Schaafssteine - Pit Ferman - E-Book

Schaafssteine E-Book

Pit Ferman

0,0
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Edgar Schaaf, von seinem letzten Fall psychisch angeschlagen, erhofft sich professionelle Hilfe in der Psychiatrischen Akut- und Reha-Klinik An klaren Wassern in Haldensee. Doch ausgerechnet er ist es, der bei einer Kahnpartie auf dem gleichnamigen See die Leiche eines Mit-Patienten findet. Als er dann noch von seiner Tisch-Nachbarin Martina darum gebeten wird, ihr bei der Suche nach ihrem vermissten Geliebten zu helfen, ahnt er noch nichts von dem Mann, dessen größte Sorge es ist, dass das Geheimnis um seine Steine und deren Herkunft unter allen Umständen gewahrt bleibt. Und dann verschwindet eines Tages auch Martina. Nachdem Edgar die entscheidende Witterung aufgenommen hat, spitzt sich die Situation am Ende dramatisch zu, und Edgar spielt mit seinem Leben.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 384

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Edgar Schaaf, von seinem letzten Fall psychisch angeschlagen, erhofft sich professionelle Hilfe in der Psychiatrischen Akut- und Reha-Klinik An klaren Wassern in Haldensee.

Doch ausgerechnet er ist es, der bei einer Kahnpartie auf dem gleichnamigen See die Leiche eines Mit-Patienten findet. Als er dann noch von seiner Tisch-Nachbarin Martina darum gebeten wird, ihr bei der Suche nach ihrem vermissten Geliebten zu helfen, ahnt er noch nichts von dem Mann, dessen größte Sorge es ist, dass das Geheimnis um seine Steine und deren Herkunft unter allen Umständen gewahrt bleibt. Und dann verschwindet eines Tages auch Martina.

Nachdem Edgar die entscheidende Witterung aufgenommen hat, spitzt sich die Situation am Ende dramatisch zu, und Edgar spielt mit seinem Leben.

Achat

Inhaltsverzeichnis

Teil I

Sonntag, 11. Juni 2023

Sonntag 11. Juni 2023

Montag, 12. Juni 2023

Donnerstag, 22. Juni 2023

Dienstag, 25. Juli 2023

Mittwoch, 26. Juli 2023

Mittwoch, 26. Juli 2023

Donnerstag, 27. Juli 2023

Donnerstag, 27. Juli 2023

Freitag, 28. Juli 2023

Samstag, 29. Juli 2023

Sonntag, 30. Juli 2023

Teil II

Montag, 31. Juli 2023

Montag, 31. Juli 2023

Dienstag, 01. August 2023

Dienstag, 01. August 2023

Mittwoch, 02. August 2023

Donnerstag, 03. August 2023

Freitag, 04. August 2023

Samstag/Sonntag, 05./ 06. August 2023

Samstag, 05. August 2023

Teil III

Sonntag, o6. August 2023

Montag, 07. August 2023

Dienstag, 08. August 2023

Mittwoch, 09. August 2023

Mittwoch, 09. August 2023

Teil IV

Sonntag, 13. August 2023

Montag, 14. August 2023

Teil V

Dienstag, 15. August 2023

Mittwoch, 16. August 2023

Donnerstag, 17. August 2023

Freitag, 18. August 2023

Anmerkungen des Autors

Schaafswinter

Schaafssturm

Schaafshammer

Schaafsgold

Schaafsinsel

Schaafshunde

Schaafsfrauen

Weitere Informationen

Teil I

Schaafssteine

Sonntag, 11. Juni 2023

Schlipfbachtal/Holzrück

Es war ein Fehler gewesen, den Kerl einzuladen. Ich hab´ mich beschwatzen und breittreten lassen, und das hab´ ich jetzt davon. Der Mann haderte mit sich selbst. Er hockte wie ein alter Mann steif und viel zu nah am Lenkrad. Dabei war er gar nicht so alt; noch etliche Jahre von der Rente entfernt.

Es war ein Unfall. Ein gottverdammter blöder Unfall. Anders kann man es nicht bezeichnen. Anders werde ich es nicht bezeichnen, falls es überhaupt jemals etwas zu bezeichnen gibt. Dass es nicht so weit kommt, dafür werde ich sorgen.

Er fuhr mit seinem alten SUV BMW X-Drive die Schlipfbachtalstraße Richtung Poggenau hinunter. Es war Sonntagmorgen, und nur vereinzelt kamen ihm Fahrzeuge entgegen. Motorräder hauptsächlich, die hinauf zur Schwarzwaldhochstraße strebten, um dort die Sau rauszulassen. Im Motodrom, wie sie es nannten. Er schaute auf die Uhr. Es war um die Stunde, in welcher der Gottesdienst in der Poggenauer Kirche zu Ende sein musste. Ach ja, die Kirche. Galoppierender Besucherschwund. Wie gesagt, nur vereinzelte Fahrzeuge. Motorradfahrer pflegten nicht in die Kirche zu gehen. Sonst war um diese Zeit niemand unterwegs.

Im Kofferraum lagen einige Jutesäcke und seine Werkzeuge. Der Hammer, die Draht- und die Wurzelbürste, die Spitzhacke. Oder der Pickel, wie man hierzulande sagte.

Ein guter Pickel mit einem guten Griffstiel, der nicht die Handgelenke und Unterarme prellte, wenn er damit auf einen verborgenen Stein schlug. Im Laufe der Jahre hatte er dazugelernt, was die Qualität der Werkzeuge betraf. Man durfte nicht am falschen Ende sparen.

So ein Idiot. Wusste nicht, was sich gehört. Kein Anstand, keine Manieren. Eigentlich hatte ich ihn ja nur mitgenommen, damit er endlich Ruhe gab. Wie gesagt, es war ein Fehler gewesen. Ein verdammter Fehler. Aber dennoch: So benimmt man sich nicht, wenn man eingeladen ist. Wenn man Gast ist. Das hat er jetzt davon.

Er liebte dieses Tal. Die Wasserfälle am oberen Ende. Der naturbelassene Bach. Die steilen bewaldeten Berghänge. Die Wiesen im Talesgrund. Die versteckten Seitentäler, wilde Zinken. Die dünne Besiedlung. Touristisch wenig interessant, wenn man von den Wasserfällen absah. Der Reiz lag darin, dass es keine ins Auge springenden Reize gab.

Wieder mal eine Baustelle in Poggenau, die nicht rechtzeitig fertig geworden war. Anstatt den Ort auf kürzestem Weg zu durchqueren, wurde er über schmale, kurvige Gassen durch das Wohngebiet gezwungen. Neureiche und Zuzügler hatten dort ihre Wohnklötze hingestellt. Er fragte sich, wo die strengen Bauvorschriften von einst geblieben waren. Heutzutage baute doch jeder, wie es ihm gefiel. Eine Schande. Aber er hatte ja nichts zu sagen. Wenn er aber etwas zu bestellen hätte, dann, ja dann würde die Welt wahrscheinlich ein bisschen anders aussehen. Wobei nur er allein wusste, wie. Er, und vielleicht die Stammtischbrüder seiner Stammkneipe.

Nun, er wohnte nicht in Poggenau, sondern etwas außerhalb in dem kleinen Weiler Holzrück. Aber trotzdem. Der Anblick war wie ein Stein im Schuh.

Ha, das wär´s. Schuh ausziehen, den Stein fortwerfen, und alles wäre wie früher, dachte er.

Als er notgedrungen am Haus des Idioten vorbeifahren musste, versteifte sich sein Genick. Auch der hatte ein Ensemble aus Quadern errichten lassen, als hätte das Kind eines Riesen seine Bausteine nicht aufgeräumt.

