. Für Kriminaloberkommissar Kai Schuster kommt es knüppeldick. Angesichts gravierenden Personalmangels bei der Polizeidirektion Offenburg sieht er sich alleinverantwortlich dreier komplexer Fälle gegenüber. Als sein früherer Hauptkommissar und Mentor Edgar Schaaf von der ehemaligen Stiefmutter der jungen Frau gebeten wird, Licht in das Dunkel der Ermittlungen zu bringen, beschließen die beiden einen Deal. Das führt endlich dazu, einen Täter dingfest machen zu können. Doch der kann fliehen und bringt Edgar Schaafs Ehefrau Melanie Köninger in Gefahr. Das kann Edgar Schaaf nicht zulassen.

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Die Geschäftsführerinnen zweier Spielcasinos werden tot aufgefunden. Eine junge Frau wird missbraucht und liegt im Koma. Für Kriminaloberkommissar Kai Schuster kommt es knüppeldick. Angesichts gravierenden Personalmangels bei der Polizeidirektion Offenburg sieht er sich alleinverantwortlich dreier komplexer Fälle gegenüber.

Als sein früherer Hauptkommissar und Mentor Edgar Schaaf von der ehemalige Stiefmutter der jungen Frau gebeten wird, Licht in das Dunkel der Emittlungen zu bringen, beschließen die beiden einen Deal. Das führt endlich dazu, einen Täter dingfest machen zu können. Doch der kann fliehen und bringt Edgar Schaafs Frau Melanie Köninger in Gefahr. Weil Edgar Schaaf das nicht zulassen kann, fordert er den Gegner ultimativ heraus.

Für meine Frau,

die Elsa

Inhaltsverzeichnis

Teil I

Kapitel 1

Offenburg, 18. September 2021

Lahr (Schw.) 27. September 2021

Offenburg, 25. September 2021

Offenburg, 28. September 2021

Kapitel 2

St. Paulsberg, 29. September 2021

Offenburg, 29. September 2021

Kehl (Rhein), 30. September 2021

Offenburg, 01. Oktober 2021

Lahr (Schw.), 01. Oktober 2021

Offenburg. 02. Oktober 2021

Kapitel 3

Baden-Baden, 04. Oktober 2021

Kehl/Friesenheim/Mattenheim, 16./17. Oktober 2021

Lahr (Schw.)/Offenburg/Mattenheim 17./18. Oktober 2021

Offenburg, November 2021

St. Paulsberg, 24. Dezember 2021

Teil II

Kapitel 4

Gengenbach, 03. Januar 2022

Gengenbach 05. Januar 2022

Kapitel 5

Gengenbach, 06. Januar 2022

Lahr (Schw.), 08. Januar 2022

Kapitel 6

Offenburg, 12. Januar 2022

Gengenbach, 13. Januar 2022

Offenburg, 14. Januar 2022

Kapitel 7

Gengenbach, 15. Januar 2022

St. Paulsberg, 16. Januar 2022

Kehl, 17. Januar 2022

St. Paulsberg, 18. Januar 2022

Kehl, Mattenheim, Offenburg, 19. Januar 2022

Kapitel 8

St. Paulsberg, 20./21. Januar 2022

Offenburg, 21. Januar 2022

Offenburg,Kehl, Gengenbach, St. Paulsberg, 28.Januar 2022

Offenburg, 28./29. Januar 2022

Offenburg, 31. Januar 2022

Kapitel 9

Gengenbach, 23. April 2022

St. Paulsberg, Tage später im April 2022

Teil I

Kapitel 1

Der Typ mit dem komischen Hut auf dem Kopf und dem blöden Grinsen in der Visage hatte ein Irrsinnsglück. Oder woran mochte es liegen? Konnte er es einfach?

Er sah exakt so aus wie Stan Laurel. Der mit Oliver Hardy. Dick und Doof. Aber der Kerl war gar nicht doof. Er tat nur so. Dabei zockte er alle ab. Er konnte es einfach besser. Besser als die anderen. Das war nun bereits das siebte Spiel, das er gewinnen würde. Das siebte Spiel von zehn, an denen er teilnahm. War er auch besser alser?

Es war die zwölfte Spielrunde dieses Abends, beziehungsweise dieser Nacht, und danach würde nur noch eine Runde folgen. Die Runde, wegen der hauptsächlich alle kamen. Die zwölf Runden vorher waren immer nur ein Vorgeplänkel, zum Warmlaufen sozusagen, obwohl es auch dabei ums Eingemachte ging. Es war kurz vor vier Uhr morgens. Sonntagmorgens.

Die fünf Männer hatten die Spielberechtigung im Internet ersteigert. Das Mindestgebot lag bei dreitausend Euro. In fünf separaten Versteigerungen bekam jeweils der Meistbietende den Zuschlag. Anders wäre es gar nicht zu verwalten gewesen, denn der Zuspruch war enorm. Es gab ja auch mächtig was zu gewinnen. Zu verlieren natürlich auch, aber wer dachte schon daran. Alle wollten gewinnen, alle wollten den fetten Pott des jeweils dreizehnten Spiels. Dabei übersah manch einer gern, dass er vorher noch zwölf andere Runden bestreiten musste.

Erwar immer der sechste Spieler, dennerwar auch der Veranstalter und Organisator der Pokerrunden. ÜberseineComputerzentrale liefen die Versteigerungen, undersorgte für die Termine und das Umfeld. Zudem buchteerim Voraus stets die Hotelzimmer für die Spieler, die entweder für eine anschließende Heimreise zu weit weg wohnten, oder die während des Pokerabends dem Alkohol zusprechen wollten, wofürerselbstverständlich ebenfalls sorgte. Whisky, Kognak, Zigaretten, Zigarren, Sandwiches – alles nur vom Feinsten. Die Leute sollten sich beiihmschließlich wohl fühlen und unter Umständen wiederkommen.

Gespielt wurde ein einfaches Poker. Die Regeln waren vorher allen Teilnehmern bekannt, und es gab keine Abweichungen oder Änderungen. Der Dealer teilte die Karten aus und spielte in der Runde, in der er der Dealer war, nicht mit. Der Dealer wechselte im Uhrzeigersinn von Spiel zu Spiel. So war gesichert, dass keiner der Spieler mehr als zweimal der Dealer war, also jeder Spieler die gleiche Anzahl an Spielen absolvieren konnte. Nur beim dreizehnten Spiel durfte auch der Dealer am Spiel teilnehmen. Zu diesem Zweck wurden dem Kartenspiel zwei Joker beigemischt, um jedem Spieler, nachdem ihm fünf Karten zugeteilt waren, die theoretische Möglichkeit zu garantieren, maximal vier Karten ablegen und maximal vier neue Karten kaufen zu können. Bei den Spielen eins bis zwölf wurde also mit einem Kartenspiel von zweiundfünfzig Karten gespielt, beim dreizehnten mit vierundfünfzig Karten.Er, der Veranstalter, war der einzige Spieler der Runde, der dreimal als Dealer in Erscheinung trat. Nämlich beim ersten Spiel, beim siebten Spiel, und beim dreizehnten Spiel. Dahinter steckteseinKalkül, denn hallo, beim letzten Spiel um den fetten Pott gaber sichdie Kartenselber. Ein ungemeiner Vorteil, wenn man etwas damit anzufangen wusste.

Der Dealer gab jedem Spieler zuerst zwei Karten. Nun begann die Setzrunde, das heißt mit Zuteilung der dritten Karte konnte der erste Spieler links neben dem Dealer mit dem Setzen beginnen. Gesetzt wurden bei den Spielen eins bis zwölf fünfzig Euro. Wer im Spiel bleiben wollte, musste mitsetzen oder aussteigen. Sein Einsatz blieb jedoch im Pott. Dieser Modus des Setzens wiederholte sich bei Zuteilung der vierten und fünften Karte.

Nach Erhalt der fünften Karte begann die Phase des Kartenkaufs. Pro gekaufter Karte bezahlte der Spieler fünfzig Euro in die Kasse des Veranstalters. Wer also vier Karten ablegte, weil er sie nicht brauchte oder er sich von ihnen keinen Erfolg versprach, musste zwangsläufig wieder vier Karten erwerben, um die Hand mit fünf Karten vollzählig spielen zu können. Fünf Karten zu kaufen war nicht erlaubt. War der Kauf abgeschlossen, setzten die Spieler nach Belieben in Fünfzig-Euro-Schritten, also fünfzig Euro, oder hundert Euro, oder hundertfünfzig und so weiter. Zwischensummen waren nicht erlaubt, doch es gab kein Limit nach oben. Wer im Spiel bleiben wollte, musste entweder die vorgelegte Summe mitgehen, oder diese Summe erhöhen. Wer aus dem Spiel aussteigen wollte, verlor seine bisher getätigten Einsätze. Waren nur noch zwei Spieler übrig und ein Spieler wollte nicht weiter steigern, musste er die vorher gebotene Summe bestätigen und das Aufdecken der Karten verlangen. Der Spieler mit dem höchsten Blatt gewann den Pott.

