Erstes Kapitel
New Orleans, Louisiana, Januar 1842
»Schick mir einen Ehemann, ich flehe dich an, Heilige Mutter Gottes. Wenn es dein Wille ist, dann vermittle in dieser Angelegenheit, denn ich brauche unbedingt einen Mann.«
Juliette Armant presste die Finger ihrer gefalteten Hände fest zusammen, während sie in das gütig dreinblickende Gesicht der geschnitzten Muttergottes vor ihr blickte. Der Haltegriff an der Gebetsbank, der über die Jahre hinweg von unzähligen Händen so abgegriffen worden war, dass er nun glänzte, fühlte sich auf ihrer Haut kühl an, und durch ihren dicken grauen Cordsamtrock bahnte sich die Kälte der Kniebank unerbittlich ihren Weg. Ihr schlug der Geruch von Weihrauch, Staub und den Opferkerzen entgegen, die auf ihrem schmiedeeisernen Leuchter nahe der Tür brannten. In der leeren Kirche herrschte eine solche Stille, dass das Flackern der Kerzenflammen laut und deutlich zu vernehmen war. Bestimmt tausendmal hatte sie sich hier zum Beten hingekniet, und doch kam ihr an diesem Morgen alles so fremd vor.
»Ich bitte nicht meinetwegen um diese Gnade«, fuhr sie fort, während sie kurz, aber entschieden den Kopf schüttelte. »Du weißt sehr gut, ich rechnete nie damit, einmal zu heiraten. Mein Schicksal war es von Geburt an, der Kirche zu dienen, und ich habe das in aller Demut akzeptiert. Doch nun ist alles anders. Mir fehlt es an der Schönheit genauso wie am Geschick zu kokettieren, um einen Mann auf mich aufmerksam zu machen, und es gibt niemanden, der für mich eine Ehe arrangieren könnte. Meine Mutter hat nicht den Willen dazu, aber du weißt ja auch, wie schwer sie geprüft ist. Ich muss umgehend heiraten, sonst ist alles verloren.«
Juliette fragte sich, ob sie wohl wirklich richtig handelte. Sie hatte beharrlich versucht, einen anderen Ausweg aus ihrem Dilemma zu finden, doch ihr wollte nichts Brauchbares in den Sinn kommen. Wie hatte es nur dazu kommen können, wo doch alles so völlig anders hätte sein sollen?
»Oh, Heilige Mutter, lass es bitte einen freundlichen Ehemann sein, den du mir schicken wirst, aber auch keinen zu sanftmütigen. Er muss kräftig sein und einen starken Willen haben, denn beides wird er ganz bestimmt benötigen. Intelligenz wäre auch von Nutzen, ebenso diplomatisches Geschick. Ich bitte dich nicht darum, dass er attraktiv sein muss, doch es würde mir nichts ausmachen, wenn er um unserer zukünftigen Kinder willen hübsch anzusehen wäre.« Leise aufstöhnend schloss sie die Augen und sprach weiter: »Nein, nein, vergiss bitte, dass ich das gesagt habe. Du, die alles weiß, wirst ganz bestimmt auch wissen, was nötig ist. Ich bitte dich nur, mir einen Mann zu schicken, und das so schnell, wie es nur möglich ist.«
Juliette bekreuzigte sich, drückte die Faust in rascher Folge auf Lippen und Herz, dann erhob sie sich. Sie konnte nicht länger in der heiligen Ruhe verweilen. Zu Hause würde man bald ihr Verschwinden bemerken, und ihr lag nicht daran, erklären zu müssen, wo sie hingegangen war und wieso sie das Haus ohne Zofe als Anstandsdame verlassen hatte. Vermutlich würde sie ihrer Mutter und ihrer Zwillingsschwester irgendeine Geschichte auftischen können, doch Ausflüchte fielen ihr nach diesen vielen Jahren als Nonne nicht so leicht.
Um die Kirche verlassen zu können, musste sie an den Opferkerzen vorbeigehen, die nahe der schweren Vordertür aufgestellt waren. Der Luftzug, den sie beim Gehen verursachte, musste die Flammen zum Flackern gebracht haben. Denn aus dem Augenwinkel sah sie etwas hell aufleuchten. Sie wandte sich in die Richtung dieses intensiven Lichts und erkannte, dass ausgerechnet die Kerze am intensivsten
brannte, die sie vor dem Gebet aufgestellt hatte. Eine große, kräftige Flamme, die um ein Mehrfaches heller war als bei jeder anderen Kerze. So hell, dass es sie blendete, entfaltete sich das Licht und tanzte vor ihr wie ein goldener Stern.
Juliette blieb abrupt stehen und hielt den Atem an. Sie war nicht so abergläubisch wie ihre Mutter, die ihr Leben von tausenden Überzeugungen, Verboten und Weisheiten bestimmen ließ, dennoch änderte das nichts an dem Schauer, der ihr vom Kopf bis zu den Zehenspitzen über den Körper fuhr.
War dies etwa ein Omen? Bedeutete es womöglich, dass ihr Gebet erhört worden war?
Sie kniff die Augen zusammen und bekreuzigte sich erneut, erst dann ging sie weiter. Als sie die Kirche verließ, waren ihre Schritte beschwingter, und Hoffnung ließ ihr Herz so strahlen wie die Flamme der Kerze, die sie zu ihrem Gebet aufgestellt hatte.
Vor dem Gotteshaus blieb Juliette stehen und zog die Handschuhe aus dem Ärmel, wohin sie sie gesteckt hatte, als sie nach einer Münze für ihre Kerze suchte. Fast hätte sie sie nun vergessen. Oh, wie entsetzt ihre Mutter und Paulette reagieren würden, sollte man sie auf der Straße mit bloßen Händen sehen. Bis vor zwei Wochen waren solche Dinge bedeutungslos gewesen. Im Kloster war es wichtiger, dass man mit seinen Händen zupacken konnte und wollte. Ob sie makellos gepflegt waren, zählte dort nicht. Ein ironisches Lächeln umspielte Juliettes Mundwinkel, dann aber seufzte sie leise und begann, die lavendelfarbenen Glacéhandschuhe überzustreifen, die sie sich von ihrer Schwester geborgt hatte.
Es versprach ein schöner Tag zu werden. Bereits jetzt drangen die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne durch den Nebel über dem Fluss jenseits des Deichs, und die Luft war mild und fast schon warm. Die Dampfpfeife eines ablegenden Postschiffs ertönte und ließ im nahe gelegenen Geschäft
des Vogelhändlers die Affen schreien und die Papageien lautstark kreischen. Eine leichte Brise trug von den Docks den Geruch von Schlamm, Fisch, gärenden Melassen und überreifen Bananen zu ihr herüber. Darunter mischte sich der Gestank von Abfällen aus dem Rinnstein, der mitten durch die Gasse zwischen der Kirche und dem Pfarrhaus verlief. Doch da war auch der Duft von geröstetem Kaffee wahrzunehmen. Der kam vom Markt, auf dem die Händler gerade ihre Stände aufbauten, um für die frühmorgendliche Kundschaft bereit zu sein, wenn die mit einem Korb im Arm nach frischem Brot, Brioche und Croissants Ausschau hielt. Bei diesem Gedanken knurrte Juliettes Magen leise, und sie wünschte, sie könnte etwas von den Dingen kaufen, die sie von der nahe gelegenen Bäckerei mit ihrem Duft lockten. Aber das ging nicht, da sie dadurch ihren heimlichen Ausflug verraten hätte.
In diesem Augenblick zerriss hinter ihr ein gellender, verzweifelter Aufschrei die Morgenruhe. Er stammte von keinem Papagei oder Affen, sondern von einem Kind.
Juliette drehte sich so schnell um, wie es ihre schweren Röcke zuließen. Gerade noch konnte sie sehen, wie ein Junge hinter der Kirche um die Ecke gerannt kam. Er mochte kaum älter als drei Jahre sein, war von schmaler Statur, hatte einen schwarzen Lockenkopf und ebenso schwarze Augen, die vor Entsetzen weit aufgerissen waren. Er ruderte mit den Armen und rannte, was seine kurzen Beine hergaben. Sein Mund stand offen, und er schrie noch immer.
Schwere Schritte waren nun auf dem Pflaster zu hören, und dann kam ein Mann in Sicht, der den Jungen verfolgte. Er war groß und breitschultrig, und mit seinen langen Beinen machte er so große Schritte, dass er das Kind bald einholen musste. Auf seinem Gesicht lag eine finstere Entschlossenheit, als er seine Beute erreichte und einen Arm ausstreckte, um das zerlumpte, flatternde Hemd des Jungen zu fassen zu bekommen.
Der Kleine wich zur Seite aus und entkam der Hand des Mannes um Haaresbreite. Er rannte nun geradewegs auf Juliette zu, änderte nur ein wenig seine Richtung und klammerte sich an ihren Röcken fest, als er auf gleicher Höhe mit ihr war. Durch seinen Schwung machte sie ungewollt eine halbe Drehung, während er hinter ihrem ausladenden Reifrock Schutz suchte.