Er schielte zu den schwarzen Fenstern des Gebäudes. Es fröstelte ihn bei dem Anblick.

Wie kann man sich da drin bloß wohlfühlen? Zudem als Single?

Dann war er an dem Grundstück vorbei.

Ungefähr eine Viertelstunde später hielt er im Hof vor seinem Haus. Er nahm an, dass seine Frau schon aus der Kirche zurück war und allein gefrühstückt hatte. Bevor er aber ins Haus ging, holte er den Pickel aus dem Kofferraum und trug ihn in seine Werkstatt, die in einer separat stehenden Scheune untergebracht war. Dort stellte er den Pickel in eine Wanne mit Wasser. Anhaftender Dreck löste sich zuerst in kleinen Wölkchen, kringelte wie Zigarettenrauch um den Stahl, bevor er weiter verdünnt und das Wasser trüb wurde.

Dann ging er zum Auto zurück und hob einen der Jutesäcke heraus. Der Inhalt war ziemlich schwer. Auch ihn schleppte er in die Werkstatt, wuchtete ihn auf eine Werkbank und leerte ihn. Achtlos ließ er den Sack zu Boden gleiten. Sein Interesse galt vor allem der einen steinernen Kugel, die nun vor ihm lag. In der handballgroßen Kugel klaffte ein fast kreisrundes Loch mit dem ungefähren Durchmesser einer Bierdose. Sogar ohne elektrisches Licht sah er es im Innern der Kugel glitzern. Die anderen, etwas kleineren Steinknollen schob er achtlos zur Seite. Von denen besaß er massenweise.

Zwei Dinge lagen noch da. Zuerst das Handy. Da er keine Verwendung dafür hatte und, inspiriert durch etliche Fernseh-Krimis, an die technischen Möglichkeiten der Rückverfolgung dachte, spannte er es kurzerhand in einen Schraubstock und fräste es mit einem Winkelschleifer der Länge nach in zwei Teile, die er in die Hausmülltonne neben der Scheune warf.

Hat sich was mit Rückverfolgung, hähähä.

Leerung der Tonne am morgigen Tag.

Dann lag nur noch die Kamera des Spinners vor ihm, Marke Leica. Eine Kamera mit kompliziert anmutendem Objektiv. Er nahm sie in die Hände, betrachtete sie von allen Seiten, guckte durch den Sucher und drehte am Objektiv. Würde er sich ausgekannt haben, wüsste er, dass es sich um ein sehr wertvolles Gerät handelte. So aber war es für ihn nichtssagend. Er legte die Kamera zur Seite und war sich nicht schlüssig, was er damit machen sollte. Mülltonne? Behalten? Verkaufen? Im Internet den Wert ermitteln? Auf jeden Fall hätte die Arschgeige diese Fotos nicht schießen sollen. Nicht von seiner Goldmine, dieser Idiot.

Das hättest du nicht tun, und das hättest du nicht sagen sollen, du Arsch. Das hättest du einfach nicht tun sollen.

Sonntag 11. Juni 2023

Schlipfbachtal

Auf die unausweichliche Frage seiner Frau, wo er zu so später Stunde noch hinwolle, hatte er bloß unwirsch gegrunzt. ... etwas erledigen! Mehr dürfte sie nicht verstanden haben, und da er mit feuerroten Ohren und gesenktem Schädel die Tür hinter sich zugeworfen hatte, war ihm ihr verständnisloser Gesichtsausdruck erspart geblieben.

Sonntagabend, zweiundzwanzig Uhr dreißig, und beinahe Nacht. Für das, was er zu erledigen gedachte, konnte er kein Tageslicht gebrauchen. Kein Tageslicht und keine Zeugen. Doch Licht würde er brauchen, weshalb er eine starke Stabtaschenlampe in den Rucksack steckte. Und er musste es heute tun, er durfte sich keinen Aufschub gewähren, denn morgen konnte es bereits zu spät sein, zum Beispiel wenn einer der Ex-Kollegen auf die Idee käme, just an diesem Tag in ihrer Goldmine zu graben. Was er zwar nicht glaubte, nachdem alle außer einem aus dem Projekt ausgestiegen waren. Dennoch. Oder wenn ein Pilzsammler zufällig in oder über die Goldmine stolperte. Man konnte ja nie wissen. Scheiß Pilzesucher.

Goldmine. Freilich war es keine Goldmine, das wäre ja noch toller, aber die körperliche Arbeit unterschied sich kaum von jener der Goldgräber am Klondike in Kanada vor hundertfünfundzwanzig Jahren, oder wie lange das her war.

Damals, wenn ich gelebt hätte. Ha! Keine Sekunde hätte ich gezögert nach Kanada auszuwandern. Der reine Wahnsinn. Gold. Echtes Gold. Aber sowas gibt es heute ja nicht mehr. Ich bin einfach zu spät geboren.

Den Stammtischbrüdern gab er hochtrabend an, ein sogenannter Strahler zu sein. Was er ganz gewiss nicht war, denn Strahler waren Leute, die in Spalten und Rissen im Gebirge nach Bergkristallen suchten. Ein gefährlicher Job. Er war eher ein Schürfer, oder, wohl am zutreffendsten, ein Digger, womit er doch in die Nähe der Goldgräber rückte.

Als er mit dem BMW vom Hof fuhr, sah er seine Frau am erleuchteten Fenster stehen.

Soll sie denken, was sie will. Ich kann ihr das nicht auf die Nase binden. Unmöglich!, dachte er.

Seit dem Tod ihrer Cousine vor knapp zwei Jahren war sie allem gegenüber, das von der normalen Tagesroutine abwich, sehr dünnhäutig geworden. So behauptete sie, dass ihre Cousine keines natürlichen Todes gestorben sei. Angeblich hatte sie, die Cousine, ihr vor ihrem Tod in einem Gespräch anvertraut, dass sie Angst vor ihrem Mann habe. Bald danach war sie bei einer gemeinsamen Wandertour mit ihrem Mann am Karlsruher Grat, einem beliebten Ziel für Wanderer und Kletterer im Nordschwarzwald, abgestürzt. Unheilbar an Krebs erkrankt, so seine geschilderte Version, hätte sie sich am Rande einer Steilwand für immer von ihm verabschiedet und sich theatralisch mit dem Rücken voran und mit ausgebreiteten Armen über die Kante in die Tiefe fallen lassen. Am Fuß des hohen Felsens zerschmettert, war sie sofort tot gewesen.

Er hat sie gestoßen, war seine Frau überzeugt. So unheilbar krank war sie nicht, sagte sie. Brustkrebs, ja, aber nach der Operation mit guten Heilungschancen. Er hat sie umgebracht, wiederholte sie gebetsmühlenartig. Außerdem hat er sie zu Lebzeiten geschlagen.

Dünnhäutig. Vielleicht auch hysterisch. Seine Frau. Die Senta.

Die Polizei hatte den Vorfall untersucht, natürlich, aber nie einen Anhaltspunkt gefunden, der gegen einen Suizid gesprochen hätte. Ihr Mann war nie unter Verdacht geraten. Nur Senta hielt ihn für einen Mörder.

Erneut schlängelte er sich durch die Umleitungsstrecke in Poggenau. Er zwang sich, nicht zu dem Schachtelbau des Idioten zu schauen, doch wurde sein Vorhaben durch eine unerwartete Feststellung aus den Augenwinkeln zunichte gemacht: Hinter einem der Fenster brannte Licht. In der Grundstückseinfahrt stand ein Auto, das heute Morgen noch nicht da gewesen war. Dunkelgrün, dunkelgrau oder dunkelblau? Er konnte die Farbe genauso wenig erkennen wie das Kennzeichen. Oder war das Auto, ein Kleinwagen, heute Morgen doch dagestanden und er hatte es übersehen?

