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Eine differenzierte Betrachtung der Wechselwirkung leiblicher und seelischer Kräfte: Im Zentrum einer ganzheitlichen Medizin steht der Mensch als Einheit von Seele und Leib. Nicht allein der Körper und das an ihm Mess- und Zählbare haben Gewicht sondern ebenfalls die mit ihm aufs engste verbundene Seele: Befund und Befinden sind nicht voneinander zu trennen. Mit dieser Perspektive der Psychosomatik machen sich die beiden Autoren Volker Fintelmann und Markus Treichler für eine von der Anthroposophie inspirierte Medizin stark: Seele und Leib wirken stets zusammen, in Gesundheit wie Krankheit, und prägen so die Individualität jedes einzelnen Menschen. Im vorliegenden umfangreichen Werk geben die beiden bekannten Ärzte einen Einblick in die Medizingeschichte, erläutern Grundgedanken der anthroposophischen Menschenkunde, beschreiben Krankheitsbilder und berichten aus ihrer Praxis, wie der Mensch in den Ausdrucksformen von Seele und Leib sich selbst erkennen und ihr Zusammenwirken beeinflussen kann.
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Seitenzahl: 578
ISBN eBook: 978-3-95779-117-7
ISBN print: 978-3-95779-106-1
Diesem eBook liegt die 1. Auflage 2019 der Printausgabe zugrunde.
Alle Rechte vorbehalten, © 2019, Info3 Verlagsgesellschaft Brüll & Heisterkamp KG,
Frankfurt am Main
www.info3.de
Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
Lektorat: Silke Kirch, Frankfurt am Main
Cover: Frank Schubert, Frankfurt am Main
Was ist der Leib ohne die Seele, was die Seele ohne Leib? Weder in Gesundheit noch in Krankheit ist das eine ohne das andere zu denken. Das vorliegende Buch ist das Ergebnis eines jahrelangen Gesprächs der beiden Autoren, die – aus unterschiedlichen Fachrichtungen der Medizin kommend – gemeinsam zu einer ganzheitlichen Psychosomatik vordringen.
Im Zentrum einer ganzheitlichen Medizin steht der Mensch als Einheit von Seele und Leib. Nicht allein der Körper und das an ihm Mess- und Zählbare haben Gewicht, sondern ebenfalls die mit ihm aufs Engste verbundene Seele: Befund und Befinden sind nicht voneinander zu trennen. Mit dieser Perspektive der Psychosomatik machen sich die beiden Autoren Volker Fintelmann und Markus Treichler für eine von der Anthroposophie inspirierte Medizin stark: Seele und Leib wirken stets zusammen – in Gesundheit wie Krankheit – und prägen so die Individualität jedes einzelnen Menschen. Im vorliegenden umfangreichen Werk geben die beiden bekannten Ärzte einen Einblick in die Medizingeschichte, erläutern Grundgedanken der anthroposophischen Menschenkunde, beschreiben Krankheitsbilder und berichten aus ihrer Praxis, wie der Mensch in den Ausdrucksformen von Seele und Leib sich selbst erkennen und ihr Zusammenwirken beeinflussen kann.
Dr. med. Volker Fintelmann (rechts)geboren 1935, war nach seinem Studium unter anderem Ärztlicher Direktor am Hamburger Klinikum Rissen und baute dort eine anthroposophisch ergänzte Medizin auf. Über 20 Jahre leitete er die von ihm gegründete Carl Gustav Carus Akademie. Er ist Autor zahlreicher Bücher.
Markus Treichler (links)geboren 1947, arbeitete nach dem Studium der Philosophie, Psychologie und Medizin in verschiedenen Kliniken als Facharzt, bis er 1987 die Leitung der Abteilung für Psychosomatische Medizin, Psychotherapie, Kunsttherapie und Heileurythmie an der Filderklinik bei Stuttgart übernahm. Bis 2012 war er in dieser Funktion tätig. Lehr- und Vortragstätigkeit, Autor zahlreicher Bücher und Fachartikel.
