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Eine göttliche Stimme aus der tiefgrünen See. Ein blaues Segel in einem Traum. Und der Aufbruch zu einer Reise, von der es kein Zurück mehr gibt ... Seit sieben Jahren baut die Einzelgängerin Eyvor ein Drachenboot in einem Fjord. Als sich immer mehr Außenseiterinnen um sie scharen, wird sie unerwartet zur Kapitänin eines Schiffes, das eigentlich niemals in See stechen sollte. Die Letzte, die sich ihr anschließt, ist Herdis, das Krähenkind: Verfolgt von Berserkern zwingt sie die Gruppe zum Aufbruch. Es beginnt ein tödliches Wettrennen vom skandinavischen Festland bis ins Land der Eisriesen hinein, an dessen Ende nichts Geringeres droht als Ragnarök, das Weltenende selbst. Mystisch, mitreißend und abenteuerlich: eine moderne Neuinterpretation nordischer Sagen. ***»Schildmaid. Das Lied der Skaldin« ist ein Einzelband.***
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Cover & Impressum
Widmung
Anfang einer Saga
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Norþvegs Gestade
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Dinekessaga
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Das versunkene Land
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Anglia
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Wettfahrt nach Orkneyjar
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Orkneyjar
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Færeyjar
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Landnahme
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79
Ende einer Saga
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Dank
Nachwort
Anhang
Glossar
Hinweise zur Aussprache
Tags zum Inhalt
Inhaltshinweise
Inhaltswarnungen
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für Heike und Jamie und die beiden Orakel
Vergiss, was du weißt.
Diese Saga kommt aus einer Zeit, in der Menschen nur geringen Anteil an dieser Welt hatten. Es war das Unsterbliche, das die Welt beherrschte und gestaltete. Das Monströse, das sie zermalmen würde.
Wenn die Welt ungeheuerlich ist, dann werden es auch deine Gedanken. Deine Träume. Dann weißt du nicht, ob die Monster draußen im eisigen Wind lauern oder ob du sie in deinem Herzen mit hereingebracht hast.
Es wird die Zeit kommen, in der du ihnen in die Augen blicken musst.
Dies ist die Saga von Eyvor Unträumbar, Tochter der Ássá und des Béga. Ássá und Béga waren Kinder eines umherziehenden Stammes aus Sápmi gewesen, von den Eisküsten des Nordens. Ássá und Béga hatten ihrer Tochter niemals gesagt, warum sie sich in der Fremde niedergelassen hatten, denn Ränke und Scham darüber waren im Spiel. Zunächst hatten sie mit Pelzen und Leder gehandelt, doch mit ihren flinken Händen und scharfen Augen brachte es Ássá als Weberin zu einigem Ruhm. Sie lehrte Eyvor das Weben.
Der Schiffsbauer Orm, der Holz-Orm genannt wurde – aus mehr als einem Grund –, heiratete Eyvor und zahlte ihrer Herkunft zum Trotz einen stattlichen Preis aus vielen breiten Armreifen, denn er brauchte ihre Kenntnisse für die Herstellung seiner Segel.
Eyvor und ihre Mutter und ihre Schwestern woben Segel für Holz-Orms Schiffe.
Sie brauchten dafür ebenso lange wie seine Männer brauchten, um die Schiffe zu fertigen, und auf den Reisen an den Küsten entlang nach Westen und nach Osten kam dem Segel ebenso viel Wert zu wie den Planken.
Holz-Orm selbst brach eines Tages ins Land Garðaríki auf, das im Osten liegt, denn dort fließen Flüsse nach Süden in fremde Meere zu neuen Reichen und Reichtümern. Er reiste mit fünf fertigen Segeln zu den Rus, einer gewaltigen, kostbaren Last, doch er starb auf dem Weg oder kam auf andere Weise abhanden, und niemand weiß, was mit seinen Segeln geschah.
Eyvor blieb zurück und trauerte nicht um Holz-Orm. Sie sagte zu einer ihrer Schwestern an dem Tag, an dem diese selbst heiraten sollte: »Ich bin heute Morgen aufgewacht und hatte vergessen, dass ich verheiratet war.«
Eine Weile webte sie weiter in Holz-Orms Webhaus mit ihrer Mutter, ihrer jüngsten Schwester und den Freigelassenen seines Haushalts. Eyvor verkaufte Tuch, lebte gut davon und von allem, was Holz-Orm, den Eyvor so rasch fortgeträumt hatte, ihr hinterlassen hatte.
Kurz nachdem die jüngste Schwester auf einen anderen Hof geheiratet hatte, starben Ássá und Béga an einem kalten Sturm, der aus dem Norden gekommen war, und an der Krankheit, die er mitgebracht hatte. Man munkelt, so habe ihr Stamm sie sich zurückgeholt.
Der Fluch aus Sápmi streckte auch nach Eyvor die Finger aus und sie wachte fieberkrank aus einem Traum voller Schnee auf. Mit feuchtem Husten in der Kehle schleppte sie sich zum Fjord, in dessen Schutz einst Holz-Orms Schiffe zusammengefügt worden waren.
Kein Schiff lag hier. Eyvor war allein. Doch in ihrem Traum hatte sie durch den Schnee hindurch ein Drachenboot mit blauem Segel gesehen.
Andere würden das Schiff einen unträumbaren Traum nennen.
Aber Träume reichen tief, und niemand weiß genau, welche davon wahrhaft unträumbar sind und welche Teil unseres Urðr, des Schicksals. Die Stimme in Eyvors Traum war aus der tiefgrünen Tiefe gekommen, ebenso wie eine Hand, auf der es von Seegras, Seepocken, Muscheln und kleinen Krebsen wimmelte. Diese Hand, die Hand der Meeresgöttin Rán, hatte Eyvor beschirmt und ihr das Drachenboot gezeigt.
Göttinnen sind Hüterinnen unträumbarer Träume. Welche Geschenke könnten mächtiger sein als etwas, das nicht nur unmöglich ist, sondern auch noch unträumbar? Rán begehrte solch ein Geschenk. Wenn Eyvor es ihr geben wollte, musste sie es erst erschaffen.
Eyvor musste gesund werden, um Rán ein Schiff zu bauen.
Dort, wo der Fjord breiter und seine Klippen niedriger wurden, lag ein Wald. Orm und seine Arbeiter hatten an diesem Ort das Holz für die Schiffe ausgewählt und es gab dort eine Hütte. In diese Hütte ging Eyvor und dort begann sie mit dem Bau ihres Drachenboots. Das Fieber und der Husten wichen aus Respekt vor dem Traum und der ihn hütenden Göttin.
Eyvor arbeitete allein an einem Ort, der nicht für sie bestimmt war. Das Unträumbare träumen ist schwer genug, doch es als Sámi zu träumen, es als Frau zu träumen in einem Land der Nordmänner, das ist schwerer, als die passenden Stämme zu finden, sie zu fällen, sie zu spalten, das Holz auf die richtige Weise zu trocknen, zu krümmen, zu ölen.
Hin und wieder ging sie zur Küste, um Rán zu sagen, dass sie aufgab. Dass der Schnee wiederkommen solle, um sie zu verschlingen. Alles sei besser, als noch einen Stamm zu spalten. Noch einen Fehler zu machen. Noch einmal mit der Leere des Scheiterns einzuschlafen.
Doch Rán schwieg, wie es die Art der Göttinnen ist. Die Nornen jedoch spinnen jedes Menschen Schicksal als Faden und verweben ihn mit anderen Fäden zu einem Tuch. Der erste Faden, den sie an den von Eyvor knüpften, war der von Wortriff-Tinna, einer Skaldin, obwohl es keine Skaldinnen gab. Ein weiterer Faden war von Störr-Skade, halbwild, mit einem Hauspeer in der einen Hand und ihren Kindern an der anderen. Ein weiterer Faden gehörte der Seherin, Herdis Kráka, dem Krähenkind. Wäre sie nicht gekommen, wäre Eyvors Schiff geblieben, wofür es alle hielten: ein unträumbarer Traum.
Eyvor nannte ihr Schiff Skjaldmær, Schildmaid.
Während Eyvor zum ersten Mal Bäume gefällt hatte, um sie in Wuchsrichtung zu spalten, hatte Tinna das Recht erworben, sich Skalde zu nennen.
Ihr Lehrmeister hatte ihr alles beigebracht, was er wusste, die Kunst der Drápa, der epischen Gedichte, und die Kunst der kürzeren Flokk, sogar, wie man die Níðs, die Schmähgedichte, führt wie einen Speer, der ins Herz eines gerüsteten Anführers fährt, ohne die Rüstung zu beschädigen. Tinna beherrschte die Kenningr, die Wörter, die ein anderes Wort meinen, und den Stabreim. Tinna kannte die Asen und die Vanen, die Geschlechter der Riesen und der anderen Ungesehenen, für die die Menschen Spielfiguren sind in ihrem Schicksalsspiel. Sie kannte ihre Geschichten und Óðinns zweihundert Namen. Tinna kannte Runen, nicht, wie eine Zauberin sie kennt, sondern sie kannte die Bilder der Runen und die dahinter verborgenen Bilder und die verborgenen Bilder wiederum dahinter.
Tinna war auf der Jagd nach einer Rune.