Verdammt, ich dachte der Kerl sei Single? Wieso brennt dann Licht in seinem Haus? Wer kann das sein?

Diese Frage beschäftigte ihn auf der Fahrt durch das Schlipfbachtal und noch weiter den Waldweg hinauf, bis er zu der Stelle kam, wo er für gewöhnlich das Auto abstellte, wenn er zur Goldmine ging. Tagsüber stellte der Trampelpfad durch den Wald kein Problem dar. In völliger Dunkelheit sähe das anders aus, aber die Taschenlampe leistete ihm vortreffliche Dienste. Er schlug sich durch das Randgehölz am Weg und die Böschung hinauf, folgte dem ausgetretenen Steig, bis er nach circa hundertzwanzig Metern an den Rand ihrer Goldmine kam.

Seine Ex-Kollegen und er hatten sich nie darum gekümmert, wem der Wald gehörte. Frei nach dem Motto: Wer viel fragt, erhält viel Antwort, also frage nicht, hatten sie sich um eventuelle Besitzer und dessen Besitzrechte nicht geschert. Mit den Monaten und Jahren hatte das Areal um ihre Goldmine mehr und mehr die Zerstörungen eines Schlachtfeldes angenommen. Es war übersät mit Trichtern und Kratern, mit Gräben und Löchern, mit Höhlen und Abraumhalden. Es war ein Wirrwarr zwischen Bäumen und Wurzeln. Manche Bäume starben ab oder drohten umzustürzen. Einige der besonders in Schräglage geratenen Bäume waren durch Stahlseile abenteuerlich gesichert worden. Man ist ja nicht lebensmüde, oder?

Er brauchte nicht zu suchen. Er fand den Graben, in dem er den Idioten hatte zurücklassen müssen, auf Anhieb. Im Schein der Taschenlampe kletterte er zu ihm hinunter. Allem Anschein nach lag er unverändert. Ohne Verzögerung machte er sich ans Werk. Wie er den Körper aus dem Graben befördern konnte, hatte er im Voraus überlegt und sich entsprechend vorbereitet. Gegen mögliche Kontaminierung mit Blut streifte er einen Einweg-Regenschutz über und wuchtete die Leiche mit gekonntem Griff auf die Schultern.

Da macht sich die Ausbildung bei den Bundeswehr-Sanitätern echt einmal bezahlt, dachte er.

Derart beladen erreichte er seinen BMW ohne einen Tropfen Schweiß vergossen zu haben.

Er verfrachtete den Toten durch die Heckklappe auf die mit Folie ausgelegte Ladefläche und bereitete ihn weiter vor. Um den Oberkörper schlang er ein fingerdickes Sisalseil und verknotete es vor der Brust. Ein langes Stück des Seiles, ungefähr acht Meter, ließ er lose und spliss das Ende auf. Dann schloss er die Klappe, setzte sich ans Steuer und steuerte das Auto den Waldweg zurück bis zur Schlipfbachstraße. Von dort schlug er die Richtung zu den Wasserfällen ein. Er kannte sich bestens in der Gegend aus.

Während die Schlipfbach-Wasserfälle das Gebirge in einer tiefen Schlucht durchschnitten, wand sich die Straße den Berg hinauf und verlief am oberen Rand meist parallel zur Schlucht. An mehreren exponierten und baulich gesicherten Plattformen bot sich die Gelegenheit, von oben in die Klamm und auf die reißenden Wasserfälle zu schauen. Man hatte den Orten malerische Namen verliehen. Adlerhorst, zum Beispiel. Oder Rapunzels Fenster. Oder Gänsehaut-Blick. In der Nähe waren jeweils Abstellplätze für Busse und Autos angelegt. Sein auserwähltes Ziel war die Satanskanzel, in Fließrichtung des Baches die erste und höchste Stelle über dem Talesgrund.

Es war nach Mitternacht, als er die Satanskanzel erreichte. Noch während er den BMW am Straßenrand abstellte, kamen ihm Zweifel an der Sinnhaftigkeit seines Vorhabens. Der Plan war, dass er die präparierte Leiche über das Geländer der Satanskanzel in die Schlucht werfen würde. Da es aussehen sollte wie ein Kletterunfall, hatte er dem Körper ein Seil umgebunden. Ein entsprechendes Gegenstück wollte er, ebenfalls am nach unten hängenden Ende aufgespleißt, am Geländer der Satanskanzel befestigen. Eventuellen Untersuchungen, falls die Leiche jemals entdeckt würde, sollten die gespleißten Teile suggerieren, dass das Seil gerissen war. Ferner sollte ein am Gürtel befestigter Jutesack sowie ein Zimmermannshammer erklären, warum der Mann sich an der Felswand abgeseilt hatte: Es sollte aussehen, als wäre er auf der Suche nach wertvollen Steinen gewesen. Die klaffende Brustwunde, die er dem Idioten mit einem einzigen Pickelschlag zugefügt hatte, hätte er sich beim Sturz zugezogen. So weit, so gut.

Je länger er darüber nachdachte, desto unglaubhafter kam ihm die ganze Sache vor. Warum sollte ein Mann sich hier abseilen wollen? Woher sollte er wissen, dass ausgerechnet an diesem Fels wertvolle Steine zu erbeuten seien? Und warum sollte er eine so gefährliche Expedition allein und ohne jegliche Hilfestellung unternehmen? So blöd konnte eigentlich niemand sein. Und so blöd würde auch die Polizei nicht sein. Also so weit, so schlecht?

Aber wohin dann mit der Leiche?

Montag, 12. Juni 2023

Holzrück

Ob er heute nicht zur Arbeit ginge, hatte seine Frau beim Frühstück gefragt, und er hatte gesagt, dass er sich nicht gut fühlen würde. Daraufhin hatte sie wortlos den Autoschlüssel ihres kleinen Renault genommen und war nach Offenburg gefahren. Wieder einmal.

Er war Gabelstaplerfahrer in einem Sägewerk in Poggenau. Großsägerei Dolder, um genau zu sein. Zuständig für die Annahme der Rohware, sprich Baumstämme, und für die Lagerung der bearbeiteten Hölzer.

Jetzt lag die Kamera wie ein glühendes Brikett auf seinem Schreibtisch neben dem Computer. Leica S Typ smart hatte er bei Google eingetippt, und war aus allen Wolken gefallen. Achtzehntausend Euro Neupreis allein für den Apparat, und mehr als sechstausend Euro für das Objektiv.

Wozu, zum Teufel, braucht der Kerl eine so teure Kamera?

Es folgte eine ellenlange Artikelbeschreibung, die er ohne zu lesen nach unten scrollte. Die Fachausdrücke bedeuteten für ihn das pure Latein, und davon verstand er nichts. Nur dass er einen Schatz auf dem Schreibtisch liegen hatte, wurde ihm langsam klar. Annähernd fünfundzwanzigtausend Euro Wert. Daraus sollte sich doch Kapital schlagen lassen. Er schätzte sich froh, dass er die Kamera nicht leichtsinnig entsorgt hatte.

Nach genauerer Untersuchung gelang es ihm, die Kamera einzuschalten und den Fotospeicher zu öffnen. Die letzten geschossenen Bilder erschienen, darunter insgesamt siebenundzwanzig Aufnahmen von seiner Goldmine.

Der Kerl hätte die Bilder veröffentlicht, ohne Frage. Das konnte ich nicht zulassen.