Vorwort
I Die Seele
Leib und Seele – aus der Sicht der Seele
Was ist die Seele?
Historische Einführung
Die Anfänge
Neuzeit
Im 20. Jahrhundert
Zu den Anfängen der Tiefenpsychologie
Im 21. Jahrhundert
Die Seele in der Anthroposophischen Menschenkunde
Menschenkundliche Grundlagen
Zu den Seelenfähigkeiten
Die Grundfähigkeiten der Seele im Überblick
Sinn und Aufgaben der Seelenfähigkeiten
Die Seelenfähigkeiten und ihre Beziehung zu den Sinnen
Die Seele und ihre Entwicklung im Lebenslauf
Der Sieben-Jahres-Rhythmus im Lebenslauf
Lebensthemen – Lebenskrisen – Risiken und Chancen
Zu den Mondknoten
Zu den Seelengliedern – Die Entwicklung der Seelenglieder im Lebenslauf
Die seelische Entwicklung im Lebenslauf
Die biografischen Metamorphose-Schritte zu den Seelengliedern
Die Entwicklung der Empfindungsseele
Die Entwicklung der Verstandesseele
Die Entwicklung der Bewusstseinsseele
Zusammenfassung der Qualitäten der drei Seelenglieder
Die Bedeutung des Ich bei der Entwicklung der Seelenglieder und für den menschlichen Charakter
Zum menschlichen Charakter
II Der Leib des Menschen
Anthropologisch-medizinische Sicht
Analytisches Verständnis
Mechanisches Verständnis
Der Leib als Automat
Befund und Befinden
Anthroposophisch-geisteswissenschaftliche Sicht
Vierdimensionalität und Dreigliederung des Leibes
Physischer Leib und Ich-Organisation
Lebensleib und Empfindungsleib
Dreigliederung als verbindendes Element
Sinnes-Nerven-System
Stoffwechsel-Bewegungs-System
Rhythmisches System
Methodisches
Der Leib als Tempel
III Leib und Seele
Das Zusammenwirken von Leib und Seele – vom Leib aus beschrieben
Die Atmung
Der Rhythmus
Wachen und Schlafen
Zusammenklang
Psychosomatik der Organe
Das Herz
Die Nieren
Die Leber
Die Lungen
Die vier „meteorologischen“ Organe und der Erdenmensch
Drei weitere Organ-Beispiele
Die Schilddrüse (Glandula thyreoidea)
Die Bauchspeicheldrüse (Pankreas)
Die Nebennieren (Glandulae suprarenales)
Die Widersacher
Das Zusammenwirken von Seele und Leib – von der Seele erlebt
Die Beziehungen der Seele zur Welt
Die Beziehungen zwischen Seele und Leib
Zu einer Psychologie der Organe
Zum Herz
Zu den Lungen
Zur Leber
Zu den Nieren
Die Seele im Leib
Das Ich in der Seele
Das Ich im Leib
IV Zu ausgewählten organischen Erkrankungen – Psychosomatik und Krankheitsverständnis
Die koronare Herzkrankheit
Arterielle Hypertonie (Bluthochdruck)
Entzündliche Lebererkrankungen (Hepatitiden)
Hepatitis-A
Hepatitis-B
Hepatitis-C
Asthma bronchiale
Über- und Unterfunktion der Schilddrüse
Morbus Basedow (Hyperthyreose)
Hashimoto Thyreoiditis (Hypothyreose)
Bauchspeicheldrüsenkrebs
Zum Verständnis der Autoimmunkrankheiten
V Zu ausgewählten seelischen Erkrankungen – Krankheitsentstehung und Gesundwerden – Pathogenese und Therapie
Die Seele in Gesundsein und Kranksein Eigenschaften der Seele
Die Entstehung von seelischen Erkrankungen
Zum Verhältnis von Leib und Seele in Gesundheit und Krankheit
Ein Grundgesetz der Anthroposophischen Medizin
Zusammenfassung der Fähigkeiten und Eigenschaften der Seele
Seelenfähigkeiten und Sinne
Zu den Krankheitsphänomenen seelischer Erkrankungen
Zu ausgewählten seelischen Krankheitsbildern
Zur Depression
Exemplarische Patientenbeispiele
Zum Krankheitsbild der Depression
Vom Sinn der Depression
Müdigkeit, Erschöpfung, Burnout Wenn die Seele müde wird
Zur Differenzialdiagnose der Erschöpfungssyndrome
Die akute Erschöpfung
Die chronische Erschöpfung
Die Erschöpfungsdepression
Das Burnout-Syndrom
Angst und Angsterkrankungen Was ist Angst?