Man kannte sich untereinander nicht. Möglich war, dass einzelne Spieler sich bei anderen Pokerabenden von anderen Veranstaltern zufällig wiedertrafen oder sich dort bereits begegnet waren, aber das geschah eher selten. Nurersah den einen oder anderen Spieler zum wiederholten Male. Den Stan Laurel hatteerbisher jedoch noch nie zu Gast gehabt, und der Typ spielte verdammt gut. Er trank Whisky in kleinen Mengen und rauchte dafür Zigaretten, dass die Schwarte krachte. Jetzt war er wieder unter den letzten drei Spielern, über achthundert Euro lagen im Pott, under selberhatte nur ein Paar von Siebenern auf der Hand, ohne hohe Beikarte. Besser,erstieg zum jetzigen Zeitpunkt aus.Erwarf die Karten verdeckt vor sich auf den Tisch, hatte zweihundert Euro im Pott gelassen und für hundertfünfzig Euro Karten gekauft, was soll´s. Also nur noch zwei, und da wollte der vorletzte die Karten von Stan Laurel sehen – und verlor. Zwei Paare sind nun mal weniger als ein Drilling von Achten.

Dreizehntes Spiel. Jeder nahm sich ein Getränk. Jeder machte eine kurze Konzentrationspause, vertrat sich die Beine. Die Aufregung war mit Händen zu greifen. Einer erzählte einen lahmen Witz. Nervöses Gelächter machte die Runde. Keiner traute dem anderen. Alle belauerten sich. Feuchte Hände wurden unauffällig an den Hosenbeinen abgewischt.Erentpackte ein neues Kartenspiel und schob vor aller Augen zwei Joker hinein. Vierundfünfzig Karten.Erwar der Dealer. Erwar beim dreizehnten Spiel immer der Dealer.

Alle nahmen ihre Plätze ein. Links vonihmsaß der hagere Kerl mit den schmalen Händen und den langen Fingern. Daneben ein Mann, der aussah wie ein Postschalterbeamter, doch er hatte kleine Knopfaugen, die wieselflink hin und her huschten, und einen dünnen Schnauzer unter der Nase. Neben dem saß Stan Laurel, den komischen Hut auf dem Kopf, war das eine Melone?, grinsend; dann folgte ein vierschrötiger Typ mit roter Haut wie eine gebrühte Languste. Der Letzte war so ein Buchhaltertyp mit Ärmelhaltern und Nickelbrille. Alle schauten gespannt aufihn, verfolgten argwöhnisch die BewegungenseinerFinger,seinerHände.Ermischte ausgiebig. Abheben? Nein.

Zwei Karten für jeden, sechsmal zwei.Erschaute seine beiden Karten an: Kreuz König und eine Pik Neun. Die dritte Karte. Sechsmal eine Karte. Nun begann das Setzen.Erhatte eine Pik Fünf erhalten. Der Spieler links vonihmlegte fünfhundert Euro in den Pott. Fünfhundert Euro! Deswegen kamen sie alle. Wegen der großen Summe. Fünfhundert pro Spieler pro Setzrunde. Der Wahnsinn. Alle anderen fünf Spieler gingen mit. Bei diesem Spiel stieg keiner nach der ersten Runde aus. Vielleicht bekam man ja noch den Royal Flush auf die Hand, nicht wahr? Die vierte Karte. Eine Pik Drei fürihn. Wieder fünfhundert Euro pro Spieler. Keiner stieg aus. Die fünfte Karte.Erbekam die Kreuz Zwei. Jeder zahlte fünfhundert Euro. Jetzt lagen neuntausend Euro im Pott. Die Augen begannen zu glänzen.

Der hagere Kerl mit den schmalen Händen und den langen Fingern legte zwei Karten ab, kaufte zwei neue Karten. Pro Karte einhundert Euro in die Kasse des Veranstalters. Der Postschalterbeamte mit den Knopfaugen legte vier Karten ab. Armes Schwein. Naja, die Hoffnung stirbt zuletzt. Er kaufte vier neue Karten aus dem Spiel. Vierhundert Euro in die Kasse. Stan Laurel legte grinsend zwei Karten ab, kaufte zwei neue. Die gebrühte Languste, tutmirleid, aber irgendwie mussicheuch auseinanderhalten, legte nur eine Karte ab. Oha, was hat der denn auf der Hand? Er kriegte eine neue Karte. Der Mann mit Nickelbrille und Ärmelhaltern bezahlte dreihundert Euro für drei neue Karten. Under selber? Was hatteerauf der Hand? Kreuz König, Pik Neun, Pik fünf, Pik Drei, Kreuz Zwei.Erlegte Kreuz König und Kreuz Zwei ab. Kaufte zwei neue Karten. Pik Bube und Joker. Damit ließe sich doch was anfangen, der weiß, dasserimmer einen Joker bekommt.

„Hast vergessen dir die Hände zu waschen“, sagte der Postschalterbeamte. Gingen da einem schon die Nerven durch? Solch ein Statement abzulassen bedeutet beim Pokern sozusagen den Bankrott mit Ansage. Dummkopf, du.

Der Mann links nebenihm, der Langfinger, setzt tausend Euro. Wahnsinn, was hat der denn auf der Hand? Steigt der gleich so dick ein? Will der allen den Schneid abkaufen? Der Postschalterbeamte schmeißt hin, steigt aus. Der kocht vor Wut. Zuviel für ihn. Stan Laurel grinst mit beiden Mundwinkeln bis zu den Ohren, geht mit, legt tausend Euro in die Mitte. Auch die orangerote Languste setzt mit. Tausend Euro. Und auch Nickelbrille geht mit. Tausend Euro. Aber oh je, seine Nickelbrille beschlägt. Schlechtes Zeichen. Hat sich nicht im Griff.Er selber geht auch mit. Klarer Fall. Vierzehntausend Euro liegen im Pott. Man lauert. Zigaretten qualmen, Zigarren dampfen. In den Gläsern klirren die Eiswürfel. Wer war das? Wer hat hier zittrige Finger? Wahrscheinlich Languste. Languste mutiert zum roten Hummer. „Kann man denn hier mal frische Luft reinlassen?

Es ist ja kaum zum Aushalten hier“, stöhnt Nickelbrille und wischt den Schweiß von der Stirn. Langfinger dreht auf, erhöht auf tausendfünfhundert. Bastard, du langfingriger. Bluffst du, oder hast du eine Oma auf der Hand? Was macht Stan Laurel? Grinst und zahlt. Die Languste, die zum roten Hummer wurde, schenkt sich einen Whisky ein, stürzt ihn in einem Schluck den Hals hinunter, flucht. Was ist? Sind wir hier auf dem Bahnhof und warten auf den nächsten Zug? Der Hummer schiebt das Geld in die Mitte. Nickelbrille geht mit.Ercheckt sein Blatt. Solleres riskieren? Kannerdamit punkten? Die anderen warten aufseinenEinsatz.Ergeht mit. Einundzwanzigtausendfünfhundert im Pott. Was macht Langfinger? Er schnauft. Er schnauft lange. Hat er noch Geld? Er hat. Nochmal Tausendfünfhundert. Mehr wird er nicht mehr haben. Er schwitzt. Stan Laurel grinst, schiebt das Geld in die Mitte. Der rote Hummer, der als Languste begann, ist jetzt violett wie eine – wie heißt das Gemüse?-Aubergine? Er knallt die Karten auf den Tisch. Fertig. Hoffentlich mussichnicht den Notarzt rufen, so wie der aussieht. Nickelbrille wirft auch hin.Erbedient die Forderung. Nochmal viertausendfünfhundert mehr im Pott. Jetzt wirft auch Langfinger das Handtuch. Nur noch Stan Laurel underspielen um den Pott. Stan Laurel ist an der Reihe zu setzen. Er bietet zweitausend Euro an, grinstihmherausfordernd ins Gesicht. Donnerwetter. Was hat der Kasperle gegenüber wohl zu bieten? Mal sehen, ob er das frisst. Wollen dem Sportsfreund mal den Zahn ziehen. Deine Zweitausend, undmeineZweitausend, undicherhöhe um weitere zweitausend Euro. Gell, da guckst du. Sein Grinsen wirkt ein bisschen wie aufgesetzt.Erbemerkt, wie Stan Laurels Fundament bröckelt. Aber er entschließt sich. Zweitausend, sagt er, und ich will deine Karten sehen. Bei vierunddreißigtausend Euro. Jetzt ist die Stunde der Wahrheit. Runter mit den Hosen.Ichdecke auf. Vier Karten in einer Farbe plus Joker. Flush. Was hat er? Vier Karten in einer Farbe plus Joker. Flush. Aber Stan Laurel hat Herz, underhat Pik und zudem die höheren Kartenwerte. Her mit dem Pott. Vierunddreißigtausend Euro. Steuerfrei. Danke, meine Herren, es hatmichsehr gefreut, mit Ihnen zu spielen. Chchch.

