Schwimmende Steine - Pit Ferman - E-Book

Schwimmende Steine E-Book

Pit Ferman

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Beschreibung

Wer Peter Seibelt nicht kennt, und das sind die meisten, weiß auch nichts über die Tragödie, die ihn über fünfzig Jahre seines Lebens verfolgt hat. Pit Ferman kennt ihn. Denn er war es, der Peters Biografie im Kriminalroman Schaafswinter aufgezeichnet hat. Der Anlass, ihn zu besuchen, ist jedoch ein anderer. Peter Seibelt stellt Lampen aus den Rahmen alter Zimmerkachelöfen her, und solch eine Lampe wünschen sich Pit und seine Frau Eliza für ihr Haus. Dabei ergibt sich aus Peters Erzählungen, dass seine Tragödie vermutlich viel früher ihren Anfang genommen hatte als selbst Pit wusste.

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Wer Peter Seibelt nicht kennt, und das sind die meisten, weiß auch nichts über die Tragödie, die ihn über fünfzig Jahre seines Lebens verfolgt hat.

Pit Ferman kennt ihn. Denn er war es, der Peters Biografie im Kriminalroman Schaafswinter aufgezeichnet hat. Der Anlass, ihn zu besuchen, ist jedoch ein anderer. Peter Seibelt stellt Lampen aus den Rahmen alter Zimmerkachelöfen her, und solch eine Lampe wünschen sich Pit und seine Frau Eliza für ihr Haus.

Dabei ergibt sich aus Peters Erzählungen, dass seine Tragödie vermutlich viel früher ihren Anfang genommen hatte als selbst Pit wusste.

Für Bexi und Carlo

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

12. September 2024

Weinbuch

Winter 1958/1959

12. September 2024

Winter 1958/1959

12. September 2024

Frühling 1960

12. September 2024

Frühling 1960

12. September 2024

Sommer 1960

12. September 2024

12. September 2024

Herbst 1960

12. September 2024

Sommer 1962

12. September 2024

Herbst 1962

Winter 1962/1963

12. September 2024

Frühling 1963

12. September 2024

Sommer 1963

12. September 2024

Sommer 1963

12. September 2024

Herbst 1963

12. September 2024

Sommer 1964

12. September 2024

Anmerkungen des Autors

Vorwort

Ich bin Pit Ferman und kenne Peter Seibelt seit unserer gemeinsamen Zeit als Zolldeklarant für eine deutsche Transportfirma in Basel in der Schweiz. Wir übten den gleichen Beruf aus, waren jedoch in unterschiedlichen Abteilungen tätig. Als ich im Jahre 2008 aus gesundheitlichen Gründen in den vorzeitigen Ruhestand trat, verloren wir uns für mehrere Jahre aus den Augen.

Kontakt zu Peter Seibelt erhielt ich erst wieder durch Kriminalhauptkommissar a. D. Edgar Schaaf. Man schrieb das Jahr 2021, als Edgar mich wegen einer Geschichte anfragte, die mich veranlasste, den ersten Edgar-Schaaf-Krimi Schaafswinter zu schreiben. Im Zuge jener Arbeit suchten er und ich Peter Seibelt mehrfach in dessen Haus in Weinbuch auf, um mit ihm die tragischen Ereignisse um die ermordeten Frauen einerseits und seines persönlichen Traumas andererseits zu besprechen.

Dabei lernte ich auch Peters jetzige Frau Bernadette Beni Wolff kennen.

Im Verlaufe jener Treffen erfuhr ich nebenbei, dass sich Peter Seibelt mit Tiffany-Glaskunst beschäftigte und unter anderem Lampen aus den Eisenrahmen alter Zimmerkachelöfen herstellte.

Solch eine Tiffany-Lampe bei ihm zu bestellen, fuhren meine Frau Eliza und ich am Morgen des zwölften Septembers 2024 nach Weinbuch.

12. September 2024

„Hast du die gepressten Pflanzen dabei?“, fragte Pit Ferman, als Eliza Wohlbrecht in den taubenblauen Citroën Typ H einstieg. Baujahr 1981. Der Citroën. Nicht Eliza.

Sie klopfte auf die Umhängetasche und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. Der Motorblock des kultigen Oldtimers vibrierte vertrauenserweckend zwischen Fahrer und Beifahrerin.