Die Angstkrankheiten
Die sogenannten Essstörungen – Anorexie und Bulimie
Zur Anorexie: Mager an Leib und Seele
Lebensflüchtigkeit und Lebensmüdigkeit – Magersucht und Depression
Traumatisierung und ihre Folgen
Zur Bulimie: Fülle und Leere
Zur Entstehung Psycho-somatischer Erkrankungen
Zur Entstehung von Gesundheit und den Therapiemöglichkeiten
Was kann und wodurch wirkt Psychotherapie?
Zu den Kunsttherapien
Grundlagen
Kunsttherapeutische Wirkfaktoren
Kunsttherapeutische Wirkprinzipien
Nachwort
Anmerkungen
Der Mensch ist nicht Seele und Körper, der Mensch ist die innigste Mischung dieser beiden Substanzen.
Friedrich Schiller
Die in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstandene, streng naturwissenschaftlich begründete Medizin, die auch heute das medizinische System dominiert, hat den Menschen eindimensional auf den Leib reduziert. Sie kennt in ihrer Wissenschaftsmethodik weder eine eigenständige Seele noch einen individualisierenden Geist. Sie radikalisierte damit das Ergebnis eines kirchlichen Konzils, das 869 n. Chr. entschied, die bis dahin gültige Trichotomie des Menschen von Leib, Seele und Geist auf eine Dualität von Leib und Seele zu reduzieren. Letzterer wurden geistige Elemente zugestanden, die jedoch keine eigenen Gesetzmäßigkeiten hätten. Wurde damals der eigenständige Geist abgeschafft, so schaffte die naturwissenschaftliche Medizin auch die eigenständige Seele ab. Es blieb der Leib mit von ihm produzierten seelischen und geistigen Eigenschaften. Gegenüber dieser Radikalität trat schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Psychosomatische Medizin an, die das Wechselspiel von Seele und Leib in Gesundheit und vor allem in bestimmten Krankheiten, herausarbeitete. Allerdings fehlte ihr ein wissenschaftliches Modell für deren Zusammenwirken, sie arbeitete im vorwissenschaftlichen Bereich einfachster Empirie (Thure von Uexküll). Das gilt weitgehend auch heute noch. Wo sie wissenschaftliche Ergebnisse vorlegt, benutzt sie Methoden naturwissenschaftlicher Medizin im Sinne derer evidenz-basierten Studien.
Wie aber kann etwas wissenschaftlich untersucht werden, das sich dem Mess-, Zähl- und Wägbaren entzieht, das auch nicht den Sinnen zugänglich wird, unsichtbar bleibt, und dennoch phänomenologisch unendliche Anschauungen ermöglicht?
Die einzige wissenschaftliche Methode unserer Zeit, welche die menschliche Seele konkret und differenziert sowie ihr Verhältnis zum Leib beschreibt, ist Rudolf Steiners Geisteswissenschaft, die er „Anthroposophie“ nannte. Die dieser zugrunde liegende Erkenntnismethode ist Grundlage unserer Darstellungen von Seele und Leib, von ihrem Zusammenwirken und auch ihrer Gegensätzlichkeit. Das setzt Umdenken voraus, weil in Vielem sich Denkprioritäten verschieben oder auf den Kopf gestellt werden. Ein Satz Steiners soll das beispielhaft zeigen: „Man ist erst dann ein Geisteswissenschaftler, wenn man sich klar darüber ist, dass dieser materielle Leib mit seinen materiellen Prozessen ein Geschöpf des Seelischen ist“1. So stammen zum Beispiel auch alle Bewegungsvorgänge im Leib aus seelischen Impulsen.