Offenburg, 18. September 2021

Die Musik hatte genau die richtige Lautstärke und sie hatte das Gefühl, dass der Lärmpegel sich mit ihrem Alkoholpegel stets die Waage hielt. Als sie abends um elf Uhr hergekommen war, hätte man sich untereinander noch verständigen können, sofern man Lust auf ein Gespräch oder Small-Talk gehabt hätte, was bei ihr nicht zutraf. Jetzt war es fünf Stunden später, an Unterhaltung war längst nicht mehr zu denken, und sie dachte sowieso nicht daran, denn nun gab es ordentlich auf die Ohren, weswegen sie hauptsächlich hergekommen war. Es passte für sie, denn nirgendwo auf der ganzen Welt konnte sie besser abschalten als in diesem Ambiente, einem huckepackevollen Keller-Club mit reichlich Alk und lauter Musik an einem Samstagabend. Nirgendwo sonst konnte sie sich einsamer und zurückgezogener fühlen als unter zweihundertfünfzig zappelnden Leuten, flackernden Laserstrahlen, hundertfünf Dezibel aus den Boxen, auf einem Hocker an der Bar. Es war beinahe wie Schlafen und Träumen. Der Kopf war ausgeschaltet. Die Musik wurde mit Pressluft in ihren Schädel gehämmert, erstickte alles Denken, machte es zunichte, noch bevor es nur ansatzweise beginnen wollte, zerbröselte es einfach zu Staub und verwehte es rückstandslos. Sie hatte keinen Einfluss mehr darauf, und diesen Zustand fand sie euphorisch. Der Alkohol diente dazu, das Hirn gefügig zu machen, geschmeidig und willenlos, die Aufnahmekapazität zu erhöhen, je lauter es wurde, denn das wurde es, den Körper in Apathie zu versetzen und das Blut rauschen, strömen zu lassen, durch die Schluchten und Kanäle ihrer Adern, schneller, atemberaubender als je zuvor, bis der Schwindel kam, alles sich drehte, drehte um sie, sie der Mittelpunkt von allem war. Von allem. Jeden Samstag das Gleiche, jeden Samstag mehr, jeden Samstag lauter und schneller.

Wenn der perfekte Zeitpunkt gekommen war, sie spürte ihn intuitiv, konnte sich darauf verlassen, dass er kam, einmal früher, ein anderes Mal später, stieg sie vom Hocker, eine Flasche Wodka-Mix in der Hand, rangelte sich durch den ekligen Haufen schwitzender und stinkender Würmer auf die Tanzfläche, wo es am lautesten war, wo allein die Lautstärke ausreichte, um eine gepflegte Konfusion zu erreichen. Alles Rhythmus, alles Bass, sie bewegte sich nicht, sie wurde bewegt, geschüttelt, gezerrt, sie war allein, unheimlich allein, und da war diese Musik, Transporter und Transformator, die sie entführte und in einen Zustand der Trance versetzte, ohne Sinn, ohne Halt, abgehoben, was paradoxerweise wieder Sinn machte. Für sie.

Anfangs bemerkte sie ihn noch. Abends um elf Uhr. Vielleicht auch noch um zwölf. Danach nicht mehr. Dann war sie in der Regel weg. Einsam. Dann war es laut und schnell genug. Das ging jetzt schon seit drei oder vier Wochen so.

Auch heute hatte sie ihn bemerkt. Um elf. Und um zwölf. Sie wusste, dass er sie beobachtete. Nur beobachtete, nichts weiter. Anstarrte. Sie wusste nicht, woher er kam oder wer er war, ob er neu im Keller-Club war oder schon länger zu den Besuchern zählte. Vorher hatte sie ihn jedenfalls nie bemerkt. Wie gesagt, erst seit drei oder vier Wochen.

Er saß immer an der schmalen Seite der Bar, auf dem letzten Hocker an der Wand. Immer trank er Bier, wie ordinär, immerhin keinen Wein, Wein wäre sowas von spießig.

Einmal hatte er sich verkleidet, nein, nicht verkleidet, er sah anders aus und sie kam lange nicht drauf, was es war, dass er anders aussah, aber dann war es ihr wie Schuppen von den Augen gefallen, dass es die Haare waren, die er trug, eine hässliche Frisur mit Seitenscheitel und dicken Strähnen wie aus Knetmasse, eine künstliche Farbe, total unpassend, wie aufgesetzt. Aber er war es, sie hatte sich nicht ins Bockshorn jagen lassen, hatte ihn erkannt, entlarvt, weil er sie so anstarrte. Das Starren kann man halt nicht verkleiden, dem kann man keine Perücke aufsetzen, wovon sie schließlich überzeugt war, dass es eine war, eine Perücke, die Augen bleiben nämlich immer gleich, waren die Fenster zur Wahrheit, zur Offensichtlichkeit, zum Verlangen, zum Begehren. Heute war er wie immer gewesen, ohne Verkleidung, ohne Perücke, seine Glatze ungesund grau, oder ungepflegt, doch das Starren war wie immer. Viele Männer rannten mit einer Glatze herum, junge wie alte, eine Modeerscheinung, von hinten alle gleich, ohne Unterschied, keine Merkmale, keine Charakteristika, langweilig, anonym, war das Absicht?

Wenn es gut war, wenn es genug war, war sie bereit nach Hause zu gehen. Ihr Ritual blieb stets das gleiche: An der Bar einen letzten Hochprozentigen, quasi der Heimatschuss, mit dem sich so butterweich gehen ließ, mit dem die Gedanken so herrlich gleiten konnten, geschmiert und sediert, Spinnweben gleich durch die frühe Luft schwebten, wie nach einem intensiven Schlaf mit intensiven Träumen, im Reinen mit sich und der Welt, in der Hand den flüssigen Pegelhalter für unterwegs, der Schnuller für das brave Kind.

Bei schönem Wetter genoss sie den etwas weiteren Fußweg aus dem Industriegebiet, wo der Keller-Club lag, in die Stadt. Er führte zuerst an den Bahngleisen entlang, umrundete eine Kleingartenanlage, bevor es über die Fußgängerbrücke einer Schnellstraße in die ersten Außenbezirke ging. Von dort war sie flexibel, konnte entweder weiter zu Fuß gehen oder an einer Haltestelle einen Bus abwarten.

War das Wetter schlecht, durchquerte sie die Kleingartenanlage. Sie kannte sich dort aus, war als Kind oft auf einer der Parzellen gewesen. Der Pfad war zwar schmutzig, was sie nicht störte, und sie sparte durch den kürzeren Weg fünfzehn Minuten.

Bei Sturm oder starkem Regen, ein Schirm kam für sie nie in Betracht, war uncool, ja unmöglich, für was sonst trug sie eine Kapuzenjacke, nutzte sie ihre Erinnerung an Kindertage: Sie wusste, wo bei einer der Gartenhütten der Schlüssel versteckt lag, immer an derselben Stelle, und sie brauchte ihn nur zu nehmen und die Tür aufzuschließen, und befand sich im Nu in einem gemütlichen und trockenen Raum. Sie hatte schon des Öfteren dort auf besseres Wetter gewartet und sogar auf einem einfachen Sofa geschlafen. Niemand ahnte etwas davon. Ihrem Vater tischte sie irgendeine Geschichte auf, von wegen einer Freundin, bei der sie übernachten konnte, was ihn ohnehin nicht interessierte und nicht zu kümmern brauchte, denn sie war einundzwanzig und damit volljährig, also was soll der Geiz?

Sie hatte nichts gelernt, hatte Gymnasium und Lehre abgebrochen, nicht nur eine Lehre, sondern alle, weil sie zu spät oder gar nicht gekommen war, die Berufsschule geschwänzt und sich nichts hatte sagen lassen, stur geblieben war, uneinsichtig, arrogant dazu und deshalb ohne Job. Sie wollte ihr eigenes Ding. Eine eigene Kurbel drehen, den großen Wurf landen, als Modedesignerin, als Sängerin, als Musikerin, Schriftstellerin, wartete auf die zündende Idee, sah sich auf dem Weg zur Startrampe, doch mit leeren Händen, hatte nichts vorzuweisen als ihre Träume, nicht mal Visionen. Sie probierte dies, versuchte das, sang bei einer Band vor, die eine Sängerin suchte, doch zufällig war ihre Stimme gerade out off order, was als Ausrede nicht für einen zweiten Versuch reichte; sandte Texte an Verlage ein, von denen sie nie eine Antwort erhielt, und deswegen waren sowieso alle total verseuchte Banausen, die einen kommenden Stern am Himmel einfach ignorierten.

