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Die Scham in ihren verschiedenen Gestalten kennenzulernen, hilft uns, uns von alten Schamlasten zu befreien, gesunde von toxischen Schamgefühlen zu unterscheiden und mehr Verständnis für uns und für unsere Mitmenschen zu entwickeln.
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Seitenzahl: 836
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Wilfried Ehrmann
Scham und Würde
Im weiten Land der Seele
Band 2
Tredition 2024
Impressum:
Autor: Dr. Wilfried Ehrmann
Verlag: Tredition Hamburg
Erscheinungsjahr: 2024
Umschlaggestaltung: Alexandra della Toffola
Umschlaggrafik:
ISBN:
ISBN:
©2024 Wilfried Ehrmann
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Inhaltsverzeichnis
Zum Geleit
8
Vorwort
10
Einleitung
14
Kapitel 1 Die Scham, die soziale Wächterin
16
Kapitel 2: Die frühen Gestalten der Scham
24
2.1 Scham, weil wir existieren
26
2.2 Scham, weil wir bedürftig sind
31
2.3 Scham, weil wir autark sein müssen
35
2.4 Scham, weil wir loyal sein müssen
43
3. Kapitel: Die mittleren Schamgestalten
58
3.1 Scham, weil wir uns ausgeschlossen fühlen
58
3.2 Die Scham als Wächterin der Intimität
61
3.3 Die Scham und unser Körper
64
3.4 Scham, weil wir uns für unfähig halten
70
3.5 Die Scham wegen der eigenen Ideale
73
4. Kapitel: Die späteren Schamgestalten
76
4.1 Nur keine Wellen… Die Konfliktscham
76
4.2 Die Normalitätsscham
79
4.3 Die Mußescham
88
4.4 Die Freudenscham
89
4.5 Die Kreativitätsscham
91
5. Kapitel: Die Scham im Reigen der Gefühle
96
5.1 Die ängstliche Scham: Kann ich mich je wieder sicher fühlen?
97
5.2 Die Scham und die Traurigkeit: Mag mich wirklich niemand? 101
5.3 Die Scham und die Wut: Alle sind so gemein zu mir 102
5.4 Scham und Ekel: Igitt! 106
5.5 Du bist schuld! – Nein, du! Scham und Schuld 110
5.6 Wer ist besser: Ich oder ich? Scham und Stolz 113
5.7 Mich selbst mag ich am wenigsten: Selbsthass und Scham 116
Grundgefühle und Prägungen 123
Kapitel 6: Die Scham im Drama-Dreieck 125
Seite 5
Kapitel 7: Scham und Krankheit
140
Kapitel 8: Beschämung in der Kommunikation
153
Unterstellungen
156
Beschämung durch Psychologisierung
162
Kapitel 9: Disziplin und Scham
172
Kapitel 10: Die Bindungstypen und die Scham
184
10.1 Der sichere Bindungstyp
185
10.2 Der unsicher-vermeidende Bindungsstil
185
10.3 Der unsicher-ambivalente Bindungsstil
187
10.4 Der desorganisierte Bindungsstil
190
Kapitel 11: Grenzthemen und Scham
194
11.1 Die Introjektion
196
11.2 Die Projektion
198
11.3 Die Konfluenz
202
11.4 Die Retroflektion
205
11.5 Der verdeckte Narzissmus
207
Kapitel 12: Neun Typen der Scham
217
Kapitel 13: Archetypen und Schamprägungen
237
13.1 Animus und Anima: Mann und Frau als Archetypen
238
13.2 Die Närrin
245
13.3 Der König und die Königin
249
13.4 Die Heldin
254
13.5 Der Rebell
262
13.6 Die Weise
266
Kapitel 14: Kollektive Schamthemen
272
14.1 Kollektive Traumen durch den Kapitalismus
274
14.2 Der Nationalismus und die Scham
286
14.3 Die Klimakrise und die kollektive Scham
286
14.4 Die Wohlstandsscham und die Angst vor Luxusverlust
301
Kapitel 15: Die Befreiung von Schambelastungen
308
Schamgestalten und Schamheilung
311
Mut und Scham - das Verwegene und das Freche
321
Kapitel 16: Scham und Ethik
328
Kapitel 17: Die Würde des Menschen
344
Seite 6
Kapitel 18: Die Scham und die letzten Fragen
352
18.1 Das Weiterleben nach dem Tod
355
18.2 Der Sinn des Lebens und die Scham
362
18.3 Über den Glauben
373
Zum Abschluss
379
Ausgewählte Literatur
380
Seite 7
Zum Geleit
Es gibt Bücher, die informieren, und es gibt Bücher, die transformieren. Dieses Buch gehört zweifellos in beide Kategorien. In einer Welt, die von Oberflächlichkeit und dem Drang nach Perfektionismus geprägt ist, führt uns Wilfried Ehrmann mutig und sensibel in die Tiefen eines Themas, das oft gemieden, verdrängt oder in seiner Tragweite nicht erkannt wird: Scham. Mit beeindruckender Klarheit und tiefem Verständnis navigiert er uns durch ein Gefühlsuniversum, das viele von uns aus Angst oder Unwissenheit lieber vermeiden würden.
Der Autor versteht es auf herausragende Weise, die vielschichtigen Gestalten und Facetten der Scham zu beleuchten. Seine Fähigkeit, komplexe psychologische Konzepte in eine leicht zugängliche und dennoch tiefgründige Sprache zu übersetzen, ist bemerkenswert. Er eröffnet uns ein reichhaltiges Panorama, das von historischen, kulturellen, sozialen und spirituellen Aspekten bis hin zu individuellen Erlebnissen reicht, und lässt uns an seinem fundierten Wissen und umfangreichen Erfahrungsschatz teilhaben. Seine umfassende Herangehensweise ermöglicht es uns, Scham nicht nur als persönliches Gefühl zu verstehen, sondern auch ihre Bedeutung in unserer Gesellschaft und in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen zu erkennen.
„Scham und Würde“ nimmt uns mit auf eine Reise in die tiefsten Winkel unserer Seelenlandschaft und enthüllt die verborgenen Schichten unserer Menschlichkeit.
Scham, jene brennende Empfindung, die uns in Momenten der Verletzlichkeit überkommt, hat die Macht, uns zu lähmen und zu isolieren. Doch in dieser scheinbaren Schwäche liegen auch das große Potenzial und die Kraft für Entwicklung und Transformation. Die Konfrontation mit unserer Scham kann uns dazu bringen, uns selbst zu hinterfragen, alte Muster zu durchbrechen und letztlich zu heilen.
Würde hingegen, dieses unerschütterliche „Wissen“ um unseren eigenen Wert und die Anerkennung der Würde anderer, erhebt uns über die Niederungen des Alltags und verbindet uns mit dem tiefsten Kern unseres Seins. Würde richtet uns auf, macht uns weit. Würde ist das Licht, das uns durch die Dunkelheit führt, die Stimme, die uns an unsere innere Stärke und an unseren festen Platz in dieser Welt erinnert, selbst wenn die Welt um uns herum ins Wanken gerät.
Dieses Buch lädt uns ein, diese beiden Kräfte in einem neuen Licht zu betrachten.
Es fordert uns auf, die Scham nicht als Hindernis, sondern als wertvollen Wegweiser auf der Reise zu einem authentischeren und erfüllteren Leben zu betrachten und die Würde nicht nur als Ideal, sondern als lebendige Praxis zu leben.
Durch zahlreiche Fallbeispiele und Fragen zu den einzelnen Erscheinungsformen der Scham zeigt der Autor auf, wie wir mit unserer eigenen Scham in Berührung kommen, um die Balance zwischen Scham und Würde in unserem eigenen Leben zu finden. Mit seinen Ausführungen ermutigt er uns, uns selbst in unseren eigenen Erfahrungen von Scham zu erkennen und zu akzeptieren, um anderen dabei zu helfen, dasselbe zu tun. Sein Buch zeigt uns einen Weg zu mehr Menschlichkeit und Mitgefühl, es ist ein Aufruf zur Selbstakzeptanz und zur Anerkennung unserer Unvollkommenheiten als Teil unseres Menschseins. Es ist ein Werk, das uns inspi-Seite 8
riert, mutig zu sein und uns unseren verborgenen Ängsten zu stellen, um daraus gestärkt hervorzugehen.
Mit dem ersten Band seines Werks „Die Scham – Das geheimnisvolle Gefühl“ hat der Autor eine bedeutende und umfassende Grundlage zur Erforschung der Scham gelegt. Mit „Scham und Würde“ erweitert und vertieft er dieses Thema, indem er die Würde als Gegenspieler der Scham einführt. Zusammen bilden diese beiden Bände, die unabhängig voneinander gelesen werden können, ein Werk, das nicht nur zur persönlichen Auseinandersetzung mit der eigenen Scham anregt, sondern auch als grundlegendes Nachschlagewerk dienen kann. Es richtet sich daher an alle interessierten Menschen, nicht nur an Fachleute im therapeutischen und psychosozialen Bereich, die ihre Sensibilität für dieses Thema vertiefen und ihre Kompetenz im Umgang mit Scham erweitern möchten.
Das Lesen dieses Buches wird Ihr Verständnis von Scham und Würde gewinnbrin-gend vertiefen und möglicherweise auch Ihren Umgang damit verändern – so wie es mich und meine therapeutische Arbeit nachhaltig beeinflusst hat. Ich wünsche diesem Werk eine weite Verbreitung und lade Sie herzlich ein, es nicht nur zu lesen, sondern auch zu erleben. Lassen Sie sich von der reichen Erfahrung, der Weisheit und dem Mitgefühl des Autors leiten und inspirieren. Beginnen Sie Ihre eigene Reise der Erkundung und Heilung und bereichern Sie Ihr Leben und Ihre Arbeit mit den wertvollen Einsichten, die dieses Buch bietet. Möge „Scham und Würde“ Ihnen den Mut geben, Ihre eigenen Schatten zu erforschen und die uner-schöpfliche Quelle der Würde in sich selbst zu entdecken.