Pit legte den ersten Gang ein und rollte an. Unter den Rädern des Transporters knirschte der Kies auf der Zufahrt zu ihrem Haus. Bis zur asphaltierten Straße waren es nur wenige Meter.

„Die sind es doch, weswegen wir hinfahren“, sagte Eliza und klopfte erneut auf die Tasche, die nun auf ihren Oberschenkeln lag. „Die Hahnenfüße“, schob sie präzisierend nach. „Oder Butterblumen, wie wir als Kinder sagten.“

Sie waren früh dran. Über dem kleinen See, der zum Haus gehörte, hing nochhellblauer Dunst. In einer Stunde würde die Sonne ihn aufgelöst haben.

„Stimmt genau“, sinnierte Pit in die Vergangenheit, „wir haben sie auch nur Butterblumen genannt. Als Kinder hielten wir die Blüten an unsere Kehlen, und wenn die Haut die gelbe Farbe widerspiegelte, waren wir gesund. Ach, wir waren immer alle gesund.“

„Hattest du eine glückliche Kindheit, Pit?“

Die Frage echote durch die langen Gänge seiner Erinnerung, weshalb seine Antwort mit Verzögerung kam. „Ja, ich denk´ schon“, sagte er schließlich, nachdem er die guten und die weniger guten Erfahrungen in Windeseile gegeneinander aufgerechnet hatte. „Ich denke schon.“

Bald hatten sie Grünweiler und Rothweiler, dann Offenburg hinter sich gelassen. Pit steuerte den Van ein paar Kilometer über die Bundesstraße 3. Es gab drei Möglichkeiten, um nach Weinbuch zu gelangen. Er nahm die mittlere Variante, weil sie, im Gegensatz zu den beiden anderen, durch idyllische Dörfer führte.

„Peter Seibelt hast du ja kennengelernt“, sagte er angesichts des nahen Ziels ihrer Fahrt. „Aber Bernadette noch nicht, oder? Bernadette Wolff, seine Frau?“

„Doch, doch, natürlich kenne ich sie. Sie war bei der Vernissage meiner Grafiken in Melanie Köningers Galerie dabei. Peter Seibelt spielte Gitarre. Wann war das gewesen? 2022? Muss 2022 gewesen sein, Pit.“

Pit seufzte. „Meine Güte, wie die Zeit vergeht.“ Er deutete mit der rechten Hand zur Windschutzscheibe hinaus. „Da vorne rechts siehst du gleich am Ortseingang den Weinbucher Steinbruch. Und geradeaus die Raiffeisengenossenschaft. Dort können wir parken. Ist praktisch vis-à-vis von Peters Haus.“

„Na, das ging ja schneller als gedacht“, sagte Eliza und öffnete den Sicherheitsgurt.

„Deine Haare werden auch immer länger“, begrüßte Peter Seibelt den Freund und ehemaligen Kollegen aus früheren Zeiten. „Herzlich willkommen, Eliza. Wie schön, dich zu sehen. Immer rein in die gute Stube.“ Er deutete auf Pit. „Dein Mann und ich haben mal bei derselben Firma in der Schweiz gearbeitet, verstehst du? Lang, lang ist´s her.“

„Ich weiß“, antwortete sie. „Er hat mir davon erzählt.“

„Nur Gutes, wie ich vermute. Ääähh, Bernadette ist noch unterwegs zum Bäcker, muss aber gleich hier sein. Also kommt rein. Kaffee ist fertig.“

Kaum waren die Tassen gefüllt, war auch Bernadette mit einer Tüte Zimtschnecken vom Bäcker zurück. Eine gute halbe Stunde bestimmten aktuelle Themen des Weltgeschehens und das Wetter die Unterhaltung, bis Peter Seibelt auf den Anlass des Besuchs umschwenkte: „Ihr wollt also eine Zimmerkachelofenlampe haben.“ Er war bekannt dafür, aus bunten Glasplatten in Tiffany-Technik Bilder und Lampen herzustellen. Wahre Kunstwerke.