Es war eine Jagd ohne Waffen, eine Spurensuche, an deren Ende ein Ringen mit einem Geist stand.
Von dieser Rune flüsterte nur, wer sicher war, dass andere das Geheimnis bewahren würden. Tinna hatte sich als vertrauenswürdig erwiesen, die richtigen Fragen gestellt und im rechten Moment geschwiegen. Geduld und Hartnäckigkeit hatten sie auf die Fährte eines Mannes namens Hervard geführt. Die Spur führte zu seinem Grab.
Zu dieser Zeit hatte Eyvor gelernt, Stämme zu gleichmäßigen Planken zu spalten, und sie hatte einen langen Eichenstamm als Kiel ausgewählt und würde noch ein ganzes Jahr beobachten, wie der Baum den Stürmen trotzte, und entscheiden, welche seiner Äste später Bodenwrangen ergäben. Mal sprach sie ihm geduldig zu, an anderen Tagen verfluchte sie ihn.
Am Tag des großen Sturms, der die Eiche fällte, kam Tinna an Hervards Grab an. Viele Männer hatten schon danach gesucht, weil sie es auf Schätze und Schwerter abgesehen hatten, und so gönnte sich Hervard keine Ruhe im Tod. Der Hof in der Nähe war verlassen, denn erwachte Tote sind boshaft und wütend. Erst treiben sie das Vieh in den Irrsinn, dann dringen sie in die Träume der Menschen ein. Entweder, man sammelt seinen Mut und tritt ihnen entgegen, oder man sucht sich einen neuen Hof.
Tinna stand vor dem geöffneten Grabhügel. Auf der Schwelle hockte Hervard. Boshaft, in sich zusammengesunken starrte er mit gelben Augen in den Sturm.
Tinna verbeugte sich vor Hervard. »Ganz schön schlechtes Wetter, Bruder. Ich könnte wohl einen Ort zum Unterstellen gebrauchen.«
»Hast du mal auf dem Hof geschaut, Schwester?«
»Da spukt’s«, sagte Tinna.
Hervard meckerte ein trockenes Lachen und ließ sie eintreten.
Gemeinsam saßen sie in der niedrigen Kammer und das Licht der Blitze fing sich in Hervards Schwertern und Schätzen. Tinna ließ sich zu keinem einzigen Blick hinreißen.
»Nicht nur der Regen hat dich hergeführt, aber du hast weder Blick noch Hand nach meinen Schätzen ausgestreckt«, stellte Hervard nach sieben Blitzen fest.
»Du hast mich Schwester genannt, dann weißt du, was mich herführt.«
Hervards gelber Blick drang Tinna bis unter die Haut. Er entblößte algenbefallene Zähne – ein Lächeln. »Du hast von Peorþ gehört.«
Sie nickte.
»Sag es, es ist zu dunkel, um dich zu sehen!«
»Ich suche die Tiefe von Peorþ, die allen verborgen ist. Aber man sagt, du bist hinabgestiegen.«
»Das bin ich. Ich kann sie dir zeigen. Eine Sturmesnacht ist wie dafür gemacht.« Damit stand der alte Leichnam auf und griff nach einem seiner Schwerter. »Nimm das andere!«
Tinna witterte eine Falle. Er würde ihr die Finger abschlagen, wenn sie nach seinem Schwert griff. »Ich habe ein Sax«, sagte sie.
Hervard der Draugr lachte erneut wie ein Ziegenbock. »Damit ist es schwerer. Leichter ist es mit meinem, denn es kennt Peorþs Linien schon.«
»Schwer bin ich gewohnt.«
Er nickte und schnitt seinen verfaulten Brustkorb auf. Das Leuchten seines alten Geistes schien heraus. »Zuerst musst du dein Herz rausholen.«
»Ich bin nicht tot wie du, ich werde daran sterben.«
»Nicht in meinem Grabhügel. Hier bin ich der Herr über den Tod.«
Tinna sammelte zwei Atemzüge lang ihren Mut, dann hob sie ihr Sax zur Brust und schnitt tief. Ihr eigenes Herz leuchtete wie eine eingesperrte Sonne. Es war ein seltsamer Schmerz, heiß und tief, als sie ihr Herz freiließ.
Sie rang nach Luft, doch es gab nur das Glühen der Sonne.
Hervard nahm sein Herz und zeigte es ihr. Auf dem pulsierenden Gelb war die Rune glutrot. »Du musst sie in dein Herz schneiden, dann vereint sie Hamr und Hugr – deine Form wird, was dein Geist wünscht. Das ist das Geheimnis.«
Tinna griff unter ihre Rippen und holte ihr Herz vorsichtig heraus. Es war, als hielte sie ihre Hand ganz nah an glühende Kohlen. Sie umklammerte das Sax mit aller Kraft, Hervard nickte ihr zu. Sein rostiger Kettenpanzer rasselte. Sie setzte die Spitze des Messers an.
»Die Magie dieser Rune auf deinem Herz wird deine Form nach deinen Wünschen wandeln. Anderen, die dich zu kennen glauben, wird sichtbar werden, wer du bist«, flüsterte Hervard eine letzte Warnung. »Sie werden das nicht mögen. Sie haben Worte und Strafen dafür.«
Doch Tinna schnitt, als hätte sie ihn gar nicht gehört, und rot blühte Peorþ auf ihrem Herzen auf.
Ein Blitz besiegelte es, und sie wusste später nicht mehr, wie sie ihr Herz wieder unter die Rippen geschoben, wie sie die Wunde geschlossen hatte. Als sie zu sich kam, lag sie mit der kurzen Klinge des Sax über der Brust auf Hervards Grab. Sie nahm ihren Schwertgurt ab und legte das Schwert ihres Vaters neben die Schwerter Hervards. Sie verbeugte sich auf der Schwelle und trat hinaus in den Regen.
Als Eyvor sah, dass die Eiche im Sturm gestürzt war, wusste sie, dass es kein Zurück gab. Sie schlug alle Äste ab und spannte Ochsen vor den Stamm. Er war der Kiel ihres Drachenboots.
Als Eyvor den Webstuhl aufbaute, um ganz allein ein Segel zu weben, hatte Skade gerade eine Tochter geboren, um deren Leben sie bangen musste, obwohl die Kleine gesund und munter zur Welt gekommen war.
Um zu erklären, was geschehen war, müssen wir jedoch weiter zurückgehen, denn Skades Weg in diese Geschichte beginnt früher als Eyvors Weg zu ihrem Schiff.
Als Skade zum ersten Mal einen Speer schwang, war ihr Erstgeborener Lífþrasir gerade alt genug, um den anderen Kindern des Hofs bei ihrem Treiben hinterherzutapsen. Sie selbst war nach der Geburt ihres zweiten Sohns noch nicht wieder in den Alltag eingespannt. Er war zu früh auf die Welt gekommen, und obwohl die Hebamme zuversichtlich gewesen war, hatte er in der ersten Nacht aufgehört zu atmen und Miðgarðr so schnell verlassen, wie er es betreten hatte. Skade selbst hatte sich schnell von den Strapazen der Geburt erholt – die anderen Frauen des Hofs hatten angemerkt, dass sie trotz ihrer schmalen Hüften wie dafür gemacht schien, weitere Kinder zur Welt zu bringen, ohne dass es sie wie so viele andere das Leben kosten würde.
Sie hatte das unbenannte tote Kind begraben. Der kleine Líf lebte und war gesund – und sie würde sicherlich noch häufiger schwanger werden, als ihr lieb war.
Jetzt war eine Zeit, sie selbst zu sein, und nur sie. Sie wirbelte den Speer durch die Luft und hielt damit unsichtbare Unholde auf Abstand. Dabei schlug ihr der Schaft gegen den Hinterkopf – doch sie ließ sich nichts anmerken. Es tat gut, ihren Körper zu spüren ohne die Trägheit der vergangenen Monate, die veränderte Balance und die Zipperlein, die selbst die gesündeste Schwangere heimsuchen.
Hákon schüttelte lachend den Kopf. »An dir ist ein Krieger verloren gegangen. Oder eine Schildmaid: Skade Stoßspeer! Freyja hätte einen Jungen aus dir machen können!«
Sie ignorierte ihn. Selbst, wenn sie sich vor ihm lächerlich machte: Er würde niemandem davon erzählen, und der Drang, die Waffe auszuprobieren, den Speer zu führen, statt ins Webhaus zurückzukehren, war einfach zu stark. Alle Muskeln gleichzeitig zu bewegen braute ein Gefühl der Lebendigkeit zusammen, das einen Schleier zwischen sie und die Tränen der letzten Tage warf. Hákon sah immer wieder vom schweren Leib der Bache auf, die er auf dem Tisch zerlegte. Seine Hände waren blutbeschmiert – wie die der Hebamme, dachte Skade und verwirbelte mit dem Speer alle Gedanken.
Hákon sagte so etwas ab und an. Vielleicht wünschte er tatsächlich, sie wäre ein Mann, vielleicht hätte das ihre Freundschaft einfacher gemacht. Aber er mochte sie dennoch, und dass er glaubte, es besser zu wissen als Freyja, schmeichelte ihr, ohne dass sie ganz fassen konnte, weshalb. Seit sie auf dem Hof voller Fremder angekommen war, war er ihr erster und bester Verbündeter. Er war nicht Teil von Ivars Hof, sondern ein Sonderling, der Gejagtes gegen Alltägliches tauschte.