Ihr Vater gab ihr hundert Euro in der Woche, also vierhundert im Monat, was viel war für jemanden, der keiner Arbeit nachging, sich nicht mal um einen Aushilfsjob bemühte, und zu wenig für all die Tage, an denen sie mittel- und antriebslos daheim in ihrem Zimmer herumhing. Was sie an Kleidung und Kosmetika brauchte, klaute sie in der Regel mit Unterstützung gleichgesinnter Leidensgenossinnen zusammen, was in ausgeklügelter Teamarbeit recht gut funktionierte, etwas, worin sie es zu einer gewissen Anerkennung gebracht hatte, Momentaufnahmen jedoch nur, die ihren Hang nach Höherem nicht befriedigen konnten. Dass zu ihrem Hang nach Höherem auch ein Mindestmaß an Drang passen würde, war in ihrem Konzept so nicht vorgesehen, entsprach nicht ihrer Philosophie vom Weg zum Erfolg.

Als sie am Sonntagmorgen die Treppe vom Keller-Club nach oben auf das Parkplatzniveau stieg, war es bereits hell. Über den Bahngleisen leuchtete der Himmel rosarot. Sie drehte die Verschlusskappe der Wodka-Mix-Flasche auf, nahm einen kleinen Schluck, nicht zu viel, damit es für den weiteren Weg um die Kleingartenanlage ausreichte. Braves Mädchen. Oh, schau nur, wie sie davonfliegen, die Träume.

Lahr (Schw.) 27. September 2021

Die große Hitze des Jahrhundertsommers war vorbei.

Seit Ende August waren die Temperaturen auf erträgliche Maße gesunken. Sanfte, langanhaltende Landregen hatten Abkühlung gebracht und ließen die geschundene Erde, mit allem, was darauf existierte, langsam aufatmen.

Kai Schuster stand, eine Tasse Kaffee in der Hand, nur mit einem um die Hüfte geschlungenen Badetuch bekleidet, auf dem kleinen Balkon seiner Mietwohnung am westlichen Stadtrand von Lahr und genoss die späten Morgenstunden des Montags. Nach einem heftigen Gewitterguss in der Nacht war die Luft gereinigt und duftete vertraut nach nassem Asphalt. Er hatte sich für die ersten beiden Tage der Woche frei genommen, weil er sich gestern Abend mit einigen Klassenkameraden des Gymnasiums getroffen hatte, um das Klassentreffen zum Fünfunddreißigjährigen für den nächsten Frühling zu organisieren. Er hatte vorausgeahnt, dass er bei diesem Anlass nicht vor Mitternacht ins Bett kommen würde, und so war es auch gekommen. Im Prinzip war das Treffen positiv verlaufen und gegen zehn Uhr abends war die Traktandenliste auch soweit abgearbeitet, dass man sich für konkrete Beschlüsse auf einen nächsten Termin abgesprochen hatte, und der Abend wäre zumindest für ihn gelaufen gewesen, wenn nicht Nicole aus seiner alten Klasse noch auf ein Bier bei den anderen hocken geblieben wäre. Jene Nicole, für die er in der Schule so geschwärmt hatte und die von seinem Schmachten nicht die Bohne ahnte oder nur so tat, als bemerke sie es nicht, weil er sich nicht an sie herangetraut hatte, wie andere Jungs es taten, allerdings genauso wenig erfolgreich wie er. Jetzt diese Nicole, die, wie er unverheiratet, munter und frisch im Kreis der Schulkollegen saß und begeistert den alten Geschichten und Streichen aus der Schule zuhörte und so herzhaft lachen konnte. Ob sie an jemanden gebunden war? Sie hatte darüber nichts verlauten lassen. Er sah ihr Bild vor sich, das sich gestern Abend am stärksten in sein Gedächtnis eingebrannt hatte: Nicole mit Bierschaum auf der Oberlippe. Er hatte sich neu in sie verliebt. Und sie hatte ihm ihre Telefonnummer gegeben.

Zwei Tage frei.

Ben von der Diensteinteilung hatte gesagt, dass die Personaldecke sehr dünn sei und dass Kai die freien Tage eher als eine Art Bereitschaftsdienst betrachten sollte.

Zwei Tage frei und dazu diese herrliche Luft, und die Gedanken an Nicole. Er würde sich heute in Unkosten stürzen und bei Lederer, seinem geschätzten Antiquariat in der Stadt, einen Gedichtband von Rainer Maria Rilke kaufen. Ihm war heute so sentimental zumute und was sprach eigentlich gegen Romantik?

Das Telefon klingelte, als er sich den zweiten Kaffee einschenkte. Mist, dachte er.

„Ben, sag´, dass das nicht wahr ist.“ Kai Schuster sah die freien Tage sich in Luft auflösen.

„Sieh´s mal von der praktischen Seite, Kai.“ Ben, übergewichtig und deshalb immer in Atemnot, schnaufte, als hätte er einen Hundertmetersprint in sein Büro zurückgelegt.

„Von deiner Wohnung aus ist es am nächsten nach Mattenheim. Man hat eine Leiche gefunden. In einem Straßengraben in der Nähe von Mattenheim. Du weißt ja, wo das ist, oder? Bist schließlich hier aufgewachsen. Du kannst es nicht verfehlen. Schau nach, was dort los ist, ob es ein Fall für uns ist oder ein Unfall für die Verkehrsabteilung. Die Leute von der Straßenmeisterei warten dort. Der Doc und die Techniker wissen Bescheid und sind unterwegs. Tut mir leid für dich, Kai. Ein anderes Mal klappt´s bestimmt. Bis dann.“

Auf der Fahrt von Lahr nach Mattenheim hingen seine Gedanken wieder beim gestrigen Abend, und damit auch bei Nicole. Sie waren acht Leute gewesen. Lukas I, der Lehrer geworden war; Kevin, der Apotheker; Lukas II, Abfallmanager des Ortenaukreises; Lars, von dem er nicht wusste, womit er sein Geld verdiente; und er selber. Von den Girls waren Hannah anwesend, die Managerin einer kleinen Spirituosenbrennerei war; Laura, Kindergartenleiterin; und Nicole, Ärztin einer privaten Kurklinik in Baden-Baden.

Er war vor dem Lokal ihres Treffens angekommen, einer Pizzeria namens Laurenzi, als Lars gerade aus einem quietschegelben Ferrari ausstieg.

„Mein lieber Schwan, Lars“, hatte er staunend zum Ausdruck gebracht, „da hast du ja eine echte Knallrakete.“ Er war gespannt, ob Lars immer noch in der hohen Stimmlage sprach, als hätte er nie einen Stimmbruch gehabt.

„Jaaa, das ist mein Zweitwagen“, hatte der gespielt herablassend retour geflötet, obwohl man ihm ansah, dass ihm diese Anerkennung wie Öl runterging. „488 GTB, sechshundertsiebzig PS, zweihunderttausend Euro. Nicht das neueste Modell, aber ungeheuer beeindruckend, gell?“ Lars setzte sich hastig eine rote Ferrari-Baseballkappe auf den haarlosen Schädel und verdeckte eine fast wachteleigroße Beule, auf der ein Heftpflaster klebte, über der Stirn. So ging Lars auch großspurig vor ihm her zum Eingang des Lokals. Alles passte klischeehaft zu ihm: Die polierte Glatze; Kappe; der fette Stiernacken; die Designer-Sonnenbrille auf dem Kappenschild; der Hals dicker als der Kopf und auf dem Rumpf sitzend wie ein geometrisches Trapez; der typisch wiegende Gang des Bodybuilders. Er hätte schwören können, dass Lars auch eine dicke Goldkette um den Hals trug, was sich bewahrheitete, als er ihn im Lokal richtig von vorne zu sehen bekam. Eine schwere Goldkette mit einem goldenen Anhänger, der das Ferrari-Emblem des steigenden Pferdes darstellte. Er scannte verstohlen Lars´ Hände ab: Richtig, da war er ja, der fette Goldring, ebenfalls mit einem Sujet versehen. Er schätzte, dass es gleichfalls das Ferrari-Sujet vom steigenden Pferd war, konnte es aber nicht genau erkennen. War ja auch nicht so wichtig, weswegen er es bald vergessen hatte.

Die Fixpunkte zu dem Klassentreffen waren abgearbeitet und die Aufgaben verteilt und man saß noch in vergnügter Runde zusammen. Jeder steuerte irgendein Erlebnis oder eine Geschichte zur Unterhaltung bei, außer Lars, der nervös schien und angeberisch ständig auf seine teuer aussehende Armbanduhr schaute.

Es war gegen zweiundzwanzig Uhr fünfundvierzig. Nicole war vor wenigen Minuten auf die Toilette gegangen. Kurz nach ihr war auch Lars aufgestanden und in Richtung Toiletten verschwunden. Aus einem unbestimmten Impuls heraus entschuldigte sich Kai mit „… auch mal für kleine Jungs“, und Lukas II rief noch hinterher „Treffen wir uns jetzt alle auf dem Klo oder was?“ Als er in den Flur vor den Toiletten kam, sah er, wie Lars vor Nicole stand und ihr mit ausgestrecktem Arm an die Wand den Weg zurück in den Gastraum versperrte. Was er zu ihr gesagt hatte, war für ihn nicht zu verstehen gewesen, aber als Lars bemerkte, dass hinter ihm jemand in den Flur gekommen war, nahm er seinen Arm herunter und ließ Nicole schmierig grinsend passieren. Die stürmte mit wütendem Blick an Lars und ihm vorbei. Lars und er trafen sich gemeinsam im Pissoir. Lars summte leise vor sich hin und meinte, während er seinen Strahl im Urinal tanzen ließ:

„Jaja, unsere schöne stolze Nicole. Immer noch so unnahbar wie früher. Jaja. Chchch.“ Und dann: „Na Kai, regelst du noch den Verkehr oder fängst du mittlerweile schon Verbrecher?“ Wieder röchelte er sein Eunuchenkichern.