„Ja, genau“, bestätigte Eliza und schnürte die Pappdeckel mit den gepressten Pflanzen auf. „Hier, siehst du? Butterblumen von unserer Wiese.“

Peter nahm die vier Blätter entgegen und begutachtete sie. „Kann ich machen“, meinte er, „dauert halt seine Zeit. Es sind relativ kleine Blüten und zerfranste Blätter. Wird etwas fisselig, aber so ist es nun mal.“

„Arg schlimm?“, fragte Eliza fast entschuldigend.

Peter grinste: „I wo. Dann schlag ich vor: Eliza, du lässt dir von Beni das Haus und ihr Atelier zeigen, und Pit und ich suchen in der Zwischenzeit einen Kachelofenrahmen aus. Wegen der Größe und so.“

Die beiden Männer verließen das Wohnzimmer und umrundeten das Haus. Von Statur und Aussehen her, allein schon wegen der weißen Pferdeschwanzfrisuren, hätte man sie für Zwillinge halten können.

Peter griff einen Schlüssel von einem Nagel an einem Balken und öffnete die Tür zu einem ans Haus gelehnten Schuppen. Pit ließ derweil den Blick über den Garten schweifen.

„Einen interessanten Garten hast du. Hat der schon immer so ausgesehen?“, fragte er.

Peter blieb im Türrahmen stehen und folgte Pits Blickrichtung. Er seufzte, als er sagte: „Nein. Dieser Steingarten war meine Idee. Das sah früher alles ganz anders aus.“

„Aha. Dann bist du hier aufgewachsen? Das war dein Elternhaus, richtig?“

Peter nickte melancholisch, und seine Gedanken flogen sechsundsechzig Jahre zurück. „Ja, hier hat alles angefangen“, sagte er halblaut. „Irgendwann und irgendwo hat es ja anfangen müssen.“

Weinbuch

Peter Seibelt Ja, hier wohnten wir. Wir, die Familie Seibelt. Zwischen der Hauptstraße, die heute Birnenallee heißt, und dem Mattenweg. Sieben Personen in einem kleinen Haus. Oma Anna und Opa Franz im unteren Stock. Vater Albert, Mutter Elisabeth, Schwester Cornelia und Onkel Konrad im oberen Stock. Zu den Mitbewohnern zählten ferner eine weiße Katze namens Fritzi, circa sechs bis acht Stallhasen und eine kleine Hühnerschar mit Gockel. Ja und ich. Ich bin der Peter.

Winter 1958/1959

Ich hauchte ein Loch in die Eisblumen am Küchenfenster, bis ich mit beiden Augen hinausschauen konnte. Draußen war alles weiß. Es lag meterhoher Schnee.

Gestern Abend noch hatte mein Papa in einer waghalsigen Aktion die Schneemassen vom schrägen Dach unter dem Küchenfenster geräumt, bevor es unter der Last zusammenbrechen konnte. Zur Sicherheit hatte er ein Seil um den Bauch gebunden, und Mama hielt mal am Fenster, mal am Balkon nebenan das andere Ende fest. Ich hatte mithelfen wollen, aber nicht gedurft. Dabei war ich der Leichteste von der ganzen Familie. Mit einem Seil um den Bauch wäre ich auch gerne auf dem Dach herumgestiefelt.

Das Dach war so breit wie das Haus und überdeckte die Scheune. Den Schopf, wie wir heute noch sagen. Er beherbergte den Schweine- und den Hühnerstall, unter einer Reihe Glasziegel die Hasenställe, die Güllegrube für die zwei Plumpsklos, und alle Geräte, die man auf dem Land für Feld und Garten brauchte. Das waren nicht wenige, und von manchen hatte ich keinen Schimmer, für was sie gut waren.

Vom Schopf aus führte geradeaus eine Tür in den Hinterhof, auf der linken Seite eine zweite Tür, vielmehr ein Tor, durch das der Leiterwagen und Opas Schubkarren passten. Schubkarren besaß er mehrere. Durch eine dritte Tür rechts neben dem Hühnerstall gelangte man in den umzäunten Hühnerhof.

Während ich über das Dach, den verschneiten Hinterhof mit den Zwetschgenbäumen und den oberen Mattenweg schaute, bemerkte ich, dass an einem Fenster des oberhalb gelegenen neuen Hauses ebenfalls ein Guckloch freigehaucht war. Wenn mich nicht alles täuschte, lugten dort zwei Augen zu mir herüber. Ich winkte mit der Hand vor meinem Gesicht, und dort drüben winkte eine kleine Hand zurück. Das Mädchen Susi. Ich kicherte.