Marijan J. Bernardic
Diplom Pädagoge & Psychologe, Integrativer Gestalt- und Körpertherapeut, Systemischer Organisationsberater
Seite 9
Vorwort
Das umfangreiche Thema der Scham hat mich noch immer nicht losgelassen. Diese Erfahrung kenne ich schon von anderen Büchern, die ich geschrieben habe: Nachdem das Buch fertig war, stellte sich Freude und Erleichterung ein. Das Thema arbeitet aber im Inneren weiter und führt zu neuen Einsichten und Erkenntnissen, die im Buch fehlen. Deshalb erweitern manche Autoren den ursprünglichen Text in einer zweiten Auflage und fügen wichtige Inhalte ein.
Nach der Fertigstellung des ersten Schambuches wollte ich zunächst mit einem anderen Buchprojekt beginnen. Doch erkannte ich bald in meiner Arbeit mit Klienten und in der Beobachtung meiner eigenen Alltagserfahrungen, dass dieses Thema so viele Aspekte aufweist, über all die Darstellungen hinaus, die ich in dem ersten Buch zusammengefasst hatte. Also habe ich mich nach einigem Überlegen entschlossen, angesichts der Fülle an neuen Eindrücken und Einsichten ein zweites Buch zu diesem Thema zu schreiben.
Zunächst erschien es so, als würde das neue Material nicht für ein ganzes neues Buch reichen oder als würde dem ersten dickeren Buch nur ein recht dünnes zweites folgen können, was sich nicht gut anfühlen würde. Im Fortschritt des Schreibens erst merkte ich, wie viel Stoff noch geschrieben gehört. Denn es zeigte sich für mich in der eingehenden Beschäftigung mit diesem Thema nach wie vor und immer wieder, wie weit verzweigt es ist und wie sehr es auf allen Ebenen unserer Seele seine Wirkung entfaltet.
Ein weiterer Grund, warum ich ein zweites Schambuch geschrieben habe, besteht darin, dass sich einige Leser eine einfachere Version des ersten Buches wünschten, weniger wissenschaftlich bzw. psychotherapeutisch orientiert, dafür alltags-tauglicher und gemeinverständlicher. Mit diesem zweiten Band versuche ich, diesen Anliegen entgegenzukommen. Ich habe also hier die Bezüge zu wissenschaftlichen Befunden und Studien weggelassen, sie können im ersten Buch nachgelesen werden. Dort finden sich auch die wichtigsten Literaturhinweise. Ins Literaturverzeichnis dieses Buches habe ich die einschlägigen Standardtitel zur Scham aufgenommen und Quellen hinzugefügt, die nur in diesem Buch verwendet wurden.
Dieses Buch folgt den Grundzügen des ersten Buches, vereinfacht an vielen Punkten und enthält zahlreiche neue Zugänge, Facetten und Aspekte des Schamthemas. Es geht in manchen Punkten mehr in die Tiefe und Breite und belässt andere Elemente beim ersten Buch. Außer einigen Überschriften gibt es keine textlichen Wiederholungen des ersten Schambuches. Der gesamte Text enthält also völlig neue Schwerpunkte und Inhalte.
Es gibt noch immer nicht viele Bücher zur Psychologie der Scham; andere Grundgefühle wie Angst oder Wut sind mit einem breiten Angebot am Büchermarkt vertreten. Es gibt eine große Menge von Veröffentlichungen zum Thema der zwischenmenschlichen Beziehungen und der Liebesbeziehungen, in denen häufig das Schamthema schamvoll verschwiegen wird. Bücher mit der Scham im Titel werden möglicherweise oft nur schamvoll gekauft – sonst gäbe es wohl viel mehr davon.
Seite 10
Die Dichter und Schriftsteller, die Anatomen der menschlichen Seele, kommen dagegen um dieses Gefühl nicht herum, sie wissen um seine zentrale Stellung im Seelenleben der Menschen und haben viel dazu beigetragen, seine Macht und seine subtilen Einflüsse zu verstehen. Manche Autoren stehen geradezu im Bann dieses Gefühls, wie z.B. Franz Kafka. Sein ganzes verstörendes Werk kann als Versuch gelesen werden, die Allmacht der Scham zu bewältigen. Er schreibt z.B. in einer Geschichte, die in einem Brief an Oskar Pollack enthalten ist: „…schon begann sich der Lange zu schämen. Seiner Länge schämte er sich und seiner wolle-nen Strümpfe und seiner Stube.“ Jemand ist größer als die anderen und fällt aus der Reihe. Gleich geraten die anderen Seiten seines Lebens in den Bann der Scham. So weit verzweigt sich das Netz der Scham in der Seele, sobald sie an einem Punkt bewusst geworden ist. Dazu passt das rätselhafte Schlusswort von Kafkas Roman „Der Prozess“: Im Moment seiner Hinrichtung lässt der Dichter die Hauptfigur des Romans, K., seine letzten Worte sprechen: „‚Wie ein Hund!‘ sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.“ Viele Interpreten dieser Stelle sind der Meinung, dass der Dichter damit zum Ausdruck bringen wollte, dass es kein Entkommen aus der Scham gibt. Sie ist so allgegenwärtig und übermächtig, dass sie sogar den Tod des Einzelnen überlebt.
Fjodor Michailowitsch Dostojewski hat mit dem „Doppelgänger“ eine bedrückende Erzählung zur Scham geschrieben. Der Beamte Goljadkin lebt über seine Verhältnisse, um seine Stellung in der Gesellschaft zu verbessern. Doch tritt er von einem Fettnäpfchen ins nächste und wird dabei jedes Mal gedemütigt. In einer Szene taucht er auf einem Ball vor der geliebten Klara auf und „murmelte irgend etwas, das wohl so etwas wie eine Entschuldigung sein sollte, und da er nun entschieden nicht mehr wusste, was weiter tun, nahm er einen Stuhl und – setzte sich. Doch kaum war das geschehen, da fiel es ihm auch schon ein, dass er unauf-gefordert Platz genommen hatte, errötete ob seiner Unhöflichkeit und beeilte sich, um seinen Verstoß gegen den guten Ton möglichst ungeschehen zu machen, sogleich wieder aufzustehen. Leider kam er erst nach dieser Tat zur Besinnung und begriff trotz seiner etwas wirren Verfassung, dass er der ersten Dummheit nur eine zweite hatte folgen lassen, weshalb er sich schnell zur dritten entschloss, indem er irgend etwas wie zu seiner Rechtfertigung murmelte, dazu lächelte, verwirrt errötete, vielsagend verstummte und sich schließlich wieder hinsetzte, diesmal jedoch endgültig.“ Schließlich taucht ein Doppelgänger auf, dem alles gelingt, wovon Goljadkin geträumt hat. Als er am Ende vom Vater von Klara doch noch wohlwollend empfangen wird, wartet dort der Arzt, der ihn in eine Nerven-heilanstalt einweisen lässt.
Auch die Literaturnobelpreisträgerin 2022, Annie Ernaux, versteht die Scham als eine umfassende Klammer, die das Leben in seinem Ablauf im Griff hat. Eines ihrer autobiographischen Bücher heißt „Scham“. Sie schildert darin einen Mordversuch des Vaters an der Mutter und die Scham, die mit dieser Tat auf die ganze Familie fällt. Sowohl der Täter als auch die Opfer sind mit Scham für den Rest ihres Lebens mit Scham gebrandmarkt. Sie schreibt: „Die Scham ist die letzte Wahrheit.
Sie vereint das Mädchen von damals mit der Frau, die dies gerade jetzt schreibt.“
Ihre französische Kollegin Inès Bayard schildert in ihrem gleichnamigen Roman das Schicksal einer jungen Frau, die zunächst ein Bilderbuchleben vorweisen kann, Seite 11
mit liebevollem Ehemann, interessanter Berufstätigkeit, nettem Freundeskreis und mittlerem Wohlstand. Die Ehepartner beschließen, eine Familie zu gründen.
Kurz darauf bietet ihr Chef an, sie nach Hause zu führen, und sie wagt es nicht, das Angebot abzulehnen. Er vergewaltigt sie brutal in seinem Auto, und ihre Seele zerbricht. Die Angst vor Unverständnis, aber noch mehr die Scham hindern sie daran, über die schreckliche Erfahrung zu reden. Sie funktioniert weiterhin und tut so, als wäre nichts gewesen, während ihr Inneres mit allen Gefühlen kämpft: Schmerz, Wut, Hass, Rache und Verzweiflung; all diese mächtigen Emotionen werden von der Scham in Schach gehalten. Sie erkennt, dass dieses Gefühl das mächtigste ist, vor allem im Leben einer Frau: „Die Scham, die jede Frau vom Anfang bis Ende ihres Lebens nicht mehr loslässt. Immer ist es dieselbe. Die Scham vor dem Körper, der nicht perfekt, nicht rein ist, der von der allgemeinen Moral missbilligt wird.“
Neben solchen massiven Schicksalen gibt es die scharfsinnigen Beobachtungen von Alltagssituationen, die uns mit der Scham konfrontieren. So beschreibt z.B.