Kai hatte Lars´ Frage unbeantwortet gelassen. Es war so ziemlich alles, was ihm an Lars missfiel. Das war in der Schule schon so gewesen, und durch das heutige Wiedersehen fühlte er sich darin bestätigt. Lars musste zudem über einen eigentümlichen Geschmack verfügen, denn wer in aller Welt legte sich einen gelben Ferrari zu? Das war schon kein Stilbruch oder eine Geschmacksverirrung mehr, das kam weit eher einem Sakrileg gleich. Ein Ferrari war rot. Basta. In Ausnahmefällen schwarz. Aber niemals gelb.

„Und du, Lars? Was machst du so?“ Lars zeigte ihm sein breitestes Lächeln, als wolle er dem Papst ein Doppelbett verkaufen.

„Finanzbranche.“ Lars war fertig mit seinem Geschäft und zog den Reißverschluss seiner Hose hoch.

„Also, Kai“, piepste er, „immer schön dem Recht Geltung verschaffen. Man sieht sich.“

„Und du, immer schön fünfzig innerhalb der Ortschaft fahren. Bleib sauber.“

Als er in den Gastraum zurückgekommen war, sah er Lars an der Theke stehen und seine Rechnung bezahlen. Es war elf Uhr abends, als vor dem Lokal der Motor des Ferrari aufbrüllte und man Lars davonfahren hörte. Am Tisch der anderen zurück, suchte er Augenkontakt mit Nicole. Sie jedoch unterhielt sich gerade angeregt mit Hannah. Erst als der gesellige Teil des Abends sich dem Ende neigte und alle aufgestanden waren, hatte ihm Nicole ohne Worte einen Zettel in die Hand gedrückt. Ihre Telefonnummer.

Es war eine Nebenstraße kurz vor Mattenheim. Er sah das Blaulicht von weitem schon. Ein Kollege in Uniform winkte ihn bis vor die Absperrung. Er stieg aus und schlüpfte unter dem Kunststoffband hindurch. Er erkannte Doktor Brenneis vom gerichtsmedizinischen Institut Offenburg. Hinter ihm stand wartend Kollege Allgöwer von der Spurensicherungsabteilung der Polizei.

Allgöwer war mit achtundfünfzig Jahren der älteste Polizist des Präsidiums und war der letzte Saurier einer alten Garde, die sich samt und sonders in die Pension verabschiedet hatte. Er hieß mit Vornamen Gotthelf, verbat sich aber, damit angesprochen zu werden, weshalb ihn alle nur Allgöwer nannten, was ihm vollauf genügte. Der brasilianische Wunderfußballer Edson Arantes do Nascimento wurde ja schließlich auch nur Pelé gerufen. Trotz seines Alters war er fit wie ein Turnschuh und schlank wie eine Mumie. Alles an ihm wirkte drahtig, von den stoppelkurzen grauen Haaren angefangen bis zu seinem Gang. Er bevorzugte legere Kleidung in gedeckten Farben, und wäre er eine Jeans-Hose, würde er neben dem Label den Zusatz stonewashed tragen, und hätte ihn inklusive der Augenfarbe recht treffend beschrieben. Er nahm im Präsidium eine Sonderstellung ein. Normalerweise zuständig und verantwortlich für die technische Beschaffung, Sicherung und Auswertung von Spuren im Zusammenhang mit Polizeiermittlungen, delegierte er die Auswertung oft an sein technisches Personal und hielt sich bevorzugt in den Büros der zuständigen Ermittler auf, um direkt am Puls des Geschehens sein zu können. Es hatte sich im Laufe der Jahre gezeigt, dass Allgöwer ein ausgezeichneter Kriminalist war und er mit seiner Sichtweise und seinen Ansätzen nicht nur eine Bereicherung, sondern angesichts der dünnen Personaldecke eine willkommene Unterstützung darstellte. Grund für alle, vom Chef bis zum Assistenten, sein Engagement zu dulden oder zu begrüßen.

Allgöwer begann ohne Begrüßungsformalität und ohne Aufforderung zu sprechen. „Die Tote steckte mit dem ganzen Körper in dem Rohr des Entwässerungsgrabens entlang der Straße, über das die Bauern auf ihre Felder hier nebenan fahren. Sie hat praktisch das Rohr verstopft, und als es Ende August endlich zu regnen begonnen hat, staute sich das Wasser auf der einen Seite des Rohres dort drüben. Als die Männer vom Straßenbauamt Lahr den Durchfluss wieder herstellen wollten, sind sie auf die Leiche gestoßen. Heute Morgen um halb elf.“

„Und? Hast du schon was gefunden?“

„Nein“, sagte Allgöwer behäbig. „Muss warten, bis der Doc die Leiche freigibt. Es gibt Spuren von Fahrzeugen zwischen dem Gebüsch und dem Acker, aber das sind Reifenabdrücke von schweren Traktoren. Lutz ist gerade dabei, den Randstreifen zwischen Straße und Acker, den Graben und das Gebüsch jenseits des Grabens auf etwa hundert Meter Länge abzusuchen. Bis jetzt hat er nix. Hey, Doc, wie weit bist du?“

Schuster betrachtete die örtlichen Verhältnisse. Straße; Grabenüberführung, unter der die Leiche steckte; das Gebüsch, das parallel zum Graben wuchs und für die Durchfahrt von Traktoren oder anderen landwirtschaftlichen Fahrzeugen eine Lücke offen ließ. Blickdicht, dachte er. Von der Fundstelle bis zu den ersten Häusern von Mattenheim schätzte Schuster zwei- bis dreihundert Meter.

Lutz, uniformierter Streifenpolizist, kam von seiner Suche nach Spuren hinter dem Gebüsch hervor. „Nichts“, beteuerte er. „Kein Fussel“, und zeigte seine leeren Handflächen.

„Gar nichts?“, fragte Schuster ungläubig. „Keine Pommestüte von McDonalds, kein Kaffeebecher, keine Bierflasche, keine Red Bull-Dose, auf zweihundert Meter Länge nichts?“

„Bin ich denn bei der Müllabfuhr?“, motzte Lutz. „Ich kann doch nicht den ganzen Graben leerräumen und hier anschleppen, oder?“

Allgöwer brauchte bloß die Fäuste empört in die Hüften zu stemmen und Lutz missbilligend anzuschauen.

„Jaja, ich geh´ ja nochmal“, beeilte sich Lutz zu beschwichtigen, und drehte sich maulend um. „Man wird ja wohl mal einen Scherz machen dürfen.“

„Doc“, versuchte sich Allgöwer bei Dr. Brenneis in Erinnerung zu bringen.

Brenneis ließ sich nicht drängen. Er blickte auch nicht auf, als er antwortete. „Das ist schwierig hier. Die Tote liegt schon seit einiger Zeit im Rohr. Wochen, Monate vielleicht, wie´s scheint. Sieht ziemlich mitgenommen aus. Teilverwest. Dann wieder in überraschend gutem Zustand. Hat möglicherweise mit der Zugluft im Rohr und der kühlen Schattenlage zu tun, trotz der immensen Hitze im Sommer. Todesursache: mindestens Genickbruch. Mehr kann ich hier vor Ort nicht sagen. Sie ist ja vollständig bekleidet. Warten wir, bis ich die Tote auf meinem Seziertisch habe. Ach ja, hier“, sagte er, und streckte ohne sich umzusehen einen Arm nach hinten. „Das steckte in ihrer Hose. Nimm´s mir mal ab, ist ohnehin für dich.“

In der Hand hielt er etwas, das aussah wie ein Stück Pappe oder Papier. Allgöwer nahm es mit Gummihandschuh entgegen und drehte es hin und her. „Das ist eine Spielkarte“, meinte er. „Herz Zwei.“

Offenburg, 25. September 2021

Heute war sie gut drauf. Am Nachmittag hatten sie sich in der Stadt getroffen, am Platz mit dem Brunnen. Die Clique und sie. Tausend und mehr Menschen in der Fußgängerzone, aber sie waren im Zentrum an exponierter Stelle, hatten sie sich erobert, im Auge des Sturmes sozusagen. Sie beherrschten die Burg, vertrieben jeden, der nur in ihre Nähe kam, mit Beleidigungen, Zoten, Obszönitäten, hemmungslos, rigoros. Rufe nach der Polizei waren laut geworden, halbherzig nur, weil keiner sich wirklich traute. Weicheier alle. I know where you are living, verstehst du? I know the car you are driving, kapiert? I know where your kids are going to school, du Penner.