Der Gentleman kam kurz vor ihr zum Stehen, dann griff er auf der linken Seite um Juliette herum, als sie sich zu ihm umdrehte. Der Junge wich zur anderen Seite aus und riss Juliette erneut herum, diesmal so heftig, dass sie fast den Halt verloren hätte. Der Verfolger täuschte zur anderen Seite an, doch auch diesmal bekam er den Jungen nicht zu fassen.
»Stopp! Hören Sie sofort damit auf!«, rief Juliette und packte ihre Röcke, um zu verhindern, dass man sie noch einmal in irgendeine Richtung drehte. »Stopp! Haben Sie nicht gehört?«
Es war der Tonfall, mit dem sie sonst die Kinder in der Klosterschule dazu brachte, den Mund zu halten. Die Wirkung war erfreulich. Der Junge blieb wie angewurzelt stehen und schnappte nach Luft. Der Gentleman hielt inne, dann richtete er sich zu voller Größe auf. Einen Moment lang schwiegen sie alle drei, während sie sich einander abschätzend betrachteten.
Der Verfolger des Jungen fand als Erster die Sprache wieder. Er zog seinen Seidenhut, den er zwischenzeitlich wieder aufgesetzt hatte, und beschrieb eine Verbeugung von vollendeter Eleganz.
»Verzeihen Sie, Mademoiselle. Ich möchte nur diesen kleinen Satan zu fassen kriegen, der sich hinter Ihnen versteckt.«
Seine tiefe, volle Stimme mit ihrem fast melodischen Rhythmus hatte auf Juliette eine höchst sonderbare Wirkung. Es war fast so, als würde diese Stimme sich wie ein
Mantel um sie legen, all ihre Sinne überwältigen und tief in ihrem Inneren widerhallen. Eine träge, irritierende Hitze flammte irgendwo in der Magengegend auf und breitete sich in ihrem ganzen Körper aus. Es war ein sehr eigentümliches Gefühl, wie sie es noch nie gespürt hatte. Einen Moment lang stand sie einfach nur nachdenklich da, den Blick auf den Gentleman gerichtet.
Dass er die männliche Schönheit in Person war, stand außer Frage. Glänzendes schwarzes gewelltes Haar, auf kecke Art zerzaust von der Verfolgungsjagd. Eine Locke hatte sich auf seine Stirn verirrt. Seine Augen waren fast so dunkel wie sein Haar, dichte, geschwungene Wimpern rahmten sie ein. Die Brauen wiesen einen fast schon satanischen Zug auf, dazu eine gerade, römisch anmutende Nase. Vervollkommnet wurde das Gesicht durch einen beinahe sündigen Mund mit vollen, makellosen Konturen. Juliette fühlte sich an Kupferstiche italienischer Meister erinnert, die in ihren Werken gefallene Engel verewigt hatten.
Ihr erschien es, als würde sie ihn kennen, auch wenn sie sich sicher war, dass sie einander nie vorgestellt wurden. Bei ihren seltenen Besuchen zu Hause ging sie so gut wie nie aus, abgesehen von den gesellschaftlichen Anlässen bei ihrer Familie oder bei Freunden, sodass ihr Bekanntenkreis recht klein war. Und doch war da irgendwo eine flüchtige Erinnerung …
Der Gentleman erwiderte ihren Blick und musterte sie abschätzend, wobei er ihr zunächst ins Gesicht sah, dann aber den Schwung ihrer Schultern und ihres Busens unter dem blassen Stoff musterte. Es geschah so schnell, dass es ihr vielleicht gar nicht aufgefallen wäre, hätte sie ihn nicht so aufmerksam betrachtet. Ihr kam es vor wie eine flüchtige Liebkosung, die ihr auf der Haut kribbelte. Sie bemerkte, wie sich ihre Brustspitzen aufrichteten, als würde ihr ein Schauer über den Körper laufen. Sie war jedoch davon überzeugt, es war lediglich dieser ungewöhnliche Blick, der diese Wirkung bei ihr auslöste. Die meisten Männer, die sie kannte,
wären sich dessen bewusst gewesen, wie unangemessen ein solches Verhalten gerade ihr gegenüber wirkte. Zumindest war das bis zu den jüngsten Ereignissen so gewesen, hielt sie sich vor Augen.
Vielleicht war es ihr plötzliches Erröten, das den Gentleman dazu brachte, sich wieder auf den Jungen zu konzentrieren, der sich immer noch an sie klammerte.
»Non, mais non«, rief der Junge, als der Mann einen Schritt nach vorn machte, und riss sie mit seinem gelispelten Protest aus ihrem Tagtraum. »Ich geh nich mit dir mit!«
»Das wirst du sehr wohl, wenn du weißt, was gut für dich ist«, sagte der Gentleman und setzte den Hut wieder auf.
»Non, non, non!«
»Ich gebe dir auch ein Bonbon …«
»Du gibs mir ’n Bad! Will kein Bad!« Die Stimme des Jungen klang hysterisch.
Der Gentleman täuschte zur einen Seite an, dann griff er mit einer Drehung zur anderen Seite um Juliette herum. Er hätte den dünnen Arm des Jungen sicherlich zu fassen bekommen, wäre der nicht mit einem Aufschrei nach hinten zurückgewichen und dabei auf sein Hinterteil gefallen.
»Monsieur«, sagte Juliette entschieden und stellte sich vor das Kind. »Es wäre viel besser, wenn Sie es mit vernünftigen Argumenten versuchen würden, anstatt Ihrem Sohn Angst zu machen.«
»Noch besser wäre es, wenn Sie mir aus dem Weg gehen würden.« Der Mann würdigte sie kaum eines Blickes, als er versuchte, ein Bein des Jungen zu fassen zu bekommen, der ihm aber erneut entwischte.
»Er darf mich nich kriegen! Nein, nein, nein …«, jammerte der Junge, während er über das raue Pflaster vor der Kirche außer Reichweite rutschte.
»Monsieur!« Juliette schoss auf den Gentleman zu, da die Schreie des erbärmlich dünnen Jungen sie zutiefst anrührten.
Mit finsterer Miene ignorierte der Vater sie und unternahm einen weiteren Versuch, den Jungen zu packen. Juliette hob eine Hand und fasste den Mann am gerollten Samtkragen seines tabakbraunen Gehrocks. Im nächsten Moment war das Geräusch von zerreißendem Stoff zu hören.
Der Gentleman verharrte einige Augenblicke lang in seiner vorgebeugten Haltung, dann richtete er sich langsam auf, bis er vor Juliette stand und sie deutlich überragte. Er zog die Augenbrauen zusammen und warf ihr einen Blick zu, der voller Wut war.
»Mademoiselle«, setzte er mit unheilvollem Tonfall an.
Juliette ließ ihn los, während ihr noch heißer wurde. Den Blick auf die Stelle gerichtet, an der sie den Kragen vom Revers abgerissen hatte, sagte sie förmlich: »Dieses Missgeschick tut mir leid, aber es ist ganz allein Ihre Schuld. Ich kann nicht zulassen, dass Sie den Jungen grob behandeln. Das ist grausam und …«
»Grausam?«, wiederholte ihr Gegenüber entrüstet. »Sie sehen das Ganze völlig falsch, das versichere ich Ihnen. Dieser Bengel macht viel Lärm um nichts. Wenn Sie wüssten, wozu er in der Lage ist, dann …«
Der Gentleman redete weiter, doch Juliette hörte ihm längst nicht mehr zu. Mit einem Mal überkam sie die erschreckende Gewissheit, wer dieser Gentleman war. Hätte sie nicht so viel Zeit ihres Lebens hinter Klostermauern verbracht, hätte sie ihn bestimmt sofort erkannt. Berichte über seine Eskapaden waren sogar bis ins Kloster vorgedrungen, wo junge Mädchen sie sich hinter vorgehaltener Hand erzählten, die über solche Dinge eigentlich gar nichts wissen sollten. Es war Paulette, die auf der Straße auf ihn hingewiesen hatte, als Juliette im Winter des Jahres zuvor bei ihrer Familie zu Besuch gewesen war. Jetzt hämmerte ihr Herz so wild in ihrer Brust, dass sie kaum atmen konnte.
La Roche.
Der Mann vor ihr war der berüchtigte Fechtmeister Nicholas
Pasquale, genannt The Rock oder La Roche, da er auf der Fechtmatte eine schier reglose Kampfhaltung einnahm und sein Körper wie versteinert wirkte. Er war bei einem Duell noch nie touchiert worden, und selbst bei den Fechtstunden, die er gab, ließ er kaum einmal zu, dass man ihn touchierte. Von zärtlichen Gefühlen, so erzählte man sich, war er noch nie berührt worden. Er galt als der beste Fechter der Stadt, wenn man jenen glaubte, die es wissen sollten. Er kämpfte in der Position Sinister oder linkshändig, was ihn zu einem erschreckenden und recht bizarren Gegner machte. Junge Männer imitierten sein Verhalten und seinen perfekten Stil, was die Garderobe betraf. Ältere Männer dagegen wurden blass, wenn sie seinen Namen hörten, und versuchten, sich bei ihm einzuschmeicheln. Man tuschelte, er habe ein halbes Dutzend Männer im Ehrenhandel getötet, in einem Fall auch den Ehemann einer Frau, die halb nackt in den Privaträumen seines Ateliers entdeckt worden war. Dazu kam, dass er auch noch vom Glück verfolgt wurde. Immerhin hatte er jüngst in der staatlichen Lotterie ein Vermögen gewonnen, das sich auf die bis dahin unvorstellbare Summe von mehr als zwei Millionen Dollar belief.