Klaus Nüchtern solche kleine Wirrnisse in unnachahmlicher Weise: „Eine spezielle Quelle der Geldscham ist die Vergabe von Trinkgeldern und Almosen. Gibt man zu wenig, ist man ein Geizhals, gibt man zu viel, ein Großkotz. Ich geniere mich, wenn ich mich dabei ertappe, beim Trinkgeld um einstellige Cent-Beträge aufgerundet zu haben, und tu mich ein bissl fremdschämen, wenn jemand an der Super-marktkassa vor mir mit ‚Passt schon!‘ auf die Herausgabe einer Zwei-Cent-Münze verzichtet, weil ich es jämmerlich finde, das als großzügige Geste auszugeben; was aber möglicherweise bloß meiner eigenen Arroganz geschuldet ist, denn der betreffende Kunde könnte ja tatsächlich arm sein und diesen Umstand mit dem
‚Passt schon!‘ zu kaschieren suchen, weswegen ich mich dann wiederum für mein Fremdschämen schäme.“ (Falter 20/23, S. 39)
Doch geht es bei der Beschäftigung mit der Scham nicht nur um das individuelle Leben. Jedes menschliche Schicksal spiegelt auch eine gesellschaftliche Dimension. In diesem Buch gehe ich noch mehr auf die Verflechtungen und wechselseitigen Beeinflussungen zwischen der individuell-psychologischen und der kollektiv-soziologischen Ebene ein, die bei fast jedem Schamthema mitschwingen. In einem eigenen Kapitel versuche ich, die Rolle der Scham bei den vorherrschenden politischen Orientierungen zu beschreiben. Die gesellschaftlichen Schambelastungen spielen eine weithin unterbelichtete Rolle im Verständnis der historischen Zusammenhänge, der aktuellen Konfliktlagen und der politischen Debatten. Das Eigentümliche von kollektiven Schamprägungen liegt darin, dass sie uns alle betreffen und beeinflussen, aber dass wir sie kaum wahrnehmen, geschweige denn verstehen. Deshalb weise ich im vorliegenden Buch immer wieder auf diese wichtige Ebene hin. Natürlich kann ich solche Bezüge nicht umfassend belegen und darstellen, aber für den Zweck dieses Buches möge es genügen, Anstöße für eigene Überlegungen beim Lesen anzubieten und die Sensibilität für diese Zusammenhänge zu stärken. Unser Gemeinwesen ist großen Herausforderungen ausgesetzt, und das Verständnis für die Macht von unbewusst wirkenden kollektiven Schamthemen hilft uns, die verschiedenen Kräfte in den politischen Machtkämp-fen besser einordnen zu können und dadurch mehr Klarheit für die eigene Orientierung und Wertsetzung zu gewinnen. In meinem Buch „Vom Mut zu wachsen“
Seite 12
(2011) bin ich ausführlich auf die Verschränkungen zwischen der inneren, individuellen und der kollektiven Entwicklung eingegangen. Die durchgängige Rolle der Scham bei diesen globalen Vorgängen wird nun im vorliegenden Buch nachge-reicht. Zum Ende hin gehe ich auf die Verbindungen zwischen Scham und existenziellen oder spirituellen Fragen ein. Dass auch hier die Scham eine wichtige Rolle spielt, mag manchen als befremdlich erscheinen. Doch lohnt sich der nähere Blick, um die eigene Einstellung zu diesen Fragen besser zu verstehen und tiefer zu durchleuchten.
Also umfasst dieses Buch einen weiten Bogen der menschlichen Seelenlandschaft, von biografischen über gesellschaftliche zu spirituellen Einsichten. Es zeigt sich immer wieder, in wie vielen groben und feinen Verästelungen unserer Seele wir von der Scham berührt werden.
Das heiß diskutierte Thema des Genderns habe ich auf inkorrekte Weise zugunsten der Lesbarkeit durch die Abwechslung von weiblichen und männlichen Formen im Text umschifft. In den meisten Fällen sind bei der Verwendung der männlichen Form auch die Frauen mitgemeint und umgekehrt. In den Überschriften werden die weibliche und die männliche Form verwendet, soweit das sinnvoll ist.
Im Übrigen enthält das Genderthema selbst viele interessante Schamaspekte, von denen einige im Buch erörtert werden.
Zum Abschluss dieses Vorwortes noch eine Geschichte aus unbekannter Quelle, in der die Rolle der Scham im Verhältnis von Wahrheit und Lüge verständlich wird: Es treffen sich eines Tages Wahrheit und Lüge. Die Lüge sagt zur Wahrheit: „Heute ist ein wunderbarer Tag!“ Die Wahrheit blickt in den Himmel und seufzt. Der Tag war wirklich schön.Sie verbringen einige Zeit miteinander und kommen schließlich an einem Brunnen an. Die Lüge spricht zur Wahrheit: „Das Wasser ist sehr schön, lass uns zusammen baden!“ Die Wahrheit, skeptisch, testet das Wasser und entdeckt, dass es wirklich angenehm ist. Beide ziehen sich aus und beginnen zu baden.
Plötzlich kommt die Lüge aus dem Wasser, zieht die Kleider der Wahrheit an und rennt davon. Die wütende Wahrheit steigt aus dem Brunnen und rennt umher, um die Lüge zu finden und ihre Kleidung zurückzubekommen. Die Welt, die die Wahrheit nackt sieht, wendet ihren Blick mit Verachtung und Wut ab. Die arme Wahrheit kehrt zum Brunnen zurück und verschwindet für immer und versteckt darin ihre Scham.
Seither reist die Lüge um die Welt, verkleidet als Wahrheit, befriedigt die Bedürfnisse der Gesellschaft, denn die Welt hat auf keinen Fall den Wunsch, der nackten Wahrheit zu begegnen.
Seite 13
Einleitung
Die Doppelgesichtigkeit der Scham erscheint mir als eine der wichtigsten und grundlegendsten Einsichten zum Verstehen dieses Gefühls. Sie ist uns lästig und unangenehm, und deshalb wollen wir sie, wenn sie schon auftaucht, so schnell wie möglich wieder loswerden. Es gibt nun Schamformen, die wir überwinden, und andere, denen wir eine sorgsame Beachtung schenken sollten.
Einesteils stammen Schamgefühle aus Verwundungen, die durch Beschämungen, Bloßstellungen und Demütigungen im Lauf unserer Geschichte entstanden sind.
Solche Schamgefühle können wir uns bewusst machen, verstehen und heilen.
Andererseits gibt es Schamgefühle, die uns dazu dienen können, eine differenzierte Schamsensibilität zu erwerben und zu pflegen, um respektvollere Mitmenschen zu werden. Wir sollten also gut zwischen toxischen Schambelastungen und prosozialen Schamimpulsen unterscheiden können. Die einen haben viel mit unserer Lebensgeschichte sowie mit fehlgelaufenen Interaktionen zu tun, also mit verletzenden Einflüssen von außen, die anderen hängen mit Konflikten in uns selber zusammen, bei denen wir dazu neigen, unsere Ideale und Werte zugunsten von egoistischen Vorteilen zu verraten, und auch mit Diskrepanzen zwischen unseren Absichten und unseren Handlungen.
Das eine Gesicht der Scham ist das, das sich verstecken und verschwinden möchte, weil es sich unwürdig vorkommt. Das andere ist das, das uns anschaut und uns aufwecken möchte, weil wir im Sozialgefüge einen Schaden angerichtet haben. Es ist die Scham in ihrer Funktion als Wächterin über die Moralität und den sozialen Zusammenhalt. Sie macht uns darauf aufmerksam, wenn wir uns zu sehr von unserem Eigennutz leiten lassen und das Wohl unserer Mitmenschen übersehen. Sie hütet die heikle Grenze zwischen dem Guten und dem Bösen. All die Verführungen, die an dieser Trennlinie auftauchen, müssen mit der Scham rechnen.
Unter der Schamkompetenz verstehe ich zunächst die Fähigkeit, zwischen einer reaktiven und einer prosozialen Scham unterscheiden zu können. Es geht darum, bei einem auftretenden Schamgefühl zu erkennen, ob es als Reaktion auf Verletzungen und Demütigungen entstanden ist, oder ob es darauf hinweist, dass wir jemanden verletzt oder gedemütigt haben. Ein Beispiel für die reaktive Scham ist ein Schamgefühl, das auftritt, wenn wir einem Wunsch von nahestehenden Menschen nicht nachkommen wollen, aber dennoch zustimmen. Ein Beispiel für die proaktive oder prosoziale Scham ist es, wenn wir an der verletzten Reaktion merken, dass wir jemand anderen unfreundlich oder abwertend behandelt haben.
Schamkompetenz besteht in diesem Fall darin, zur Scham zu stehen, wenn sie uns auf ein Fehlverhalten aufmerksam macht. Wir drücken die Scham nicht weg, sondern nutzen sie, um daraus zu lernen.
Wenn das Unterscheidungsvermögen zwischen der reaktiven und der proaktiven Scham schwach ausgebildet ist, kann es zu Verwechslungen kommen. Solche Unklarheiten führen dazu, dass das Unbewusste die eine oder andere Form der Schamabwehr oder Schamverdrängung wählt und damit das Gefühl für die Grenzen zu anderen verwischt. Entweder kommt es zu Grenzüberschreitungen oder Seite 14
zum Rückzug in die eigene Festung. Jedenfalls wird der Fluss der Kommunikation unterbrochen und wir verhalten uns in der einen oder anderen Weise unverschämt.
Es gibt noch eine weitere Polarität, die für das Verständnis der Scham wichtig ist.
Sie beruht auf dem Grundkonflikt zwischen Bindung und Autonomie. Das menschliche Leben zwischen Empfängnis und Tod ist von diesem Konflikt geprägt. Als Menschen brauchen wir Zugehörigkeit und Verbindung zu anderen Menschen, ursprünglich für unser nacktes Überleben als Kleinkinder, später für unsere Weiterentwicklung als Personen durch den Austausch mit den anderen, aus dem wir permanent lernen. Wir brauchen auch die Autonomie, die wir als Streben nach Selbständigkeit und Unabhängigkeit erwerben. Sie ist für die Verwirklichung unserer Individualität wichtig und zentral. Die Bezogenheit auf andere Menschen hat die Scham als Begleiterin, die für die Einhaltung der Grenzen sorgt, innerhalb derer sich die Autonomie entwickelt. Die Scham wacht aber auch über die Autonomie und meldet sich, wenn sie überhandnimmt oder wenn sie vernachlässigt wird.