Skade hatte ihren Spaß, wenn sie unter ihrem Ehemann lag, aber ansonsten war mit Ivar nicht viel anzufangen. Mit Hákon konnte sie scherzen und spotten wie mit einem Bruder. Ivar ahnte nicht, dass sie Zeit mit einem anderen Mann verbrachte, und er durfte es auch nie erfahren. Ivar tobte nicht wie andere Männer. Zum Glück fuhr er jedes Jahr monatelang auf Víking.
Hákon jedoch blieb und hatte keine Frau, die eifersüchtig werden konnte.
Blut glänzte auf der Spitze des Federspießes. Hákon hatte sie noch nicht gereinigt, nachdem er die Wildsau damit erlegt hatte, und Skade hegte kurz die beinahe kindliche Fantasie, sie halte den Speer einer Schildmaid aus den Sagas. »Zeig mir, wie es geht!«, forderte sie und stellte den Fuß des Speers schwer atmend auf dem Boden ab.
»Na gern! Schnapp dir dein Messer, dann lernst du, wie man eine Sau ausnimmt!«, erwiderte er mit einem Zwinkern.
»Du weißt genau, was ich meine, du Furz von einem Waldtroll!« Sie musste bald wieder zurück, Líf würde nach ihr suchen. »Du hast es versprochen.«
»Und ich halte meine Versprechen«, sagte er. »Aber heute ist mir die Sau dazwischengekommen. Wir können früh üben, wenn du deinen Hintern vor allen anderen aus dem Bett bekommst.«
»Ich bin morgen früh hier!«
»Das hat aber nichts mit dem Tänzchen zu tun, das du da aufführst«, sagte Hákon.
»In der Arnviðr-Saga heißt es, die geschicktesten Schwertkämpfer sind auch gute Tänzer.«
»Von Schwertern verstehe ich so wenig wie von Sagas.«
»Aber von Speeren.«
»Davon ja.« Geschickt trennte er mit der Klinge Fell von Fleisch.
Sie konnte sich noch nicht vom Speer trennen, blickte nach oben, betrachtete die blattförmige Spitze und die kurze Querstange darunter. »Wozu die Querstange? Stört die nicht beim Zustoßen?«
»Es stört die Sau dabei, dich zu töten! Stell dir vor, das Wildschwein hier«, er drückte gegen den massigen Leib, »rennt auf dich zu und du spießt es auf. Wildschweine sind schlau, aber wenn der Zorn sie packt, sind sie nicht zu bremsen. In ihrer Raserei merkt die Sau nicht, dass sie eigentlich schon tot ist.«
»Wie ein Berserker.«
»Ohne die Querstange könnte die Bache den Schaft des Speers mit ihrem ganzen Gewicht und der Wucht des Ansturms einfach durch sich hindurchtreiben und dich mit ihren Haken aufschlitzen.« Er hielt sich das Sax als gewaltigen Eckzahn an den Unterkiefer.
»Hält man damit auch einen Keiler auf? Oder sagen wir einen … Berserker?«
Hákon legte das Messer beiseite und stützte sich auf den Tisch, musterte den offenen Leib darauf und wich ihrem Blick aus. »Einen Berserker tötest du nicht mit einem Stich. Du kannst nicht gegen jemanden gewinnen, dem es egal ist, ob er verletzt wird. Da rettet dich auch die Querstange nicht«, sagte er, als das Schweigen zu lang andauerte.
»Welche Waffe würdest du gegen den Berserker nehmen?« Dies hier war gefährliches Terrain, und in welcher Tonlage solche Fragen gestellt wurden, entschied alles.
»Meine Beine. Ich würde weglaufen und die Götter und alle Ungesehenen um Gnade anflehen.«
»Was, wenn er dich in die Enge getrieben hätte?«
»Dann würde ich eine Waffe nehmen, die schreckliche Wunden schlägt. Mit der man einen Gegner auf Abstand halten kann und Fleisch, Muskeln, Sehnen durchtrennt und Knochen zertrümmert. Mit der man ins Herz stoßen, aber auch Gliedmaßen abschlagen kann. Ich würde einen Hauspeer nehmen.«
»Aha«, sagte Skade.
»Das ist eine Kriegswaffe, kein Jagdwerkzeug«, sagte Hákon leise.
»Ich will weder jagen noch in den Krieg ziehen. Ich lerne es wie einen Tanz.«
Er gab sich mit einem Seufzen geschlagen. »Dann, Skade Widderkopf, sehen wir uns morgen früh nach Sonnenaufgang auf der Lichtung. Du wirst sehen, wie man mit dem Hauspeer tanzt.«
Sie jubelte innerlich. Äußerlich blieb sie gelassen. »Ich werde da sein. Wenn Lífþrasir mich lässt.«
Hákon nickte und hielt am nächsten Tag sein Versprechen.
»Ich werf es gegen die Wand! Ich ersäuf es im Fluss«, brüllte Ivar zwei Jahre später. »Du läufige Trollin! Das ist nicht meine Tochter! Es ist seins, nicht wahr? Seins!« Er spie vor Zorn, und die Speicheltröpfchen trafen Skade, die sich an die kalte Rückwand der Schlafnische presste, die Tochter schützend an sich gedrückt und nach der Geburt am Ende ihrer Kräfte.
Die alte Hebamme redete auf Ivar ein, ihre Schwester war weinend aus dem Haus gerannt. Das Neugeborene klagte leise.
Es war sein Kind, natürlich war es seins! Loki spielte Skade einen grausamen Streich damit, dass er ihrer Tochter ein Grübchen am Kinn verpasst hatte! Ein Grübchen, wie Hákon eins hatte. Skade verfluchte ihn – jeden ihn; alle Männer, sogar Hákon und seine Kinnkerbe, aber besonders Loki, Ivar und alle, die das Langhaus nicht betraten und Ivar seiner Wut überließen.
Die Skade und das Neugeborene Ivars Wut überließen.
Gefährlich wie eine Feuersbrunst war Ivar, wenn er sich der Bärenwut hingab. Sie machte ihn im Krieg zu einem schier unbezwingbaren Kämpfer und besungenen Helden, aber brachte im Frieden alle, die ihm nah waren, in Lebensgefahr. Skade wusste, dass sie ihn nicht reizen durfte, und tat es trotzdem oft, weil ihre Zähne sich weigerten, auf ihre Zunge zu beißen. Sie verlor selbst die Beherrschung – über Gedanken, die zu Gesprochenem wurden! Oft schon hatte er geklagt, einen zu hohen Brautpreis für ein störrisches Weib gezahlt zu haben. Ihre Schönheit, das Erbe ihrer Mutter, habe ihn geblendet. Trotzdem mied er Konflikte mit ihr – er wusste, warum.
Doch diesmal – diesmal stand er kurz vor der Bärenwut. Adern pochten dick unter seiner Haut, das Weiße der Augen wurde rot. Er brüllte wortlos und das vertrieb auch die Hebamme. Mit sich hebenden und senkenden Schultern kämpfte er mühsam um seine Beherrschung.
»Gib sie mir!«, flüsterte er heiser. »Her mit dem kleinen Bastard.« Seine Schreie klingelten noch in ihren Ohren. »Gib sie mir freiwillig, sonst kann ich dir nicht versprechen, dass du überlebst.«
Sie wimmerte vor Angst. Um sich selbst, aber vor allem um dieses kleine Mädchen, das in ihrem Körper begonnen hatte zu leben und nun in ihren Armen lebte.
Was, wenn sie es ihm gab? Dann wäre es tot wie das zweite. Noch hatte es keinen Namen. Keine Fylgja. Keinen Geist.
Aber es war so lebendig, und es war sein Kind! Sie zitterte am ganzen Leib. Sie konnte riechen, wie das Tier in seinem Innern Besitz von ihm ergriff, und es raubte ihr den Atem.
»Bitte, ich schwöre dir, Ivar, es ist dein Kind. Deine Tochter!« Sie schluchzte.
»Du sollst sie mir geben.« Die künstliche Ruhe in seiner Stimme verflog, er presste die Worte zwischen den Zähnen hervor, ein entweichender Dunst aus Hass. Die Pranken zu roten Fäusten geballt schwollen die Muskeln seiner Arme an, stemmten sich zitternd gegen den Stoff. Ivar kämpfte um die eigene Beherrschung – und er würde diesen Kampf verlieren.
Wenn sie das Kind weiter an sich presste, würde er nicht an sich halten. Das Neugeborene töten, sie töten, andere auf dem Hof … vielleicht sogar Lífþrasir. Und trotzdem konnte sie es nicht loslassen. Sie musste Verwirrung in seine Wut streuen wie Sand in die Augen eines Feindes. Das Kind an sich gedrückt kroch sie aus der Bettnische mit Gliedern wie aus Holz. Sie schützte es mit ihrem Körper, als sie vor Ivar auf die Knie sank. Ihr Körper schmerzte, aber sie ignorierte ihn und senkte den Kopf. Vermisste Ivar nicht stets Ergebenheit an seiner Frau? Hier war sie.