Er war der gefährlichste, meistgefürchtete Mann von ganz New Orleans, der zudem für einen erlesenen Geschmack in Fragen seiner Garderobe bekannt war und gute Kleidung schätzte. Und sie, Juliette Armant, hatte nicht nur die Hand gegen ihn erhoben, sondern auch noch seinen Mantel zerrissen.
Der kleine Junge schien in Juliette wohl eine Verbündete zu sehen, daher bezog er wieder hinter ihr Stellung. La Roche beugte sich abermals vor, um nach ihm zu greifen. Schnell wie eine Maus packte das Kind mit beiden Händen Juliettes aschgrauen Cordsamtrock und die Unterröcke, hob sie hoch und schlüpfte darunter. Der schwere Stoff legte sich über ihn und bedeckte ihn so vollständig, dass er ganz unter den großzügigen Falten verschwand.
Einen Moment lang war Juliette vor Wut wie gelähmt. Ihr stockte der Atem, und es hatte ihr die Sprache verschlagen. Eine Mischung aus Entsetzen und Bewunderung für den Mut des Jungen, aber auch aus Angst und Vorsicht, als sie in Nicholas Pasquales Augen schaute, überkam sie.
Der Fechtmeister fluchte leise, wich ein paar Schritte zurück und drehte ihr den Rücken zu. Er fuhr sich durchs Haar und legte dann eine Hand in den Nacken, gleichzeitig hob und senkte sich seine Brust bei jedem seiner Atemzüge. Es war deutlich, wie bemüht er war, sein Temperament zu zügeln. Juliette hielt es für das Beste, ihn dabei nicht zu stören.
Noch während sie den Fechtmeister ansah und dabei bemerkte, wie sehr sich sein Rücken von den breiten Schultern bis hin zur Taille seines Gehrocks verjüngte, spürte sie, wie der Junge sich enger an ihre Beine schmiegte. Sie fühlte dabei die Wärme seines kleinen knochigen Körpers Ihr wurde schwer ums Herz, und in ihr regte sich der sonderbare, aber dringende Wunsch, den Jungen um jeden Preis zu beschützen – ganz gleich wie gefährlich dessen Feinde auch sein mochten.
Sie presste die Lippen zusammen und atmete durch die Nase ein, dann sagte sie so energisch, wie sie nur konnte: »Monsieur, ich schlage vor …«
»Was schlagen Sie vor, Mademoiselle?«, fiel Nicholas Pasquale ihr ins Wort, während er sich zu ihr umdrehte. »Sie hatten kein Recht, sich einzumischen. Sehen Sie sich doch an, was es uns eingebracht hat. Ich bin nur froh darüber, dass sich noch keine Zuschauer um uns geschart haben – jedenfalls bis jetzt nicht.«
Es stimmte, was er sagte. Juliette sah sich auf dem Zugang zur Kirche und auf der Place d’Armes davor um. Die wenigen Leute, die um diese Zeit unterwegs waren, nahmen keine Notiz von ihnen. Doch das würde nicht mehr lange so bleiben, und sie machte eine leicht besorgte Miene, als sie darüber nachdachte.
Der Fechtmeister bemerkte ihr momentanes Zögern und versuchte, die Gunst des Augenblicks zu nutzen. »Wenn Sie sich Ihres … Eindringlings entledigen wollen, ohne in Verlegenheit gebracht zu werden, dann sollten Sie das besser sofort machen, oder finden Sie nicht?«
Sie warf ihm einen kühlen Blick zu. »Mir ist nicht bewusst, dass ich ihn loswerden möchte.«
»Kommen Sie schon, Mademoiselle, und seien Sie vernünftig. Ich will dem Jungen nichts antun, sondern ihn lediglich von Schmutz und Ungeziefer befreien. Sie müssen nichts weiter tun, als sich umzudrehen und ihn hervorzuholen. Ab da übernehme ich dann.«
»Ich bin mir sicher, Sie denken …«
Mitten im Satz brach sie ab und schnappte ungläubig nach Luft.
»Mademoiselle?«
Der Junge unter ihrem Rock hatte eine Hand an ihre Kniekehle gelegt, was ihr an sich nichts ausgemacht hätte. Allerdings schien er zugleich die Seide ihres Strumpfes zu testen, indem er die Hand langsam nach unten bewegte und dabei ihren Unterschenkel und Knöchel erkundete.
Juliette machte den Mund zu, tastete ihren Rock ab, bis sie den Kopf des Jungen unter dem Stoff fühlte, dann gab sie ihm einen leichten Klaps. »Lass mich los, mon petit«, forderte sie ihn auf. »Hör sofort damit auf.«
Nicholas Pasquale kniff ein wenig die Augen zusammen, als er ihre missliche Lage verstand. Langsam verzog er den Mund zu einem unglaublich verlockenden Lächeln. Mit tiefer Stimme, die zweideutiger nicht hätte klingen können, fragte er: »Gibt es ein Problem, Mademoiselle?«
Sie weigerte sich, darauf zu antworten. Der kleine Teufel hatte beide Hände an ihren Unterschenkel gelegt und bewegte sie auf und ab, als sei er von der seidigen Oberfläche des Stoffs gefesselt.
»Für den Fall, dass Sie es wissen müssen: Sein Name ist
Gabriel.« Pasquale verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete sie weiter.
»Danke«, gab sie steif zurück. »Ich bezweifle, ihn ohne Gegenwehr hervorholen zu können. Vielleicht könnten Sie …«
»Ach, ich weiß nicht. Es wäre womöglich gemein, ihn beim Spielen zu stören. Der arme, misshandelte Junge hat so selten Gelegenheit, sich zu vergnügen. Ich bin davon überzeugt, nichts von dem wird verkehrt sein, was immer er auch unter dem Stoff tun mag.«
Juliettes Gesicht glühte vor Scham, und sie musste den Kopf so drehen, dass die Seite ihres Huts ihm den Blick versperrte. »Er ist nur ein Kind und damit von Natur aus neugierig. Ich messe dem Ganzen keine Bedeutung zu, das kann ich Ihnen versichern …«
»Dass Sie ihn unter Ihren Röcken Erkundungen vornehmen lassen, die bislang vermutlich noch keinem erwachsenen Mann zugestanden wurden … das könnte bei mir fast Neid wecken.« Es war ein schiefes Lächeln, das der Fechtmeister aufgesetzt hatte.
»Seine Erkundungen sind völlig unschuldiger Natur!« »Was bei meinen Erkundungen nicht der Fall wäre, wie Sie ja selbst andeuteten. Und doch luden Sie mich ein, dorthin vorzudringen.«
»Ich habe nichts dergleichen getan!«
»Ich glaube, Sie wollten den Vorschlag machen, ich solle unter den Stoff greifen und unseren kleinen Gabriel zurück ans Tageslicht holen. Sagen Sie nicht, dass Ihnen der Gedanke nicht durch den Kopf ging, unmittelbar bevor Sie auf eine bessere Idee kamen.«
»Ich kann so etwas überhaupt nicht … ich meine … ich wollte sagen …« Sie machte einen Schritt und schlenkerte ihre Röcke hin und der, da sie versuchte, die Aufmerksamkeit des Jungen irgendwie abzulenken. Der jedoch vollzog dieses Manöver nach und rutschte auf den Knien umher, sodass
sein Kopf sich auf eine höchst peinliche Manier unter ihren Röcken bewegte.
»Ich weiß genau, was Sie meinen«, erklärte Pasquale mit gespieltem Mitgefühl, schnalzte mit der Zunge und fügte dann hinzu: »Mon Dieu, was ist der Kleine doch für ein Casanova – und das bereits in dem Alter.«
»Ich bin mir sicher, ihm wurde diese Fähigkeit in die Wiege gelegt », gab sie harsch zurück.
In den Augen des Fechtmeisters blitzte Belustigung auf. »Fähigkeit? Ah, verstehe. Wie der Vater, so der Sohn, meinen Sie. Ich sollte erfreut sein über das Kompliment, allerdings müssen Sie wissen, dass er es noch nicht so ganz mit seinem Vorbild aufnehmen kann.«
Das hitzige Versprechen hinter dem amüsierten Ausdruck in seinen pechschwarzen Augen raubte Juliette den Atem. Mit einem Mal kam es ihr so vor, als schnüre ihr Korsett sie über alle Maßen ein und als drücke der Ausschnitt ihres Kleids ihr die Luft ab. Ihr Blick wanderte zu seinen Händen, zu den langen Fingern, die so geschmeidig und so kraftvoll waren. Es schien ihr, als könnte sie fühlen, wie diese Finger mit ihren Strumpfbändern spielten – so wie es der junge Gabriel in diesem Augenblick machte. Eine glühende Schwere regte sich in ihrem Körper, und sie begann, leicht zu schwanken.
