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Sasha leidet unter panischer Höhenangst. Ihr Leiden ist so stark, dass sie in einem speziellen Therapiecamp Hilfe sucht. Anfangs ist die Stimmung auch super: Sie findet Freunde, und dann verliebt sie sich auch noch in den süßen Deacon. Doch bald wird ihr Glück getrübt, denn plötzlich passieren merkwürdige Dinge im Camp: Cassie, die unter Platzangst leidet, wird ohnmächtig in ihrer verschlossenen Hütte aufgefunden. Mike, der Angst vor Wasser hat, ertrinkt um ein Haar in einem kaputten Ruderboot. Was geht hier vor? Fest steht: Jemand im Camp verfolgt mörderische Absichten und verbreitet Angst und Schrecken. Aber wer steckt dahinter – und warum? Sasha kommt dem Wahnsinnigen auf die Spur - und droht ins Leere zu stürzen ...
Neuauflage des Bestsellers von Dana Kilborne – Spannung pur!
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Schau nicht nach unten
Dana Kilborne
Als Lola die Augen aufschlug, war sie von undurchdringlicher Dunkelheit umgeben. Erschrocken schnappte sie nach Luft. Wo war sie? Und wie war sie hierhergekommen? Dann hörte sie das leise Kratzen. Es klang, als würden unzählige winzige, scharfe Krallen über den Boden scharren. Sie hielt den Atem an. Ihr Herz klopfte so heftig, dass sie glaubte, es müsse jeden Moment zerspringen.
Ruckartig setzte sie sich auf und lauschte in die Dunkelheit. Da war es wieder! Und dieses Mal begleitet von einem hohen Fiepen, das Lola einen eisigen Schauer den Rücken hinunterrieseln ließ. Ein unterdrücktes Stöhnen entrang sich ihrer trockenen Kehle.
Ratten!
Kaum jemand mochte die pelzigen Kreaturen mit den bösartig dreinblickenden schwarzen Knopfaugen. Lola allerdings hatte panische Angst vor ihnen.
Gellend schrie sie auf, als etwas Borstiges ihre Finger berührte. Sie zog die Hand weg, als hätte sie sich verbrannt, und sprang auf. All ihre Sinne waren nur noch auf ein einziges Ziel gerichtet:
Flucht.
Panisch lief sie los, doch sie kam nicht weit. Sie stolperte über eine Unebenheit am Boden, geriet ins Straucheln und ruderte hilflos mit den Armen. Verhindern konnte sie ihren Sturz jedoch nicht. Als sie brutal aufschlug, zuckte ein stechender Schmerz durch ihr rechtes Handgelenk.
Sie schrie auf.
Im nächsten Augenblick schnappten scharfe Zähne nach ihrem Fuß, drangen mühelos durch den dünnen Stoff ihrer Sneakers und bohrten sich in Lolas Fleisch.
Verzweifelt strampelte sie mit den Beinen, dann hörte sie ein wütendes Quieken und einen dumpfen Laut, als der Körper der Ratte in einiger Entfernung auf den Boden prallte.
Hastig rappelte Lola sich auf. Schweiß strömte ihr in Sturzbächen von der Stirn, und sie zitterte am ganzen Leib.
Raus! Nichts wie raus hier!
Schwankend taumelte sie weiter. Irgendwann prallten ihre ausgestreckten Hände gegen eine Wand, und sie tastete sich daran entlang, bis sie auf eine Tür stieß. Grenzenlose Erleichterung durchflutete sie, doch als sie endlich den Knauf ertastete, musste sie feststellen, dass sich die Tür nicht öffnen ließ.
Sie war verschlossen.
»Hilfe!«, schrie sie, und ihre Stimme überschlug sich vor Entsetzen. »Warum hilft mir denn niemand? Ich will hier raus!«
Nichts rührte sich. Das alles war wie ein böser Traum, doch so sehr Lola sich auch anstrengte, sie konnte einfach nicht erwachen. Verzweifelt hämmerte sie gegen die Tür. Tränen strömten ihr über die Wangen.