Es wird sich zeigen, dass Anthroposophie ebenso wie für die Seele auch für den Leib ein differenzierteres Bild entwickelt, als es die leiborientierte naturwissenschaftliche Medizin vorgibt. Schon die Lebensvorgänge des Leibs sind methodisch naturwissenschaftlich nicht zu erfassen, weshalb eine differenzierende Beschreibung fehlt. Das gilt auch für die Empfindungswelt des Leibes wie zum Beispiel den Schmerz, und ganz besonders auch für die Individualisierung von Leib und Seele als Ausdruck des Geistes.
Das Arbeitsfeld der modernen Medizin, die auch Schulmedizin genannt wird, ist deshalb keineswegs falsch, aber grandios einseitig. Es bedarf daher dringend der Ergänzung durch eine Wissenschaftsmethode, die das analytisch-beweisende Vorgehen der Schulmedizin durch eine anschauendvergleichende und eine physiognomisch-beschreibende Methode vervollständigt2. Das wird hier veranlagt und soll eine sich entwickelnde Wissenschaft beschreiben, die den Menschen in seiner Gesundheit, in seiner Veranlagung zum Kranksein, konkreten Krankheiten und nicht zuletzt in seiner Einmaligkeit (Individualität) erfasst.
Rudolf Steiner beschreibt eine Gesetzmäßigkeit der Krankheitsentstehung, die sich aus dem gestörten Zusammenwirken von Leib und Seele ergibt. Das beinhaltet zugleich, dass der Mensch durch Leib und Seele zum Kranksein veranlagt ist und die wesentlichen Krankheitsursachen in nicht physiologischen, „inneren“ Bedingungen zu suchen sind. „Physische Erkrankungen beruhen auf dem Geistigwerden des physischen Organismus oder seiner Teile; geistige Erkrankungen beruhen auf dem im physischen oder ätherischen Sinn Gestaltet-werden des Astralischen oder der Ich-Organisation oder einer ihrer Teile. – Das ist eine allgemeine Wahrheit, die außerordentlich leitend ist für die menschliche Erkenntnis“3. Steiner nennt diese Zweiheit eines zu Geistigwerdens des Leibes und eines zu Physischwerdens der Seele ein Grundgesetz. Das liegt allen von uns erarbeiteten Darstellungen in diesem Buch zugrunde. Zuerst werden der Leib und dann die Seele in ihren Differenzierungen beschrieben, dann – und das ist der Mittelpunkt des Buches – ihr Zusammenwirken bis in die Organe hinein. Den Abschluss bilden beispielhafte Krankheiten in ihrer psychosomatischen Wirklichkeit, einmal mit dem Blick vom Leib aus auf die Seele („somato-psychisch“), dann von der Seele aus zum Leib („psychosomatisch“).
Die Inhalte sind aus der immer wiederholten Anschauung am realen Menschen und sich damit einstellender Erfahrung geschrieben. Sie sind insofern „Wissenschaft“, als ihnen ständig reproduzierte Empirie zugrunde liegt. Wir können auch von erfahrener Wissenschaft gegenüber theoretisch formulierter sprechen. Sie wenden sich an einen vorurteilsfreien Leser, der „guten Willens ist“ beziehungsweise bereit, den ihm innewohnenden gesunden Menschenverstand anzuwenden. Ihr Verständnis soll ihn befähigen, sich in der Komplexität des Menschseins auszukennen und zurechtzufinden und sich so seiner Eigenverantwortung bewusst zu werden.
Das gilt für jeden von uns, insofern er mündiger Mensch sein will, sowohl für sein Gesundsein als auch für das Überwinden von Krankheiten. Ein anspruchsvolles, jedoch sehr zukunftstragendes Anliegen.