Sie hasste ihn dafür, dass er sie um das Leben seines eigenen Kindes flehen ließ. Doch in ihren Adern pulsierte kein göttlicher Herzschlag und dieser Hass blieb wirkungslos.
Aber die Geste blieb es nicht. Seine Hände entspannten sich. Er atmete schnaufend ein.
»Du schwörst, dass das mein Kind ist und nicht das von Hákon dem Níðingr?«
»Ja! Ich schwöre es!« Das fiel ihr leicht, es war die Wahrheit.
»Dann ist dir das Leben unserer Tochter sicher mehr wert als das Leben irgendeines freien Mannes«, sagte er und die besinnungslose Wut wich kalter Bosheit in seinem Blick.
»Ja, natürlich.« Sie ergriff die Gelegenheit, das Leben ihrer Tochter zu retten, ohne zu zögern.
»Unsere Tochter wird leben, Skade. Ich stelle auf andere Weise sicher, dass unsere Ehre intakt ist«, sagte er und verließ das Haus.
Skade sackte an die Bettstatt, aber die Erleichterung kam nicht. Stunden später lag das Erlebte bereits wie unter einem Schleier. Sie zeigte Líf das neue Schwesterchen und kümmerte sich gemeinsam mit der Hebamme um ihre Tochter. Das Mädchen, das Ivar später Heiðr nannte, nach seiner Mutter, trank gierig und kräftig, als wüsste es, dass es schnell stark werden musste in dieser Welt.
Hákons Leiche fand man in seiner Hütte am Waldrand. Er war zu Tode geprügelt worden. Ivar machte keinen Hehl daraus, prahlte aber auch nicht damit, zahlte Blutgeld an Hákons Familie, und damit war die Sache erledigt.
Skade schloss die Trauer für den geliebten Freund mit der Schuld in sich ein. Tage später stahl sie sich zu Hákons verwüsteter Hütte, nahm den Hauspeer mit der langen Klinge und versteckte ihn in einer Scheune. Mit dem letzten Blick auf den Speer schwor sie, dass Ivar nie wieder jemandem etwas antun würde, den sie liebte.
Als Eyvor sich daran versuchte, die Planken der Außenhaut wie Ziegel aneinanderzulegen und mit Eisen zu vernieten, war Herdis Kráka allein in der Halle ihres Großvaters und nahm den Zierrat von der Wand. Er hatte ihrem Vater Bolli gehört und ihre Mutter hatte ihn aus dem Osten mitgebracht – anders als ihren Vater, denn Bolli war lange schon tot. Wenn Herdis’ Großvater getrunken hatte, zischte er stets, dass sein Schwiegersohn vieles gewesen sei, aber gewiss nicht Herdis’ und Birgers Vater. Er wünschte wohl auch, Folka sei nicht ihre Mutter, aber so etwas ließ sich nun einmal nicht leugnen.
Bolli hatte in der Leibgarde eines Königs gedient, in Mikligarðr im Osten und Süden. Folka lachte jedes Mal darüber und sagte, es heiße Konstantinopel nach seinem größten König. Als Bolli im Kampf gefallen war, war Folka zu ihrem Vater heimgekehrt, denn welchen Platz hatte Mikligarðr für eine Witwe wie sie? Kaum bei ihrem Vater angekommen war sie aufs Lager gefallen und hatte Zwillinge geboren.
Birger und Herdis sahen nicht aus, wie man sich Bollis und Folkas Kinder ausgemalt hatte. Warum sie so dunkel seien, hatte Folkas Vater gefragt. »Im Süden schien viel die Sonne«, hatte Folka leichthin erwidert.
Herdis ließ ihre Hand über den Zierrat gleiten. Er war alt, sehr, sehr alt, hatte ihre Mutter gesagt, und er sei ihrem Vater vor allem wegen der Edelsteine darauf gegeben worden.
Die Klinge war das, was so sehr, sehr alt war; eine kurze, breite und an der Spitze dreieckig zulaufende Klinge. Die Schneiden waren inzwischen stumpf, teils uneben, was das Silber, mit dem die Klinge überzogen war, jedoch verhehlte. Ein altes Schwert, in Ehre entlassen. Den Grünspan putzte Folka stets fort, denn es war eines von zwei Andenken an Bolli: dieses Schwert, das ihre Mutter Gladius nannte, und die gewaltige zweihändige Dänenaxt, die Bolli als Leibwache geführt hatte; ungleiche Zwillinge.
Sie hatte beide Waffen im Traum gesehen – einem beunruhigenden Traum, selbst für jemanden wie Herdis, die nur beunruhigende Träume kannte. Ihre Krähe äugte aus dem Windloch herein.
»Es ist niemand da«, murmelte Herdis, die nicht aufschauen musste, um den Vogel zu bemerken. Normalerweise wurde die Krähe vertrieben, wenn sie sich zu nah an die Menschen wagte.
Sie fuhr mit den Fingern über die Klinge zum bronzenen Parierstück. Dieses war im Gegensatz zur Klinge neu, reich mit Steinen geschmückt umschmiegte es den Griff aus Holz und Elfenbein. Herdis setzte die Schwertspitze zwischen ihren Beinen auf den Boden und drehte die Waffe vorsichtig, wie die Völva es mit ihrem Eisenstab tat.
Gestern Abend war Birger fortgegangen. Er war ein Berserker, seit seiner Geburt, und als solcher würde man ihn auf dem Siebten Langboot darin unterweisen, seine Wut in die richtigen Bahnen zu lenken, Feinde statt Freunde zu zerschmettern. Seine Krähe war mit ihm gezogen, und er, nur wenig breiter und größer als seine Zwillingsschwester, würde lernen müssen, die Dänenaxt zu führen, die ihn noch lange überragen würde.
Herdis drehte das Schwert wie die Völva den Stab und beschwor den Traum erneut herauf:
Ein Schwarm aus Schwertern auf spiegelndem Eis
Ein Schwirren von Schwarzmöwen unter stürmischen Himmeln
Schwert und Schweif führen Schwester und Bruder
Sie schlagen die Schlacht, bis Schwertwasser fließt
Im Traum war es ihre Hand gewesen, die das Schwert führte – und Birgers Hände schwangen die Dänenaxt. Erbittert waren sie aufeinandergeprallt: Funken und abgesprungenes Silber.
Fest in der Faust des Fimbulwinters gehalten
Die Frucht der Folka fällt in der Schlacht
Es fallen aus Vogelhöhen einander ferner Schwärme
Die Flüche des Fjölnir, die Vögel ihrer Seelen.
Gegeneinander würden sie kämpfen in jenem letzten langen Winter vor dem Weltenende, in jenem Zeitalter der Wölfe. Herdis war zu schlau, um zu hoffen, eine Weissagung ändern zu können, die schon geträumt war. Aber anders als die Männer der Sagas würde sie die Warnung nicht in den Wind schlagen und halsstarrig weitermachen, wonach ihr vor der Prophezeiung der Sinn gestanden hatte.
Nicht nur Birger war seit seiner Geburt von Óðinn erwählt, auch sie war es. Wie alle Menschen bestanden Auserwählte aus vier Teilen: Hamr, die Form des Körpers. Hugr, der Kern des Wesens. Fylgja, der Geist einer Ahnin. Und ihr Glück. Doch bei den Auserwählten nahm Fylgja die Form einer Krähe an, die stets in der Nähe und so unvermeidlich wie unverwüstlich war. Eine Fylgja außerhalb des Körpers ließ Platz für Óðinns Geschenk. Bei Männern war es die Berserkerwut. Bei Frauen war es Seiðr, die gefährlichste und mächtigste aller magischen Gaben.
Mit dieser Gabe mochte Herdis herausfinden, welches Schicksal sie sterbend erfüllen würde. Und warum sie dieses stumpfe Schwert so gut würde führen können, dass ihr Bruder mit ihr starb.
Als Herdis Gladius zum ersten Mal drehte wie eine Völva ihren Stab und dabei doch nur in einen Schleier blickte, den die Nornen zwischen sie und ihre Bestimmung warfen, begriff Eyvor, dass sie mit dem Beplanken von vorn würde beginnen müssen. So oft sie auch geholfen, zugesehen und mitgeschwitzt hatte, wenn Holz-Orm mit den Schmieden, den Zimmerleuten und allen helfenden Händen die Planken gefügt hatte, so deutlich wurde ihr nun, dass niemand allein in einem Wald ein Schiff bauen konnte.
Eyvor steckte in einem unmöglichen Traum.
Sie hatte aufgehört, daran zu glauben. Meist stand sie dennoch morgens auf und fällte Bäume. Versuchte, dennoch Planken zu spalten, zu krümmen, festzunieten. Holte Tierhaar von den benachbarten Höfen, um die Zwischenräume damit abzudichten. Sammelte es selbst in den Ställen auf. Sie hatte begonnen, das Segel zu weben, doch es waren erst wenige Handbreit geschafft. Ein Schiff, das nicht existierte, konnte auch nicht segeln. Überhaupt, wer sollte es segeln?
Manchmal stand sie morgens nicht auf, sondern wartete darauf, aus diesem Traum aufzuwachen. Doch wenn Göttinnen rufen, kann man nicht einfach so tun, als höre man sie nicht.
An solch einem Morgen fand Tinna zu Eyvor.