Mama fragte, was es zu lachen gäbe. Ich sagte: „Susi hat mir gewunken. Kann ich raus zum Spielen?“

Sie schaute auf die Küchenuhr, die über der Tür zum Schlafzimmer hing. „Aber wenn die Kirchturmuhr zwölf schlägt, kommst du heim.“

Bis zwölf waren es noch über eineinhalb Stunden. Obwohl ich noch nicht zur Schule ging, kannte ich die Uhr und konnte bis zwölf zählen. Und dank der Salamander-Lurchi-Abenteuerhefte konnte ich mit fünf Jahren auch richtig lesen.

Die Kirchturmuhr bestimmte den Takt des Lebens in Weinbuch. Man richtete sich nach dem Glockenschlag oder nach dem Geläute. Ausreden, man hätte den Schlag nicht gehört, grenzten an Frechheit. Weinbuch war ein sehr ruhiger Ort. Es gab weder lauten Verkehr noch irgendwelche geräuschintensiven Maschinen. Fast alle Arbeiten wurden per Hand verrichtet. Selbst im entlegensten Winkel wusste man, was die Stunde geschlagen hatte.

Waren Susi und ich morgens allein, begnügten wir uns mit der ganz kurzen Schlittenbahn beim Raiffeisenmarkt. Eineinhalb Stunden würden reichen, um mit dem Schlitten ein paarmal den steilen Hang hinunterzufahren. Ob es bis zum Bach reichen würde, bezweifelte ich. Dafür lag der Schnee viel zu hoch. Und auch den Hang mussten wir zuerst vom Hochschnee befreien, um einigermaßen schlitteln zu können. Bald sahen wir aus wie Schneemänner.

War für die älteren Kinder vom Mattenweg die Schule aus und die Hausaufgaben gemacht, pilgerten wir, die Schlitten im Schlepptau, gemeinsam zum Gimpelbach. Meist trafen wir dort auf andere Kinder, mit denen sich die Schulgänger unter uns verabredet hatten. So fanden sich bis zu zwanzig Nasen ein, die alle nur eins im Sinn hatten: Schlittenfahren.

Die Bahn begann oben bei der Lourdes-Grotte, von wo es gleich rasant bergab ging. Mit ordentlichem Zahn drauf düsten wir zuerst beim Maler Wamser vorbei, dann am Gustavenhof. Ab dort wurde die Strecke etwas flacher, aber man hatte noch genug Tempo drauf, dass einem die Augen tränten. Als nächstes ließen wir den Pferdehändler Trunk rechts unten hinter uns liegen, dann den Bauernhof der Baslers links oben, bevor wir zur sogenannten Todeskurve kamen. Dort nämlich bog die Bahn scharf nach rechts ab, quer durch den Hof des Karlebauern, und zum Schluss nochmal einen kurzen Schuss hinunter bis zur Hauptstraße. Dort endete der Spaß, weil gegenüber das umzäunte Freigelände der Raiffeisengenossenschaft eine Weiterfahrt verhinderte.

Wer an der Todeskurve nicht aufpasste und die Geschwindigkeit nicht drosselte, der landete unweigerlich in einem Stapel Reisigbündel, die der Karlebauer dort aufgeschichtet hatte und zum Schnapsbrennen benötigte.

Mit am lustigsten war, wenn wir eine Kette aus zusammengehängten Schlitten bildeten. Zehn oder zwölf hintereinander den Gimpelbach hinunterbretterten, weil es den jeweils Letzten mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Todeskurve in den Reisigstapel schleuderte. Dann war das Gelächter groß. Es gab aber keinen, der sich dagegen sträubte, der letzte in der Schlange sein zu müssen, denn insgeheim hofften alle, dass es ihm gelingen würde, die Kurve irgendwann zu meistern. Dafür durfte ein jeder einmal die Lokomotive des Schlittenzugs sein. Als Lokomotive legte man sich bäuchlings auf den Schlitten, fuhr also Kopf voran, und hängte die Füße in den nachfolgenden Schlitten. Was für eine Gaudi, und was für eine Ehre.