Dem Leser wird nicht verborgen bleiben, dass die Aspekte des Leibes von dem „Somatiker“ (Volker Fintelmann) und die der Seele von dem „Psychiker“ (Markus Treichler) aus der je eigenen Anschauungsperspektive erkennbar verschieden dargestellt sind. Sie werden dennoch als eine Einheit verstanden, so wie wir es in gemeinsamen Seminaren immer wieder angestrebt haben. Alle Kapitel sind von beiden zusammen in ihre jeweilige Endfassung gebracht worden, die Sicht des einen wurde zur der des anderen. Denn so verschieden Leib und Seele auch sind, für den lebendigen Menschen bilden sie eine untrennbare Einheit.
Volker Fintelmann und Markus Treichler,Hamburg/Stuttgart 2019
Was wäre der Mensch, wenn keine Seele in ihm wäre? Durch die Seele ist er erfüllt.
Paracelsus4
Für die Seele ist es ein Geschenk, dass es den Leib gibt. Es ist ein Glück für die Seele, dass sie ihren Leib hat. In ihm kann sich die Seele inkarnieren; ihn kann sie beseelen, in ihm kann sie wirksam werden und durch ihn auch in der Welt. In ihrem Leib kann die Seele sich zeigen, in allen Formen von Bewegung, von der unbewussten und unwillkürlichen Bewegung der inneren Organe über die rhythmische Bewegung von Atmung und Kreislauf sowie die sich in Abhängigkeit von der Atmung rhythmisch hebende und senkende Liquorsäule in der Wirbelsäule bis zu den bewussten und willkürlichen, vom Ich geführten Bewegungen der Gliedmaßen. Aber auch in Mimik und Gestik, in Lachen und Weinen und im Gang drückt sich die Seele aus. Ebenso wie in Schmerzen und Organfunktionsstörungen, in Lebensfreude wie in Lebensmüdigkeit.
Durch den Leib kann sich die Seele zeigen in allen Handlungen und Verhaltensweisen, in allen Werken, die der Mensch schafft, motiviert von seinem Ich. Die Seele „scheint in der Regel nichts ohne den Körper (soma) zu erleiden oder zu tun, zum Beispiel zu erzürnen, wagemutig zu sein, zu begehren, überhaupt zu empfinden, wahrzunehmen. Am ehesten ist noch das Denken (noein) etwas wie eine eigene Affektion. Wenn aber auch dieses eine Vorstellung ist oder nicht ohne Vorstellung, kann auch dieses nicht ohne den Körper sein.“5
Der Leib ist für die Seele der Ort ihrer Inkarnation, ihres „Sichtbarwerdens“, ihres Wirksamwerdens, und erst durch den Leib kann sich die Seele auch in der Welt ausdrücken, wirksam werden und entwickeln.
Der Leib als Ganzes ist für die Seele die Grundlage zur Entfaltung und Entwicklung ihrer Seelenfähigkeiten im Laufe des Lebens.
Was ist die Seele? Ist sie nur eine Metapher, ist sie eine Hirnfunktion oder ein Hirngespinst – oder gibt es sie wirklich?
Der Begriff Seele ist heute unmodern. In Lehr- und Fachbüchern der Wissenschaften, die Psyche in ihrem Namen tragen, findet sich der Begriff Seele nicht mehr. Die Seele ist den Wissenschaften unheimlich geworden, weil sie unsichtbar, ungreifbar und nicht messbar ist. Das macht sie den Wissenschaften anstößig. Sie meiden den Begriff Seele und verwenden Ersatzbegriffe für die unbestreitbare Realität und Wirksamkeit der Seele, die sie nicht erfassen können.