Als sie von Hervards Grab zurückgekehrt war, hatte Tinna ihrem Lehrmeister gesagt, sie beabsichtige nicht, Fürsten als Skalde zu dienen, sondern als Skaldin. Er hatte nur den Kopf geschüttelt. Er kannte Tinna schon lange, hatte einiges geahnt und manches gefürchtet.
Argr-Tinna hatte man sie in der Fürstenhalle genannt. Hervard hatte sie gewarnt: Argr, das bezeichnet Männer, die feige sind, weibisch, die sich für andere Männer bücken oder im ärgsten Falle alles zugleich. Tinna hatte versucht, eine Skaldin zu sein, und war gescheitert. Es gab keine Skaldin in den Hallen von Fürsten.
Es gab überhaupt keine Skaldinnen.
Dabei war an ihrer Dichtkunst nichts auszusetzen: Ihre Drapa hatten Flügel, ihre Níðs hatten Klauen, und so ging sie im Hinterland, wo niemand ihren Beinamen kannte, von Hof zu Hof und erwarb sich Brot und Bier damit, dass sie den gastgebenden Hausherrn zur Freude seiner Frau verspottete, aber die Feinde des Hausherrn noch mehr. Sie spann in jede kleinliche Fehde ein wenig Glanz, Größe und göttliches Schicksal, brachte beide Parteien zu Fall, doch die eine landete wie eine Katze auf den Füßen und die andere wie ein hörnerloses Lamm auf dem Kopf.
Sie war weit in den Norden gereist, wo die Fürsten mehrere Frauen hatten und die Höfe einsam und karg waren, ohne Goldplaketten an den Säulen. Als die Tage kürzer wurden, schien ihr die Welt klein, nur wenige Tagesmärsche würden sie wieder dorthin bringen, wo man ihrem Namen ein Schmähwort hinzufügte. Da hörte sie von einer Frau, die allein im Wald ein Schiff baute.
Eyvor Unträumbar nannte man sie und dieses Schmähwort entzündete etwas in Tinna. Unträumbare Träume waren ihr Spezialgebiet. Sie hegte ihre eigenen und besang die der anderen.
Sie fand das steil aufgestellte Schiff im Wald – gefällte Bäume und herumliegende, verworfene Trümmer hatten ihr den Weg gewiesen. Es war noch nicht viel, aber es ähnelte durchaus einem Schiff. Sie umrundete es und hielt Ausschau.
Unweit der Baustelle stand eine Hütte.
In dieser Hütte war eine Frau dabei, Thor aufzufordern, ihr das Dach über dem Kopf zusammenbrechen zu lassen. Thor jedoch hatte gerade Besseres zu tun und statt eines Donnergrollens klopften Knöchel an der Tür. Die Frau setzte sich vorwurfsvoll auf. Es fiel kaum Licht in die Hütte und Tinna blieb auf der Schwelle stehen.
»Bist du Eyvor Unträumbar?«
»Eyvor Bégasdóttir bin ich. Was willst du?« Sie schwang die Beine vom Lager, verschränkte die Arme und baute sich vor Tinna auf, die in den Raum trat, um nicht größer zu wirken, als sie ohnehin war. Sie überragte Eyvor dennoch um zwei Haupteslängen, und diese nahm es zur Kenntnis mit der Resignation einer Person, die immer die kleinste im Raum ist, sofern keine Kinder anwesend sind.
»Ich bin Tinna Skaldkuna.«
»Wenn du nur Worte und nicht Hammer, Dechsel oder Bohrer schwingen kannst, gibt es hier keine Geschichte für dich.«
Tinna setzte sich auf einen Hocker und Eyvor ihr gegenüber auf die Bank neben der Tür. Sie musterten einander, das schmale neugierige, blondumrahmte Gesicht mit der kühnen Nase sah in das runde, argwöhnische mit den hohen Wangenknochen.
»Es gibt also nur etwas zu besingen, wenn ich mehr beitrage als Verse?«
»Wenn du keine harte Arbeit gewöhnt bist, ist das hier nichts für dich.«
»Die härteste Arbeit hier scheint zu sein, vor dem Mittag aus dem Bett zu kommen. Und mir ist gelungen, dich dazu zu bewegen.«
»Du siehst nicht gerade kräftig aus.«
»Mehr als die Kraft meiner Arme treiben meine Spottgedichte an, aber meine Hände sind auch nicht ohne.«
Eyvor musterte sie, dann stand sie abrupt auf und warf den unordentlichen braunen Zopf auf den Rücken. »Wir arbeiten, bis es Nacht wird. Wir werden sehen, Versenschmiedin, was du mit einem Hammer taugst.«
Eine Zeit lang arbeiteten sie zu zweit, und Eyvor versuchte seltener, den Ruf der Rán zu ignorieren. Die Außenhaut gedieh so weit, dass sie bald bei der dicksten Planke an der zukünftigen Wasserlinie angekommen waren, und die erste Bahn des Segels war auf dem Webstuhl ein paar Handbreit gewachsen.
Am nächsten Morgen fand Tinna Eyvor am Meer, an das der Wald fast heranreichte. Ráns gierige Gezeiten hatten haufenweise Algen angespült, die ihr nicht geheuer waren. Vom anderen Ende der Bucht kam ein Boot herüber, drei Gestalten saßen darin.
»Wartest du auf jemanden?«, fragte sie. Eyvor neben ihr schüttelte den Kopf.
Es war ein grauer Tag im Góa, an der Schwelle zwischen Winter und Frühjahr, nicht neblig, aber so trüb, dass die drei in dem Boot genauso gut eine Botschaft aus unterseeischer Tiefe hätten sein können. Eyvor sah aus, als fürchte sie genau das.
»Es sind drei Mädchen.« Tinna erkannte Haar und Kleidung. Eine von ihnen war eine Ambátt, das Haar kurz geschnitten. Die beiden anderen trugen Stirnbänder und das Haar zu Knoten am Hinterkopf verschlungen. »Sie rudern wie Leute, die keine Übung darin haben. Ich glaube nicht, dass deine Göttin sie geschickt hat.«
»Dann sind sie geschickt, um meinem Treiben ein Ende zu machen.«
»Man lacht über Eyvor Unträumbar. ›Soll sie es doch versuchen‹, sagt man. ›Sie wird schon sehen.‹ Ich glaube nicht, dass man dir drei Mädchen schickt, um dir deinen Untraum zu nehmen.« Außerdem hätten sie den Landweg gewählt und keine Nussschale durch den Fjord gejagt.
Sie warteten am Strand auf Antworten. Schließlich kratzte der Kiel im Sand, Algenberge gaben unter den letzten Paddelschlägen nach, dann sprang die Ambátt heraus und schob das Boot mithilfe der Wellen so weit auf den Strand, dass die beiden Mädchen aussteigen konnten, ohne nasse Füße zu bekommen. Die Ungeduldigere wurde dennoch von einer Welle eingeholt, die ihre Schuhe überspülte.
»Bist du Eyvor Unträumbar?«, fragte die Älteste, die vielleicht siebzehn war, und ihr Blick heftete sich auf Tinna. Ihr braunes Haar hatte in den Längen den Rotstich, der entstand, wenn man es mit Lauge heller wusch. Ihre ungeduldige Gefährtin war strohblond und wirkte herrisch – oder unsicher – in der Art, wie sie ihr Gesicht verzog. Die Ambátt schließlich war dunkelhaarig, voller Sommersprossen und klein, schmaler als die beiden Freien, aber nicht so dünn, dass es den Anschein machte, sie sei schlecht behandelt worden.
»Das hier ist Eyvor Unträumbar, die Erbauerin der Skjaldmær. Ich bin Tinna, ihre Skaldin.«
»Was wollt ihr hier? In wessen Auftrag seid ihr hier?«, fragte Eyvor.
»Wir sind hier, um … Ich bin Gudny, das ist Thorbjorg, meine Cousine, und das ist unsere Dienerin Unn.«
Sie sagten nicht, wessen Töchter sie waren. Tinna sah Eyvor unauffällig von der Seite an. Sie würde nach ihrem vollen Namen fragen und sie dann wieder auf ihre Höfe schicken. Wenn sie fortgelaufenen Töchtern Obdach bot, würde es nicht mehr lange gut gehen mit ihrem Untraum. Aber Eyvor maß die drei Mädchen mit Blicken.
»An den Paddeln hattet ihr es schwer. Vielleicht habt ihr an Hämmern und Beilen mehr Glück. Kommt mit.«
Das Frühjahr hindurch arbeiteten sie zu fünft, und Eyvor fragte nie, woher die Mädchen gekommen waren. Sie arbeiteten immer besser, sie lernten und schwitzten und ihre Kleider wurden fadenscheinig und ihre Muskeln sichtbar wie kleine Mäuse, die sich unter der Haut streckten und zusammenrollten.
Unn hatte ein gutes Auge für Gewichte und Gleichgewichte und balancierte die gebogenen Planken mit Steinen und Klammern, sodass die Form des Langboots immer deutlicher wurde.
Tinna stellte den Mädchen vorsichtige Fragen und erhielt vorsichtige Antworten und sie reimte sich das Ihre zusammen, denn als Skaldin ist man geübt im Reimen. Sie schickte sie nie zum Handeln auf die Höfe, sondern ging stets selbst, um Vorräte oder Werkzeuge gegen Holz-Orms Silber zu tauschen.