Wenn die Dunkelheit hereinbrach, mussten wir heim. Aber man munkelte, dass sich abends halbstarke Jugendliche im Gimpelbach trafen, zum Teil mit Fackeln und Schnaps ausgerüstet, und dort bis spät in die Nacht heiße Schlittenfahrten veranstalteten.

Es gab noch eine andere Schlittenbahn in der Nähe. Sie reichte vom Mattenweg zwischen Rosis Haus und dem Haus des dicken Willi Käshammer zur Hauptstraße hinunter, über diese hinweg, und links vor dem Raiffeisenmarkt den Grasbuckel hinunter bis zum Bach. Hundertdreißig Meter im besten Fall. Der beste Fall trat ein, wenn an der Hauptstraße kein Auto gefahren kam. Ende der fünfziger Jahre sahen wir selten Autos.

Diese Bahn war jedoch noch nicht präpariert. Das heißt, es lag zu viel Schnee. Für Susi und mich allein wäre es unmöglich gewesen, den Weg freizuräumen. Der motorisierte Schneepflug der Gemeinde fuhr hier gar nicht durch, weil keiner der Anwohner ein Auto besaß, das eine geräumte Straße erfordert hätte. Also mussten Susi und ich uns mit der ganz kurzen Bahn begnügen. War aber auch nicht schlecht.

Der Schnee reichte mir bis zu den Schultern. Und Susi mit den dunkelbraunen Haaren und den zwei Zöpfen bis an die Nasenspitze. Sie wartete schon vor ihrem Haus. Ich drückte einen Schneeball zurecht. Wenn er mir richtig aus der Hand flutschte, schaffte ich einen Wurf bis an ihre Kellertür.

Als Fünfjähriger war mir der Unterschied, der Mädchen und Buben ausmachte, freilich unbekannt. Wenn Mama sagte, dass das oder jenes Kind ein Mädchen sei, dann musste das wohl so sein. Ein Kind war ein Mädchen, wenn oder weil es Zöpfe oder einen Pferdeschwanz, einen Rock oder ein Kleid und eine Umbindeschürze trug, wie Susi. Heute trug sie Stiefel, dicke Strümpfe und einen wollenen Rock, darüber eine dicke Jacke, gestrickte Fausthandschuhe und eine Zipfelmütze.

Mein Schlitten mit dem aufgenagelten Jutesack als Sitzfläche war der schnellste. Meinte ich jedenfalls. Irgendwie aber schien Susis Schlitten genauso schnell zu sein wie meiner. Wenn wir auf Kommando gleichzeitig losfuhren, kamen wir auf die Sekunde nebeneinander unten an. Auch als wir die Schlitten tauschten, stellten wir keinen Unterschied fest. Es half meinem Schlitten auch nichts, dass ich die Kufen mit Kerzenwachs einschmierte. Er wurde nicht schneller. Susis Schlitten war sogar bequemer zu fahren, denn seine Sitzfläche bestand aus geflochtenen Sisalschnüren.

Unsere Schlitten waren vom Leitermacher im Dorf gebaut worden. Die Davoser Rodelschlitten, wie sie später überall in Mode kamen, kannten wir nur von unserer Freundin Rosi. Sie besaß schon einen, lang wie ein Viererbob. In den Augen von uns anderen taugte er aber nichts. Und obwohl Rosi ihn anpries wie Weihnachtsplätzchen vom vergangenen Jahr, lehnten wir es rundweg ab, mit ihm zu fahren. Gut, bei Tiefschneeverhältnissen mochte er mit seinen breiten Kufen Vorteile haben. Wir aber bevorzugten die eisigen Pisten, wie wir sie zum Beispiel in der Kirchgasse vorfanden. Oder im Gimpelbach. Und dort schlingerte der Davoser wie ein Eisstock unlenkbar übers Eis.

Als ich abends nach Hause kam, herrschte in Omas Küche dicke Luft. Wegen des hohen Schnees mussten Omas Hühner im Hühnerstall bleiben, bis Opa den Hühnerhof freigeräumt hatte.

Die Wohnsituation in unserem Haus war folgende: Oma und Opa lebten im Hochparterre. Sie hatten eine Küche und ein Schlafzimmer. Daneben lag die gute Stube, die höchstens an Sonn- und Feiertagen betreten wurde. Oder wenn Besuch da war. Dann gab es noch den unteren Hausflur mit dem Treppenhaus.