»Zu schade«, fügte er mit sanfter Stimme an, »dass wir nie Gewissheit darüber bekommen werden.«
Er kokettierte mit ihr, er, der Fechtmeister, der berüchtigtste von ganz New Orleans, überlegte Juliette wie benommen. Sie hatte miterlebt, wenn ihre Zwillingsschwester extravagantes Lob erhielt und mit delikaten, eindeutigen Anspielungen ihrer Bewerber bei Soireen oder in der Oper bedacht wurde, doch sie selbst war in dieser Kunst nicht geübt, erst recht nicht bei einem solchen Gegenüber. Wie berauschend das doch war, und wie beunruhigend zugleich. Immerhin war ihr bewusst, dass die Bemerkungen des Gentlemans
nicht ganz so persönlich ausfallen sollten. Sie war sich auch ziemlich sicher, dass er nicht ein einziges Wort ernst meinte.
Es kostete sie enorme Anstrengung, ihre Sinne wieder unter Kontrolle zu bekommen, doch als es ihr endlich gelungen war, brachte sie sich dazu, den Blick von ihm abzuwenden. »Genug, Monsieur. Ich bin davon überzeugt, Gabriel wird gehorchen, wenn Sie mit fester Stimme mit ihm reden und ihm nicht drohen.«
»Davon sind Sie überzeugt?«
»Warum sollte er es nicht tun? Er muss doch daran gewöhnt sein.«
»Aber keineswegs. Er ist die Brut des Teufels, wenn Sie es genau wissen wollen. Er beißt und kratzt wie eine wilde Katze, und er beugt sich keinem fremden Willen, sondern macht nur, was er für richtig hält.«
»Meine Güte, hat er denn keine Mutter, die ihm beibringen kann, wie man anderen vertraut und gehorcht?«
»Sie hat man seit einem Monat oder länger nicht mehr gesehen.«
Aus seiner Stimme waren nur wenig Sorge und noch weniger Verantwortung herauszuhören. Ein uneheliches Kind also. Es überraschte sie nicht, hatte sie doch noch nie gehört, dass La Roche sein Leben über längere Zeit mit einer einzigen Frau verbrachte, von einer Ehefrau ganz zu schweigen. Der arme kleine Gabriel.
»Ich denke, es ist gut von Ihnen, dass Sie sich des Jungen angenommen haben, aber ganz offensichtlich haben Sie ihn nicht richtig erzogen.«
Nicholas Pasquale reagierte mit einem arroganten Blick. »Und wieso sollte das Ihre Sorge sein?«
»Es ist nicht meine Sorge, sondern ganz normales Mitleid.«
»Und doch würden Sie sich einmischen.«
»Jeder hat die Pflicht, sich einzumischen, wenn er sieht,
wie ein Kind misshandelt wird«, erklärte sie und hob trotzig das Kinn.
»Der kleine Kerl«, gab er mit Nachdruck zurück, »wird von mir nicht misshandelt.«
»Nach dem zu urteilen, was ich gesehen habe, sind Sie ihm aber auch nicht liebevoll zugetan.«
»Und bei Ihnen wäre das der Fall?«
»Bei jeder Frau wäre das der Fall«, hielt sie aufgebracht dagegen. »Für mich ist klar, dass Ihr Sohn eine Mutter braucht.«
»Eine Mutter.«
»Ganz genau.«
Lange sah er sie an, dann begann er zu lächeln. »Dann heiraten Sie mich doch und werden Sie seine ihn liebende Maman.«
»Sie heiraten? Warum um alles …?«
Mitten in ihrer zornigen Erwiderung verstummte Juliette. Sie hätte in diesem Augenblick kein Wort mehr über die Lippen bekommen, selbst wenn die Errettung ihrer Seele davon abhängig gewesen wäre.
Ihn heiraten.
Er stand da, die Hände in die Hüften gestemmt und sah sie an, als warte er auf eine Antwort. Aber das konnte doch nicht sein Ernst sein, oder etwa?
Ihn heiraten.
Ihr Gebet kam ihr in Erinnerung, als wäre es ein Traum. Kräftig, willensstark, attraktiv … o nein, er war mehr als nur attraktiv, sondern über alle Maßen gut aussehend, mit breiten Schultern und muskulöser Brust, Muskeln, die beim Fechten geformt worden waren. Dazu ein Leuchten in den Augen, das ungeahnte Freuden versprach. Intelligent war er auch, denn er sprach gebildet, und er verstand alles ohne langwierige Erklärungen – und manches sogar ganz ohne Worte.
Aber war er auch freundlich? Oder würde er es je sein?
Sie hatte für einen Ehemann gebetet, und nun stand er vor ihr und bot ihr die Ehe an. Das Omen der Kerze war echt gewesen. Hier war er, der Mann, der die Antwort auf ihr Flehen verkörperte.
Ihn heiraten.
War das wirklich der Mann, der ihr geschickt worden war, um sie zu ehelichen? Wenn ja, dann konnte die Heilige Mutter nicht richtig zugehört haben!
»Sie sind ein Fechtmeister«, sagte Juliette ein wenig verzweifelt.
»Nicht mehr lange. Ich gehe davon aus, bald häuslich zu werden und ein Leben als anständiger Bürger zu führen.«
»Für Ihren Sohn. Ja, ich verstehe«, erwiderte sie und gab sich alle Mühe, über seinen sarkastischen Tonfall hinwegzugehen. »Zu heiraten ist eigentlich gar nicht Ihr Wunsch.«
»Bis zu diesem Moment hatte ich es nicht in Erwägung gezogen, doch nun wird mir die Bedeutung dieser Idee immer bewusster.«
Er lächelte sie auf eine so charmante Weise an, dass sich Lachfältchen in seinen Augenwinkeln bildeten und Juliettes Herz unwillkürlich einen Satz machte. »Ich kenne Sie nicht, und Sie kennen mich auch nicht.«
»Dieses Problem wird sich mit der Zeit erledigen. Dieser Situation begegnet man oft bei derartigen Zweckbündnissen.« Er legte den Kopf ein wenig schräg. »Sie würden das wirklich als einen Heiratsantrag betrachten?«
»Ich muss es, um genau zu sein.«
»Sie müssen?«
Seine Stimme klang ruhig, seine Miene zeigte zu Juliettes Erstaunen nur einen leicht fragenden Ausdruck. Die wenigsten Männer hätten die versteckte Andeutung, sie könnte ein Kind erwarten, so gelassen aufgenommen. »Nicht aus dem Grund, den Sie wohl vermuten dürften. Ich bin nicht … ich will sagen, dass kein Zustand körperlicher Natur eine Heirat für mich zwingend macht. Ich bin völlig … völlig …«
»Unberührt, ja. Es ist erfreulich zu wissen, wie zutreffend mein erster Eindruck war.«
»Mon Dieu, wollen Sie mir denn gar keine Gelegenheit lassen, es Ihnen zu erklären?«, rief sie verärgert.
»Sind Sie sich denn sicher, dass Sie das wirklich möchten? Ich wollte Ihnen nur diese Unannehmlichkeit ersparen.«
Genau das hatte er auch getan, wie sie nun mit Erstaunen feststellen musste. »Danke, ich bin mir sicher. Aber was ist mit Ihnen?«
»Ich versichere Ihnen, ich erwarte kein Kind«, antwortete er todernst.
Sie schloss die Augen und fragte sich, ob sie wohl noch heftiger würde erröten können. »Das ist mir klar, ich bin schließlich kein Dummkopf. Ich hatte mit meiner Frage in Erfahrung bringen wollen, ob Sie tatsächlich heiraten wollen.«
Er nickte entschieden. »Verrückt, nicht wahr? Und doch treffe ich jedes Mal Entscheidungen von weit größerer Tragweite, wenn ich zum Duell antrete. Wo ist der Unterschied zwischen diesem Ansinnen und der Entscheidung über Leben oder Tod eines anderen Menschen im Duell? Sie haben völlig recht, ich benötige eine Ehefrau. Es wäre mir ein Vergnügen, wenn Sie diese Rolle übernehmen würden.«
»Ein Vergnügen.«
Sein Lächeln nahm einen ironischen und auch leicht schmeichelnden Ausdruck an. »Sie würden ein Werben mit mehr Leidenschaft bevorzugen? Ich könnte versprechen, es später nachzuholen, wenn Sie damit einverstanden wären.«
»Das wäre unnötig, das kann ich Ihnen versichern«, sagte sie sofort. »Ich bin nicht so dumm zu glauben, Sie könnten jemals etwas für mich empfinden.«
»Nun verwirren Sie mich. Soll ich das so verstehen, dass Sie davon ausgehen, auch nichts für mich zu empfinden?«
Juliette fragte sich, ob das Ganze noch absurder oder noch peinlicher werden konnte. »Wir sind Fremde, die über ein
Zweckbündnis reden«, erwiderte sie in einem nüchternen Tonfall. »Es kommt mir unwahrscheinlich vor.«
»Sie werden mich aber trotzdem heiraten, oder nicht?«
Es war verrückt, so wie er es auch gesagt hatte. Es war aber auch eine Frage des Glaubens – die Frage, wie stark ihr Glaube im Angesicht eines Wunders sein würde.