Deshalb sprechen wir von Seele und verwenden keinen Ersatzbegriff, weil die Seele über das mit naturwissenschaftlichen Methoden Erfassbare hinausweist auf einen Seinsbereich des Menschen, den wir alle aus dem eigenen Erleben kennen, der uns unser eigenes „Inneres“, wie auch das „Innenleben“ unserer Mitmenschen erfahrbar und mitfühlbar werden lässt. Mit unserer Seele erleben und verstehen wir auch die Seele unserer Mitmenschen. Seelisches kann nur von Seelischem erkannt, gefühlt und verstanden werden. Die Seele ist der Schlüssel zu uns selbst wie zu den Mitmenschen und zur Welt.
Heute wird Seele oft nur noch als eine Metapher verwendet, für Bewusstsein, Innerlichkeit oder Individualität, für Selbst und Geist, das Psychische, das Mentale, für Ich oder Person, für subjektives Erleben und Gefühle; eine Wirklichkeit wird ihr gerade von den Wissenschaften abgesprochen: In den Lehrbüchern von Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie findet man den Begriff Seele nicht mehr. Dafür haben diese Wissenschaften „das Seelische“ oder „das Psychische“ eingeführt, das als Ergebnis von Hirntätigkeit interpretiert wird.
„Die alte Anschauung war“, schreibt C. G. Jung 1947, „dass die Seele essentiell das Leben des Körpers sei, der Lebenshauch, eine Art Lebenskraft, die während der Schwangerschaft oder Geburt oder Zeugung in die Physis, in die Räumlichkeit eintrete und mit dem letzten Atemzug den sterbenden Körper wieder verlasse. Die Seele ist an und für sich ein unräumliches Wesen, und weil sie vor dem körperlichen Dasein und nach ihm ist, so ist sie auch zeitlos und das heißt, praktisch unsterblich.“6
Der Begriff Seele gilt als unwissenschaftlich; die modernen Wissenschaften haben keine Vorstellung davon, was das sein könnte: die Seele. Im Zuge eines naturwissenschaftlichen Reduktionismus in den Wissenschaften verschwinden bildhafte Vorstellungen und lebendige Begriffe und Beschreibungen von Wesenhaftem. Hatten wir früher noch die bildhafte Vorstellung von der Seele als Hauch, die mit dem ersten Atemzug in den Leib einzieht und ihn mit dem letzten Atemzug wieder verlässt, also den Menschenleib belebt und beseelt, so bietet die Medizin heute mit den sogenannten bildgebenden technischen Verfahren (beispielsweise MRT) die Illusion, das Psychische als Funktion des Gehirns zu interpretieren. Was sich an solchen funktionellen bildgebenden Verfahren des Zentralnervensystems zeigt, sind aber elektrophysiologische Veränderungen, die als das Psychische gedeutet werden, aber keine seelische Wirklichkeit haben. Kein Untersucher eines EEG, eines CT oder eines MRT weiß, was die Patienten seelisch erlebt und gefühlt oder gedacht haben. Aber wenn wir mit dem Patienten sprechen, uns seine Sorgen und Probleme anhören, ihn dabei ansehen, auf seine Mimik und seine Stimme und Sprache achten, so können wir unmittelbar mitfühlen und nacherleben, wie es dem Menschen gehen mag und mit ihm darüber ins Gespräch kommen.
„Das Anstößige am Wort ‚seelisch‘ ist zugleich das, was diesen Begriff auszeichnet. Er betont wie kein anderer die Einmaligkeit und Besonderheit des menschlichen Erlebens. […] das zentrale Element des Seelischen, das im Primat des unmittelbaren Empfindens, Fühlens und Wollens liegt. […] Seelisches Erleben hat die Eigenart, nur von anderem seelischen Erleben erfasst werden zu können. Es ist immer ‚Erleben aus erster Hand‘ und kann auch mit raffiniertesten elektronischen Informationsträgern nicht simuliert werden.“7
In dem von der Medizin – auch von der Psychosomatik – wie auch von der Philosophie und Psychologie bisher nicht gelösten Leib-Seele-Problem taucht der Seelenbegriff noch auf. Ansonsten arbeiten nur noch die Geisteswissenschaften und die Künste mit dem Begriff der Seele. Diese Wissenschaften brauchen keinen naturwissenschaftlichen Beweis für die Existenz der Seele. Für sie ist Seele erlebbar, im Menschen wie auch in den Werken von Menschen. So erleben auch die meisten Menschen die Seele in ihrem Leben als gegenwärtig und wirklich.