Roxanne, ausgerechnet Roxanne, die beste Schlampe unter ihnen, war auf die Idee gekommen. Hey, wir gründen eine Girls-Group. Was die Mädels von Honeyland können, können wir doch auch. Sie fing an zu singen, einen angesagten Titel von besagtem Mädchen-Quartett, der bei Youtube der Superhit des Jahres zu werden versprach. Die anderen vier stimmten mit ein, und plötzlich hörte es sich gar nicht schlecht an, weil sie begriff, dass es besser klang, wenn eine zweite Stimme dem Song mehr Volumen gab, was sie tat, und sie wurde vom Gefühl ergriffen, noch nie schöner gesungen zu haben, es blieben sogar Leute stehen, um zuzuhören. Als Beifall ertönte, kriegten sich die Fünf vor Vergnügen kaum noch ein, kreischten vor Lachen und bespritzten sich mit Brunnenwasser. So krass.

Aber für sie war es ein Zeichen. Jetzt wusste sie, wie es funktionierte und dass sie es konnten. Sie mussten nur alle bei der Stange bleiben, oder wenn nicht, für adäquaten Ersatz sorgen. Sie würde auf jeden Fall dabei sein, denn singen konnte sie ja, wie sie unter Beweis gestellt hatte, und naja, gut aussehen musste man natürlich auch, das war nicht bei jeder der Fall, zum Beispiel sahen Malle und Lorca, die Zwillinge, schlichtweg zu bieder aus, langweilig und blass, da würde auch eine Tonne Schminke nichts retten, und Titten hatten sie auch nicht. Also da musste Ersatz her, so hart es für die beiden auch klingen mag, so ist nun mal das Business.

Sie war danach nach Hause gegangen, um sich für den Abend umzuziehen. Komischerweise gingen die anderen Girls nie mit in den Keller-Club, einmal war Roxanne mit dabei, aber der war es definitiv zu laut, und hallo, hundertfünf Dezibel, haha, das musste man erstmal vertragen, und die Zwillinge durften von daheim aus nicht. Die Fünfte? Litta? Forget her.

Um die Stimmung anzuheizen war sie in eine Kneipe unterwegs zum Vorglühen gegangen, denn heute sollte der Diesel anspringen. Selbstzündung durch komprimierte Lautstärke im Kopf und in der Brust hieß das Ziel, das beste was es gab, und wenn es dann noch im Magen und weiter unten zu kribbeln begann, oioioi, verlangte man nach nichts mehr, aber ehrlich.

Sie war etwas früher im Keller-Club angekommen als sonst, und natürlich war er wieder da, sah noch, wie er mit dem Typ hinter dem Tresen redete, sich aber auf seinen Stammplatz zurückzog, als er sie bemerkte. Heute wieder mit der blöden Frisur, oder war das doch ein anderer? Nein, nein, er glotzte sie an, als sie auf ihren Stammplatz kletterte, und diesmal hob er sogar sein Bierglas und prostete ihr zu. Sie schaute demonstrativ weg, zog ihren rechten Mundwinkel verächtlich hoch, sodass er es sehen musste. Der Barkeeper stellte ein Glas vor sie hin, eine Daumenbreite braune Flüssigkeit drin, mit Eiswürfeln, und raunte ihr zu, es sei von dem Herrn in der Ecke. Sie schaute hinüber, wieder hob er sein Bierglas, sie stand auf, ging auf die Toilette und war wütend. Ihre Superstimmung floss mit dem Spülwasser das Klo hinunter. Ach, komm, ärgere dich nicht, es ist halt einer, der´s versucht, und wenn sie bald ein Star werden wollte, musste sie sicher auch manchmal mit den Wölfen heulen, denn irgendwer sollte schließlich ihre Musik kaufen, oder etwa nicht, und wer, wenn nicht alle Idioten dieser Welt?

Sie kam zu ihrem Platz zurück, jetzt standen zwei Gläser dort, und trotzig nahm sie das erste, stürzte es hinunter, eindeutig Whisky, dann das zweite, trank es aus, hob´ das leere Glas und zeigte es ihm. Er lächelte zurück, obwohl, unter Lächeln verstand sie etwas völlig anderes als das Fletschen mit den Zähnen. Hoffentlich fällt es ihm nicht ein, herüberzukommen, dachte sie. Dann aber setzte die Musik ein, die zwei Whiskys zeigten ihre Wirkung, noch war es nicht laut genug, aber die Zeit schritt voran, es wurde ein Uhr, und ihr Diesel sprang an, stotterte erst, aber dann donnerte die erste Selbstzündung durch den Kopf, dass sie meinte, Funken müssten aus ihren Augen und Ohren sprühen. Sie nahm die Wodka-Mix-Flasche mit auf die Tanzfläche. Sie war bereit und für alles, was kam, zugänglich.

Das Wetter hatte umgeschlagen. Als sie aus der Tür des Keller-Clubs trat und die Treppe hinaufging, goss es in Strömen. Aber heute würde ihr nichts mehr gegen den Strich gehen, zu einmalig war diese Nacht, zu perfekt gelaufen, als sich um so´n Scheiß wie Regenwetter zu kümmern. Sie zog die Kapuze ihrer Jacke über den Kopf und schwebte im Traum davon.

Sie bog in den Pfad durch die Gartenanlage ein. Sie würde die Option mit der Gartenhütte wahrnehmen, freute sich sogar drauf. Sie hatte ja noch ihren Schnuller dabei, die letzte Wodka-Mixtur. So wie es war, war es gut.

Sie fand den Schlüssel auf Anhieb, mühte sich mit dem Schlüsselloch ab, verflixt, doch dann war die Tür offen und sie betrat die Hütte.

Offenburg, 28. September 2021

Aus dem freien Dienstag war für Kai Schuster nichts geworden, und wann es die nächste Gelegenheit auf ein paar zusammenhängende freie Tage geben würde, war nicht abzusehen. Er fragte sich, wie es die Kollegen, er eingeschlossen, psychisch fertigbrachten, im Zustand der Dauerbelastung nicht mit Messern aufeinander loszugehen. Ihm fiel das Vöglein auf der Spitze des Eisberges ein, das, um die Ewigkeit zu bekämpfen, jährlich einen Millimeter davon abpickte, doch im Jahr darauf zwei Millimeter neues Eis vorfand. Irgendwann, dachte er, wird das Vöglein sterben, und das Vöglein sind wir. Und dann? Dann haben wir die Anarchie.

Es war halb zwölf Uhr, als er von Dr. Brenneis in die Räume der Gerichtsmedizin zitiert wurde, die sich im Keller des Gebäudes der Polizeidirektion Offenburg befanden. Er fand den Doc, ein belegtes Wurstbrötchen in der Hand, mit vollen Backen mampfend, am Fensterbrett eines der Kellerfenster vor. Der Mann musste über einen wahren Saumagen verfügen, denn auf einem der hüfthohen Seziertische im Raum lag bäuchlings der Körper der halbverwesten Frau, die gestern aus dem Rohr eines Entwässerunggrabens bei Mattenheim geborgen worden war.

„Mhm, Koi, sch´u d´r m´l n, w´s v´n d´r Fr´u übr´´ g´bl´´b´n is´.“ Brenneis hatte Mühe, dass ihm keine Krümel aus dem Maul fielen. Er wickelte das Brötchen in ein Stück Papier und wischte sich ausgiebig den Mund. „´´´schuldigung“, schnaufte er, „aber irgendwann muss der Mensch mal was essen.“ Er trat neben Schuster an den Tisch mit der Leiche.

Wenn er jetzt noch mit einem Zahnstocher in seinem Maul herumstochert, kotz´ ich ihm vor die Füße, dachte Schuster.

Dr. Brenneis stellte für Kai Schuster den Prototyp eines Metzgers dar: Rundes, fettglänzendes, glattrasiertes Gesicht; kleine Schweinsäuglein hinter dicken, wimpernlosen Lidern; rote, nach hinten gekämmte dünne Haare; Doppelkinn; enormer Leibesumfang; kurze Beine und Wurstfinger. Er sah ihn im Geiste hinter einer Fleischtheke stehen. Darf´s ein bisschen mehr sein?

Brenneis fingerte einen Zahnstocher aus der Brusttasche seines Kittels und steckte ihn zwischen die Lippen. „Was du hier siehst“, quetschte er zwischen den Zähnen hervor, „sind die leiblichen Überreste der Frau. Der vordere Teil des Körpers ist mehr oder weniger nicht mehr vorhanden. Die Rückenpartie befindet sich in einem besseren Zustand. Da sind die Haut und das Muskelfleisch teilweise richtig ausgetrocknet, wie man sieht. Entschuldige den Ausdruck, aber Dörrfleisch kommt der Sache ziemlich nahe. Das hat vermutlich mit der Lage des Körpers in dem Rohr zu tun. Sie lag bekanntlich auf dem Bauch, und durch den Luftzug in dem Rohr, also einer Belüftung, konnte sich der Rücken besser erhalten, quasi konservieren, während sich an der Unterseite, sprich Bauchseite, ein feuchtes, verwesungsförderndes Kleinklima entwickelt hat, verstehst du?“

Schuster antwortete nicht auf diese Frage; sowas musste man nicht verstehen und er wollte es sich auch nicht vorstellen. Er hatte schon einige Tote gesehen. Was sich hier allerdings seinen Augen und seiner Nase bot, überstieg alles bisher Dagewesene. Der Gestank war furchtbar und er fragte sich, wie Brenneis in dieser Umgebung überhaupt an Essen denken konnte. Schuster, darauf bedacht, so wenig wie möglich von der verpesteten Luft in die Lunge zu kriegen, atmete hoch und flach ausschließlich durch den Mund, weswegen seine Stimme etwas gepresst klang.