Hätte sie sich zuvor ein Bild von dem Mann gemacht, der als ihr Ehemann zu ihr kommen sollte, dann wäre es sicherlich ein älterer vermögender Mann gewesen, jemand, der eine besänftigende Wirkung auf ihre Mutter und ihre Schwester hatte und der mit der Bedeutsamkeit seiner unanfechtbaren Reputation alles richten würde. Niemals hätte sie einen Maître d’armes mit einem mageren Straßenkind im Schlepp und dem Ruf erwartet, für Männer und Frauen gleichermaßen eine Gefahr darzustellen. Welchen Nutzen hatte für sie ein Ehemann, der es mit einer Klinge in der Hand mit jedem anderen Mann aufnehmen konnte? Und was würde sie machen, wenn sich ihr Problem gelöst hatte und ihr Leben wieder in geordneten Bahnen verlief?
Man sollte sie in ein Gefängnis zu den anderen Verrückten sperren, weil sie allein schon in Erwägung zog, diesen Mann zu heiraten. Oder sie sollte die Beine in die Hand nehmen und das Weite suchen, bevor es zu spät war. Stattdessen aber stand sie einfach nur da und unternahm nichts.
»Ja«, erwiderte sie leise. »Ich werde Sie heiraten.«
Seine Zukünftige war so ernst, überlegte Nicholas. Das gefiel ihm. Sie hatte klare Ansichten, und sie machte keinen Hehl daraus, sie anderen kundzutun. Sie lächelte nicht affektiert, sie ließ auch nicht die Lider flattern, und genauso wenig täuschte sie eine Schüchternheit vor, die sie gar nicht empfand. Stattdessen sah sie ihm so eindringlich in die Augen, als könnte sie bis tief in seine Seele blicken. Ihre Kleider
waren von guter Qualität, allerdings in erster Linie zweckmäßig, nicht modisch. Die düsteren Farbtöne hätten besser zu einer Frau gepasst, die noch in Trauer war. Ihr Haar, das kaum unter dem Hutrand hervorlugte, war von einem unscheinbaren Braun, und die Farbe ihrer großen, klaren Augen war eine Mischung aus verschiedenen Tönen, die man als haselnussbraun bezeichnete. Sie war weder auffallend klein noch groß, weder dünn noch dick, aber sie hatte eine hübsche Figur, die eine außergewöhnliche Ausstrahlung besaß. Das Markanteste an ihr war der Mund. Ihre Unterlippe war so verlockend voll, dass er kaum seinen Blick abwenden konnte. Gleichzeitig bekam er einen trockenen Mund, da er sich danach verzehrte, ihre Lippen zu kosten. Sie würden auf seiner Zunge so wundervoll süß schmecken wie ein perfekt zubereitetes Dessert, dachte er, als er sich dieses Erlebnis ausmalte.
»Es könnte von Nutzen sein«, sagte er und räusperte sich, »wenn Sie mir Ihren Namen sagen würden.«
Sie sprach die Silben so leise aus, dass sie in der Morgenluft einem Flüstern gleichkamen.
Juliette Armant …
Eine entmutigende Einsicht überkam Nicholas. Juliette Armant, natürlich. Erst vergangene Woche noch hatte er ihre Schwester in den Tivoli Gardens gesehen. Sie hatte sich mit ihren Freundinnen über irgendeine fixe Idee ihrer Mutter unterhalten, die ihre Zwillingsschwester betraf, da die nach über einem Jahr erst kürzlich nach Hause zurückgekehrt war. Tja, und wo hatte sie in der Zwischenzeit gelebt? In einem Kloster!
Nicholas schloss die Augen. Er hatte einer Nonne einen Heiratsantrag gemacht! Schlimmer noch, er hatte ihr unkeusche Gedanken unterstellt, er hatte sich ausgemalt, wie es sein würde, sie unter ihren Röcken zu berühren. Ihm gelüstete danach, mit seiner Zunge über ihre Unterlippe ebenso zu streichen wie über andere Stellen ihres Körpers, die nicht
so leicht zugänglich waren. Der Weg in die Hölle war ihm damit sicher, auch wenn ihn das keinesfalls wunderte. Immerhin war sein Lebenswandel schon seit dreißig und mehr Jahren darauf ausgerichtet, letztlich in diese finsteren Regionen hinabzusteigen.
Schnell nahm er wieder seinen Hut ab, klemmte ihn sich unter den Arm und senkte den Kopf. »Verzeihen Sie mir. Ich wollte Sie nicht beleidigen, das schwöre ich Ihnen. Hätte ich es gewusst und wären die Umstände nicht so eigenartig gewesen, dann wäre es mir nie in den Sinn gekommen, so mit Ihnen zu reden.«
»Sie hätten mir nie einen Heiratsantrag gemacht!«
Wie merkwürdig, dass sie gar nicht beleidigt klang. »Ganz gewiss nicht.«
»Sie wissen, wer ich bin, und Sie kennen meine … sagen wir, meine Vergangenheit.«
Er wagte einen flüchtigen Blick. »Zufälligerweise.«
»Aber ich nehme an, Sie wissen nicht, dass ich die Schwestern von St. Ursuline verlassen habe und nicht zu ihnen zurückkehren werde.«
Er richtete sich auf und ließ seinen Blick lange auf ihrem Gesicht ruhen, das so ernst und ruhig war. »Sie haben den Schleier aufgegeben?«
»Ich habe ihn nie genommen, allerdings war ich Novizin und nur noch wenige Wochen von der endgültigen Verpflichtung entfernt. Zu Hause war meine Anwesenheit vonnöten … und abgesehen davon, bin ich mir ohnehin nicht so sicher, ob ich wirklich dazu berufen war. Deshalb kann nichts gegen eine Eheschließung sprechen … vorausgesetzt natürlich, das ist immer noch Ihr Wunsch.«
Nicholas war kein besonders frommer Mensch, hatte aber seinen Katechismus zu einer Zeit gelernt, als er kaum älter war als Gabriel heute. Ihm war dabei auch beigebracht worden, die Priester und Nonnen zu ehren, die danach strebten, namenlose Satansbrut zu retten, wie er es gewesen war. Das
hatte er nicht vergessen. »Etwas Derartiges ist wohl kaum statthaft.« Seinem Lächeln, das seine Worte begleitete, haftete etwas Düsteres an. »Es wäre eine Verbindung des Heiligen mit dem Weltlichen.«
Sie sah ihn fragend an und zog die geschwungenen Brauen so sehr zusammen, dass sie sich über dem Ansatz ihrer zierlichen, geraden Nase beinahe trafen. »Ich verstehe nicht.«
»Sie sind so völlig unschuldig«, sagte er und spreizte die Hände, »und ich bin das genaue Gegenteil. Ihnen wurde Güte gelehrt, davon besitze ich kaum etwas. Sie streben danach, Leben zu beschützen, was sich allein daran zeigt, dass Sie Gabriel verstecken, während an meinen Händen Blut klebt. Ich bin kaum würdig, in Ihrem Schatten zu stehen, ganz zu schweigen davon, Sie zur Frau zu nehmen.«
Sie errötete. »Ich kann das nicht einsehen. Und ich lasse Sie ohne Umschweife und Ausflüchte wissen, dass ich all das benötige, was Sie als Makel zu betrachten scheinen. Ich brauche einen Ehemann, aber ein beliebiger Mann würde nicht genügen. Es muss einer sein, der zu mir steht ohne Rücksicht auf die Konsequenzen, der sich von einer Herausforderung nicht abwendet und vor einer Konfrontation nicht zurückschreckt.«
»Das könnte ich auch ohne das Band der Ehe tun«, schlug er ruhig vor.
Eine Fülle von Gefühlen huschte über ihr Gesicht, Erstaunen, Dankbarkeit, Sorge, und Wut. Sie schlug die Hände zusammen und erklärte auf einmal: »Sie wollen mich also eigentlich gar nicht heiraten.«
»Das ist es nicht, ich schwöre es. Meine Befürchtung ist vielmehr, Sie könnten diese Verbindung bedauern. Ich habe keinen ehrbaren Namen, den ich Ihnen geben könnte, keine familiären Beziehungen, und meine Position ist die eines Mannes, der durch pures Glück und gänzlich unverdient zu Vermögen gekommen ist. Wären Sie eine Lady vom Rand der Gesellschaft, die sich ins Privatleben zurückzieht, als die
Sie zuerst erschienen, dann könnte es genügen. Aber so …« Er zuckte hilflos mit den Schultern.