Bei Paaren erkennen wir oft die Gegensätzlichkeit, dass ein Partner mehr auf Autonomie setzt (als Distanzpartner) und der andere mehr auf Bindung (als Nähe-partner). Eine gesunde Beziehung braucht beide Elemente in einem guten Gleichgewicht.
Alle Abwehrformen der Scham dienen der Vermeidung des Autonomie-Bindungskonflikts, der sich durch all die Themen und Dramen des menschlichen Lebens zieht. Der Autonomie können wir die Grundrichtung nach innen (Internalisierung) zuordnen und dem Bindungsverhalten die Orientierung nach außen (Ex-ternalisierung). Bei beiden Richtungen ist die Scham aktiv, indem sie das Überwiegen einer Seite ausgleichen will und die vernachlässigte Seite einmahnt.
Noch eine weitere Vorbemerkung: In der Scham möchten wir uns verstecken oder am besten noch überhaupt verschwinden, vom Erdboden verschluckt. Denn das Widerliche an dem Erleben von Scham ist es, dass das Schämen selbst schamvoll ist: Ich schäme mich für etwas, was ich verbockt habe, und ich schäme mich für das Schämen. Deshalb wollen wir das Gefühl verbergen, so gut es geht, wobei uns oft unsere Körperreaktion dazwischenkommt: Wir erröten, und alle merken, dass wir uns schämen. Die Scham will vor sich selbst schützen, weil das Schämen an sich schon mit zusätzlicher Scham belegt ist, vor allem, wenn es von anderen bemerkt wird. Die offenbare Scham ist viel unangenehmer als die heimliche, die private, die man für sich selbst behalten kann. Denn in der offenbar werdenden Scham stehen wir entblößt vor allen anderen da und sind auf ihre Nachsicht und Einsicht angewiesen.
Allerdings ist die Veröffentlichung unserer Scham der einzige Weg, sie nachhaltig aufzulösen. Denn sie wird erst durch das Verständnis und das Einsehen der anderen erleichtert und beendet. Bei vielen Schamerfahrungen müssen wir den Mut aufbringen, unsere Scham mitzuteilen und an die Öffentlichkeit zu bringen, auch auf das Risiko hin, noch mehr beschämt zu werden. Die Befreiung von einem inneren Druck mag das wert sein. Zum Verhältnis von Mut und Scham kommen noch einige Gedanken im Kapitel 15.
Seite 15
Kapitel 1
Die Scham, die soziale Wächterin
Die Scham ist allgegenwärtig, sobald Menschen miteinander zu tun haben – und Menschen haben eigentlich immer miteinander zu tun. Nichts im sozialen Universum ist immun gegen die Scham. Es beginnt bei den kleinen Fehlern und Missge-schicken des Alltags und endet bei den großen Themen des Lebens. Wir schämen uns – vielleicht nur ein bisschen – für etwas, was wir wissen sollten, aber nicht wissen oder vergessen haben. Wir schämen uns, wenn uns ein Teller runterfällt.
Wir schämen uns, wenn wir uns zu wenig liebevoll, durchsetzungsstark oder zu egoistisch vorkommen. Es können schwache, subtile und kaum merkbare Schamgefühle sein. Aber sie wirken und beeinflussen uns und trüben unsere Stimmung.
Selbst Gedanken, die wir ganz privat in uns wahrnehmen, können Scham auslösen, wenn sie auf andere Menschen bezogen sind oder mit Themen zu tun haben, die uns unmoralisch vorkommen. Wir ertappen uns z.B. bei dem Gedanken, dass die Erbtante bald sterben solle – „Oups, nein, nein, nein, sie soll doch noch lange leben.” Schnell müssen wir uns vor dem aufsteigenden Schamgefühl retten: Wie konnten wir nur so herzlos sein und so habgierig an den eigenen Vorteil denken?
Es gibt diese innere Scham, von der wir nur selber wissen, unser soziales Gewissen, das darüber wacht, dass unser Innenleben menschenfreundlich bleibt. Aber auch solche Schamgefühle sind in gewisser Weise öffentlich, weil sie sich auf einen konkreten Menschen beziehen, mit dem in der Realität eine soziale Beziehung besteht. Die Fantasie holt diesen Menschen ins Bewusstsein und imaginiert ihre mögliche Reaktion auf unsere Gedanken. Die soziale Wirklichkeit bildet sich also in unserer Vorstellungswelt ab.
Schamgefühle entstehen auch mit Menschen, zu denen keine Beziehung mehr besteht, weil sie verstorben sind. Die Scham meldet sich z.B. bei dem Selbstvor-wurf, vor dem Ableben eines wichtigen Menschen versäumt zu haben, sich noch über alle offenen Themen auszusprechen. Dabei handelt es sich oft gerade um Themen, die mit Scham zu tun haben und für die es entlastend gewesen wäre, eine Absolution bekommen zu haben. Es kann um Ungerechtigkeiten oder Verletzungen gehen, die uns unterlaufen sind und für die wir uns nicht entschuldigt haben, oder um das Versäumnis, einen Dank oder eine Wertschätzung auszusprechen für etwas Gutes, das wir von der verstorbenen Person erfahren haben. All das kann uns mit Scham in Kontakt bringen, aus der wir schwerer einen Ausweg finden, weil uns die Person, um die es geht, durch ihr Verzeihen nicht mehr aus der Schambelastung entlassen kann.
Fallbeispiel:
Für Herrn R. war die Mutter von klein auf bis ins Erwachsenenleben die wichtigste Vertrauensperson und Stütze. Der Vater hatte sich schon früh von der Familie verabschiedet und kam nur sporadisch auf Besuch. Als die Mutter schwer krank wurde, hatte R. in seinem Leben eine belastete Zeit, Seite 16
weil er beruflich sehr unter Druck stand. Er nahm sich zwar immer wieder Zeit für die Mutter, war aber dabei oft mit den Gedanken woanders. Als sie starb, schaffte er es nicht mehr, sich von ihr persönlich zu verabschieden.
Diese Versäumnisse lasteten hinfort auf seiner Seele. Er machte sich Vorwürfe, zu wenig für seine Mutter in ihren letzten Tagen und Stunden dagewesen zu sein, wo sie doch so viel für ihn getan und geleistet hatte. Jahrzehnte nach diesem Tod, als er in die Therapie kam, war es das, was er sich nicht verzeihen konnte. Die Nachfrage, wie seine Mutter, wo immer sie jetzt sei, auf die Gewissensqual reagieren würde, unter der er litt, beant-wortete er mit der Klarheit, dass sie ihm nur das Beste wünschen würde und ihn bitten würde, sich selbst zu vergeben. Dennoch brauchte es noch einige Zeit, bis R. mehr Verständnis für sich selbst aufbringen und sich verzeihen konnte. Schließlich konnte er die seelische Kraft, die durch die Scham der Selbstabwertung gebunden war, mehr für sein eigenes Leben nutzbar machen.
Es gibt außerdem noch den Fall, dass wir keinen Kontakt mehr mit jemandem haben, mit dem wir uns zerstritten haben. Es kann sein, dass da noch Wunden offen sind, grob vernarbt oder noch weiter schwärend, indem immer wieder vor-wurfsvolle oder schuldbeladene Gedanken auftauchen. Oft ist es die Scham, die daran hindert, den Kontakt wieder aufzunehmen und die offenen Themen zu klären, was die eigene Seele entlasten könnte. Es braucht Mut für den Schritt, der von viel Unsicherheit begleitet ist, weil die Kontaktaufnahme nach so langer Zeit zu einer neuerlichen Beschämung führen könnte, etwa in der Form: „Was willst du jetzt noch von mir?“ – oder im Fall einer Nichtreaktion die schon bestehende Scham weiter verstärken würde.
Sowohl unser Tun als auch unser Nichttun stehen unter der permanenten Überwachung durch unser Schamsensorium. Es wacht darüber, ob wir uns im sozialen Feld angemessen verhalten und den erforderlichen Respekt aufbringen, der für das Zusammenleben notwendig ist. Es sind an unserem Schamgewissen die Regeln beteiligt, die explizit oder unausgesprochen gelten, aber auch die darüber-hinausgehenden eigenen Werte und Ideale.
Eine weitere Quelle für Schamgefühle stellt unser Unterbewusstsein dar. Vielen Menschen ist bekannt, dass sie in ihrem Inneren nicht alles kontrollieren können, was da abläuft, sondern dass die meisten Vorgänge im Denken und Fühlen von unbewussten Prozessen ausgelöst und gesteuert werden. Wenn ihnen nun ein Fehler oder eine Unbedachtheit unterläuft, erkennen sie, dass sie nicht Herr über ihre unbewussten Impulse sind und schämen sich dafür.
Mit dieser Schamform hatte übrigens Sigmund Freud, der große Erforscher des Unbewussten, zu kämpfen, weil er viel Ablehnung, Kritik und Spott für diese Erkenntnisse hinnehmen musste. Seine Entdeckungen galten als weitere Kränkung, also als Beschämung der Menschheit, die nach Kopernikus zur Kenntnis nehmen musste, dass die Erde nicht im Zentrum des Universums steht, und nach Darwin zähneknirschend zugeben musste, dass die Menschen nichtmenschliche Vorfahren hatten. Nun kam Freud und erklärte, dass wir nicht über unser Innenleben herrschen, sondern es über uns. Es ist ein angemaßter Stolz, der durch solche Seite 17
Durchbrüche in der Seelenforschung zur Abdankung gezwungen wurde, begleitet von vielen Abwehrmanövern, die der Schamverdrängung dienten und bis heute dort dienen, wo diese Erkenntnisse noch immer bekämpft werden.