Meine Eltern, meine ältere Schwester Cornelia und ich wohnten im ersten Stock. Es gab eine Küche und ein Schlafzimmer. Im dritten Zimmer hauste Konrad, der jüngere Bruder meines Papas. Dazu gehörte der Hausflur im oberen Stock mit der Treppe. Meine Schwester und ich schliefen im gleichen Zimmer wie Mama und Papa. Ein Badezimmer existierte nicht.

Nun war Opa Straßenwart, und als solcher waren er und seine Kollegen zuerst darum bemüht, die Straßen der Gemeinde von den Schneemassen zu befreien. Doch nicht nur die Straßen, sondern vordringlich auch die Zugänge zur Kirche, zum Bäcker, zum Metzger, zu den kleinen Dorfläden und nicht zuletzt zu den Gasthäusern, von denen es allein sechs im engeren Dorfbereich gab. Omas Hühnerhof kam deshalb erst nach Einbruch der Dunkelheit dran. Und Oma war sauer, weil sie bei Opa eine Schnapsfahne roch. Was nicht verwunderlich war, denn wer vor sechs Wirtschaften Schnee zu schippen hatte, kam um den einen oder anderen angebotenen Schnaps nicht herum. Wobei Opa keiner war, dem man die hochprozentigen Geister aufnötigen musste.

Oma konnte schimpfen wie ein Rohrspatz, und wenn sie einmal in Fahrt war, fand sie kein Ende mehr. Es folgte Tirade auf Tirade. Und wenn Opa einmal einwarf, dass sie doch den Jungen heißen solle, die Arbeit zu machen, dann wurde sie noch wütender. Mit dem Jungen meinte Opa Konrad, ohne dessen Namen zu nennen. Der aber war Omas erkorener Liebling und es störte sie nicht, dass dieser sich am liebsten dort aufhielt, wo die Arbeit bereits getan war. Kurz: Er war ein Faulpelz.

An solchen Abenden machte es meiner Schwester und mir keinen Spaß, in Omas Küche auf der Holzkiste neben dem Kochherd zu sitzen und zu bitten: Erzählst du uns eine Geschichte, Oma?

Opa indes blieb stoisch. Wenn ihm die Schimpferei zu toll wurde, verdrückte er sich in den Schopf zu seinen Stallhasen. Mit denen konnte er reden. Sie hörten ihm zu und sie widersprachen ihm nicht.

Auch wenn der Nikolaustag kalendarisch dem Herbst zuzuordnen war, gehörte er meteorologisch zum Winter. Für uns Kinder gab es diesbezüglich keine zwei Meinungen. Der Belznickel und Knecht Ruprecht kamen im Winter.

Cornelia und ich hatten erfahren, dass Nikolaus persönlich bei uns vorbeischauen würde. Lustig, lustig, tralalalala …

Ich fühlte mich nicht ganz so heiter, wie das Lied mir vermitteln sollte. Angeblich, wie man hörte, würde der Nikolaus unangenehme Fragen stellen. Bist du auch brav gewesen? Sollen wir mal im dicken Buch lesen, was da über dich geschrieben steht? Und dann war da noch die Sache mit der Rute und dem Sack. Wenn ich nicht brav gewesen war, würde er mich verkloppen und in den Sack stecken, womöglich mitnehmen, weiß der Teufel wohin und wie lange.

Nein, ich trug da einige Bedenken mit mir herum. Was man so über Knecht Ruprecht hörte, war er keiner, zu dem man Vertrauen haben konnte. Traten sie nach dem System Nikolaus der Gute, Knecht Ruprecht der Böse auf?

Während des Abendessens wurde ich immer stiller. Ich lauschte nach Geräuschen in der Nacht. Dann war die Stunde gekommen.

Die Haustür wurde heftig zugeschlagen. Dann dröhnten schwere Schritte durch den unteren Flur. Am furchterregendsten aber war das Rasseln einer schweren Kette auf den Treppenstufen. Ich bekam einen trockenen Mund. Es polterte an die Küchentür. Ich flüchtete neben meine Schwester, die bereits auf dem Sofa saß.

„Herein, wenn´s kein Geldeintreiber ist“, sagte Papa.