»Wer und was ich bin, ist nicht von Bedeutung. Ich muss heiraten.«
Er legte interessiert den Kopf schräg. »Zweifellos muss es einen guten Grund für eine solche Aussage geben.«
»Den werde ich Ihnen nennen, wenn Sie mir versprechen, Ihren Antrag nicht zurückzunehmen.«
Zweites Kapitel
Betretenes Schweigen machte sich breit, das Nicholas wohl hätte überbrücken können. Doch seine Aufmerksamkeit war in diesem Augenblick auf eine Bewegung unter Juliette Armants Röcke gerichtet. Der hintere Rocksaum wurde hochgehoben, und einen Moment später kam ein kleiner Kopf zum Vorschein. Dann befreite sich Gabriel aus seinem Versteck inmitten der Unterröcke, sprang auf und rannte davon.
Die Lady stieß einen erstickten Schrei aus, machte einen Satz fort von ihm und bückte sich, um ihre Röcke schnell zurechtzuziehen. Nicholas bekam einen Hauch von Spitze und weißem, besticktem Leinenstoff zu sehen, außerdem einen außerordentlich erregenden Blick auf schlanke Fesseln und graue Lederschuhe.
»Wollen Sie ihm nicht folgen?«, fragte Juliette, als sie sich zu ihm umdrehte. Ihr Gesicht war gerötet, doch sie hatte sich wieder gefasst.
»Ich glaube, ein Aufschub von ein oder zwei Stunden vor seinem so gefürchteten Bad wird kaum etwas ausmachen. Er wird schon noch gehorchen.«
»Wenn Sie das sagen.«
Während sie das aussprach, bemerkte Nicholas ihren zweifelnden Blick. Offenbar war sie von seiner Ansicht nicht so recht überzeugt. Für die Zukunft war das wirklich ein gutes Zeichen. »Mein Platz ist jetzt hier an Ihrer Seite. Ich kann meiner Verlobten wohl nicht gestatten, ohne Begleitung durch die Straßen zu schlendern.«
»Das ist sehr galant von Ihnen, aber ich wohne nicht weit von hier entfernt.«
»Trotzdem sind Sie – soweit ich das sehen kann – nicht in Begleitung eines Angehörigen oder eines Dieners, der Sie beschützen könnte. Es wäre nachlässig von mir, diesen Mangel nicht abzustellen.«
»Sie wollen damit sagen, ich hätte mich von jemandem begleiten lassen sollen. Glauben Sie mir, Monsieur Pasquale, ich bin nicht die Sorte Frau, die zu unschicklichen Avancen verleitet.«
»Jede Frau kann in ihrer Ehre verletzt werden, Mademoiselle, ob sie andere nun dazu verleitet oder nicht«, erklärte er mit ernster Stimme. Gleichzeitig holte er die Handschuhe aus der Manteltasche, die er ausgezogen hatte, als er Gabriel verfolgte. Dann hielt er ihr den Arm hin. »Wenn Sie dann meine Begleitung annehmen würden.«
Sie wollte nicht annehmen, und ihr war deutlich anzusehen, wie angestrengt sie nach einer vernünftig klingenden Ausrede suchte. Diese Beobachtung amüsierte Nicholas, weil er nicht den Umgang mit Frauen gewöhnt war, die einen so offensichtlichen Widerwillen erkennen ließen, ihn zu berühren. Andererseits war er es natürlich auch nicht gewöhnt, unschuldige junge Damen zu begleiten, schon gar nicht solche, die gerade erst das Kloster verlassen hatten.
»Nun gut«, lenkte sie schließlich ein, tat einen Schritt nach vorn und legte ihre Hand auf seinen Arm.
Ihm kam das wie ein Sieg vor, und zudem fühlte es sich so ausgesprochen richtig an, als sei er dazu bestimmt, der Ernährer und Beschützer dieser Frau zu werden. Seine Armmuskeln zuckten unwillkürlich zusammen, als er die kribbelnde Hitze ihrer Berührung fühlte, auch wenn er nicht wusste, ob es die Lady beeindrucken sollte oder ob es eine uralte, instinktive Reaktion war, um sich darauf vorzubereiten, sie zu beschützen.
»Sie wohnen in der Rue Chartres?«, fragte er, nachdem sie ein paar Schritte auf der Straße vor der Kirche gegangen waren.
»Gleich um die Ecke, in der Rue St. Louis zwischen der Chartres und der Royale, aber näher zu Letzterer hin gelegen.«
Ihre Stimme war so leise, dass Nicholas sich nach vorn beugen musste, um etwas zu verstehen. »Hervorragend«, entgegnete er und nahm Kurs auf die Gasse rechts zwischen der Kirche und dem Cabildo, dem Rathaus aus der Zeit der spanischen Herrschaft. Dort entlang würden sie die Royale erreichen. Ihre Adresse war nur einen Steinwurf weit von dem zum Fluss hin gelegenen St. Louis Hotel and Stock Exchange entfernt – und damit ganz in der Nähe seines Ateliers in der Passage de la Bourse.
Sie zögerte ein wenig, was ihr auch niemand verübelt hätte. Aus der Gasse schlug ihr feuchte, muffige Luft entgegen, alles war mit Moos überwachsen und mit Abfall übersät. Die Gebäude zu beiden Seiten waren so hoch, dass der morgendliche Sonnenschein nicht die Gasse erreichte. Er war für sie ein völliger Fremder, und er hatte sich bei der ersten Begegnung nicht respektvoll genug gezeigt, was ihm jetzt noch einen Stich versetzte, als er darüber nachdachte. Seine Aufgabe war es, ihr Unbehagen zu lindern, doch wusste er nicht so recht, wie er das anstellen sollte. Erst recht nicht, wenn der Geruch nach frischer Seife wie ein teures Parfüm seine Sinne benebelte und wenn ihre Röcke bei jedem Schritt an seinem Knöchel entlangstrichen.
Ihr steifer grauer Damenhut mit dem schwarzen Rand verwehrte ihm den Blick in ihr Gesicht, und er sehnte sich danach, stehen zu bleiben und die Lady zu überreden, damit sie ihn ansah und damit sie ihm ihre Lippen öffnete, während er von ihrer zarten Reife kostete. Wieder zuckten die Muskeln in seinem Arm, und diesmal meldete sich auch der Teil seines Körpers, der unter dem Stoff seiner Hose verborgen war, der sich aber nie bändigen lassen wollte. Es war dafür der falsche Moment, zudem war es unpraktisch und sogar lasterhaft. Er war der Ansicht gewesen, sich besser unter Kontrolle zu haben.
»Ich glaube, Sie haben eine Schwester«, sagte er etwas schroffer als beabsichtigt, doch er musste unbedingt auf ein anderes Thema zu sprechen kommen.
»Ja, Paulette. Sie ist sogar meine Zwillingsschwester. Kennen Sie sie?«
»Wir wurden uns nicht vorgestellt«, entgegnete er in einem leicht zynischen Tonfall, da so behütete Pflänzchen einem Fechtmeister wie ihm nicht vorgestellt wurden, jedenfalls nicht, ohne dass das von Protest begleitet wurde. »Aber wer wohnt noch in Ihrem Haus?«
»Ich nehme an, Sie fragen nach meinen privaten Verhältnissen.« Sie schaute ihn an, und er konnte einen kurzen Blick in ihre großen braunen Augen werfen, die einen leicht grünlichen Schimmer hatten. »Natürlich haben Sie ein Recht darauf, das zu erfahren. Meine Mutter lebt noch, mein Vater … nicht mehr. Er starb vor wenigen Jahren. Momentan ist es ein reiner Frauenhaushalt, auch wenn meine Schwester so gut wie sicher Monsieur Jean Daspit versprochen ist.«
Nicholas horchte auf, da er Daspit bei verschiedenen Anlässen begegnet war, keiner davon sonderlich bemerkenswert. »Keine Brüder, keine weiteren Schwestern?«
»Keine Geschwister, die die Kindheit überlebt haben.«
Die Bedeutung ihrer Antwort war ihm mehr als deutlich. Wie er in den zwei Jahren, die er jetzt in New Orleans lebte, herausgefunden hatte, war das hiesige Klima Kindern nicht immer wohlgesinnt. Die typischen Kinderkrankheiten konnten sich schnell so massiv verschlechtern, dass ihnen die Kinder, die zusammen in einem Zimmer untergebracht waren, innerhalb weniger Tage allesamt zum Opfer fielen. »Onkels? Cousins oder Cousinen?«
»Viele sogar.« Wieder wandte sie sich ihm zu, diesmal mit einem fragenden Ausdruck auf ihrem Gesicht.
»Ich habe mich bloß gefragt, ob es niemanden gibt, der für Sie einen Ehemann finden kann.«
»Niemand, dem es wichtig genug erschien, diese Verantwortung
auf sich zu nehmen. Aber es ist ja auch gar nicht erforderlich gewesen.«
»Wie darf ich das verstehen?«
»Sie wurden mir geschickt, ohne dass jemand für mich gesucht werden musste«, antwortete sie, biss sich dann aber auf die Unterlippe und schaute zur Seite.