»Hilfe!«, rief sie, wieder und wieder. »Hiilfeee!«
Erneut griff sie nach dem Knauf, doch diesmal zuckte sie mit einem heiseren Aufschrei zurück, als ihre Finger einen kleinen, pelzigen Körper ertasteten. Dann landete etwas im Rückenausschnitt ihres Shirts, und Lola kreischte auf, zuerst vor Entsetzen, dann vor Schmerz, als sich scharfe Fänge in das empfindliche Fleisch an ihrem Nacken bohrten. Von unbändigem Ekel erfüllt schlug sie mit der Hand nach der Ratte, doch es dauerte eine Weile, bis sie sie abgeschüttelte hatte.
Gleichzeitig spürte sie einen Biss in ihrer Wade, und eine weitere Ratte landete fiepend auf Lolas Kopf.
Das war zu viel für das Mädchen. Schreiend ging Lola zu Boden. Sofort wurde sie von weiteren Ratten angegriffen, die nur auf eine Gelegenheit gewartet hatten, sich gefahrlos auf sie zu stürzen.
Aus zahllosen Wunden blutend, schlug sie um sich und schrie wie am Spieß. In ihrem Kopf war kein Raum mehr für klares Denken.
Sie war erfüllt von eisigem, namenlosem Entsetzen …
»Bist du sicher, dass du das wirklich durchziehen willst?« Mrs. Logan sah ihre Tochter zweifelnd an. »Du weißt, dass du nur ein Wort zu sagen brauchst, und dein Dad und ich nehmen dich auf der Stelle wieder mit nach Hause.«
Seufzend strich Sasha sich eine lange, dunkelbraune Haarsträhne aus dem Gesicht und schob sie sich hinters Ohr. »Glaub mir, Mom, ich kann mir auch Schöneres vorstellen, aber ich weiß langsam echt nicht mehr weiter. Eines aber ist sicher: Es wird wirklich höchste Zeit, dass sich etwas ändert.«
»Aber …«
»Jetzt lass sie doch, Lillian, sie hat ja recht«, schaltete sich nun Sashas Dad ein. »Dr. Sloefeld hält es ebenfalls für eine gute Idee, und ich kann ihm ehrlich gesagt nur beipflichten. Wenn Sasha eine meiner Patientinnen wäre …«
»Aber das ist sie nicht«, protestierte Mrs. Logan. »Sie ist unsere Tochter, Herrgott!«
Mr. Logan legte seiner Frau besänftigend eine Hand auf die Schulter. »Das weiß ich doch, Darling. Ich finde einfach, wir sollten Sasha unterstützen, so weit es in unserer Macht liegt. Und wenn sie sich schon dazu in der Lage fühlt, an ihren Ängsten zu arbeiten, dann finde ich das sehr bewundernswert. Im Übrigen habe ich eine sehr hohe Meinung von Sloefeld, und …«
Sasha hörte nicht mehr hin. Diese Diskussion hatte sie schon so oft miterlebt, dass sie genau wusste, wie sie ausgehen würde. Am Ende würde ihr Vater sich durchsetzen. Allerdings war Sasha nicht sicher, ob sie darüber wirklich froh sein sollte …
Der Gedanke, sich in den nächsten Wochen in einem Camp mitten in den kanadischen Rockys therapieren zu lassen, bereitete ihr noch immer ziemliches Unbehagen. Doch sie wusste, dass es kaum einen anderen Weg gab, um die Höhenangst zu besiegen, an der sie seit dem Tod ihres Bruders – also immerhin seit zwei Jahren – litt. Aber es erschien ihr immer noch besser, für eine kurze Zeit ihren schlimmsten Ängsten ausgesetzt zu werden, als sich für den Rest ihres Lebens einschränken zu müssen. Und es war eine starke Einschränkung, wenn man, wie sie, nicht einmal auf einen niedrigen Küchenhocker steigen konnte, ohne gleich einen schlimmen Panikanfall zu bekommen.