Geduldig folgte er den Anzeigen auf dem Kamera-Display, erreichte das Menü und löschte die Speicherkarte. Aufatmend legte er das kostspielige Gerät in eine Schublade und schloss sie ab.

Wenn ich sie für achttausend Euro bei ebay anbiete, dürfte sich ein Käufer finden lassen, dachte er. Da kann ich ruhig mal einen Tag blaumachen.

Gleichzeitig bekam er Bedenken wegen ebay. Das Netz vergisst nichts, verdammt. Wenn ich über ebay ein Inserat schalte, kann ich die Kamera auch gleich zur Polizei bringen. Es muss andere Wege geben, das Ding zu verkaufen.

Den Idioten hatte er in seiner Stammkneipe kennengelernt, beziehungsweise der hatte ihn angesprochen, weil er sich angeblich für die Achate interessierte, die der Wirt in einer Vitrine im Gastraum ausgestellt hatte. Ob die Achatscheiben zu kaufen seien oder wie und vor allem wo man sie finden könnte.

Verkaufen ja, finden nein, hatte er bereitwillig Auskunft gegeben, nichtsahnend, dass der Spinner wegen des Fundortes nicht locker lassen würde. In unregelmäßigen Abständen hatte er hartnäckig darauf gedrungen, einmal mitgenommen zu werden. Hatte Tischrunden für den Stammtisch springen lassen und alle Eide geschworen, den Fundort der Achate geheim zu halten. Bis er der Nervensäge, nicht zuletzt auf Anraten der Stammtischbrüder, nachgegeben und gesagt hatte: Nächsten Sonntagmorgen, halb acht Uhr. Ich hol´ dich ab. Wo wohnst du?

Donnerstag, 22. Juni 2023

Holzrück

Die Kamera lag noch immer wie ein Bündel Falschgeld in der Schublade. Er konnte sich einfach nicht dazu entschließen, sie zu vernichten. Das Geld, sofern er sie denn verkauft brächte, könnte er gut gebrauchen. Fünfundzwanzigtausend Euro würde er zwar nicht verlangen können, das war ihm klar. Aber zehn- bis zwölftausend – Donnerwetter, so viel müsste doch drin sein, oder nicht? Eine neue, vor allem stärkere Steinsäge war schon lange sein Wunsch. Diamantbestückte Sägeblätter waren saumäßig teuer. Der BMW brauchte neue Reifen, und Senta lag ihm ständig wegen Renovierung des Hauses in den Ohren.

Gut, die Kamera frisst bei mir kein Pfund Salz, um es badisch zu sagen, aber ich will sie endlich los werden. Nur wie, ohne dass die Bullen mir auf die Schliche kommen?

Bis jetzt war noch keine Leiche gefunden worden. Jedenfalls hatte nichts darüber in den Zeitungen gestanden, die er seither mit besonderer Aufmerksamkeit las. Dann, davon konnte er ausgehen, hatte er sie an einem guten Ort versteckt. Gleichermaßen Fehlanzeige bei den Vermisstenmeldungen.

Unglaublich, wie einfach man Menschen verschwinden lassen kann. Kein Hahn kräht nach ihnen.

Jeweils nach Feierabend bereitete er sich nun für die nächste Mineralienausstellung in fünf Wochen vor. Er putzte die Glasvitrinen, stellte den Ausstellungstisch parat, bürstete die blaue Veloursdecke aus, die er über den Tisch breiten würde, und packte die ausgewählten Achate in Kisten. Schmuckstück und Blickfang würde die Kugel sein, die er mit einem dünnen Bohrer angebohrt und mit einer Leuchtdiode versehen hatte.

Es war Ende Juni, seine Frau war mal wieder in der Stadt gewesen, womit sie Offenburg meinte.

„Stell´ dir vor, wen ich getroffen hab?“, berichtete sie. „Den Mann meiner Cousine. Den Mörder. Er muss jetzt in eine Klinik. Vier Wochen Alkoholentzug. Er bekommt sonst keine Stütze mehr, was immer das heißt. Ab dritten Juli in Haldensee. Sagt er. Man sollte die Versicherung warnen, dass das rausgeschmissenes Geld ist.“

Das wird ihm stinken, hähähä. Dann kann er nicht an der Mineralienschau teilnehmen. Früher oder später musste es ja mit seiner Sauferei soweit kommen.

Im Hinterkopf schickte sich ein Gedanke an, zu einer Idee zu werden. Wann hat sie gesagt? Vier Wochen ab dritten Juli?

Er schaute auf den Kalender. Dritter Juli bis neunundzwanzigster Juli, dachte er. Das passt.

Dienstag, 25. Juli 2023

Kreuzthal bei Freudenstadt

Die Kamera war verkauft. Sechstausendsechshundert Euro bar auf die Hand, inklusive Objektiv. An einen vierschrötigen Typ aus Rust, Heimat des größten europäischen Vergnügungsparks. Figur wie ein Kleiderschrank und ein Backpfeifengesicht Marke Tagedieb. Egal. Hauptsache das Geld war echt.

Den Tipp zu diesem Kerl hatte ihm ein LKW-Fahrer gesteckt, der sporadisch Holz von der Sägerei transportierte.

Der verhökert alles, hatte der ihm geflüstert und ihm eine Handynummer gegeben. Aber hey, nicht an die große Glocke hängen. Ist nicht ganz hasenrein. Und wenn dich einer fragt, dann hast du den Tipp nicht von mir.

Er hatte sich herunterhandeln lassen. Mist, verdammter, ja, aber das schnelle Geld war zu verlockend gewesen. Als es vor ihm gelegen war, hatte er nicht nein sagen können. Sechstausendsechshundert. Dafür konnte man schon mal einen Tag die Arbeit schwänzen.

Okay, er schwänzte jetzt bereits den zweiten Tag innerhalb von zwei Monaten, aber die Auftragslage im Sägewerk war gut. Er würde nicht gleich entlassen werden, denn durch den Klimawandel und ausufernden Borkenkäferbefall war Holz in Massen vorhanden. Überwiegend billiges Fichtenholz zwar, aber auch das musste verarbeitet werden. Die Nachfrage nach Holz-Pellets zum Heizen war enorm gestiegen, und die Chinesen waren ganz verrückt nach deutschem Bauholz. Zudem nahm er sich ja nur heute frei, und der Chef wusste, im Gegensatz zu seiner Frau, Bescheid.

Das Haus lag als letztes in einer Sackgasse. Doppelhaushälfte. Hinter dem verwahrlosten Gartengrundstück stieg das Gelände steil an, für eine Bewirtschaftung ungeeignet. Ein Sammelsurium von Gehölzen zog sich den Hang hinauf. Ein Eldorado für allerhand Viehzeug.

Er drehte den BMW X-Drive im Wendehammer, fuhr die Sackgasse wieder zurück, parkte in der Nähe der Straßeneinmündung und ging, einen Leinenbeutel tragend, zu Fuß bis zum Haus. Wie immer stand das Gartentor offen. Er umrundete die Haushälfte und achtete darauf, dass er nicht über das wertlose Gerümpel stolperte, das ohne erkennbares System entlang der Hauswand verteilt lag. Von rostigen Autofelgen über verdreckte Porzellanwaschbecken bis hölzernen Ziergittern war alles vorhanden, womit sich ein Verlierer einen Euro zu verdienen hoffte.

Zielstrebig erreichte er die Hintertür des Hauses. Ohne Federlesens nahm er den kleinen Geißfuß aus dem Beutel, setzte ihn in Höhe des einfachen Türschlosses an, drückte mit kontrollierter Kraft gegen die Spannung – schon sprang die Tür auf.

Was ihn in dem Haus interessierte, befand sich im Keller. Die Steine. Die Achate. Vom Flur aus führte eine Treppe nach unten.