Die Erkenntnis über die Macht des Unterbewussten bewirkt häufig auch, dass wir uns aus der eigenen Verantwortung für Fehlleistungen und Verletzungen stehlen und das Unbewusste als praktische Ausrede nutzen – eine besondere Form der Unverschämtheit: „Ach ja, da hat mir mein Unterbewusstsein einen Streich gespielt. Ich kann da nichts dafür.“ Die Psychologie findet immer mehr Eingang ins Alltagsbewusstsein, und wir nutzen diese Erkenntnisse gerne, um uns vor unangenehmen Schamgefühlen zu schützen. Natürlich geschieht vieles von dem, was wir tun, aus unbewussten Antrieben und Motiven, die wir uns erst nachträglich bewusst machen können. Aber für die Handlungen und ihre Folgen tragen wir immer die Verantwortung. Selbst wenn wir ohne böse Absicht jemand anderen verletzt haben, sind wir für die Folgen verantwortlich.
Das Denken ist immer beim Schamgefühl beteiligt, weil es nicht die Erfahrungen sind, die automatisch ein Schamgefühl auslösen, sondern die Bewertung der Reaktionen, die auf unsere Handlungen folgen. Die Scham entsteht also, indem wir wahrnehmen und interpretieren, wie unsere Mitmenschen auf das, was wir getan haben, reagieren. Bekommen wir den Eindruck, dass sich der Kontakt in irgendeiner Weise verschlechtert, so denken wir, dass wir etwas falsch gemacht haben und schämen uns. Solche negativen Reaktionen, wie Verletzungen, Enttäuschungen, Verärgerungen usw., die wir bei anderen wahrnehmen, werfen uns auf uns selber zurück: Sind wir die Ursache der Verstimmung? Tragen wir die Verantwortung? Beständig interpretieren wir unser eigenes Verhalten in Hinblick auf die Erwartungen der anderen. Enttäuschen wir diese Erwartungen, so fühlen wir uns schuldig und schämen uns. In einem Spruch heißt es: Die Erwartungen von anderen sind die Gitterstäbe, aus denen ich mein eigenes Gefängnis gebaut habe.
Häufig sind es aber ganz einfach Gedankenketten, die uns bis in die Schamgefühle hineinführen. Es ist dann nicht eine Erfahrung, die Scham auslöst, es ist deren Interpretation und Extrapolation, die unser Denken vornimmt, angeleitet durch alte Erfahrungen, die im Unterbewusstsein gespeichert sind. Scham entsteht al-so in diesen oft vorkommenden Fällen aus einer kognitiven Vorwegnahme möglicher sozialer Folgen, z.B.: Wenn ich diese Redewendung verwende, wird sich mein Gegenüber ärgern, also lasse ich sie, um mir das Schamgefühl zu ersparen.
Auch wenn die Anlässe für die Scham so vielgestaltig sind wie die Inhalte des menschlichen Lebens, hat jeder Mensch eigene Auslöser, die ihn von den anderen unterscheiden. Der eine schämt sich wegen der Brille, die er tragen muss, die andere findet sich chic damit. Die eine schämt sich, weil sie die Prüfung nicht gut genug geschafft hat, der andere pfeift sich deshalb nichts.
Ein schiefer Blick, eine abwehrende Geste, ein mürrisches Grummeln, schon kann sich die Scham melden: Was stimmt nicht mit mir? Habe ich einen Fehltritt begangen? Ist etwas falsch an mir? Erst recht eine abfällige Bemerkung, eine ver-ächtliche Kritik, eine Beschimpfung führen neben anderen Gefühlen, die auftauchen, unweigerlich zunächst einmal zu einem Schamgefühl. Die weiteren Emotio-Seite 18
nen wie z.B. die Verletzung, die Empörung und die Wut folgen auf die Scham und bewirken, dass das unangenehme Gefühl in den Hintergrund gedrängt wird.
Manchmal kommen Menschen miteinander übers Kreuz, weil sie die Scham des anderen nicht verstehen und sogar abwerten: „Wie kannst du dich nur wegen so einer Kleinigkeit schämen? Das käme mir nie in den Sinn.“ Versteckt besagt die Botschaft: „Du bist nicht in Ordnung, weil du dich schämst, du solltest dich schämen, dass du dich für so etwas schämst.“ Wohl ist es die Scheu vor den eigenen Schamgefühlen, aus der heraus die Schamquellen der Mitmenschen abgewertet werden. Wir machen uns gerne weis, dass wir über der Scham stehen, weil sie sich so derart ungut anfühlt. Die Angst vor der eigenen Scham zaubert sie allerdings nicht weg, sondern verstärkt sie nur auf einer unterschwelligen Ebene.
Schamgefühle sind immer Beziehungsgefühle. Sie beziehen sich einmal auf uns selbst (auf das eigene Denken, Tun oder Nichttun) und dann auf andere Menschen (auf die von unseren Handlungen betroffenen Personen). Sie haben mit der Selbstbeziehung zu tun und mit Beziehungen zu anderen Personen.
Was ist damit gemeint? Es gibt Schamanlässe, die mit anderen Personen zu tun haben: Anton hat vergessen, den Müll runterzutragen, obwohl er das versprochen hat. Die anderen haben sich darauf verlassen und ärgern sich über den Müll, der aus dem Kübel quillt. Als er daran mit kritischer Abwertung von einer Mitbewoh-nerin erinnert wird, schämt er sich.
Andere Schamanlässe haben mit uns selbst zu tun: Klara schämt sich, weil sie ihr Idealgewicht nicht halten kann und wieder einer süßen Versuchung nachgegeben hat, die sie mit einem Blick auf die Waage bereut. Sie hätte gerne ein anderes Körpergefühl und macht sich Vorwürfe, dass sie ihre Vorsätze nicht einhalten konnte.
Natürlich sind die beiden Aspekte eng miteinander verknüpft. Fühlen wir uns vor jemand anderem beschämt, so fühlen wir uns auch vor uns selbst beschämt und umgekehrt. Wir haben den Erwartungen der anderen an uns nicht entsprochen und auch nicht denen, die wir uns selbst gegenüber hegen. Anton ist mit sich selbst nicht zufrieden, weil er ein Versprechen nicht eingehalten hat und gerne jemand wäre, auf den man sich verlassen kann.
Es gibt andererseits auch keine rein private Scham. Schamthemen, die wir in uns tragen und mit uns selbst austragen, sind immer auch, zumindest in der Fantasie auf andere Menschen bezogen. Klara denkt nicht nur an sich, wenn sie auf die Waage schaut, sondern auch daran, was die anderen über sie denken, wenn sie ihre überzähligen Kilos sehen.
Ein Alltags-Gefühlszyklus
Erste Alltagssituation: Nähe mit Fremden
Wir erleben eine kleine Unbehaglichkeit, in der eine Bedrohung steckt: Jemand rückt uns in der U-Bahn zu nahe, und wir fühlen uns bedrängt. Es entsteht eine Verärgerung und eine – möglicherweise kaum spürbare – Aggression auf diese unverschämte Person. Mit dem Wutgefühl und dem Werturteil wollen wir uns vor der Gefahr schützen, die durch die Grenzüberschreitung passiert. Zugleich gibt Seite 19
uns das aggressive Gefühl Kraft, die wir innerlich in ein Machtgefühl ummünzen, sodass wir uns der Person gegenüber überlegen fühlen. Diese moralische Überhe-bung kann sich auch darin äußern, dass wir uns wünschen, die andere Person möge sich schämen für ihre Respektslosigkeit. Zusätzlich kann sich hier vielleicht auch noch eine kognitive Komponente mit einer Abwertung einmischen: Wir sind besser als diese Mitmenschen, wir waren ja nicht so unachtsam wie sie. Wir haben das Recht, sie zu beurteilen und ihr eine negative Bewertung umzuhängen.
Damit verfügen wir über eine Rechtfertigung für unseren Zorn.
An diesem Punkt kann die Eskalationsspirale weitergehen, indem sich die innere Spannung steigert und die Wutgefühle stärker werden. Das Machtgefühl kann dann beginnen, einem Ohnmachtsgefühl zu weichen: Wir sind besser als die andere Person, können aber nichts mit diesem Vorrang anfangen, weil wir in der engen Umgebung keinen Streit anzetteln wollen. Wir müssen also unsere Wut zügeln und kämpfen innerlich gegen sie an.
Die Situation kann aber auch in eine andere Richtung kippen, indem sich das Schamgefühl meldet, das auf die Wut und die Abwertung folgt: Wer sind wir, uns so aufzuregen und anderen Menschen eine Respektlosigkeit zu unterstellen, bloß weil sie sich nicht so verhalten, wie wir es gerne hätten? Wer sind wir, uns überlegen zu fühlen? Welches Recht haben wir auf diese Überheblichkeit und Arroganz?
Die Scham führt uns heraus aus der Fixierung auf aggressive Gefühle und Machtallüren. Sie weist uns hin auf unsere Abhängigkeit von sozialer Sicherheit, die wir mit den anderen Gefühlen, die aufgetreten sind, riskieren. Die Schamerfahrung bringt uns zurück auf die Ebene der Gleichrangigkeit mit unseren Mitmenschen und hilft uns, sie nicht als Feinde und bedrohliche Gegner zu sehen, sodass wir ihnen wieder auf Augenhöhe begegnen können.
In diesem Gefühlszyklus bewegt sich die innere Erfahrung von einer Einschätzung der Realität als individuelle Bedrohung, also als von der Gefährdung unseres körperlichen Überlebens hin zur Bedrohung unserer sozialen Stellung durch die Gefühle, die wir bei einer Überlebensbedrohung aktivieren und mit denen wir uns von anderen Menschen distanzieren. Wir wechseln dabei von der Angstorientierung zur Schamorientierung.