Mr. Logan seufzte. »Das haben wir doch mindestens schon zwanzig Mal durchdiskutiert. Sasha hat selbst eingesehen, dass es das Beste für sie ist. Du solltest es ihr wirklich nicht noch schwerer machen, als es ohnehin schon für sie ist.«
»Sasha, jetzt sag du doch auch mal was!« Hilflos blickte Mrs. Logan ihre Tochter an. »Es ist schließlich deine Gesundheit, über die wir hier sprechen!«
Sasha zuckte mit den Achseln. »Sorry, Mom, aber ich zieh das jetzt durch. Glaub mir, ich bin auch nicht gerade scharf darauf, aber irgendwann muss ich mich der ganzen Sache stellen, ob ich nun will oder nicht.«
Anerkennend klopfte ihr Dad ihr auf die Schulter. »Das ist meine Tochter«, sagte er stolz. »Lilian, ich glaube, du unterschätzt Sasha. Sie ist zäh und hat einen starken Willen. Ich bin sicher, sie wird sich nicht so leicht unterkriegen lassen.«
Mrs. Logan standen Tränen in den Augen, doch sie gab sich geschlagen. Was blieb ihr auch anders übrig? Sasha hatte das Gefühl, dass ihre Mom seit Trevors Tod noch überängstlicher war als zuvor. Übelnehmen konnte sie es ihr jedoch nicht. Immerhin hatte sie durch ein tragisches Unglück bereits ihren Sohn verloren, da war es kein Wunder, dass sie auf das Wohl ihres einzigen noch verbliebenen Kindes besonders großen Wert legte.
Bei Sashas Dad sah die Sache schon wieder ein bisschen anders aus. Zwar war auch er nach Trevors Unfall in ein tiefes Loch gefallen, doch William Logan war Psychologe. Auch wenn er sich in diesem speziellen Fall natürlich nicht selbst helfen konnte, war ihm sein Wissen über die Abgründe der menschlichen Psyche doch eine große Hilfe gewesen. Er hatte keine Sekunde gezögert und seinen Kollegen Dr. Sloefeld um Rat gebeten. Dieser kümmerte sich seitdem um die psychologische Betreuung der gesamten Familie Logan.
Auch die Sache mit dem Camp war auf Sloefelds Idee gewesen. Ein Therapiezentrum für traumatisierte Jugendliche, getarnt als Ferienlager. Zuerst hatte Sasha es für einen schlechten Scherz gehalten, nach und nach war sie dann aber doch zu der Einsicht gekommen, dass es wohl tatsächlich das Beste war, wenigstens die Ferien dort zu verbringen.
Wenn sie ehrlich war, hatte sie seitdem aber mehr als einmal an ihrem Entschluss gezweifelt. Sasha war nicht dämlich, sie wusste genau, was eine solche Therapie bedeutete: Früher oder später würde man versuchen, sie mit ihren Ängsten zu konfrontieren. Und was das hieß, war klar: Wahrscheinlich würde man sie auf einen Berg steigen lassen oder sonst was in der Art. Sie war nicht sicher, ob sie wirklich schon so weit war. Doch sie musste es zumindest versuchen.
»Bis bald, Schatz«, schluchzte Mrs. Logan und umarmte ihre Tochter so fest, dass der beinahe die Luft wegblieb. »Wenn es irgendwelche Probleme gibt, rufst du uns einfach an, okay? Wir holen dich dann auf der Stelle nach Hause.«
»Alles klar, Mom. Ich melde mich bei euch, sobald ich mich hier ein bisschen eingelebt habe, in Ordnung?«
Ihre Mutter sah aus, als stünde sie kurz vor einem Zusammenbruch. Mr. Logan legte seiner Frau einen Arm um die Schultern und führte sie zurück zum Wagen. »Du kommst allein zurecht?«, fragte er seine Tochter. »Ich glaube, deine Mom braucht mich im Augenblick dringender als du.«
Sasha nickte. Allerdings fühlte sie sich schon ziemlich verlassen, als sie schließlich ihren Koffer aufnahm und langsam auf den Eingang des Camps zuging. Das Gelände war komplett umzäunt, um Eindringlinge fernzuhalten – oder um die Bewohner am Verlassen des Camps zu hindern? Fast wie in einem Gefängnis …
Sie atmete tief durch, trat durch das Tor und hielt nach einer Person Ausschau, an die sie sich wenden konnte. Doch es war nirgendwo eine Menschenseele zu erblicken.
Was jetzt?