Bei einem seiner seltenen Besuche hatte er die Schaustücke in der Vitrine im Wohnzimmer schon bewundern dürfen. In den Keller zu schauen jedoch war er nie eingeladen worden, weshalb er vermutete, dass dort der eine oder andere Rohdiamant aufbewahrt sein musste. Deswegen war er gekommen, und die Gelegenheit war günstig, denn der Hausbewohner war längere Zeit nicht anwesend. Alkoholentzug.

In der Ausstattung unterschied sich der Keller kaum von seiner eigenen Werkstatt. Steinsäge, Schleifmaschine, Sägeblätter diverser Durchmesser, Schleifsteine, Hämmer, Meißel, Zangen. In Regalen Marke Eigenbau lagerten, nach Größe geordnet, hundert oder mehr Gesteinsknollen, die er alle als Schlipfbachachate erkannte. Er würde sich sogar zutrauen, das Loch bestimmen zu können, aus dem sie gefördert worden waren. Zu seiner Enttäuschung jedoch befand sich, auch nach genauerer Durchsicht, kein herausragendes Stück darunter. Alles Durchschnitt. Massenware. Mist. Davon besaß er selber genug. Dabei hätte schwören mögen, dass ... Ach, pfeif drauf.

Frustriert stieg er die Kellertreppe wieder hinauf.

Aber da er nun schon mal hier war, erlaubte er sich, sozusagen als Entschädigung für entgangenen Gewinn aus dem Keller, ein wenig in der Wohnung herumzustöbern. Die Vitrine im Wohnzimmer, ja, zweifellos schöne Achatscheiben, aber die ließ er unberührt. Er zog stattdessen Schubläden auf, stocherte darin herum, vielleicht fiel ihm doch ein Geldbetrag in die Finger, aber daran glaubte er bei dem notorisch klammen Hungerleider selber nicht. Im Flur hinter einem Vorhang entdeckte er eine Kiste mit Bier und lud sich selber zu einer Flasche ein.

Die Bierflasche in der Hand, stieg er eine Etage höher. Hier oben war er noch nie gewesen. Drei Türen gingen vom Flur in der Mitte ab. Das Zimmer hinter der rechten Tür erwies sich als Rumpelkammer.

Wie kann ein Mensch nur in so einem Chaos leben, dachte er und schloss die Tür wieder. Geradeaus befand sich das Badezimmer. Linker Hand musste ergo das Schlafzimmer sein.

Nach all dem Durcheinander, das er bis jetzt zu sehen bekommen hatte, war er erstaunt, ein aufgeräumtes und sauberes Zimmer vorzufinden. Dass es sich um eine altmodische Möblierung handelte, war zweitrangig. Die Betten waren gemacht. Die Kleiderschranktüren geschlossen. Keine umherliegenden Klamotten. Und das, obwohl der Kerl seit zwei Jahren alleine hauste. Beeindruckend.

Im Spiegel des Kleiderschrankes prostete er sich mit der Bierflasche zu. Na, war wohl nix, Alter, murmelte er zu sich selbst. Aber einen Versuch war´s wert.

Schon dabei, das Zimmer zu verlassen, fiel sein Blick auf einen der Nachttische. Was ihn veranlasste, genauer hinzusehen, konnte er im Nachhinein nicht sagen. Auch dass ihm die Bierflasche aus der Hand gerutscht und auf den Fußboden gepoltert war, wusste er später nicht mehr.

Der Anblick traf ihn wie eine schallende Ohrfeige und gleichzeitig wie ein Schlag in die Magengrube. Er fühlte, wie ihm der Boden unter den Füßen entzogen wurde. Taumelnd und nach Luft ringend ließ er sich auf dem Bett nieder.

Der Chef wird noch einen weiteren Tag auf mich verzichten müssen, war sein erster Gedanke. Der zweite Gedanke: Verdammt, da hätte ich gleich die ganze Woche Urlaub nehmen können, und nicht erst ab Freitag. Der dritte Gedanke: Das hast du nicht umsonst gemacht, Rico.

Mit süßer Genugtuung verfolgte er den Prozess, der seine kopflose Wut in einen kalten, berechnenden Zorn umwandelte. Das werdet ihr bezahlen, dachte er und schlug die Faust in die hohle Hand. Dann stieg er die Treppe hinunter, stapfte zielstrebig ins Wohnzimmer und räumte die Vitrine leer.

Mittwoch, 26. Juli 2023

Haldensee

Nach etlichen Gesprächen mit seiner Frau Melanie und auf Anraten von Frau Holzer, Melanies treuer Vertretung für ihr Geschäft Aquarelle und Poesie in Gengenbach, hatte sich Edgar Schaaf letztlich für Haldensee entschieden. Haldensee im Südschwarzwald mit dem gleichnamigen See.

Es wird dir gefallen, Edgar, hatte Frau Holzer geschwärmt.

Es war die Psychiatrische Akut- und Reha-Klinik namens An klaren Wassern, und Frau Holzer war selber einmal Patientin der Anstalt gewesen.

Die Nähe zum Wasser war nicht zu leugnen. Der Speisesaal der Klinik ließ über eine breite Panorama-Fensterfront einen ungehinderten Blick über den See zu. Edgar mochte die Aussicht, besonders zum Frühstück, wenn sich aus dem warmen Seewasser mystisch wirkende Dämpfe in die noch kühle Morgenluft erhoben und peu à peu die Wälder am gegenüberliegenden Ufer ihres Nachtgewandes entkleidet wurden. Er fühlte sich an Gemälde des Frankfurter Künstlers Winfried Skrobek erinnert, der einen ganzen Zyklus solcher verwunschenen und vergänglichen Landschaftszaubereien mit dem Pinsel festgehalten hatte.

Anfänglich hatte er sich gegen die zu Tage tretende Konsequenz als Ergebnis ihrer Gespräche gewehrt. Wenn er ehrlich war, hatte er bloß zum Schein reklamiert, und auch der war eher seiner Bequemlichkeit geschuldet als fundiert begründet.

Wenn ich mit den Hunden spazieren gehen kann, ist mir das Therapie genug, hatte er angegeben, wohl wissend, dass es eine durchschaubare Ausrede gewesen war.

Spinnwebendünn, wie Melanie es treffend kommentierte.

Unbestreitbar war, dass der Tod des jungen Kriminaloberkommissars Kai Schuster ihn tiefer getroffen hatte, als die äußeren Symptome vermuten ließen. Nach einer kurzen Phase der Desorientierung hatte es nämlich ausgesehen, als hätte er den Schock bereits überwunden. Zu sagen, am Tod des Kollegen schuld zu sein, war die eine Sache. Mit den penetrant auftretenden Geistern der Nacht fertigzuwerden aber eine andere. Selbstgespräche zur Eigentherapie, so viel ahnte Edgar im Grunde selber, waren zwecks Aufarbeitung der Geschehnisse im Spätfrühling dieses Jahres nicht zielführend. Und so wichtig und unersetzlich die Gespräche mit seiner Frau Melanie zu diesem Themenkomplex waren – so eindeutig musste er auch eingestehen, dass er sie nicht überfordern durfte. Nicht umsonst wurden zum Beispiel Polizeibeamte von Fällen abgezogen, wenn sie wegen Befangenheit Gefahr liefen, objektive Ermittlungen zu gefährden. So betrachtet war Melanie, ob sie nun wollte oder nicht, die befangenste aller Personen schlechthin.

Der für Edgar beschreitbare Weg kristallisierte sich nach und nach fast von alleine heraus: Professionelle Hilfe. Gewissermaßen in Form eines Retreats in neutraler, um nicht zu sagen isolierter Umgebung. Kein Kloster, nein, aber eine Einrichtung, die auf Fälle wie den seinen spezialisiert und ausgerichtet war.