»Geschickt?« Als sie darauf nichts erwiderte, sprach er in einem Tonfall weiter, der mit ungläubigem Gelächter drohte. »Kommen Sie, das können Sie nicht einfach so auf sich beruhen lassen. Falls ich aus irgendeinem Zwang heraus handele, sollte ich wenigstens erfahren, um was es sich dabei handelt.«
»Sie werden mich für albern halten.«
»Falls dem so sein wird, verspreche ich Ihnen, dass ich Sie bis ans Ende unserer Tage niemals damit aufziehen werde.«
»Ich muss gestehen, ich komme mir jetzt selbst etwas töricht vor. Aber für einen Moment war ich mir ganz sicher.«
Ein seltsames Gefühl regte sich in seinem Nacken und bahnte sich den Weg über seine Schultern bis in seine Arme, auf denen er dann eine Gänsehaut bekam. »Sie hatten soeben die Kirche verlassen.«
Sie nickte.
»Und dort hatten Sie gebetet … wofür?«
»Natürlich für einen Ehemann.«
Nicholas blieb stehen. Es gab mindestens ein halbes Dutzend mögliche Antworten, die er darauf hätte erwidern können. Sie reichten von einem spöttischen Ausruf bis hin zu der brüsken Weigerung, auch nur für einen weiteren Schritt an ihrer Seite zu bleiben. Nichts davon kam ihm über die Lippen. Stattdessen verzog er den Mund zu einem sanften Lächeln, das er nicht hätte verhindern können, auch wenn er es noch so sehr gewollt hätte. »Faszinierend«, erklärte er ehrlich erstaunt. »Noch nie bin ich die Antwort auf das Gebet einer holden Jungfrau gewesen.«
»Wenn Sie glauben, Sie sind mir in dieser Gestalt erschienen,
dann tut es mir leid, Ihnen sagen zu müssen, dass Sie sich irren«, sagte sie mit besorgter Miene. »Mein Wunsch nach einem Ehemann ist völlig …«
»Selbstlos«, führte er den Satz zu Ende, als sie abrupt innehielt. Er glaubte, dass er seinen Affront auf ihre hastige Zurückweisung hinter einem Ausdruck höflichen Interesses hatte verbergen können, auch wenn er sich dessen nicht ganz sicher war.
»Eigentlich nicht. Das hört sich nämlich so an, als würde ich erwarten, diese Ehe als Märtyrerin erdulden zu müssen. Aber das ist nicht der Fall. Die Sache ist einfach die: Ich muss verheiratet werden, da sonst ein besonderes Vermächtnis, das sich seit Generationen im Familienbesitz befindet, dem Falschen in die Hände fallen wird.«
»Es geht um Geld«, stellte er mit tonloser Stimme fest, da er sich schon etwas Besseres erhofft hatte als nur das.
»Keineswegs«, widersprach Juliette und sah ihn aufgebracht an. »Wenn Sie es unbedingt wissen wollen – es geht um eine alte Truhe, ein Familienerbstück. Meine Mutter erhielt sie, als sie heiratete, und meine Großmutter bekam sie zuvor an ihrem Hochzeitstag überreicht. Und genauso meine Urgroßmutter vor ihr. Die Geschichte reicht zurück zu einer Vorfahrin, die als eine der Schatzkästchen-Frauen nach New Orleans kam.«
»Schatzkästchen-Frauen?«
»Eine von vierzig oder fünfzig jungen Frauen, die vor rund zweihundertfünfzig Jahren von der französischen Krone als Bräute für die Kolonisten hergeschickt wurden. Die Wenigsten von ihnen ließen in Frankreich irgendwelche Verwandten zurück, und alles, was sie besaßen, war diese Truhe oder ein Schatzkästchen mit der Mitgift, die man ihnen bewilligt hatte.«
»Dann ist diese Truhe also ein solches altes Schatzkästchen?«
»Nicht so ganz. Meine Vorfahrin, Marie Therese, besaß
eine eigene Truhe aus einem exotischen Holz mit Einlegearbeiten aus Elfenbein. Da sie sich von ihr nicht trennen wollte, packte man Bettwäsche und Kleidung und anderes in eben diese Truhe.«
»Bettwäsche und Kleidung.«
»Ja, aber diese Dinge existieren längst nicht mehr und sind auch nicht von Bedeutung. Was zählt, ist die Tatsache, dass meine Mutter krank vor Sorge ist. Eine alte Familienlegende besagt, es werde zu einer Katastrophe kommen, wenn die Truhe in die falschen Hände gerät.«
»Und das glaubt sie?«
»Allerdings. Es liegt daran, dass ein Kindermädchen sie großzog, von dem sie Hunderte von Sprichwörtern und Dinge über Aberglauben und Voodoo-Zauber lernte. Sie können sich nicht vorstellen, an was sie alles glaubt … auch wenn ich mit Ihnen nicht so von ihr reden sollte. Mein Leben lang dachte ich, mit der Truhe hätte ich nichts zu tun. Ich glaubte, in unserer Generation wäre Paulette die Braut, die die Truhe bekommen würde, weil sie angeblich einige Minuten vor mir geboren wurde. Aber nun schwört unser Kindermädchen, dass wir in der Wiege vertauscht wurden und ich eigentlich die Ältere von uns beiden bin.«
»Und das ist wichtig?«
»Die älteste Tochter in jeder Familie hütet die Truhe. Sie wird ihr am Tag ihrer Heirat übergeben, und sie selbst gibt sie nur weiter, wenn ihre eigene älteste Tochter heiratet.«
»Dann treten Sie wegen einer Truhe, die keinerlei Wert besitzt, vor den Altar?«
»Ich sagte nicht, dass sie keinen Wert besitzt«, protestierte Juliette. »Manche bezeichnen sie auch als Schatztruhe.«
»Um welche Art von Schatz handelt es sich dabei?«
»Das weiß niemand außer der Braut, die die Truhe bekommt. Sie darf sie öffnen und eine Sache hineinlegen, die für sie von Wert ist. Aber sie darf niemals etwas herausholen und niemandem vom Inhalt erzählen, nicht einmal ihrem
Ehemann.« Plötzlich legte sie die Hand vor den Mund. »O nein, das hätte ich nicht verraten dürfen! Nun werden Sie so wie Monsieur Daspit zum Altar eilen wollen, um das Vermächtnis mit mir zu teilen.«
Nicholas hob den Kopf. »Was habe ich Ihnen getan«, fragte er mit äußerst sanfter Stimme, »dass Sie eine solche Meinung von mir haben?«
Daraufhin sah sie ihn lange an. Ihre Augen waren atemberaubend, die Pupillen waren so sehr geweitet, dass die Iris aussah wie grüner Samt, der mit goldener Spitze besetzt war. Es kam ihm vor, als würde sie bis in seine Seele schauen und in Regionen seines Wesens vordringen, in die noch nie zuvor jemand vorgestoßen war. Mit angehaltenem Atem und wild schlagendem Herzen stand er da und wartete, ob sie irgendwas Düsteres fand, das dort verborgen lag und für sie der Grund sein würde, ihn ein für allemal abzuweisen.
»Nichts«, flüsterte sie. »Sie haben nichts getan. Verzeihen Sie, wenn es so schien, als hätte ich das unterstellt.«
Ein ungewohntes Gefühl überkam Nicholas, das ihn sehr an Ehrfurcht erinnerte. Das war nicht seine übliche Reaktion auf eine Frau. Er mochte Frauen, mochte ihre Gesellschaft, die Art, wie ihr Verstand arbeitete, wie sie lächelten und wie sie redeten. Er bewunderte sie zutiefst für die kleinen und großen Opfer, die sie für andere brachten, vor allem für ihre Kinder. In der Gegenwart von Frauen fühlte er sich auf eine Weise wohl, wie es nur sehr wenigen seiner männlichen Bekannten möglich war. Und er empfand unbeschreibliche Dankbarkeit dafür, dass er in der Gesellschaft von Frauen nicht ständig damit rechnen musste, unabsichtlich etwas Falsches zu tun oder zu sagen und als Folge davon einmal mehr zum Duell anzutreten. Und er liebte den weiblichen Körper, der so ganz anders war als der männliche, der eine unendliche Zartheit und eine ebenso unendliche Fähigkeit besaß, sinnliche Freuden zu erfahren. Sich in der überwältigenden Hitze einer Frau zu verlieren und in
einem langsamen, behutsamen Liebesduett Lust zu geben und zu empfangen, das war seine Vorstellung vom Himmel auf Erden.
Seine Wertschätzung für Frauen ging über bloße Sympathie hinaus und glich mehr einer Art von Anbetung. Doch seine allmählich stärker werdenden Empfindungen für die Lady an seiner Seite schienen sich auf einer noch höheren Ebene zu bewegen, die für ihn nahezu unerreichbar war.