Wenn es uns gelingt, die Scham zuzulassen und ernst zu nehmen, finden wir einen Weg aus der Anspannung zur Entspannung. Wir können unsere Aggression zurückregulieren. Die Scham schwindet, sobald wir von der Arroganzhaltung Abschied genommen haben. Wir haben wieder den Platz eingenommen, der uns zugemessen ist und den uns niemand streitig machen kann. Wir können Frieden schließen mit dem, was gerade ist, und der Gefühlszyklus schließt sich ab.
Finden wir nicht den Weg zur Scham, so bleibt die Wut in uns stecken und wird mit der Zeit zu einer chronischen Anspannung. Ohne die Sensibilisierung für die Bedeutung des Schamgefühls bleiben wir aufgeladen, und die Wut wird bei der erstbesten Gelegenheit nach außen explodieren oder sich nach innen, gegen uns selbst richten. Wir sehen an diesem Alltagsbeispiel, welch wichtige Rolle die Scham spielt und wie viel es zu unserem inneren Gleichgewicht beträgt, wenn wir uns diese Rolle bewusst machen. Wenn wir diesen Schritt verabsäumen, weil wir Seite 20
gelernt haben, die Scham wegzudrücken oder abzuwehren, zahlen wir einen nicht geringen Preis, im Innen wie im Außen.
Zweite Alltagssituation: Augenkontakt
Wenn jemand den Raum betritt, schauen wir sofort, wer das ist. Das ist z.B. der Fall im Wartezimmer einer Ärztin oder in einem Zugsabteil. Wir wollen schnell überprüfen, ob wir uns sicher fühlen können und ob uns die Person sympathisch ist oder ob von ihr eine Verunsicherung ausgehen könnte. Es ist kulturell ziemlich exakt geregelt, wie lange ein derartiger Augenkontakt dauern sollte. Ganz kurz aufzuschauen und sich dann wieder abwenden, ist die Regel und führt zu keinen Problemen.
Doch wenn der Augenkontakt zu lange ausfällt, wird die Situation komplexer. Das Signal besagt, dass da mehr Interesse da ist als ein kurzes Abchecken und eine momentane Sicherheitsüberprüfung. Dieses vermehrte Interesse kann als Übergriff und Grenzüberschreitung empfunden werden und in diesem Fall auf beiden Seiten Beschämung auslösen. Allzu langer Blickkontakt kann als Frechheit, als Unverschämtheit aufgefasst werden – er kann auch keck und spöttisch gemeint sein, also als Versuch einer Machtausübung. Aber das weiß nur die Person, die diesen Akt setzt. Möglicherweise schwingt ein erotisches Interesse mit. Es sind noch viele andere Spielarten denkbar. Bei der angeschauten Person entstehen Unklarheit und Ungewissheit. Sie muss ihrerseits den Augenkontakt halten, um zu merken, ob sie noch angeschaut wird oder nicht, und um zu erkennen, was das Anschauen bedeuten könnte. Außerdem soll das Standhalten im Augenkontakt den Machtanspruch ausgleichen und Selbstsicherheit signalisieren.
Eine andere Möglichkeit zur Wahrung der eigenen Grenzen besteht darin, den Blick zu ignorieren und ihn nicht wichtig zu nehmen. Die Aufmerksamkeit geht dann wieder nach innen, um sich selber zu spüren und alles, was einen stört, im Außen belassen werden. Dann kann im Inneren wieder Frieden einkehren.
Jedenfalls zeigt dieses Alltagsbeispiel, wie fein die Abstimmung zwischen dem Inneren und dem Äußeren bei sozialen Kontakten in jedem Moment erfolgt und welche Rolle die Scham dabei spielt. Es geht bei dieser Interaktion um winzige Zeiteinheiten, innerhalb derer die nonverbale Abstimmung zwischen zwei Personen erfolgt, die sich zufällig begegnen. In all diesen Nuancen regeln wir den Austausch untereinander und achten in der Regel darauf, einander nicht zu verletzen oder zu beschämen.
Scham über das Zukünftige
Die Scham befällt uns oft, wenn uns vergangene Erlebnisse einfallen. Doch auch die Aussicht auf die Zukunft kann mit schamhaften Gefühlen verbunden sein, vor allem dann, wenn wir uns zukünftige Situationen vorstellen und mit peinlichen Erfahrungen aus der Vergangenheit verknüpfen. Wir denken an eine Prüfung, die in nächster Zeit absolviert werden sollte, und es fällt uns eine frühere Prüfung ein, bei der wir uns blamiert haben. Nicht selten führen solche Assoziationen dazu, die zukünftige Herausforderung hinauszuschieben oder zu vermeiden. Wir wollen uns eine neuerliche Beschämung ersparen und verzichten auf die Möglichkeit, diesmal Seite 21
besser abzuschneiden und damit die alte Verwundung in unserem Selbst auszubügeln. Es fehlt uns der Mut, um diese Hürde zu überwinden.
Unsere Einstellung zur Zukunft insgesamt hängt damit zusammen, wie stark die Seele mit Schamlasten beladen ist. Bei manchen Menschen war die Kindheit durchzogen von einer Kette von Beschämungserfahrungen, die Schritt für Schritt das Vertrauen ins Leben und dadurch auch das Vertrauen in die Zukunft unterminiert haben. Wenn Tag für Tag die Angst gelauert hat, wieder abgewertet zu werden, verfestigt sich die Erwartung, dass es in der Zukunft jederzeit zu neuen Schamverletzungen kommen kann. Diese negative Erwartungshaltung verdunkelt den gesamten Blick auf das Kommende und führt zur Ausbildung einer pessimisti-schen Einstellung, oft verbunden mit Resignation oder Zynismus.
Fallbeispiel:
Herr S. litt unter einem strengen Vater und einer überfürsorglichen und häufig depressiven Mutter. Obwohl er vielseitig interessiert ist und verschiedene Ausbildungen absolviert hat, gelingt es ihm nicht, nach einer Übersiedelung an die früheren beruflichen Erfolge anzuknüpfen. Als er merkt, dass alles nicht so leicht geht, wie er es gewohnt war, reagiert er mit Enttäuschung und Rückzug. Er weiß, dass er Angebote ausschicken und neue Geschäftskontakte knüpfen sollte, und nimmt sich das jeden Tag vor.
Doch beginnt er den Tag mit dem Konsum von Videos auf dem Computer, und ehe er sich versieht, ist es schon Mittag, ohne dass er überhaupt nur mit dem begonnen hätte, was er eigentlich tun wollte.
In der Therapie erkennt er, dass seine Unfähigkeit, seinem Willen zu folgen, eine Rache an seinen Eltern darstellt, die ihn nie für eigene Ideen und Initia-tiven anerkannt, sondern oft belächelt und abgewertet haben. Unbewusst wollte er ihnen signalisieren, dass er nichts aus seinem Leben machen könne, weil er in seiner Kindheit beschämt wurde. Ihre „guten“ Absichten, die sie immer als Rechtfertigung präsentiert hatten, sind misslungen.
Erst als er sich dem Schmerz und der Scham stellt, die aus dem selbstschädigenden Rachenehmen an den Eltern erwachsen sind, gewinnt er langsam sein Selbst zurück und kann sich mehr und mehr seinen Aufgaben im Leben widmen.
Die vorweggenommene Selbstbeschämung
Eine Strategie, um belastende und unangenehme Schamerfahrungen zu vermeiden, besteht darin, die Beschämung vorwegzunehmen und auf sich selbst anzuwenden. „Ach, was bin ich doch für ein Esel, schon wieder habe ich mein Hemd bekleckert.“ Statt von den Mitmenschen abgewertet und beschämt zu werden, komme ich ihnen zuvor und stelle mich selber bloß. Die anderen sollen dazu motiviert werden, Verständnis zu geben und Trost zu spenden. Sie können sich die Kritik an mir sparen, weil ich sie schon auf mich angewendet habe. Damit umgehe ich die Gefahr einer Demütigung.
Lieber quäle ich mich selbst, als dass mir andere Vorwürfe machen und mich abwerten, das ist die Devise bei dieser Einstellung. Sie kann allerdings zur verinner-Seite 22
lichten Gewohnheit werden, die bei jedem Missgeschick aktiviert wird und dabei jedes Mal den Selbstwert ein wenig mehr untergräbt. Selbstabwertungen tun uns weniger weh als Fremdabwertung, dennoch nagen sie an unserem Selbstgefühl.
Steter Tropfen höhlt den Stein, bis am Ende unser Selbst möglicherweise so stark geschwächt ist, dass sich eine Depression ausgeformt. Selbstzweifel und Selbstkritik drücken die Stimmung, und das damit verbundene Kreisdenken drückt die Stimmung noch weiter hinunter.
Die überkritische Haltung sich selbst gegenüber entsteht vor allem dort, wo Kinder mit hohen Leistungsansprüchen ihrer Eltern konfrontiert werden. Sie sollen besonders gut beim Sauberwerden oder beim Erlernen der Sprache oder bei handwerklichen Fähigkeiten sein. Wenn sie Mängel aufweisen, zu langsam sind oder kein Interesse zeigen, werden sie getadelt oder auf eine andere Weise abgelehnt. Es wird von ihnen erwartet, dass sie in der Schule gut abschneiden, und auch in ihren Hobbys sollen sie herausstechen und andere Kinder übertreffen. Sie merken, dass sie besser werden müssen, als sie sind, um akzeptiert und geliebt zu werden. Also verinnerlichen sie diese Norm und strengen sich an. Sie sind sensibi-lisiert auf Mängel und Fehler, die sie um jeden Preis vermeiden müssen, und bemühen sich, ja nichts falsch zu machen, oder, wenn doch etwas schief geht, das Malheur zu kaschieren oder zu verstecken.