Es wird dir gefallen, Edgar.

Innerhalb von wenigen Tagen war alles perfekt gemacht worden. Edgars Hausarzt hatte die Überweisung geschrieben, und Melanie die Termine festgezurrt. Vierundzwanzigster Juli bis vierter August, mit Option auf Verlängerung. Stationärer Aufenthalt in der Psychiatrischen Akut- und Reha-Klinik An klaren Wassern in Haldensee. Edgar war schon am Sonntag, dreiundzwanzigsten Juli, per Bahn angereist. Um dem Mob der Schwarzwaldtouristen zu entgehen, Erster Klasse.

Den begehrten Platz am Fenster hatte er sich nicht ausgesucht. Vielmehr war er von Frau Weingärtner, der die Speisesaalaufsicht oblag, dorthin platziert worden, unter neidischer Beobachtung etlicher Augenpaare.

Neuankömmlinge wurden, wie überall, wo sich Gemeinschaften zusammenfanden, zuerst kritisch beäugt. Was war das für ein Typ? Zu welcher Gruppe würde er passen? War er umgänglich oder ein Eigenbrötler? Schnüffler wurden beauftragt, seine Verwendbarkeit herauszufinden. Edgar hatte diese Tests in den ersten beiden Tagen nach seiner Ankunft schon hinter sich gebracht, mit dem Ergebnis, dass man ihn größtenteils in Ruhe ließ. Er war kein Schwätzer und er war kein Opportunist, der sein Fähnchen nach dem vorherrschenden Wind wehen ließ. Altersmäßig zählte er zu den Ältesten.

Um acht Uhr, zu Frühstücksbeginn, hatte Edgar schon die erste Anwendung hinter sich: kalte und warme Beingüsse im Keller des Hauses, bei Norbert Grob, dem Bademeister und Physiotherapeuten der Anstalt. Bei dieser erfrischenden Prozedur hatte er mit einiger Genugtuung festgestellt, dass er von den Männern, die mit ihm in einer Reihe auf den Wasserstrahl warteten, die ansehnlichsten Füße vorzuweisen hatte. Direkt filigran im Vergleich zu den anderen Tretern.

Ihm am Zweier-Tisch gegenüber saß Rico Fischer, ein End-Fünfziger aus dem Raum Freudenstadt. Mehr, als seinen Namen und die ungefähre Herkunft zu nennen, hatte er von sich noch nicht preisgegeben. Auf Edgars vorsichtige Versuche, ein bisschen Small Talk zu üben, reagierte er entweder sehr zurückhaltend oder gar stumm und vermied angestrengt den direkten Augenkontakt, wie ihn überhaupt jede Bewegung oder Handlung große Kraft zu kosten schien. Und wenn es nicht Kraft war, so vermutete Edgar, dann war es die Konzentration darauf, Bewegungen von Armen und Händen bewusst zu steuern, damit sie nicht zitterten, was ihm nur bedingt gelingen wollte, genauso wie das Zittern der Lippen zu unterbinden. Wenn sich doch einmal ihre Blicke begegneten, meinte Edgar einen deutlich gelben Farbstich in Rico Fischers Augenweiß feststellen zu können. Er tippte auf Hepatitis oder auf eine Gallenkrankheit.

Man sah es den Patienten der Anstalt nicht an, was der Grund ihres Aufenthalts hier war. An manchen Tischen ging es laut und fröhlich zu wie an einem Betriebsfest oder einer Geburtstagsfeier, und es täuschte den Anschein vor, dass keiner mit einem seelischen Defekt belastet sein konnte. Und doch war niemand ohne irgendeine Beschädigung hier, seien es Traumata oder Phobien, wie immer sie auch definiert sein mochte.

Edgar bewohnte ein Einzelzimmer im dritten Stock, das letzte im langen Flur. Die Ausstattung glich in etwa der eines Zwei-Sterne-Hotels oder eines sogenannten Jugendstudios: Weiße, Resopal-beschichtete Spanplattenmöbel, wie ein schmales Bett, ein kombinierter Ess-/Schreibtisch, ein Kleiderschrank. Dazu zwei Stühle aus Holz, Dusche, WC. Den Fußboden bedeckten abgetretene Teppiche mit angedeutetem persischem Muster. Der Wohnraum selbst maß drei Meter zwanzig in der Länge und zwei Meter neunzig in der Breite. Das Beste waren das Fenster und der Balkon zum See mit einem Liegestuhl. Im ganzen Haus herrschte Rauchverbot, aber für die hartnäckigen Nikotin-Junkies existierte außerhalb des Gebäudes ein überdachter Rauchertreffpunkt.

Der erste Eindruck, den Edgar beim erstmaligen Betreten des Zimmers empfunden hatte, war einem Schock nahegekommen. Diese Bude sollte mindestens zwei Wochen lang sein Rückzugsort sein? Er hatte bereits eine sofortige Abreise in Erwägung gezogen. Dann jedoch konnte er seine Ablehnung herunterfahren und relativieren.

Brauchst du Edelhölzer, um dich wohl zu fühlen? Vergoldete Badezimmerarmaturen? Bettwäsche aus Seide? Konzentriere dich auf den Zweck deines Hierseins.

Mittlerweile fühlte er sich in seinen vier spartanischen Wänden ziemlich wohl.

Edgar war derart in Gedanken vertieft und auf eine Ansprache überhaupt nicht gefasst gewesen, sodass er die Frage nicht in Gänze verstanden hatte.

„... auf einen Spaziergang?“

„Entschuldigung, was meinst du?“ So direkt angesprochen schien Rico Fischer gleich wieder der Mut zu verlassen, weshalb Edgar ein „Hm?“, folgen ließ und die Augenbrauen zu Fragezeichen formte.

Rico Fischer schluckte. „Ob du heute vielleicht Lust auf einen Spaziergang hast?“

Edgar rief in Windeseile seinen heutigen Anwendungsplan ins Gedächtnis: Neun bis zehn Uhr Gespräch mit der Psychologin; zehn bis elf Uhr Infrarot-Bestrahlung und Massage bei Norbert Grob; elf Uhr bis Mittag Gymnastik; Mittagspause; vierzehn Uhr bis fünfzehn Uhr Gruppengesprächsrunde; Abendessen ab achtzehn Uhr.

„Ab drei Uhr, warum nicht?“, antwortete er und unterstützte die Zusage mit freudlosem Grinsen. Rico Fischers anhängendes Idiom schien ostdeutschen Ursprungs zu sein.

Die Psychologin, Frau Dr. Lazlo, war eine, Edgar wusste sofort, dass das Adjektiv zu abgenutzt und zu platt war, gutaussehende Frau. Er umging das Wort attraktiv mit Absicht, um der Versuchung entgegenzusteuern, die Ärztin bloß auf ihr äußeres Erscheinungsbild zu reduzieren. Dennoch wurmte es ihn, dass er sie zuerst danach bewertet hatte.

Sie war nicht nur eine gutaussehende Frau. In Gestik, Bewegung und Sprache rundete sie den gewonnenen Eindruck zu einer kompetent wirkenden und intelligenten Persönlichkeit ab.

Sie trug die langen honigblonden Haare offen und schminkte sich dezent. Edgar sollte feststellen, dass sie in ihrer Fünf-Tage-Woche jeden Tag eine andere Garderobe trug. Heute hatte sie einen perfekt geschnittenen dunkelgrauen Hosen-Anzug gewählt, was Edgar von der Farbe her natürlich gefiel. Ihm, dem Großmeister aller leuchtenden grauen Farben von hellgrau bis tiefschwarz.