Er brauchte einen Augenblick, ehe er etwas erwidern konnte, aber selbst dann klang seine Stimme noch immer heiser. »Schon gut. Ich glaube, wir haben noch viel zu besprechen, und das hier ist nicht der geeignete Ort dafür.« Er nahm ihre Hand und legte sie zurück auf seinen Arm, wo er sie dann mit seiner Hand festhielt. »Vielleicht werden Sie mich ja in Ihr Haus einladen, wenn wir dort angekommen sind. Ich sollte mich wohl Ihrer Mutter vorstellen, oder? Es wäre nur höflich, sie um ihren Segen für unsere Hochzeit zu bitten, vielleicht sogar um ihre Erlaubnis.«
Falls die Lady, die seine zukünftige Ehefrau war, darauf etwas antwortete, musste sie so leise gesprochen haben, dass Nicholas nichts davon mitbekommen hatte. Dennoch unternahm sie keinen Versuch, sich aus seinem Griff zu lösen, sondern ging ruhig neben ihm her, bis sie an ihrem Ziel angekommen waren.
Das Stadthaus der Armants hatte zwei Stockwerke, war zur Straße hin aber gerade mal so breit wie zwei Zimmer nebeneinander. Es handelte sich um ein elegantes Reihenhaus, das sich die Seitenwände mit den Nachbargebäuden teilte. Gebaut war es aus Ziegelsteinen, die man mit Stuck verkleidet und in einem vornehmen cremefarbenen Goldton gestrichen hatte. Die schmalen, schmiedeeisernen Balkone waren in traditionellem dunklem Blaugrün gestrichen. Im Erdgeschoss war eine Apotheke untergebracht, womit man eine typische Pariser Tradition übernommen hatte. Da das Erdgeschoss für ein angenehmes Leben als zu laut, zu schmutzig
und zu gefährlich angesehen wurde, wurde die Fläche vermietet, um auf diese Weise Einnahmen zu erzielen. Flügeltüren führten von den Räumen im ersten Stock auf die Balkone und sorgten für frische Luft. Flügelfenster kennzeichneten das zweite Stockwerk, das üblicherweise von der Dienerschaft genutzt wurde.
An Juliettes Taille hing an der Gürtelkette ein großer Schlüssel, mit dem sie die schwere, mit Messingbeschlägen verzierte Haustür gleich neben der Apotheke aufschloss. Dann gingen sie durch einen langen, gewölbeartigen Korridor, bis sie in einen schmalen Innenhof gelangten. Links an der Wand, die zum Gebäude gleich nebenan gehörte, fand sich eine niedrige Brüstung aus Ziegelsteinen, die eine Art Beet bildete, auf dem Bananenbäume und Ingwer, Myrte sowie eine Ranke mit kleinen, schmalen Blättern wuchsen, die ein dichtes grünes Flechtwerk bildete, während sie nach oben zum Licht strebte. Stühle und Tische waren auf dem gepflasterten Boden angeordnet, Tauben liefen unter ihnen umher und hofften darauf, dass irgendwann einmal ein paar Krümel für sie abfielen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Erdgeschosses befand sich im rechten Winkel zum vorderen Teil des Gebäudes eine Junggesellenwohnung mit Küche und Waschküche, die sogenannte Garçonnière. Darüber verlief ein Laubengang, der zweifellos zu den Schlafzimmern der Familie führte. Eine gewundene Treppe mit Mahagonigeländer führte gleich rechts hinauf zu diesem Laubengang, während es am entlegenen Ende eine schlichte, schmale Treppe für das Dienstpersonal gab. In der Garçonnière herrschte nur wenig Aktivität, was auf eine kleine Zahl von Hausangestellten hindeutete, vermutlich nur eine Köchin und ein oder zwei Dienstmädchen.
»Hier entlang«, sagte Juliette und ging vor Nicholas her auf die breite Treppe zu. Sie hatte gerade erst den Fuß auf die unterste Stufe gesetzt, da wurde im ersten Stockwerk eine Tür geöffnet und schnelle Schritte waren zu hören.
»Da bist du ja endlich«, ertönte eine klare, helle Stimme, die unüberhörbar verärgert klang. »Wo bist du denn gewesen, chère? Maman hat mich deinetwegen fast verrückt gemacht, und ich … oh, Monsieur!?«
Nicholas schaute hoch, um die Lady anzusehen, die oben an der Treppe aufgetaucht war. Sie trug einen schlichten Überwurf aus gemustertem Musselin, die Haarsträhnen, die ihr ins Gesicht fielen, hatte sie in Papierhaarwickel gerollt, die anderen Haare fielen ihr so glänzend wie ein Nerzpelz über die Schultern. Ihr Kostüm erlaubte den Blick auf ihre milchige Haut an Hals und Schultern und betonte ihre vollen, dennoch eleganten Kurven. Ihre Gesichtszüge wirkten nicht ganz so edel wie die Juliettes, und ihre Lippen waren eine Spur dünner, dennoch war es so, als würde er eine Doppelgängerin seiner Zukünftigen vor sich sehen.
Der Anblick der Zwillingsschwester ließ ihn vermuten, dass seine Verlobte unter ihrem tristen Damenhut und dem schmucklosen Tageskleid womöglich mehr verbarg, als er es sich zunächst vorgestellt hatte.
Er zog seinen Hut und beschrieb eine formvollendete Verbeugung. »Verzeihen Sie die Störung um diese Tageszeit, Mademoiselle. Aber ich versichere Ihnen, es ließ sich nicht vermeiden.«
Die Lady auf dem Laubengang riss entsetzt die Augen auf, als sie ihn erkannte, dann wandte sie sich wieder aufgebracht ihrer Schwester zu. »Was hat das denn zu bedeuten, chère? Ich will sofort eine Erklärung hören!«
»Ja, natürlich«, erwiderte Juliette mit leiser Stimme. »Wir warten im Salon, damit du Gelegenheit hast, dich anzuziehen.«
Paulette Armant setzte eine verkniffene Miene auf, und einen Moment lang schien es so, als wollte sie nach unten gestürmt kommen, obwohl sie nicht angemessen gekleidet war und obwohl ihre Schwester sie darauf hingewiesen hatte. Dann jedoch wirbelte sie herum und lief den Laubengang
entlang zu ihrem Schlafzimmer. Mit einem lauten Knall warf sie die Tür hinter sich ins Schloss.
»Meine Zwillingsschwester«, erklärte Juliette mit einem leisen Seufzer.
»Das hatte ich mir bereits gedacht.« Nicholas konnte sich ein flüchtiges Lächeln nicht verkneifen.
Für einen winzigen Augenblick war in den Augen seiner Verlobten zu sehen, dass sie ebenfalls amüsiert war. »Ja, das muss eigentlich offensichtlich sein, auch wenn wir uns im Grunde genommen gar nicht so ähnlich sind. Paulette liebt die lebendigeren Farben, aber ihre Persönlichkeit kann man auch als die lebendigere bezeichnen.«
Nicht einmal ein Hauch von Neid war aus Juliettes Tonfall herauszuhören, bemerkte Nicholas. Sie schilderte lediglich die Tatsachen, wie sie sie sah. Vielleicht hatte sie damit ja recht, doch der Ausdruck in ihren Augen machte ihm Sorgen. »Vieles spricht für Menschen, die ruhig und zurückhaltend sind.«
»Falls sie jemals bemerkt oder gehört werden.« Als sei sie entschlossen, jedem Kommentar von seiner Seite zuvorzukommen, fügte sie schnell an: »Kommen Sie mit nach oben in den Salon, während ich nachsehe, ob Maman bereits wach ist. Vielleicht möchten Sie einen Milchkaffee, während ich sie wissen lasse, dass wir einen Gast haben.«
»Warten Sie«, sagte er rasch, als sie sich schon abwenden wollte.
Sie hielt inne und schaute ihn fragend an.
»Erwarten Sie, dass das unangenehm werden wird?« Aufmerksam betrachtete er ihr Gesicht und bemerkte abermals den gequälten Ausdruck rund um ihre Augen.
»Zumindest ein bisschen unbehaglich. Sie müssen wissen, meine Mutter und meine Schwester hatten geglaubt, ich würde niemals heiraten. Es wird für sie ganz bestimmt ein Schock sein, wenn ich ihr einen Verlobten vorstelle, der vor einer halben Stunde sogar für mich noch ein Fremder gewesen war.«
»Der zudem ein Gentleman ist, den sie womöglich für völlig ungeeignet halten.«
Wieder trafen sich ihre Blicke, und abermals bemerkte er in ihren Augen, wie besorgt und unruhig sie war. »Ich hoffe, Sie werden nicht beleidigt sein, wenn sie sich in dieser Weise äußern.«
»Ich werde mich bemühen, mein Temperament in Schach zu halten«, entgegnete er sanft.
»O ja, wenn Sie das bitte tun könnten. Meine Mutter regt sich auch so schon viel zu schnell auf, ohne dass …«
»Das war nur ein Scherz, chère.« Er legte behutsam einen Finger auf ihre Lippen und spürte, wie weich, heiß und feucht sie waren, während er das Gefühl bekam, als seien seine eigenen Lippen plötzlich spröde und ausgetrocknet.
»Oh, ja, natürlich.«