Zugleich lernen sie, sich beständig selbst zu bewerten und den Maßstab der Eltern an sich selbst anzulegen. Sie schauen immer wieder mit den kritischen Augen der Eltern auf sich selbst. Um ja sicher zu sein, der abwertenden Kritik zu entgehen, verschärfen sie diese Maßstäbe noch zusätzlich und werden schließlich die strengsten Bewerter und Kritiker ihrer selbst. Sie legen sich die Latte noch höher als sie ihnen zugemessen wird, und laden sich damit eine permanente Stressbelastung auf. Im Bestreben, jede Gelegenheit für eine Beschämung schon im Vorfeld zu verhindern, stehen sie im Bann der Schamabwehr, die ihnen beständig suggeriert, nicht gut genug zu sein und alles tun zu müssen, um jedem Bewertungsmaß-stab standzuhalten. Unterläuft ihnen ein Fehler, so beeilen sie sich, mit der Selbstanklage jeder Infragestellung von außen zuvorzukommen.
Mit dieser Prägung kommen sie oft weit im Leben und können Erfolge erzielen.
Denn in vielen Bereichen belohnt die Gesellschaft selbstkritisches und selbstabwertendes Verhalten. Doch kann es sein, dass sie dann auf eine Position in der Hierarchie gelangen, in der sie scheitern. Die andauernde Überforderung und Anspannung, die sie sich auferlegt haben, lässt sie dann womöglich auf der vor-letzten Stufe der Erfolgsleiter zusammenbrechen. Nach dem Versagen schlägt die Scham voll zu und kann eine massive Lebenskrise auslösen. Wir werden diesem Zusammenhang in Kapitel 5.1 nochmals als fantasierter Scham begegnen.
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Kapitel 2:
Die frühen Gestalten der Scham
Im Lauf unserer Entwicklung entstehen verschiedene Ausprägungen der Scham, die ich in meinem ersten Buch zu dem Thema auch als „Gestalten der Scham“
beschrieben habe. Damit ist gemeint, dass die Schamgefühle, die wir erleben, unterschiedliche Ausdrucksformen (Körperhaltungen, Geschmäcker, Gerüche, Stimmen und Blicke) enthalten. Wir spüren sie mit unterschiedlicher Intensität und Tiefe. Es gibt solche, die uns am Kern unserer Existenz erschüttern und andere, die wir schwach wahrnehmen, die aber unterschwellig dauernd wirksam sind und unser Verhalten lenken. Es gibt solche, die ganze Phasen unseres Lebens beeinflussen und andere, die kurzzeitig auftauchen und dann schnell wieder verschwinden. Und es gibt solche, die bis zur Schamkrankheit führen, also zu schweren psychischen Belastungen führen, und andere, die nur die Oberfläche unseres Selbst kratzen.
Die Menschen unterscheiden sich auch durch ihre Sensibilität für Verletzungen.
Dementsprechend haben sich besondere Schamprägungen im Lauf des Lebens, vor allem in Lauf der Kindheit, ausgebildet. In Kapitel 12 über das Enneagramm gibt es zu diesen persönlichen Schwerpunkten der Schambelastung noch mehr Perspektiven. Unsere eigene Schamgeschichte manifestiert sich in unserer individuellen Schamgestalt, in der Weise, welche Themen und Erfahrungen Scham in uns auslösen, und wie wir auf die Schamregungen in uns reagieren, also welche Formen der Schambewältigung oder Schamverdrängung wir erworben haben.
Die folgende Übersicht der Schamgestalten orientiert sich an Entwicklungsherausforderungen, die sich in jedem Menschenleben von früh an stellen. Jedes Kind muss also vorgegebene Lernschritte bewältigen, auf der körperlichen, emotionalen, mentalen und sozialen Ebene. Das Gelingen dieser Schritte hängt immer von der angemessenen Unterstützung durch die Umgebung ab. Wenn es in bestimmten Phasen Defizite gegeben hat, kann die betreffende Entwicklungsstufe nur mangelhaft bewältigt werden, und es ist unvermeidlich, dass sich Themen aus dieser Zeit im späteren Leben immer wieder melden, oft bis zur Unkenntlichkeit verkleidet und maskiert. All die Entwicklungsherausforderungen stellen auch Schritte in der Entwicklung der Schamprägungen und der Schamkompetenz dar, also in der Fähigkeit, mit beschämenden Erfahrungen umgehen zu können. Wo die Bewältigung von Entwicklungsschritten nur mangelhaft geschehen konnte, entstand eine Schamlast, die das weitere Leben beeinflusst, solange sie im Unterbewusstsein verharrt.
Es gilt der Grundsatz, dass früher erworbene Schambelastungen intensiver wirken als spätere. Auch bemerken wir, dass sich frühere Prägungen verstärkend auf später entstandene auswirken. Wer einmal mit toxischer Scham imprägniert wurde, reagiert stärker auf Schamformen, die im Zusammenhang mit späteren Entwicklungsschritten im Leben auftreten. Es gibt außerdem das Phänomen, dass Seite 24
festgefahrene Schamprägungen weitere Formen entstehen lassen, sodass sich eine Schamschicht auf die nächste ablagert. Z.B. kann die Bedürfnisscham eine Abhängigkeitsscham nach sich ziehen und dazu noch eine Loyalitätsscham bewirken. Aus solchen Zusammenhängen entstehen mehrschichtige Schampakete, die die Betroffenen durch ihr Leben tragen müssen, solange sie diese nicht be- und abarbeiten.
Beim Lesen können Sie nachspüren, welche Themen Sie besonders bewegen und betreffen. Die auf jede Erläuterung einer Schamform folgenden Fragen helfen Ihnen, mehr von Ihren persönlichen Schamgestalten zu enthüllen. Dadurch wachsen Sie in Ihrer Schambewusstheit, die, vielleicht paradoxerweise, dann zu einem wichtigen Teil Ihrer Selbstbewusstheit und Ihrer Würde wird.
Die Kategorisierung der Schamgestalten verdanke ich zum Teil den Therapeuten und Schamforschern Léon Wurmser und Mischa Hilgers. Im Vergleich zu meinem ersten Buch über die Scham habe ich einige weitere Schamgestalten hinzugefügt.
Vor allem die Aspekte der Loyalitätsscham und die späteren Schamformen sind hier erstmals dargestellt. Die weiteren, im ersten Buch ausführlich besprochenen Schamgestalten sind kürzer dargestellt und in neue Zusammenhänge eingebettet und mit zusätzlichen Aspekten versehen. Ich habe je nach der Phase der Ausprägung frühere, mittlere und spätere Schamformen unterschieden.
Die frühen Schamformen:
Existenzielle Scham (Urscham)
Bedürfnisscham
Abhängigkeitsscham
Loyalitätsscham
Autarkiescham
Die mittleren Schamformen:
Ausgeschlossenheitsscham
Intimitätsscham
Körperscham
Kompetenzscham
Idealitätsscham
Die späteren Schamformen:
Konfliktscham
Normalitätsscham
Mußescham
Freudenscham
Kreativitätsscham
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2.1 Scham, weil wir existieren
Die schlimmste und wuchtigste Scham ist jene, die mit unserer eigenen Existenzberechtigung zu tun hat. Sie entsteht unweigerlich, wenn unsere Anfänge als Menschen unter prekären Umständen stattgefunden haben. Ausschlaggebend für die Formung einer existenziellen Scham ist die Frage, ob wir als neue Lebewesen willkommen waren oder nicht, ob unser Ankommen in diesem Leben von einer klaren und verantwortungsbewussten Bejahung getragen war oder ob unsere Daseinsberechtigung mit Ablehnung, Zweifel oder Bedingungen verknüpft war.
Ein stabiles Urvertrauen und eine unerschütterliche Ursicherheit bilden die Fundamente für ein gelingendes und schöpferisches Leben. Damit in uns ein klares Ja zu uns selbst entstehen kann, brauchen wir ein klares Ja von den Menschen, die uns in dieses Leben gebracht haben, also vor allem von unseren Eltern. In manchen Fällen fehlt deren volle Zustimmung, weil sie z.B. kein Kind wollen oder weil sie unsicher sind, ob sie für das Kind ausreichend sorgen können oder wollen, oder weil das Kind nicht in die aktuellen Lebenspläne passt. Schlimmer noch sind die Auswirkungen, wenn die Umstände der Empfängnis für die Mutter wie bei einer Vergewaltigung traumatisierend waren. Dieser schwere Schock mitsamt den Schamgefühlen überträgt sich unweigerlich auf die Seele des Kindes.
Es kann in diesen Fällen gar nicht anders reagieren als mit einer tiefen Schamprägung: Es ist nicht gut, dass ich entstanden bin. Niemand wollte mich. Ich bin nicht willkommen. Die gedanklichen Schlussfolgerungen, die dann im Kind als Ausdruck der Schamgefühle entstehen, sind radikal und unerbittlich: Ich bin deshalb nichts wert, ich verdiene keine Liebe und es wäre besser, wenn ich überhaupt nicht exis-tierte.
Bert Brecht hat das „Lied von der Unzulänglichkeit“ gedichtet, mit dem Refrain, dass der Mensch für dieses Leben nicht gut genug ist. Das ist das Motto der Urscham: Die grundsätzliche Unzulänglichkeit. Das eigene Wesen existiert zwar, es könnte aber genauso gut auch nicht existieren. Jedenfalls wird es dem nicht gerecht, was die Welt fordert. Die Latte, um für dieses Leben als Wert befunden zu werden, hängt unerreichbar hoch. Die Wertlosigkeit ist besiegelt und am Grund der eigenen Existenz verankert. Auf dieser Basis kann nur ein brüchiges und flat-terhaftes Selbstgefühl entstehen, das immer im Schatten der Urscham stehen wird.