Spürt nicht jeder Mensch, der bei wachen Sinnen ist, dass er es ist, der gerade liest, oder einen Gedanken hat, oder ein Gefühl, eine Erinnerung, oder dass der Kopfschmerz mein eigener ist, der mich beim Lesen ärgert? Jeder Mensch erlebt sich als Träger verschiedenster seelischer Zustände oder Fähigkeiten, seien es Stimmungen oder Schmerzen, Denk- oder Willensakte, Wachbewusstsein oder Tagträumereien. Und immer wissen wir in einer Situation, die wir „normal“ nennen, dass es unser Ich ist, das diese seelischen Fähigkeiten und Zustände hat und damit umgehen kann, oder herausgefordert ist, damit umgehen zu lernen.
Durch Selbsterleben, durch Introspektion, durch Nachdenken wissen wir unmittelbar von der Wirklichkeit unserer Seele. Auch wenn noch niemand diese Seele je gesehen hat. „Wir sind uns also als bewusste Wesen unzweifelhaft gewiss. In dieser elementaren Tatsache beweist sich, dass die Seele nicht ein bloßes Hirngespinst ist. Versteift man sich dennoch auf diese Ansicht, so müsste man angeben, wer denn der Träger dieses Hirngespinstes ist, eine Frage, die die Neurophysiologie nicht beantwortet.“8
Wir erleben die Wirklichkeit der Seele allerdings nicht nur an und durch uns selbst, sondern auch an und durch unsere Mitmenschen: an der Begegnung mit dem Du erlebe ich mein Ich9, im Mitgefühl der Gefühle oder Schmerzen eines Mitmenschen (Empathie) erlebe ich meine Seele und seelisches Erleben meiner Mitmenschen. Auch wenn dabei neuronale Vorgänge eine Rolle spielen, so bin es doch wieder Ich, der mitfühlt und sich dadurch vielleicht zu einer Handlung motivieren lässt, oder auch nicht. Es bin immer Ich, der fühlt, mitfühlt, denkt und handelt, der Schmerzen hat oder sich glücklich fühlt, nicht mein Gehirn. Das Gehirn mag der Ort sein, an dem sich das Bewusstsein von all dem spiegelt, an dem das Bewusstsein entsteht, aber das Gehirn ist nicht die Seele und nicht das Ich. Das Gehirn produziert auch nicht „das Seelische“, sondern die Seele ist eine eigenständige Wirklichkeit, die zu ihrem Erleben und Wirksamwerden allerdings den Leib braucht – Gehirn und Seele sind dennoch weder identisch noch ist das eine Ergebnis der Tätigkeit des anderen. Die Wirklichkeit der Seele zeigt sich auch in der individuellen Sinngebung des Lebens oder eines bestimmten Erlebens – oder auch in der Frage oder der Suche nach der Sinngebung, bis hin zur Verzweiflung an einem Verlust von Sinnhaftigkeit im Leben. Das ist dann wirklich keine Metapher mehr, sondern ein existenzielles Leiden der Seele. Sinngebung gehört zum menschlichen Dasein – im Gelingen wie im Verlieren zeigt sich die Wirklichkeit der Seele und ihre Fähigkeit, sich zu orientieren, woran sie will.
Doch die Wirklichkeit der Seele wurde früher und wird weiterhin kontrovers gesehen und gedeutet: wie ist sie zu verstehen, wie ist ihr Wesen, woraus besteht sie, ist sie materiell, körperlich, räumlich, ist sie funktionell, immateriell und vor allem: wie ist ihr Verhältnis zum Leib?