„Was weißt du denn über die Todesursache? Könnte es eventuell ein Verkehrsunfall gewesen sein?“ Es gelang ihm nicht, eine Betonung einzubauen, die nach Hoffnung klingen mochte. Er schaute sich im Fernsehen kaum Kriminalfilme an, doch wenn, dann konnte er oft nicht verstehen, dass sich die Fernsehkollegen des Öfteren um die Zuständigkeit für einen Mordfall stritten. Er für seinen Teil war froh über jede Leiche, die er nicht bearbeiten musste.

„Gestorben ist sie auf jeden Fall am Genickbruch, wie ich gestern schon sagte. Andere Verletzungen am Körper hab ich nicht feststellen können. Du meinst, ob sie vom Fahrrad gestürzt sein könnte und sich den Hals gebrochen hat? Oder ob sie als Fußgängerin von einem Auto angefahren worden ist?“

„Ja, sowas in der Art“, hechelte Schuster, immer noch mit aufkeimender Restsehnsucht das kümmerliche Pflänzchen gießend, den Fall glücklich an die Kollegen der Verkehrspolizei abtreten zu können. Auch wenn es hier völlig deplatziert schien, meinte er, geheime Wünsche selbst in der schmuddeligsten alle Ecken denken zu dürfen. Oder verstieß das gegen den Berufsethos der Kriminaler? Blöder Chorpsgeist, blöder.

„Möglich ist alles“, meinte Brenneis lapidar, „aber in die Röhre ist sie sicher nicht von allein gekrochen. Da muss schon jemand nachgeholfen haben, und das riecht mir doch allzu arg nach einem vorsätzlichen Verbrechen. Soweit mir bekannt ist, ist auch Fahrerflucht ein Verbrechen, oder irre ich mich da? Und was sollte dann die Spielkarte, die ich bei ihr gefunden habe?“

Schuster sah seine Hoffnung, das lausige Mistvieh, sich um die Ecke schleichen. Der Doc hatte einfach die handfesteren Argumente „Wo bei ihr hast du die Karte überhaupt gefunden?“

„Nun, sie steckte im Hosenbund zwischen Hose und Rücken. Da steckt man sich üblicherweise keine Spielkarten hin, wenn du mich fragst.“

„Verstehe. Und wann, meinst du, ist sie gestorben?“

Brenneis kramte ein kariertes Taschentuch aus seiner Hosentasche, setzte seine dicke Hornbrille ab und putzte die Gläser. „Das ist schwierig. In dem Rohr, in dem sie lag, herrschte ein Klima, das wir nicht einfach nachvollziehen können. Der Sommer war, wie du weißt, sehr heiß und trocken. Und doch gibt es in solchen Gräben und vor der Sonne verborgenen Orten ein eigenes Feuchtigkeits- und Belüftungssystem. Anhand der fortgeschrittenen Verwesung des Brust- und Bauchraumes wie auch des Gesichts und der Schenkelvorderseite, eingedenk der Fliegenlarven und der Madenentwicklung, liegt der Todeszeitpunkt einige Monate zurück. Ich wage mich, Mai zu sagen. Lass mir noch Zeit, die Haare zu untersuchen. Vielleicht finden sich dort Spuren von irgendwelchen Giften. Dann kann ich die Schätzung möglicherweise präzisieren. Ich muss mich diesbezüglich auch erst mal schlau machen, ob es sowas wie eine Halbwertzeit bei eingelagerten Substanzen gibt, wenn du verstehst, was ich meine. Ich denke da an Rauschgift und solche Sachen. Ähnlich wie beim Zerfall radioaktiver Stoffe. Hm. Man hat ja so einen Fall nicht jeden Tag oder jede Woche. Aber mich auf einen Tag festlegen, Kai, das kann ich beim besten Willen nicht.“

„Ich verstehe. Wie alt ist die Frau ungefähr gewesen?“

„Auch schwierig zu sagen. Zwischen dreißig und fünfzig ungefähr. Nicht jünger und nicht älter.“

„Vergewaltigung?“

„Kai, pass mal auf.“ Brenneis schnaufte genervt. Wie sag ich´s meinem Kinde? „Wie ich schon sagte: Anhand der fortgeschrittenen Verwesung des Brust- und Bauchraumes …“

„Jaja“, beeilte sich Schuster zu beschwichtigen, „kannst du nichts sagen, weil nichts mehr zu gucken da ist. Zudem war die Frau bekleidet.“

„Du sagst es.“

Schuster wanderte einmal um den Tisch herum und blieb an der anderen Breitseite stehen, wobei es dort nicht angenehmer roch.

„Sieht aus wie eine Tätowierung hier am Nacken. Hast du das gesehen?“

„´türlich, was denkst du denn. Am linken Oberarm hat sie auch eine.“ Brenneis zog den Körper leicht an der Schulter etwas um die Längsachse und deutete auf ein buntes Bildchen am Oberarm. „Sieht aus wie eine Rose. Ich hab Fotos davon und von der anderen gemacht. Sie liegen dort drüben auf dem Schreibtisch. Du kannst sie nachher mitnehmen.“

Schuster war beeindruckt. Nicht immer war Brenneis dazu bereit, den Ermittlern selbstständig zuzuarbeiten. Oft lieferte er Ergebnisse oder Berichte erst auf Nachfrage oder gar auf Geheiß. Nicht, dass er Befunde verschweigen würde, nein, das nicht. Aber man musste ihm manchmal schon die Würmer aus der Nase ziehen oder ihn bauchpinseln, um an seine Einschätzungen oder Schlussfolgerungen zu geraten, die für die Arbeit der Polizisten von unabdingbarer Wichtigkeit waren. Dabei hatte Schuster das Gefühl, dass sein Draht zu dem Doc noch einer der besseren war als der anderer Kollegen.

„Danke, Doc. Echt vielen Dank“, beeilte sich Schuster deswegen gleich zu kommunizieren. „Ist die Haarfarbe eigentlich die natürliche oder ist es gefärbt?“

„Schau dir den Haaransatz an.“ Brenneis griff mit beiden Händen auf den Kopf der Toten und drückte die blonden Haare auseinander. „Bis zur Wurzel blond. Die ist nicht gefärbt.“

„Okay, das wär´s vorerst für mich.“ Schuster streckte Brenneis die Hand hin. „Mach mir noch ein paar Abdrücke vom Gebiss der Toten, sei so gut, und schick mir das Zeug und deinen Bericht hoch ins Büro. Danke nochmal für die Fotos. Schönen Mittag noch.“

Als Schuster draußen auf dem Flur vor Brenneis´ Räumen stand, schnappte er tief nach Luft. Er konnte sich einfach nicht an den Anblick von Toten gewöhnen, noch weniger, nachdem sie Dr. Brenneis auf dem Tisch gehabt hatte. Ob das für die Ausübung seines Jobs nun ein Hindernis war oder nicht, wollte er gar nicht wissen.

Auf dem Weg durch den Flur zu seinem Büro kamen ihm Kollegen entgegen, die in Richtung Kantine zum Mittagessen gingen. Auf ihre Frage, ob er mitkommen wolle, würgte es ihn plötzlich im Hals, sodass er es gerade noch in die nächstgelegene Toilette schaffte, wo er sich übergab. Doch, es war ein Hindernis, und er fragte sich, ob seine älteren Kollegen abgebrühter waren als er. Er würde bei Gelegenheit mal einen daraufhin ansprechen. Unbedingt. Er betrachtete sein Spiegelbild über dem Handwaschbecken. Du bist keine vierunddreißig, murmelte er, du bist kurz vor dem Pensionsalter. Wenn Nicole mich so gesehen hätte, würde sie mir zwar eine Telefonnummer gegeben haben, aber bestimmt die vom Altersheim.