Im Skerpla um die Sommersonnenwende herum kam Ljot an, Ljot Hognisdóttir, eine stämmige Frau um die vierzig mit breitem Gesicht und ebenso breitem Bizeps. Ihr dritter Ehemann war auf einer Víking ins Meer gefallen, und ihr Bruder hatte halbherzig versucht, sie vorteilhaft weiterzuverheiraten, doch als wohlhabende Witwe durfte sie ablehnen.
»Ich spiel doch nicht die Mamma für die Blagen von Ingjald Hosenscheißer! Der Kerl hat zehn Sommer weniger gesehen als ich und noch keinen Tag ehrliche Arbeit. Hat sich wohl schon ausgemalt, wie ihn diese Schenkel hier aufs Lager pressen, und glaub mir, der Gedanke behagte ihm gar nicht. Ich sage zu meinem Bruder: ›Bevor ich so einen mickrigen Hosenscheißer heirate, gehe ich in den Wald wie Eyvor Unträumbar.‹ Und da springt er auf und zieht sein Messer. Ingjald, meine ich. Und mein Bruder auch und es wurde hässlich. Nun ja, und jetzt bin ich hier.«
Ljot war hier und half bei der Konstruktion der Bodenwrangen. Sie wusste wenig darüber, dass diese aus gebogen gewachsenen Ästen gefertigten Holzteile dafür sorgten, dass das Schiff flexibler wurde, weil der Kiel nicht mit dem Innenleben verbunden war, sondern nur der zweite und vierte Plankengang. So konnte die Außenhaut die Wellen abfedern, ohne unter der Wucht zu zerbrechen. Das alles wusste Eyvor und sie leitete Ljot an, die rasch begriff, wie sie mit Holznägeln und -nieten eine gute Konstruktion fertigte.
Den nächsten Winter bestritten sie zu acht, denn im Ylir, vor dem ersten Schnee, kamen Kaðlín und Mýrún an, zwei Frauen aus Éire, die seit dem Tod ihres Herrn zwar frei, aber so bettelarm waren, dass sie in den vergangenen Wintern Schlimmes durchgemacht hatten, um ein Dach über dem Kopf zu haben – wenn auch nicht Schlimmeres, als sie bereits bei ihrem Herrn erlebt hatten. Wie Thorbjorg waren sie findige Weberinnen. In den Abendstunden, wenn sie alle zusammen in der Hütte saßen und einander lieb gewonnene Lieder sangen, hockten sie zu dritt im Feuerschein am Webstuhl, wo Kaðlíns rotes Haar leuchtete, und ließen die Steine klappern und das Segel schritt gut voran.
Im nächsten Herbst würde es sechs Jahre her sein, dass Eyvor allein in den Wald gegangen war – und Holz-Orms Silber ging noch nicht zur Neige, obwohl es mehr und mehr Mäuler zu stopfen gab. Doch das Schiff im Wald war noch immer mehr Traum als Wirklichkeit und noch lange nicht in der Lage, gesegelt zu werden.
Und überhaupt – wer würde es segeln?
Skade hatte nicht nachgedacht.
Das war die Erklärung für viele von Skades Problemen, doch selten war das Problem so blutig.
Ivar stieß ein entsetzliches Gebrüll aus, packte den Spinnrocken und riss ihn sich aus dem Brustkorb. Er schleuderte ihn nach Líf – oder vielleicht schleuderte er ihn auch einfach nur beiseite – und der blutige Spinnrocken streifte Lífs Arm und er heulte auf wie ein verängstigtes Wolfsjunges im Schatten eines monströsen Bären.
Ivars Krähe lachte heiser aus einem Baum. Blut breitete sich wie eine Mohnblume auf Ivars Kittel aus, in so raschen Schüben, als wolle es ihn vollständig rot färben; und Ivar wäre dann ein roter Mordbär, der sie alle zerreißen, zerbeißen, zermalmen würde. Skade wusste, die Blutblume würde ihn nicht aufhalten, seine Wunden heilten rasch, wenn die Bärenwut ihn packte. Schon wandelte sich seine Gestalt, er überragte sie um einen Kopf, dann um zwei. Das Haar stellte sich auf, der Bart spreizte sich, die Lefzen zogen sich zurück, sodass Skade die roten Linien auf den Zähnen sehen konnte, die Augen rollten in den Schädel, bis nur rot durchzogenes Weiß übrig blieb. Die Fingernägel schwollen an, wurden bleigraue Krallen, die Arme spannten das Leinen des Hemds, bis es riss.
»Líf, komm, komm!«, schrie Skade dem Kleinen zu und er gehorchte, obwohl er heulte und aus der Nase blutete. Wenn die Berserkerwut über seinen Vater kam, musste er sofort gehorchen. Und Skade brauchte ihren Speer, gegen ein solches Raubtier konnte nur ein Speer helfen und diesmal würde sie ihn umbringen, das schwor sie allen beobachtenden Dísen und beseelten Dingen.
Nein, diesmal musste sie ihn umbringen.
Sie presste Heiðrs kleinen, schreienden Körper an ihre linke Seite, packte mit der Rechten Lífs Hand und rannte mit den beiden Kindern den von Steinmauern umfriedeten Weg hinab zur Scheune. Sie hörte Ivar brüllen, doch auch ihr eigenes Herz donnern, als wäre ein Vorhang zwischen ihrem Körper und dem »Draußen« gefallen. Heiðr schluchzte in kleinen, atemlosen Stößen – hielt sie sie zu fest gepackt? –, dann fiel die Scheunentür hinter ihnen zu und sommerlicher Staub und Schatten hüllten sie ein. Eine dumpfe Welt, fern von Bärenwütigen, die ihre Kinder und ihre Frau töten würden.
Skade setzte die Kleine neben ihrem Bruder ab und riss den Hauspeer aus dem Stroh hinter dem staubigen Karren. Eine der Katzen maunzte und nahm Reißaus.
»Mamma, nicht!« Líf fiel ihr in den Arm.
»Ich muss«, presste sie hervor. »Versteckt euch. Kommt hervor, wenn er wieder ein Mensch ist. Wenn seine Krähe nicht mehr lacht.« Wenn ich tot bin.
»Nein, wir machen, dass er denkt, wir sind hier drin, aber wir laufen hinten raus, Mamma, bitte!«, flehte Líf und kostbare Momente kämpfte sie gegen ihren eigenen Gedankenstrudel an, bis sie verstand, was der Achtjährige ihr sagen wollte. »Es gibt ein Loch hinten.« Er zerrte an ihrem Ärmel, bis er sie aus dem Zaudern gerissen hatte.
»Ja … Wartet am Kletterbaum auf mich.« Sie riss ihr schmales Sax vom Gürtel und drückte es Líf in die Hand. Er presste die blutigen Lippen zusammen und nickte. Die Knöchel wurden weiß, so sehr umklammerte er das Messer. »Pass auf Heiðr auf. Schnell.«
»Mamma!«, weinte Heiðr, aber dann war das Bärengebrüll so nah, dass die Angst siegte und die Kinder rannten. Skade stemmte sich gegen den Heuwagen und schob ihn zur Tür. Kostbare Augenblicke verstrichen, als sie ihn dort verkeilte, dann warf sich auch schon ein schwerer Körper mit vernebeltem Verstand von außen gegen die Tür, sodass die ganze Scheune erzitterte. Die Balken ächzten und der Staub tanzte einen Totentanz. Ihren Totentanz.
Mit schluchzenden Atemzügen wich sie an die hintere Wand zurück. Der Hauspeer wog schwer und verheißungsvoll in ihrer Hand, und ein Teil von ihr wollte wissen, wie es war, eine Mörderin zu sein. Gab es in der Tür einen Spalt, der breit genug war, dass sie das zu Klingen geschliffene Speerblatt hindurch und ins Herz ihres Mannes stoßen konnte? Tief, immer tiefer, bis das unendliche, böswillige Füllhorn seines von Óðinn gesegneten Lebens endlich zerbarst?
Doch dann ließ sie sich auf die Knie nieder und kroch durch das Loch zwischen den Holzplanken, durch das Katzen, Kinder und schmale Ehefrauen auf der Flucht passten. Ivars Faust donnerte gegen die Tür, dann rannte er dagegen an und schob mit aller Gewalt. Die Scheune ächzte, als Skade hinausrobbte und sich nach ihrem Speer bückte. Mit einem überirdischen Wutschrei stemmte sich Ivars massiger Körper gegen die Scheunenwand, und mit dem Splittern von angespanntem Holz begann die Scheune, sich in eine Richtung zusammenzulegen. In Skades Richtung. Sie rannte geduckt durch hohes Gras und Brennnesseln zum Waldrand. Hinter ihr knirschte, knackte, stöhnte die Scheune und dann gab sie mit Schnalzen und Bersten endgültig auf.
Er musste denken, er hätte sie umgebracht. Seine Frau und seine beiden Kinder. Ihr wurde kalt.
Nein, noch dachte er gar nicht. Später erst, wenn er in den Trümmern nach blutig zermalmten Körpern suchen würde, mit Tränen und einem gewimmertem »Es tut mir leid« auf den Lippen.
Wie lange würde es dauern, bis er begriff, dass er sie nicht finden würde?