Ein wenig hilflos blieb sie für ein paar Minuten stehen; dann zuckte sie mit den Schultern und ging einfach weiter. Plötzlich kam ein rundlicher Junge angelaufen, der einen unmöglichen, fliederfarbenen Trainingsanzug trug, in dem er aussah wie ein überdimensionales Veilchen. Schweiß lief ihm in Sturzbächen übers Gesicht, und er war völlig außer Atem.
»Sasha Logan?«, stieß er keuchend hervor. Als sie nickte, sagte er: »Sorry, ich hab total verpennt, dass du kommst. Eigentlich sollte ich hier draußen Wache schieben, aber unten im Camp gab es einen … ähm … Zwischenfall.«
»Einen Zwischenfall?« Sasha runzelte die Stirn. »Was ist denn passiert?«
»Also …« Er wirkte unschlüssig. »Na ja, das erklärt dir besser jemand anders. Ich bin hier bloß die Aushilfe. Das ist quasi mein Ferienjob, damit ich mir was dazuverdienen kann. Ich will mir nämlich einen gebrauchten Dodge kaufen, und dafür kann ich die Kohle echt gut gebrauchen. Übrigens, ich heiße Josh.«
Sasha war ein bisschen irritiert. Ihre Ankunft hier im Camp hatte sie sich ein bisschen anders vorgestellt. Und dann dieser so genannte Zwischenfall. Was da wohl passiert war?
»Was ist, kommst du?«, riss Josh sie aus ihren Gedanken.
Sasha folgte ihm. Sie waren gerade ein paar Minuten über einen unbefestigten Pfad gelaufen, als ihnen ein nervös wirkender, spindeldürrer Mann entgegenkam, der sein dünnes Haar zu einem mickrigen Zopf zusammengebunden trug.
»Das ist Mr. Davidson«, erklärte Josh. »Er ist einer der Betreuer. Na ja, eigentlich ist er Therapeut, aber sie bemühen sich hier immer krampfhaft, bloß keine Krankenhausatmosphäre aufkommen zu lassen.«
»Du musst Sasha sein.« Mr. Davidson streckte ihr die Hand entgegen. »Ich konnte mich leider nicht früher um dich kümmern. Normalerweise empfange ich jeden Neuankömmling persönlich am Tor, heute allerdings …«
Sasha nickte. »Hab schon gehört, dass etwas passiert ist. Kann ich irgendwie helfen?«
»Nein, nein, wir haben die Sache inzwischen wieder im Griff.« Er schüttelte bekümmert den Kopf. »Weißt du, irgendjemand hat sich einen gemeinen Streich mit einer unserer Campbewohnerinnen erlaubt. Lola ist noch ziemlich mitgenommen, aber sie wird drüber wegkommen. Allerdings würde ich einiges dafür geben, denjenigen zu erwischen, der dafür verantwortlich ist. Ich verstehe das überhaupt nicht. So etwas hat es hier bei uns noch nie gegeben!«
Zu gern hätte Sasha gewusst, was genau passiert war, doch Mr. Davidson schien nicht darüber zu sprechen zu wollen, und das musste sie wohl oder übel akzeptieren.
Er führte sie zu einer Hütte. »So, hier wirst du für die Dauer deines Aufenthaltes wohnen. Am besten packst du erst mal aus, ich mache dich dann später mit den anderen bekannt.« Er lächelte entschuldigend. »Du kommst doch allein zurecht? Ich glaube, Lola braucht mich jetzt nötiger als du.«
Sasha nickte seufzend. Irgendwie kam ihr dieser Spruch unheimlich bekannt vor.
»Und? Was für eine Macke hast du?«
Sasha zuckte leicht zusammen, als die Stimme hinter ihr erklang, und drehte sich um. Vor ihr stand ein hübsches rothaariges Mädchen, ein bisschen kleiner als Sasha selbst, mit strahlend blauen Augen und einem Gesicht voller Sommersprossen.