Er legte die beiden Fotos von den Tätowierungen auf seinen Schreibtisch im Büro und rief im Computer die Seite mit den vermisst gemeldeten Personen auf. Er beschränkte die Suche zunächst auf die Region Baden und für einen Zeitraum ab April des aktuellen Jahres. Er war überrascht, wie viele Personen in einem so relativ kurzen Zeitraum als abgängig verzeichnet worden waren. Die meisten waren junge Menschen, um nicht zu sagen Jugendliche. Mädchen und Jungen gleichermaßen, die mit all ihren Problemen, wie vielfältig gelagert sie auch immer sein mochten, sich der bekannten Welt durch Flucht entziehen wollten. Aber auch viele Ältere, jenseits der siebzig, die enttäuscht, entkräftet, entmündigt, entsorgt und beschämt sich vor dem Unausweichlichen zu verstecken versuchten. Dramatisch, tragisch und schlimm in jedem einzelnen Fall. Einmal auf dieser Vermisstenliste gelandet, wusste Schuster, war es in der Regel bloß dem Zufall zu verdanken, dass man einen Gesuchten wieder ins soziale Gefüge rückführen konnte. Punktuell und gezielt gefahndet wurde nach vermissten Menschen schon lange nicht mehr, wenn nicht unmittelbare Gefahr für Leib und Leben bestand. Die Ausnahme bildeten natürlich Kinder.

Schuster grenzte die Alterseingabe und die Region ein. Frau, blond, zwischen dreißig und fünfzig, tätowiert, Region Mittelbaden. Der Computer spuckte innerhalb von drei Sekunden ein Bild und die bekannte Vita einer Frau aus, die am 12. Mai 2021, einem Mittwoch, in Kehl von einem Herrn Jakob Fuhrmann, gemeldet und wohnhaft in Kehl, als vermisst gemeldet worden war. Schuster ließ die Unterlagen sofort ausdrucken. Das Foto zeigte eine dürftig mit einem Tanga bekleidete Frau, die lasziv und mit verschleiertem Blick an einer deckenhohen, metallisch glänzenden Stange lehnte. Eine Striptänzerin? Schuster zoomte das Bild näher heran. Am linken Oberarm der Tänzerin war eine Rose zu sehen. Schuster las den Namen der Frau: Sarah Kemper. Alter: fünfundvierzig Jahre. Zuletzt gemeldet in der Colmarer Straße in Kehl; Geschäftsführerin; keine Angehörigen. Auf einem separaten Anhang zu dem Vermisstendossier berichtete das Polizeirevier Kehl, dass bei Inansichtnahme der Wohnung der vermissten Frau keine Anzeichen von Gewaltanwendung festgestellt worden waren, wie im Übrigen auch keine Andeutungen für eine geplante längere Abwesenheit. Es wurde zwar kein Pass oder Ausweis gefunden, dafür war jedoch der Kühlschrank mit Frischware gut gefüllt, und im Flur wurde neben dem Hausschlüssel auch der Fahrzeugschlüssel für einen Kleinwagen registriert. Das Auto, ein Opel Eve neuerer Baureihe, stand unter einer Laterne in der Colmarer Straße vor dem Haus. Jakob Fuhrmann, Arbeitgeber von Frau Kemper, war gleichzeitig und praktischerweise Besitzer und Vermieter der betreffenden Wohnung und hatte den aufnehmenden Polizeibeamten die Wohnung mit einem Zweitschlüssel geöffnet.

Schusters Mobiltelefon klingelte. Er meldete sich, ohne auf das Display geschaut zu haben.

„Allgöwer hier. Kai, sattle das Pferd und schwing die Hufe, die Pflicht ruft. Scheint ein arbeitsträchtiger Monat zu sein, was unsere Profession betrifft.“

„Ja Sakra, bin ich denn der einzige Polizist, der Dienst schiebt?“, meckerte er.

„Mach keinen Lärm und freu´ dich, an die frische Luft zu kommen. Schau´ dir das herrliche Herbstwetter an“, kicherte Allgöwer, „du bist der Einzige. Aber du hast immerhin noch mich.“

Feuchtigkeit hing in der Luft. Was hatte Allgöwer da von Frische gefaselt? Herrliches Herbstwetter? Tonnenschwere Wolkenungetüme kreuzten wie U-Boote durch die pappige Atmosphäre. Wer sich jetzt draußen aufhielt, würde absolut keinen Durst bekommen.

Sie fuhren aus der Innerstadt Richtung Industriegebiet-Nord an den Bahngleisen entlang. Allgöwers SpuSi-Team folgte in einem eigenen Wagen. Als sie den Streifenwagen mit blinkenden Blaulichtern im Gartengelände sahen, bogen sie ab. Der Wagen von Dr. Brenneis war ebenfalls schon da. Wie schnell ist der denn, dachte Schuster und hielt dahinter an. Der Weg zwischen den Gartenparzellen war vom Regen aufgeweicht und so schmal, dass beide über die Fahrertür aussteigen mussten. Allgöwer fluchte, weil Schuster auch anders hätte parken können, nämlich so, dass beide über die Beifahrertür … immerhin war er der Ältere. Scheiß was drauf.

„Ist das ein Kleingartenverein?“, fragte Schuster sich umblickend.

„Keine Ahnung“, antwortete Allgöwer. „Da muss man halt fragen.“

„Ich mein´ ja bloß, weil das Gelände nicht eingefriedet ist. Das ist doch sonst bei Vereinsanlagen so.“

Ist das so?, dachte Allgöwer, aber er sagte nichts.

Sie gingen auf den Polizisten zu, der neben dem Gartentor zu einer Parzelle stand.

„Na Lutz, du kannst wohl auch nicht ohne sein, was?“

Lutz grinste und hob entschuldigend die Schultern.

„Ich hab´ jetzt sicherheitshalber immer ein Passfoto meiner Frau dabei, damit ich noch weiß, wie sie ausgesehen hat, als ich zum Dienst gefahren bin. Man kann ja nie wissen, wann ich sie wiedersehen werde.“

Vierzig Meter weiter war ein Krankentransporter zu sehen, der für den Gartenweg zu breit sein musste. Zwei Sanitäter eilten mit einer rollbaren Trage auf sie zu, quetschten sich an einem Notarztwagen durch, der mitten auf dem Weg parkierte. Um die Parzelle flatterte weißrotes Absperrband aus Plastik.

Schuster ging vom Gartentor über Waschbetonplatten zum Eingang der Hütte. Die Tür zur Hütte stand weit offen. Dr. Brenneis und ein andere Mann, wahrscheinlich der Notarzt, arbeiteten konzentriert an einem Körper, der auf dem Boden der Hütte lag. Als Brenneis Schuster bemerkte, der in der Tür stehen geblieben war, schnaufte er unwillig durch die Nase.

„Du schon wieder. Komm´ rein oder bleib draußen, aber bleib´ nicht unter der Tür stehen und nimm´ uns das Licht weg. Ich weiß, was du willst, Kai“, sagte er, ohne diesen anzusehen. „Du willst wieder einen Mord aufklären. Hast wohl noch nicht genug zu tun, was? Aber ich muss dich enttäuschen. Noch ist es kein Mord. Die Frau lebt. Und jetzt mach Platz, damit wir sie aufladen und abtransportieren können.“

Tatsächlich warteten die zwei Sanitäter hinter ihm darauf, dass sie durch die Tür gelassen wurden. Allgöwer schaute ihm über die Schulter.

„Lassen wir erstmal die Doktoren ihren Job machen“, meinte er. Schuster wollte sich umdrehen und die Tür für die Sanitäter freigeben, rammte dabei aber mit dem Kopf gegen den oberen Türrahmen.

„Autsch, verdammt“, fluchte er und rieb die Stelle am Kopf, „wie niedrig ist das denn?“

Dr. Brenneis lachte auf. „Willkommen im Club“, fügte er hinzu, „ist mir auch passiert. Wahrscheinlich gehört die Hütte einem Zwerg.“

Schuster ging zu dem Polizisten an der Gartentür zurück. „Wer hat die Frau gefunden, Lutz?“

„Er sitzt im Streifenwagen. Du bist vorhin an ihm vorbeigelaufen.“

Er schaute zum Streifenwagen hin. „Und wer ist die zweite Person, die drin sitzt?“

Lutz guckte dumm. „Wieso zweite Person?“

Beide gingen nebeneinander auf den Streifenwagen zu. Die hintere Tür öffnete sich, ein Mann kletterte heraus, wollte sich gerade verkrümeln. „Halt, hiergeblieben“, rief Lutz. Der Mann blieb stehen.

„Ach, wen haben wir denn da? Unser Freund Gieringer von der Presse. Was hast du hier zu suchen, Lothar, hm?“

Lothar Gieringer von der Badischen Zeitung stellte sich doof. „Ich wollte nur Herrn Oberle besuchen, das ist alles. Er ist ein Freund unseres Hauses.“

„Ein Freund eurer Zeitung? Dass ich nicht lache.“ Lutz wandte sich an Schuster. „Was machen wir mit ihm?“

„Wenn nur eine von uns nicht autorisierte Zeile in der Zeitung auftaucht, ist er seinen Job los“, sagte Schuster.

„Du hast es gehört, Lothar. Komm´ zieh´ Leine. Warte auf die Pressemitteilung wie andere auch.“ Lutz wies ihn hinter die Absperrung.

„Wie konnte dir das passieren, Lutz. Meinst du, der hält sich an so ´nen Witz wie Pressemitteilung?“ Schuster war sauer.