„Bitte, setzen Sie sich, Herr Schaaf“, bat sie ihn auf einen bequemen Stuhl und strahlte ihn förmlich an. Edgar suchte nach Anzeichen einer professionell aufgesetzten Maske, aber da war nichts, das einen Zweifel an ihrem herzlichen Gesichtsausdruck genährt hätte.

„Wie war Ihre Nacht? Haben Sie gut geschlafen?“ Sie vermittelte den Eindruck, als ob sie das wirklich interessierte.

Es war ihre zweite Sitzung. In der gestrigen ersten Sitzung hatte Edgar von seinen Albträumen und seiner Angst erzählt. Träume, in denen er Kai Schuster in unterschiedlichsten Situationen in Todesgefahr brachte und es ihm kein einziges Mal gelang, ihn zu retten. Jedes Mal starb Kai Schuster in Edgars Armen. Von der Angst, sein Gedächtnis zu verlieren und mit ihm alles, was er liebte.

Fast unmerklich schüttelte er den Kopf. „Es war nicht gut“, antwortete er auf ihre Frage.

Im Gegensatz zu gestern setzte sich Frau Dr. Lazlo nicht hinter ihren Schreibtisch, sondern zog einen zweiten Stuhl heran und nahm Edgar vis-à-vis Platz, die Hände flach auf die Schenkel gelegt. Eine Weile betrachtete sie sein Gesicht, als befände sich dahinter ein verstecktes zweites Ich. Doch er empfand es nicht als unangenehm, bloßstellend oder sezierend. Ihre Augen strömten Vertrauen aus, und so konnte er sich darauf einlassen. Bisher hatte er einzig Melanie erlaubt, so tief in ihn einzudringen.

„Erzählen Sie mir von Ihrem Glück“, sagte Frau Dr. Lazlo, und damit hatte Edgar nun gar nicht gerechnet.

Rico Fischer war achtundfünfzig, wie er angab. Achtundfünfzig und Witwer, und nach dem Suizid seiner Frau wegen zu vieler Fehltage im Betrieb auch arbeitslos geworden.

„Nur damit du´s weißt, und verschone mich mit Fragen“, sagte er grob und unmissverständlich.

Sie hatten sich kurz nach fünfzehn Uhr am Klinikeingang getroffen. Rico Fischer trug eine leichte Kniebundhose, ein rotweiß kariertes kurzärmeliges Hemd und flache Wanderschuhe. Er war von kräftiger Statur. Die hellbraunen Haare hatte er streng nach hinten gekämmt, sodass sie sich im Nacken kräuselten. Oberlippe und Kinn zierte ein Richelieu-Bart, und die Wangen waren von einem Netz feiner roter Äderchen durchzogen.

Edgar war in eine seiner bevorzugten grauen Leinenhosen und ein ebensolches Hemd gekleidet. Den Kopf bedeckte ein Strohhut. Die Füße steckten in schwarzen Timberlakes.

Jetzt, außerhalb des Gebäudes, steckte Edgar eine Zigarette an, „Rauchst du“, fragte er und hielt Rico Fischer die Packung hin. Der nickte und angelte eine Zigarette heraus und ließ sich Feuer geben.

„Eigentlich sollte man das Rauchverbot der Klinik nutzen und mit dem Scheiß aufhören“, grinste Rico Fischer und blies den Rauch in die Luft. „Gehen wir ein Stück am See entlang? Es gibt einen Rundweg.“ Er beschrieb mit einem Arm einen weiten Bogen. „Bin ihn schon x-mal gelaufen.“

Edgar hatte nichts dagegen und wandte sich zum Gehen. Er hatte vorgehabt, während seines Klinikaufenthaltes den Rundweg um den See nach und nach zu erschließen, und war darum bis heute nur wenige Meter auf dem Uferweg entlanggegangen.

„Stopp! Andere Richtung“, bestimmte Fischer und schwenkte nach rechts auf den Uferpfad ein, der direkt zwischen Klinikgebäude und See verlief.

Es gab einen Bootssteg, der zur Klinik gehörte. Edgar hatte ihn bereits von seinem Zimmerbalkon aus gesehen. Gegen eine geringe Gebühr, er hatte sich danach erkundigt, konnte man Ruderboote leihen, und er nahm sich vor, die Möglichkeit in Anspruch zu nehmen.

Rico Fischer schlug ein ordentliches Tempo an. Er strebte geradezu aus dem Ort hinaus, jedoch nur bis zu einem Kiosk, der am Wegesrand in der Nähe eines Parkplatzes stand. Dort deckte er sich zum einen mit Zigaretten, zum anderen mit Wodka in kleinen Flaschen ein. Edgar schätzte mindestens an die zehn. Noch bevor er einen weiteren Fuß auf den Seerundweg setzte, kippte Rico den Inhalt einer solchen Flasche in den Hals und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. Ungeniert öffnete er die nächste. „Was ist? Was guckst du so?“, pflaumte er Edgar an und trank die zweite Flasche leer. Die übrigen Flaschen steckte er in einen Leinenbeutel.

Edgar kehrte ihm den Rücken zu und schaute über den See. Das war nichts, mit dem er zu tun haben wollte. Er fragte sich, warum Rico Fischer ihn zum Zeugen seiner Sucht gemacht hatte.

Schweigend setzten sie den Spaziergang am See entlang fort. Waren sie zu Beginn noch der Sonneneinstrahlung ausgesetzt gewesen, tauchten sie bald in den Schatten des Waldes ein, der sie von nun an schützte. Sie erreichten in einer Biegung des Weges eine kleine Brücke über den Bach, der den See speiste. Die Biegung setzte sich fort, bis sie zwischen den Bäumen hindurch das Klinikgebäude auf der gegenüberliegenden Seeseite erblicken konnten. Sie hatten nach ungefähr eineinhalb Stunden den See beinahe zur Hälfte umrundet und außer ein paar belanglosen Floskeln und Plattidüden noch kein Wort miteinander gesprochen. Es war angeblich nicht mehr weit bis zu der Vesperstube, die von Rico Fischer anvisiert wurde.

„Bist du auch bei Frau Dr. Lazlo in Behandlung?“, startete Edgar einen Versuchsballon, um ein Gespräch anzukurbeln. Doch Rico Fischer schnaufte nur und beschleunigte seine Schritte.

Die Vesperstube lag auf einer baumfreien Landzunge, die sich einige Meter in den See hineinschob. Im Grunde war es eine Blockhütte mit angegliederter Küche und Toilette. Vor der Hütte luden massive Tische und Bänke aus gehobelten halben Baumstämmen zum Verweilen und zum Verzehr ein. Nebenan waren für Kinder Schaukel, Rutschbahn und Klettergerüst vorhanden. Die Aussicht über den See hinüber nach Haldensee zählte bestimmt zu den bevorzugten Fotomotiven.

Rico Fischer und Edgar setzten sich an einen der Tische. Außer ihnen waren nur wenige Gäste da, der Kleidung und den Rucksäcken nach Wanderer. Kaum Platz genommen, stand die Bedienung vor ihnen und wartete auf die Bestellung. Rico Fischer orderte ein Bier und einen Schnaps. Edgar hatte auf einer Tafel gelesen, dass heute Schnitzel mit Brot angeboten wurden und entschied sich dafür. „Und ein Radler, bitte.“

Bier und Schnaps waren rasch serviert. Rico Fischer nahm den Schnaps und kippte ihn in den Rachen.