Sasha runzelte die Stirn. »Macke?«
»Hey, soviel ich weiß, kommt man hier doch nur hin, wenn man irgendeinen Knall weg hat. Also, am besten, wir machen das wie bei den Anonymen Alkoholikern: Ich heiße Kimberly, bin siebzehn Jahre alt und habe tierischen Schiss vor allen möglichen Krabbeltieren. Brr … darf nicht mal dran denken! So, jetzt ist es raus. War gar nicht mal so schlimm. Und du?«
»Also schön.« Sasha lachte. »Ich heiße Sasha Logan, bin sechzehn Jahre alt und leide unter Höhenangst.«
Sie wunderte sich selbst darüber, wie leicht ihr das über die Lippen gekommen war. Noch bis vor ein paar Minuten hätte sie nicht gedacht, mal so frei mit jemandem, den sie nicht kannte, über ihre Ängste sprechen zu können.
Ihr Blick fiel auf die Reisetasche, die auf dem zweiten Bett in der Hütte lag. »Bist du schon lange hier?«
Kimberly schüttelte den Kopf. »Meine Eltern haben mich vor ungefähr vier Stunden hier abgeliefert«, antwortete sie, nachdem sie einen Blick auf ihre Armbanduhr geworfen hatte. »Und seitdem versuche ich, mich an den Gedanken zu gewöhnen, die nächsten Wochen hier zu verbringen. Vor allem nach dem, was vorhin passiert ist … Na ja, auf jeden Fall find ich’s voll cool, dass sie uns zusammen in eine Hütte gesteckt haben.«
Kimberly strahlte, und auch Sasha musste zugeben, dass sie ganz froh über diese Regelung war. Kim schien echt in Ordnung zu sein, und zusammen würden sie sicher eine Menge Spaß in ihrer Hütte haben.
Die Hütten, das waren kleine, himmelblau gestrichene Holzhäuser. Von außen wirkte alles sehr rustikal, deshalb war Sasha überrascht gewesen, als sie die ihr zugewiesene Hütte betreten hatte. Die Einrichtung war modern, fast schon komfortabel. Es gab zwei gemütliche Betten, für jeden Bewohner einen eigenen kleinen Schrank und eine Stereoanlage. Auf einem Regalbrett fand sie sogar ein paar CDs und Bücher.
Von Kim erfuhr Sasha nun, dass es insgesamt zehn solcher Wohnhütten gab, zudem eine Vorratshütte, eine kleine Feldküche und ein Bootshaus. Neben Sasha und Kim waren zurzeit noch acht weitere Jugendliche hier, die eine Therapie machten. In den anderen Hütten wohnten die Betreuer. Da sich das Camp in den kanadischen Rockys am Ufer des Lake Louise befand, war es ziemlich einsam gelegen, um nicht zu sagen: fernab jeglicher Zivilisation.
»Na, ihr zwei, habt ihr euch schon gründlich beschnuppert?«, fragte ein pummeliger Typ, als Sasha, nachdem sie ihre Sachen verstaut hatte, gemeinsam mit Kim aus der Hütte trat. »Nur zur Info: Ich bin Martin, und wenn ihr eine Frage habt, dann fragt mich. Von allen hier bin ich schon am längsten im Camp. Morgen ist es auf den Tag genau ein halbes Jahr her, seit meine Eltern mich hier abgeladen haben.«
Sasha riss die Augen auf. »Echt? Ein halbes Jahr schon? Wahnsinn!«
»Ist ja irre«, staunte auch Kim. »Und wie läuft das bei dir mit der Schule? Gibt’s da keinen Stress?«
»Meine Eltern haben mich für die Dauer meines Aufenthalts hier beurlauben lassen. Ich werde meinen Abschluss wohl nachholen müssen.« Er seufzte. »Fragt sich nur, wann. Aber jetzt kommt erst mal mit, ich mache euch mit den anderen bekannt. Du bist Kim, richtig? Und du? Wie heißt du?«
Während er die Mädchen praktisch mit sich schleifte, stellte Sasha sich vor. »Wohin gehen wir überhaupt?«, fragte sie, nachdem sie schon eine Weile gelaufen waren.