Sie, die nicht nachgedacht hatte, als sie ihm den Spinnrocken zwischen die Rippen gestoßen hatte, konnte sich auch jetzt keine Gedanken erlauben. Sie lief und der Wald umfasste sie.
Das Schwert sauste auf Lífs kleine Gestalt herab. Blut, Blut sprang aus seinem Gesicht hervor, wie der zweite Mund eines Unholds öffnete sich eine Wunde von der rechten Schläfe bis zum linken Kiefer.
Das Hohnkrächzen der Krähe gehörte dazu wie der Schnee zum Winter.
»Nein!«, schrie Skade und wollte Ivar zurückstoßen, doch sie hatte gerade Flachs gesponnen und der Spinnrocken fand Widerstand. Skade erschrak – und stieß trotzdem tiefer.
Der unirdische Wutschrei markierte den Moment, in dem sie begriff, dass nichts mehr sein würde, wie es einmal war.
Schweißgebadet wachte Skade auf, der Wutschrei hallte noch in ihr nach und sie tastete in der Dunkelheit nach den Kindern, erwartete die Wunde, das Blut, doch der Traum wurde langsam von der Erinnerung ersetzt. Es war kein stählernes Schwert gewesen. Ivar hatte Líf ein Holzschwert geschenkt und er selbst hatte einen Stock geschwungen.
Ihre kühlen Finger berührten die Schwellung in Lífs Gesicht. Kein Unholdmund, keine tödliche Wunde – aber ein harter Schlag gegen ein Kind, um Kampfreflexe zu wecken. Oder um den Frust darüber loszuwerden, diese Kampfreflexe nicht in seinem eigenen, einzigen Sohn zu finden.
Líf bewegte sich unter ihrer Berührung, leise im Schlaf nörgelnd.
Sie hatte nicht nachgedacht. Was für ein Wahnsinn, mit dem Spinnrocken zuzustechen, direkt zwischen die Rippen eines Auserwählten Óðinns, eines Berserkers, eines Hamr-Wandlers, des Styrimannr des Siebten Langboots. Direkt zwischen die Rippen ihres Ehemanns.
Oft geschah zu viel in ihr gleichzeitig und dann reagierten Muskeln oder Wörter fielen aus ihrem Mund und nichts auf der Welt konnte es rückgängig machen.
Es gab nie ein Zurück, aber diesmal ganz besonders nicht.
Es war Hochsommer und sie wanderte ziellos mit den Kindern umher, stahl von Höfen oder schickte Líf, um sich von den Þrælls etwas zu erbetteln. Sie würde nirgends Obdach finden – Ivar hatte sicher längst begriffen, dass er sie nicht unter Trümmern begraben hatte. Eine Frau mit zwei kleinen Kindern, eine Frau so auffällig wie sie mit ihren schwarzen glatten Haaren, der Kleidung, die auf einen reichen Haushalt schließen ließ, und einem Speer, den sie nicht mehr aus der Hand legte. Alle Höfe im Umkreis vieler Wegstunden hatten von Skade Widderkopf gehört, von Störr-Skade, Skade Rammschädel oder welche anderen Namen man ihr auch gab.
Conchakadóttir hatte sie nie jemand genannt, und ihr Vater war zwar ein Mann mit großem Namen, doch das Kind, das er seiner Lieblingsambátt gemacht hatte, hatte ihn nie getragen. Conchaka war für ihre Schönheit berühmt gewesen, für ihr schwarzes glattes Haar, die Form ihrer Augen, die einem Mann direkt in die Seele blicken konnten, hieß es. Skades Vater hatte sie bei seinen weiten Reisen in den Osten auf einem Markt im Bjarmenland gekauft und sie seiner Frau Helga vorgesetzt, die nie freundlich zu Conchaka und erst recht nicht zu Skade Conchakadóttir gewesen war.
Skade nannte man stets »schön, aber«. Schön, aber zänkisch. Schön, aber störrisch wie eine Ziege. Schön, aber streitsüchtig wie ein Mann. Die Freundlichkeit, dass Ivar Thoroddson, Ivar vom Siebten Langboot, sie zu seiner einzigen Frau gemacht hatte, habe sie ihm nie gedankt, wisperte man auf den Höfen über sie. Er hätte es wissen müssen, eine wie sie binde man nur, indem man ihr einen Sklavenreif anlegt, nicht aber das Band der Ehe.
Die Kinder waren klein und sie kam am Tag nur kurze Strecken voran, aber sie musste versuchen, fortzukommen – egal ob zu Friesen, Riesen oder Bergtrollen. Immerhin hörte man von vielen Frauen, dass sie Bergtrollinnen wurden, wenn sie ihre Ehre verloren oder vor ihren Männern geflohen waren.
Skade Conchakadóttir musste irgendwohin, wo man noch niemals von Ivar vom Siebten Langboot gehört hatte.
Als Skade und ihre Kinder bei Eyvors Skjaldmær ankamen, wurden dort gerade die Biten, die Bitenknie und die Snellen angebracht. Es war nun unmissverständlich ein Schiff, auf einer Lichtung im Wald, auf Stämme aufgebockt, mit neun Rúm für achtzehn Riemen, denn Neun ist eine gute Zahl.
Mittlerweile kamen ab und an Leute aus den umliegenden Höfen, um mit eigenen Augen zu sehen, dass die Witwe des Schiffsbauers ein Schiff baute. Einmal waren Halbwüchsige gekommen und hatten versucht, es in Brand zu stecken. Einer hatte ein paar Finger an Tinnas Sax gezahlt. Sie hatte das lange Sax benutzt, mit dem man Halunken abwehrte, nicht die kurze Klinge, mit der man Runen in Herzen schnitt – Hauptsache, es war kein Schwert.
Halldor Ketilson, der auf dem Weg gewesen war, um einem Seekönig als Huscarl zu dienen, hatte Eyvor goldene Armreife und sogar einen irischen Halsreif für das Schiff geboten. Dann würde es auch mal Wasser sehen, hatte er gesagt. Eyvor hatte abgelehnt, doch durch Halldor würden Mächtige vom Schiff erfahren.
Nie hatten sie darüber gesprochen, ob Männer mitfahren würden.
»Welcher Mann sollte mitfahren?«, fragte Eyvor. »Es wäre argr, mit Frauen zu fahren.«
Doch sie hatten auch nie darüber gesprochen, ob Frauen es segeln würden. Die Ahnung, dass ihre Tage gezählt waren, hing über ihnen. Ljot und Unn, Gudny und Thorbjorg, Kaðlín und Mýrún, sie warfen einander wissende Blicke zu. Es war ein unträumbarer Traum und bald würden sie erwachen.
In diese Ahnung platzte Störr-Skade. Eine lebende Person konnte kein schlechtes Omen sein, aber dass sie hier auftauchte, kam ihnen allen vor wie eine Schaufel Dreck auf ihrem eigenen Grabhügel. Reiter suchten landauf, landab nach Störr-Skade, es hieß, sie habe versucht, ihren Mann zu töten, und es sei nur nicht gelungen, weil Óðinn ihn schützte. Und hier war sie nun, abgerissen, hohläugig, aber schön wie die Gischt bei Sturm.
»Schick sie weg«, sagte Eyvor zu Tinna. »Du bist doch gut mit Worten. Mach ihr Beine daraus, längere, als sie ohnehin schon hat.«
Das ist also selbst Eyvor aufgefallen, dachte Tinna. »Bist du dir sicher?«
»Sie wird uns unsere Köpfe kosten.«
»Ich habe gehört, sie ist sehr gut mit dem Speer.«
»Daran können sich unsere Hälse nicht erfreuen, wenn die Köpfe fehlen.«
Eyvor sagte es und Skade hörte es und kam keinen Schritt näher. Die beiden Frauen musterten einander über die Skjaldrim hinweg, diese letzte Plankenreihe, in die Vertiefungen eingelassen waren, als würden dort tatsächlich einmal Krieger ihre Schilde einhängen.
»Ich kann helfen«, stieß Skade zwischen den Zähnen hervor wie eine Schmähung.
»Deine Hilfe wäre mehr Schaden als Nutzen.«
»Aus Ocker, Teer und Öl mache ich dir eine Bemalung, die dem Wasser trotzt und das Holz fest und geschmeidig den Wellen standhalten lässt.«
»Ich weiß, wie man diese Bemalung macht«, gab Eyvor barsch zurück.
»Ich webe das Segel und drehe Seil.«
»Das Segel ist fertig und Seil haben wir im Überfluss.«
»Ich werde rudern, als wäre Hels Hund Garm hinter mir her.«
»Schlimmeres ist hinter dir her. Ivar Styrimannr vom Siebten Langboot will seine Frau zurück.«
Skade presste die Lippen zusammen, als wollte sie verhindern, dass sie schrie, doch Tinna sah, dass sie sich abwandte, damit niemand die Tränen in ihren Augen sah.
»Schick sie weg, Skaldin«, knurrte Eyvor.
Tinna musste Skade nicht wegschicken. Sie erbat sich einen Laib Brot und einen halben Sack Getreide und ging mit ihren Kindern in den Wald.