„Pfffft, die Lazlo, diese dumme Fotze“, zischte er. „Die versteht doch nichts!“

Edgar war von dem negativen Ausbruch überrumpelt. Um seine Überraschung zu kaschieren, hob er das Glas an den Mund und trank einen kräftigen Schluck. Er dachte an die Sitzung mit Frau Dr. Lazlo von heute Morgen zurück. Erzählen Sie mir von Ihrem Glück.

Nach einigen Augenblicken der Besinnung hatte er begonnen zu erzählen. Angefangen von dem Tag im Dezember vor nun fast drei Jahren, an dem er Melanie kennengelernt hatte, bis zum Sommer dieses Jahres. Er erzählte von ihr als seiner großen Liebe. Wie sehr und innig sie sich verbunden waren. Was sie ihm bedeutete. Er erzählte von ihrem Türmchenhaus in Gengenbach, von den Hunden Müller und Lydia, und von seiner Leidenschaft, dem Motorradfahren. Frau Dr. Lazlo hatte ihm aufmerksam zugehört und ihn kein einziges Mal unterbrochen. Die Stunde war im Nu vorbei gewesen und er hätte noch weiterreden können, doch da hatte sie ihn gestoppt und auf die Uhr verwiesen. Leider muss ich hier unterbrechen, Herr Schaaf, hatte sie gesagt. Aber es hat mir sehr gut gefallen. Wir sehen uns dann wieder am Freitag.

Edgar wischte sich Schaum von der Oberlippe. „Wie kommst du darauf?“, hakte er nach und wollte Rico Fischers Polemik nicht so stehen lassen. „Wieso versteht sie nichts?“

„Weil sie ein Weibsbild ist“, blaffte er zurück.

„Also ich finde sie recht gut. Ich hab´ zwar erst zwei Sitzungen bei ihr gehabt, aber ...“

„Deine Frau hat auch keinen Selbstmord verübt, nehme ich an. Ich habe ebenfalls eine Sitzung bei der Lazlo gehabt, und die Schlampe quetscht mich nach dem Grund des Selbstmordes aus. Hallo? Ich bin hier der Patient. Ich lass´ mich doch von der nicht auf die Anklagebank setzen. Ne, ne, mein Lieber. Ich hab´ mich dann an Dr. Winkler gewandt, und der betreibt keine ...“ Er unterbrach seine Tirade, um kurz darauf fortzufahren. „Jedenfalls lässt er meine Frau aus dem Spiel.“

Edgar wusste, dass Dr. Hauke Winkler einer von drei Psychologen der Klinik war. Trotzdem fragte er: „Dr. Winkler ist demnach wohl ein Mann?“

„Logisch“, antwortete Rico Fischer.

Edgars Schnitzel wurde gebracht. Rico Fischer nutzte die Gelegenheit, ein weiteres Bier mit Schnaps zu bestellen.

Sobald das Schnitzel auf dem Tisch stand, stieg Edgar ein wohlbekannter Duft in die Nase, der ihn zurück in die Anfänge seiner Polizeikariere katapultierte. Maggi-Würze. Die Soße roch nach Maggi-Flüssigwürze, jener sagenhaften braunen Flüssigkeit in den unverwechselbaren Flaschen, die in den Kantinen der Polizeikasernen zum alltäglichen Standard gehörten. War die Soße nicht bereits vor der Essensausgabe damit gewürzt, stand bestimmt die Maggi-Flasche griffbereit auf dem Tisch.

Das wird mein Geheimtipp für Melanie, wenn sie am Wochenende zu Besuch kommt, dachte er.

Edgar bemerkte, dass Rico Fischer ihn musterte. Ich werde ihn nicht auf seinen Alkoholkonsum ansprechen, dachte er. Aber mit irgendwas wird er gleich hinter dem Busch hervorkommen

„Weswegen bist du eigentlich hier?“, kam die Frage, bewusst gleichgültig gestellt, aber mit unverkennbar lauerndem Unterton.

„Es wird dich kaum interessieren“, sagte Edgar leichthin. „Ich habe zwei Männer umgebracht.“

Rico Fischer fiel die Kinnlade herunter. „Was?“, rief er, sodass andere Gäste die Köpfe nach ihm drehten. Seine Haltung versteifte sich. „Und warum bist du dann nicht im Knast?“

Edgar schob ein Stück Schnitzel in den Mund und kaute ausgiebig. „Unzurechnungsfähigkeit“, nuschelte er und spülte mit einem Schluck Radler nach.

„Aber ...aber ...dann müsstest du doch in der Klapse sein, oder?“

„Bin ich doch hier“, grinste Edgar breit über den Tisch.

„Moment. Das An klaren Wassern ist eine offene Anstalt. Ich meine ...“

„Egal, was du meinst, Rico. Frau Dr. Lazlo bürgt für mich. Wie ich schon sagte: Ich finde die Frau recht gut.“

In Rico Fischer arbeitete es. Zwei-, dreimal setzte er zum Reden an, brach jedoch genauso oft ab. Plötzlich sprang er auf, als hätte er in einem Ameisenhaufen gesessen, beugte sich über den Tisch und schrie, dass der Speichel sprühte: „Weißt du was? Du bist ein blödes Arschloch, und verarschen kann ich mich selber!“ Dann stürmte er zur Bedienung, bezahlte seine Zeche und stapfte in aufgebrachter Stimmung davon.

Aber das tust du doch schon die ganze Zeit – dich selber verarschen, dachte Edgar und überlegte, ob er noch ein zweites Schnitzel verdrücken sollte.

Beim Abendessen, Edgar begnügte sich mit Frischkäse auf einer Scheibe Brot, blieb Rico Fischers Stuhl am Zweier-Fenster-Tisch leer. Auch später war von ihm weder im Fernsehraum noch im Lesezimmer noch im Fitnessraum etwas zu sehen. Gegen zweiundzwanzig Uhr umrundete Edgar das Klinikgebäude und schaute an der Fassade hoch. In Rico Fischers Zimmer brannte kein Licht.

Mittwoch, 26. Juli 2023

Holzrück/Haldensee

Es war eine sogenannte Tropische Nacht gewesen. Sie reihten sich mittlerweile aneinander wie die Perlen auf einer Kette. An eine normale Nacht konnte er sich fast nicht mehr erinnern. Aber so war das mit dem Klimawandel: Er setzte sich fest und verdrängte die gewohnte Normalität, bis er selber zur Normalität wurde.

Er glühte jedoch auch von innen heraus. Seit er das Foto in Ricos Schlafzimmer entdeckt hatte, fraß ihn ein Feuer auf, von dem er nie im Leben gedacht hätte, dass es ihn eines Tages anheimfallen würde. Es schien ihn förmlich zu verzehren.

Es war spät geworden gestern Abend. Das Haus war schon dunkel gewesen, als er nach Hause gekommen war. Die Nacht hatte er, sturzbetrunken wie ein Matrose auf Landgang, auf dem Sofa verbracht. Sich nach der Entdeckung zu seiner Frau ins Bett zu legen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Zuerst musste reiner Tisch gemacht werden. Zu dieser Erkenntnis war er in seiner Stammkneipe gekommen, und aus diesem Grund war er unterwegs. Frühmorgens war er losgefahren, ohne Senta gesehen oder ein Wort mit ihr gewechselt zu haben. Wo er Rico finden würde, hatte sie ihm ja in ihrer Unverschämtheit gesagt: Haldensee. Stell´ dir vor, wen ich getroffen hab? Den Mann meiner Cousine. Den Mörder. Er muss jetzt in eine Klinik. Vier Wochen Alkoholentzug. Er hörte ihre Worte, als sei es gestern gewesen.

Haldensee. Ausgerechnet Haldensee, wo in zwei Tagen die Mineralienausstellung beginnen würde.