»Um die Zeit hängen eigentlich immer alle unten am See rum.« Er zuckte mit den Schultern. »Könnte allerdings sein, dass die Stimmung heute nicht ganz so gut ist wie sonst. Na ja, nach dem, was mit Lola passiert ist …«
Ehe Sasha nachfragen konnte, hatte Kim schon wieder das Wort ergriffen. »Hast du gehört, hier gibt’s einen See. Dann können wir ja mal zusammen schwimmen gehen!«
Martin lachte. »Das würde ich an eurer Stelle ganz schnell wieder vergessen. Das Wasser des Lake Louise ist auch mitten im Hochsommer eiskalt. Aber keine Sorge, wir haben auch so am See immer jede Menge Spaß. Na ja, abgesehen von Mike natürlich …«
»Mike?«
Doch Martin ging nicht näher darauf ein, und kurz darauf war es dann auch geschafft. Sie erreichten das Ufer des Lake Louise, und Sasha stockte für einen Moment der Atem.
»Wow«, murmelte sie völlig überwältigt. »Was für ein Wahnsinnsausblick!«
Sie hatte früher mit ihren Eltern ja schon so einige Bergpanoramen zu Gesicht bekommen, aber dieses hier schlug wirklich alles. Kein Lüftchen rührte sich, die Oberfläche des Lake Louise schimmerte wie ein blank polierter Spiegel, und die schneebedeckten Gipfel der Rocky Mountains im Hintergrund schienen sich zugleich dem Himmel als auch dem Grund des Sees entgegenzustrecken. Es war einfach nur überwältigend.
Am Ufer des Sees lagen zwei Mädchen auf Badelaken und sonnten sich. Ein paar Jungs warfen sich gegenseitig einen alten Basketball zu. Einer von ihnen, ein schlaksiger Blonder, warf so miserabel, dass der andere, der mit dem Rücken zu Sasha stand, den Ball verfehlte, der jetzt geradewegs auf Sasha zugeschossen kam.
Geschickt fing sie ihn auf.
»Hey, das ist ja echt eine feine Art, Neuankömmlinge zu begrüßen«, rief sie lachend und warf den Ball zurück.
Die Jungs kamen grinsend auf sie zu. Auch die beiden Mädchen waren inzwischen auf sie aufmerksam geworden und schauten neugierig zu ihnen herüber.
»Hey, gleich zwei neue Mädchen? Cool!«, sagte der große Blonde. »Und dann auch noch so hübsche.« Er zwinkerte Kim und Sasha zu. »Wurde aber auch Zeit, dass mal wieder ein bisschen Leben in den Laden hier kommt. Ich bin übrigens Dave, und die beiden Pfeifen hier heißen Deacon und Kyle. Und ihr seid?«
Für einen Moment war Sasha nicht in der Lage zu antworten. Der Anblick des Jungen, den Dave als Deacon vorgestellt hatte, ließ ihr die Knie weich werden. Er war ziemlich bleich und hatte dunkles, fast schwarzes Haar, das ihm beinahe bis auf die Schultern reichte. Doch es waren vor allem seine Augen, die Sasha gefangen nahmen. Strahlend blau waren sie, fast wie das Wasser des Lake Louise – einfach nur umwerfend.
»Wenn du ihn weiter so anstarrst, brennst du ihm noch ein Loch in den Kopf«, erklang plötzlich eine gehässige Stimme neben Sasha und riss sie zurück in die Realität. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass auch die beiden Mädchen sich zu ihnen gesellt hatten. Die eine lächelte ihnen freundlich zu, die andere aber musterte Kim und Sasha von oben herab.
»Kümmert euch nicht um Shelley«, klinkte sich nun auch Deacon in das Gespräch ein. Er lächelte, und sein Lächeln ließ Sashas Herz schneller schlagen. »Ihr werdet euch schon an ihre herzliche Art gewöhnen. Früher oder später.«
»Ach, ihr könnt mich mal«, schnappte Shelley, wirbelte herum und stolzierte hoch erhobenen Hauptes zurück zu ihrem Strandlaken.
»Eigentlich ist sie ganz in Ordnung«, sagte nun das andere Mädchen und zuckte entschuldigend mit den Schultern. Dann lächelte sie den zwei Neuen freundlich zu. »Ich bin übrigens Cassie. Cassie Winter. Dann gibt es noch Mike, den werdet ihr aber hier am Strand garantiert nicht zu sehen kriegen, und dann Lola, aber die ist im Moment … na ja …«
Sasha nickte. »Ja, ich hab schon davon gehört«, sagte sie und sah zu Shelley hinüber, die sich schon wieder in der Sonne räkelte. Was für eine Zicke, dachte sie. Aber mir soll’s egal sein, solange sie keinen unnötigen Stress macht …
»Na, was meint ihr?«, fragte Deacon und blickte erst Kim, dann Sasha an. »Lust auf eine kleine Führung durchs Camp?«
»Aber auf jeden Fall!«, antwortete Sasha wie aus der Pistole geschossen und strahlte übers ganze Gesicht. Ob es bloß Einbildung war, dass Deacon sie eine Spur länger angeschaut hatte als Kim?