»Das wird sie umbringen.«
»Ich bin nicht anderer Menschen Schicksal«, sagte Eyvor. »Sie soll sich ihren eigenen göttlichen Auftrag suchen.«
Doch Skade ging nicht weit, Tinna begriff es und Eyvor wohl ebenfalls, wenn sie auch nichts dazu sagte, dass sie mit ihren Kindern im Schuppen einzog, in dem sie das Holz lagerten. Manchmal sah man ihre Kinder am Meer spielen. Manchmal waren die Ziegen morgens schon gemolken und es fehlte nur ganz wenig Milch. Die Frauen stellten ihr und den Kindern Eintopf und Grütze vor die Hütte wie einem Troll.
Zweimal kamen Reiter in den Wald und schauten sich um, und wenn es so weit war, fehlte von der Trollin und ihren Kindern jede Spur.
Weitere Frauen kamen, nach und nach, allein oder zu zweit. Valdís, von einem Hof fortgelaufen. Alfhildr und Vírún, die einem Händler auf seinem Schiff gedient hatten und einiges über die norþvegischen und friesischen Küsten wussten. Kyi und Nótt, die Feldarbeit gewohnt und stark wie Ochsen waren. Und Bodil mit ihrer Mutter Rafarta aus Kaupang, dem großen Handelszentrum. Mutter und Tochter waren bruder- und vaterlos. Rafarta hatte ihre zweite Ehe gelöst, denn ihr Mann hatte ihr betrunken den Arm gebrochen, und eine Verletzung des Marks war Grund zur Scheidung. Und Bodil war zwar fast dreißig Jahre alt, doch niemand hatte für sie Brautgeld zahlen wollen.
Bodil hatte als kleines Kind ihr Gehör verloren, eine schwere Ohrentzündung nach der anderen hatte daran gefressen, bis ihre Welt fast vollständig still geworden war bis auf vereinzelte, weit entfernte Töne. Sie erinnerte sich an einzelne Wörter, die sie nur selten benutzte. Mit ihrer Mutter teilte sie eine Sprache aus Gebärden, die niemand sonst verstand. Ihre beiden Schwestern hatten geheiratet und waren auf den Höfen ihrer Männer eingezogen. Rafarta hatte Bodil bei sich behalten.
»Warum seid ihr hier?«, fragte Eyvor, als das merkwürdige Gespann bei ihr vorstellig wurde.
»Um dich zu warnen, Eyvor Unträumbar. In der Halle des Seekönigs von Kaupang reden sie von dir und deinem Schiff. Eine Frau soll kein Schiff haben, sagen sie. Und erst recht sollen zwanzig Frauen kein Schiff haben.«
»Mein Schiff ist nicht für den Seekönig von Kaupang«, sagte Eyvor, doch ihre Blicke irrten ratlos umher. Je vollständiger das Schiff wurde und je aussichtsloser es war, es je zu Wasser zu lassen, desto öfter irrten ihre Blicke umher, und das besorgte Tinna. Doch bevor sie länger darüber nachdenken konnte, fand Bodils Blick den ihren und die Sonne darin verschlug der Skaldin die Sprache.
Bodil lächelte Tinna schüchtern an. Wenn im Winter Wolken tagelang die Sonne bedecken, dass man überzeugt ist, Fenrir habe sie schon verschlungen – und dann reißt die Wolkendecke plötzlich auf und dahinter ist alles so weit und voller klarer Zuversicht und dem Versprechen auf längere Tage – so war der Blick in Bodils Augen, Tinna wurde winterkalt und sommerwarm dabei.
Bodil hatte kräftige Hände und Arme, die Ärmel in der Hitze geöffnet. Ihr braunes Haar war zu einem langen Zopf geflochten und im Nacken zusammengewunden. In ihrem runden Gesicht wetteiferten kleine Pockennarben mit Sommersprossen. Sie war mit ihrer Mutter auf Pferden hergeritten, und die ovalen Broschen, die bei allen Frauen die Träger des Oberkleids vor den Schultern verschlossen, waren bei ihnen auf Kaupang-Art kostbar verziert. Dazwischen zogen sich bei Bodil drei und bei Rafarta zwei Reihen mit regenbogenbunten Perlen – ein Statussymbol, das nicht einmal Eyvor als Witwe des Schiffsbauers ihr Eigen nannte.
Sie war genau die Art jüngste Tochter, die Mütter lange bei sich behalten.
»Bodil kann euch bei einer entscheidenden Sache helfen«, sagte Rafarta mit einem Blick aufs Schiff.
»Was könnte das sein?«, fragte Eyvor zögerlich. Gab es nicht nur noch zu entscheiden, ob das Meer dieses Schiff bekäme oder nicht?
»Etwas fehlt«, sagte Rafarta entschieden und wedelte in die entsprechende Richtung. »Niemandem gehorcht Holz auf die Weise, wie es Bodil gehorcht. Ich … ich biete dir an, dass wir hierbleiben und deinem Schiff den Drachenkopf schnitzen.«
Eyvor sah Tinna mit tausend Gedanken im Blick an. Dann nickte sie. »Dann bleibt dafür«, sagte sie und nahm Tinna beiseite. »Geh in den Wald und frag den Rammschädel nach diesem Ockergemisch. Für meines brauchen wir zu viel Öl, vielleicht taugt ihres was.«
Tinna nickte und verstand, dass Eyvor sah, wie ihre Figuren in der Mitte eines Hnefatafl-Spielbretts standen und dort nicht länger sicher waren. Keine Frau sollte ein Schiff bauen. Keine Frau sollte ein Schiff haben. Und ganz gewiss sollten keine zwanzig Frauen ein Schiff zu Wasser lassen.
Bodils Knotenschnitzerei hätte einen irischen Zauberer neidisch gemacht. Der Drachenkopf schlug einen Knoten mit Zunge und Zähnen, mit Mähne und Schuppen, von denen Bänder flatterten, und seine Ohren wetteiferten mit den beiden Berggipfeln, die auf der anderen Seite des Fjords eine Wegmarke für heimatliche Gestade bildeten. Als sie damit fertig war, trugen sie Skades Ockergemisch auf, und kurz darauf zierte ein rotes Wellenband das Schiff auf den oberen Planken. Eyvor konstruierte an den Verschlüssen für die Ruderöffnungen herum. Tinna und Ljot befestigten den Anker. Kaðlín und Mýrún justierten das eingeklappte Steuerruder mit Seilen. Das Segel war eingefettet, um dem Wind standzuhalten, und zusammengerollt, aber noch nie befestigt worden. Die anderen Frauen zimmerten Kisten oder verstärkten vorhandene, denn sie würden an den Riemen als Sitze und zugleich als Stauraum dienen.
Es waren Sitze, auf denen niemand sitzen und rudern würde. Zum Meer würden sie es tragen. Dort würden sie es zu Wasser lassen und es würde kentern. Oder Ráns Hände würden es greifen und herabziehen. Oder die Huscarls eines Seekönigs würden kommen und es beanspruchen und Eyvor würde sagen: »Ja, dafür habe ich es gemacht. Es ist ein Geschenk von Holz-Orms Witwe für Seekönig Þyrnir.«
Mit all dem rechnete Tinna, doch nicht mit dem, was tatsächlich geschah.
Eine letzte Frau kam an, um Eyvor und ihre so ungleichen Bootsbauerinnen in die kalten Gezeiten ihres Urðr, ihrer Bestimmung, zu stoßen.
Herdis Kráka Bollisdóttir war ungleicher als sie alle. Sie waren Fortgelaufene und Unfreie, Ergi und Heimatlose, besitzlose Möchtegernmörderinnen und wohlhabende Geschiedene. Aber sie alle waren auf irgendeine Weise einer Welt verloren gegangen, die normalerweise keine Frauen verlor – höchstens an den Tod. Herdis hingegen war keine verloren gegangene Frau. Sie war eine Erwählte Óðinns, eine Völva, eine Seherin, eine Runenwerferin, eine Urðrleserin, ein Krähenkind – und auf ihrer Fährte waren Berserker.
Keinen Fetzen und keinen Splitter würden sie von der Skjaldmær übrig lassen, wenn sie ankämen. Keine Scherbe von Eyvors Untraum. Keinen Vers von ihrer Saga.
Doch die Einzigen, die eine gute Saga mehr lieben als die Götter, sind die Göttinnen, und so weckte Rán, die Herrin der Tiefen, Eyvor um Mitternacht, noch bevor Herdis ankam. Eyvor stand auf, griff unter ihr Lager und holte Holz-Orms Schild und Bartaxt hervor.
»Wir müssen das Schiff jetzt zum Ufer bringen«, flüsterte sie, und es war, als hätten alle Schlafenden nur auf dieses Wispern gewartet. »Rán wartet.«
Die Nornen hatten Herdis’ Schicksal längst geknüpft und sie ritt um ihr Leben.
Ihr Auftauchen würde die eine Welle sein, die das Schiff in den Fjord tragen würde.
Herdis war nun seit anderthalb Jahren von ihrem Zwilling Birger getrennt. Obwohl sie eine Auserwählte war, hatte sie keinen Platz in einer Geschichte. Ihr Großvater sagte, es läge an ihrem Bruder. Er sei das Krähenkind, und dass Óðinn ihrer beider Fylgjen in Krähen verwandelt hatte, läge nur daran, dass sie Zwillinge waren. Aber dass