Dazu kommt, dass jede Bedingung, die in ein oberflächliches Ja hineingeflochten ist, das Vertrauen schwächt, das wir in uns selbst aufbauen können. Falls also die Eltern ihr Kind nur dann wollen, wenn es so ähnlich wird wie sie selber sind oder wenn es in ihre Fußstapfen tritt oder wenn es ein bestimmtes Geschlecht hat, prägt sich beim Kind eine Schamhaltung sich selbst gegenüber aus: Ich sollte nicht so sein, wie ich bin. Da ich aber bin, wie ich bin, und mich nicht grundlegend ändern kann, sollte ich besser nicht sein.
Das Nicht-Sein-Wollen entsteht aus dem Nicht-Sein-Sollen. Die Existenzscham ist nicht nur ein quälendes Gefühl, das sich immer wieder sabotierend in die Verwirklichung der Lebenspläne einmischt und sich drückend auf die Grundstimmung Seite 26
auswirkt. Es führt darüber hinaus nicht selten zu Selbstmordversuchen oder Selbstmorden. Die Verzweiflung, die einen Menschen plagt, der immer wieder an Suizid denken muss oder entsprechende Handlungen setzt, stammt aus der ganz früh erfahrenen Ablehnung der eigenen Existenz. Denn damals wurde, um es drastisch auszudrücken, ein Teil der Würde ermordet, und der überlebende Teil fühlt sich gedrängt und verdammt dazu, auch zu verschwinden.
Diese tiefe Verwundung der Würde heilt, indem die in ihr verborgene tiefe Scham erkannt und gespürt wird. Es ist wichtig, dass wir uns, vor allem in Hinblick auf die Urscham, bewusst machen, dass unsere Würde im tiefsten Kern unversehrt geblieben ist, auch wenn sie im Zusammenhang mit unserer Entstehung eine starke Infragestellung und Erschütterung erlitten hat. Wenn wir verstanden haben, dass es die Unzulänglichkeiten unserer Eltern waren, die unsere Anfänge erschwert und belastet haben, können wir uns Schritt für Schritt aus der Bürde der existenti-ellen Scham befreien.
Die Wurzeln der Einsamkeit
Einsamkeit und die Urscham
Wer mit einer Urscham belastet ist, fühlt sich im Leben immer wieder schnell einsam. Das Alleinesein, z.B. nach einem Besuch oder nach einer Zeit der Zweisamkeit, wird als Verlassensein erlebt, abgeschnitten von etwas, was dem eigenen Leben Sinn und Bedeutung gibt. Es gelingt in diesen Momenten nicht, sich selber als wertvoll genug zu erleben, sodass ein Zeitvertreib gefunden werden kann, der den Mangel füllt. Vielmehr bringt das Fehlen der anderen Person das Gefühl der eigenen Wertlosigkeit zum Vorschein, das hinter der Einsamkeit steckt, und das alle anderen Impulse lähmt.
Als Erwachsene wissen wir, dass wir immer Menschen um uns haben, die manchmal anwesend sind und manchmal nicht, und dass auf Phasen des Alleinseins Phasen der Zweisamkeit oder des Zusammenseins in einer Gruppe folgen. Wir wissen, dass wir uns verbunden fühlen können, auch wenn gerade niemand da ist. Wir wissen, dass wir auch zeitweilig alleine gut mit unserem Leben zurechtkommen und dass wir dafür sorgen können, jemanden zu treffen, wenn sich das Bedürfnis danach meldet.
Dennoch kann uns wider Wissen und Willen das Gefühl der Einsamkeit beschlei-chen, vor allem dann, wenn wir uns verlassen fühlen: Jemand ist nicht da, der da sein sollte. Und es erscheint ungewiss, ob er oder sie jemals wieder kommen wird.
Jemand ist gegangen, ohne Gewissheit, wieder zu kommen, und wir fallen in ein Loch der Einsamkeit. Manche erleben die Trennung von einem Liebespartner so,
„als wäre es ein Stück von mir“, das da verloren gegangen ist. Das Einsamkeitsgefühl ist besonders mächtig, wenn die Liebesbeziehung sehr innig und intensiv oder sogar symbiotisch war, oder auch dann, wenn die Illusionen auf beiden Seiten besonders stark ausgeprägt waren. Dann entfalten die projektive Identifikation, also die Investition von vielen Erwartungen in den Partner, eine starke Wirkung und narzisstische Tendenzen werden verstärkt, bei denen die Partnerin als Erweiterung des Selbst erlebt wird.
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Die Wurzeln von intensiven und überwältigenden Einsamkeitsgefühlen liegen oft in einer ursprünglichen Ablehnung der eigenen Existenz. Dazu kommen noch unter Umständen die traumatischen Erfahrungen aus einer vorgeburtlichen Zwil-lingsdramatik (Verlust eines Zwillingsgeschwisters im Mutterleib) oder aus nach-geburtlichen und frühkindlichen Verlassenheitssituationen, z.B. bei einer (längeren) Trennung des Babys von der Mutter gleich nach der Geburt.
Wir Menschen sind soziale Wesen ganz von Anfang an, weil wir auf einer genetischen Ebene wissen, dass unser Ins-Leben-Treten und unser weiteres Überleben von der Unterstützung und dem Wohlwollen von anderen Menschen abhängt.
Deshalb mobilisiert jede frühe Erfahrung, alleingelassen zu werden, existenzielle Bedrohungs- und Verzweiflungsgefühle. Wenn Eltern die Schwangerschaft und damit das werdende Leben ablehnen, lassen sie es allein mit seinem Kummer und Selbstzweifeln. Es hat das Gefühl, nicht akzeptiert, gesehen und verstanden zu werden. Also kann es nur als einsames, ungeliebtes Einzelwesen weiter existieren.
Im Unbewussten abgespeichert, werden diese urtümlichen Gefühle später wiederbelebt, wenn es zu einer Trennung kommt, die nicht verstanden und verarbeitet werden kann.
Frühe Erfahrungen von Verlassenwerden oder Ablehnung konfrontieren nicht nur mit starken Gefühlen, sondern stellen auch eine maßgebliche Kränkung des Selbstwertes dar. In den ersten Stadien der Entwicklung, in denen dieses Selbst noch sehr fragil ist, kann sich als Folge solcher Erfahrungen der Selbstbezug nur unzureichend aufbauen. Es handelt sich hier um eine Störung des primären Narzissmus. Die ursprüngliche Form der Selbstbezüglichkeit, aus der der Selbstwert erwächst, wird in Mitleidenschaft gezogen. Denn die Schlussfolgerung prägt sich ein: Ich werde verlassen, weil ich es nicht wert bin, dass jemand bei mir bleibt. Ich bin es nicht wert, geliebt zu werden. Wenn der primäre Narzissmus frustriert und beschädigt wird, entsteht als Ersatz der sekundäre Narzissmus, der eine krankhafte Form der Selbstbezüglichkeit darstellt. Narzissten sind Personen, die sich ganz grundsätzlich unverstanden und einsam fühlen. Sie müssen dauernd Kontakt und Nähe herstellen, um bestätigt und anerkannt zu werden. Sie streben nach Bewunderung, um die tieferliegenden Einsamkeitsgefühle auszugleichen und ihren Selbstwert aufzubessern. Zu diesem Thema steht noch mehr im Abschnitt 11.5.
Angst und Scham in Kombination
Was die Einsamkeit, also das Leiden am Alleinsein, zu einem quälenden Gefühl macht, ist die doppelte Aufladung durch zwei unserer mächtigsten Emotionen: Eine tiefsitzende Überlebensangst einerseits und eine intensive Scham über die Wertlosigkeit andererseits wirken unheilvoll zusammen. Es besteht die Gefahr des individuellen Todes, weil niemand da ist, der die Versorgung der Basisbedürfnisse sicherstellt, und die Gefahr des sozialen Todes, weil niemand da ist, für den die eigene Existenz wichtig und wertvoll und damit erhaltenswert ist.
Dramatische Beziehungstrennungen
Beziehungstrennungen im Erwachsenenalter werden oft so dramatisch erlebt, weil an entlegenen Orten der Seele existentiell gefährdende Erinnerungen gespeichert sind. Oft wird deshalb alles unternommen bis hin zu Gewaltakten, um der Seite 28
Drohung der Einsamkeit zu entkommen: Die andere Person darf mich auf keinen Fall verlassen, sonst gerate ich in die unabsehbare Gefahr des individuellen und des sozialen Todes. Stattdessen ziehen manche Menschen in Verwirrung und Verzweiflung den unheilvollen Schluss: Eher töte ich diese Person, als dass sie mich verlässt. Eine Pressemitteilung zu dieser Dramatik: „Die meisten der Männer, die dieses Jahr eine Frau töteten, waren gerade frisch getrennt oder befürchteten eine Trennung.“ Als Ausweg aus der existenziellen Not bietet sich für andere nur mehr der Selbstmord an, oder es entsteht eine düstere Depression. Andere wiederum wollen mit einer Flucht in Suchtkrankheiten die quälenden Gefühle und Gedanken betäuben.
Manche Paare klammern sich aneinander wie Ertrinkende, auch wenn ihre Beziehung äußerst schwierig ist und fortwährend zu wechselseitigen Verletzungen und Demütigungen führt oder von jeder Lebendigkeit entleert ist. Scheinbar ist eine aufreibende und energieraubende oder totgelaufene Beziehung noch immer besser als alleine übrig zu bleiben und die Marter der Einsamkeit erdulden zu müssen, so denken viele Leute, die in dysfunktionalen Beziehungen leben und leiden. Häufig kommt es auch vor, dass jemand einer Person nachläuft, die er/sie gerade mit Hass von sich weggedrängt hat. Kaum ist die Person weg, muss sie wieder her, weil die Einsamkeitsgefühle so massiv sind und nicht ausgehalten werden können.