»Ist schon cool hier, was?«, fragte Kim und sah Sasha an. In ihren Augen spiegelte sich das prasselnde Lagerfeuer. »Fast wie früher, im Sommerlager.«
»Schon. Aber ich find’s irgendwie auch unheimlich.«
»Unheimlich?« Kim lachte. »Im Ernst?«
»Du nicht? Ich meine, wir sind hier mitten im Nirgendwo. Wäre das Lagerfeuer nicht, würde man kaum die Hand vor Augen sehen, und dann diese ganzen fremden Geräusche. Überall knackt und knirscht es. Findest du das etwa nicht ziemlich gruselig?«
»Na, na, die beiden hübschen Ladys werden doch wohl keine Angst haben?«, erklang da eine Stimme hinter ihnen, und die zwei Mädchen fuhren herum. Es war Martin, der sich jetzt zu ihnen ans Lagerfeuer setzte.
»Na, endlich bequemt sich mal jemand zu uns«, sagte Kim. »Wo bleiben denn die anderen? Es hieß doch, dass wir uns alle hier um acht treffen.«
Martin winkte ab. »Tja, bis die Mädels hier auftauchen, kann’s noch eine Weile dauern. Die brauchen immer eine halbe Ewigkeit, um sich aufzustylen. Vor allem Shelley. Na ja, aber wir Jungs sind ehrlich gesagt auch nicht viel besser. Bis Deacon sich mal von seinem Buch aufrafft, kann auch eine ganze Weile vergehen. Wer hat denn eigentlich das Feuer angemacht?«
»Einer der Betreuer«, antwortete Sasha, die noch Probleme damit hatte, sich alle Namen zu merken. »Mr. … Dav…«
»Davidson. Gary.« Martin nickte. »Ja, der ist schon okay. Aber das sind die Betreuer hier eigentlich alle. Nicht so wie damals.«
»Damals?« Sasha wurde hellhörig. »Was soll das denn jetzt heißen?«
Er schüttelte den Kopf. »Ach, lassen wir das. Glaubt mir, ihr wollt das gar nicht wissen. Ist eine üble Geschichte.«
»Jetzt mach mal nicht so eine Welle!«, stieß Kim hervor. »Los, erzähl schon!«
Sasha verzog das Gesicht. Sie war sich gar nicht so sicher, ob sie diese Geschichte wirklich hören wollte.
Martin hob die Schultern. »Na ja, wenn ihr unbedingt wollt … Also, es ist jetzt über fünfzig Jahre her. Damals gab es das Camp noch nicht. Dort, wo jetzt die Hütten sind, stand ein großes Gebäude. Dr. Lovegoods Asylum for Sicknesses of the Mind nannte sich das Teil. Ziemlich schräger Name für eine Klapsmühle, was?«
»Hier gab’s mal eine Irrenanstalt?« Kim lachte. »Komm schon, jetzt willst du uns verarschen!«
»Keineswegs. Das war eine Anstalt für Jugendliche, die halt nicht ganz normal waren. Ein bisschen durchgeknallt eben.« Er grinste. »So wie wir.«
»Und was war mit den Betreuern?«
»Hm, das Pflegepersonal. Also das müssen echt üble Typen gewesen sein. Die haben die Jugendlichen mies behandelt und sie überhaupt nicht ernst genommen. Vor allem haben sie keinem die Sache mit dem Mann mit der Scherenhand geglaubt.«
»Dem – was?« Sasha starrte Martin ungläubig an, dann brach sie in schallendes Gelächter aus. »Du willst uns jetzt nicht im Ernst die Story von Edward mit den Scherenhänden erzählen, oder? Sorry, aber Johnny Depp fand ich in der Rolle irgendwie passender als dich.