Im Folgenden sollen einige Ansichten und Deutungen über die Seele wiedergegeben werden.
Ganz im Allgemeinen gehört es zu den mühsamsten Dingen, irgendeine Gewissheit über die Seele zu erlangen.
Aristoteles10
Diesem Satz von Aristoteles kann man auch heute noch ohne Einschränkung zustimmen. Die Ansichten über die Seele sind seither in den zweieinhalb Jahrtausenden nicht klarer geworden. Die Situation ist nach wie vor verwirrend und kontrovers: gibt es eine Seele (gr. Psyche, lat. Anima), oder gibt es nur „Seelisches“, „Psychisches“ – als Ergebnis von Hirntätigkeit?
Eine Antwort auf diese Frage zu finden, ist nicht akademisch, sondern hat mit dem alltäglichen Leben zu tun: wer oder was leidet, wenn ein Mensch Angst hat: ist es sein Gehirn? Oder ist es der Mensch in seiner Seele? Wo sind wir unglücklich oder depressiv: im Zentralnervensystem oder in unserer Seele? Und wer ist der Unglückliche: der Mensch oder das Gehirn? Woran leiden Menschen mit seelischen Problemen oder Erkrankungen? Womit arbeiten Psychotherapeuten – und woran arbeiten sie, wenn sie Psychotherapie machen?
Jede medizinische und psychotherapeutische Richtung hat, implizit oder explizit, ein Verständnis oder eine Vorstellung von dem, was für sie Psyche, das heißt Seele sei. So wie jede medizinisch-therapeutische Richtung, ausgesprochen oder unausgesprochen auch ein Menschenbild als Grundlage ihrer medizinisch-therapeutischen Arbeit hat.11
Für die Anthroposophische Medizin ist die Ausgangslage eindeutig: jeder Mensch hat seine Seele, so wie er auch seinen Leib hat und sein Ich, das ihm sein Selbstbewusstsein gibt. Die Seele ist eine eigenständige Organisation, wie es Leib und Ich auch sind. Aber Leib, Seele und Ich (Geist) sind verschieden – und sie sind miteinander verbunden. Sie sind lebenslang zusammen. Die Eigenschaften und Beziehungen dieser drei Bereiche – Leib, Seele und Geist (Ich) – werden in der Anthroposophischen Menschenkunde und Medizin differenziert beschrieben.12
Anthroposophische Psychosomatik geht von einem spezifischen Verständnis der Seele und ihrem Verhältnis zum Leib aus, wie es in der Anthroposophie begründet ist. Dieses Verständnis der Seele ist umfangreich und in seiner Komplexität einmalig. Es greift Bezüge auf, die in der Psychologiegeschichte des Abendlandes seit der griechischen Antike immer wieder in modifizierten Formen aufgetreten sind. Diese historischen Bezüge zu einer Anthroposophischen Psychologie sollen im Folgenden kurz angedeutet werden.
Was die Seele ist, wird auch schon in der abendländischen Geschichte oft sehr unterschiedlich, ja gegensätzlich beschrieben. Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) hat in seinem berühmten Werk Über die Seele13 (gr. Peri psyches; lat. De anima) gleich zu Beginn festgehalten: „Ganz im Allgemeinen gehört es zu den mühsamsten Dingen, irgendeine Gewissheit über die Seele zu erlangen.“
Die erste philosophische Seelenlehre der Antike, nach den vorsokratischen Philosophen, stammt von dem Lehrer des Aristoteles, von Platon (428–348 v. Chr.). Er beschreibt die Seele in einem Gleichnis: „Was die Seele wirklich ist, das ist lang, und nur ein Göttermund könnte es aussprechen. Doch ihr Gleichnis ist kürzer und kann durch Menschenmund so ausgesprochen werden: Die Seele ist gleich der Kraft, die einem gefiederten Gespann und einem Wagenlenker innewohnt. Pferde und Wagenlenker der Götter sind nun alle gut und von guter Herkunft; die der anderen (der Menschen) aber sind gemischt. Bei uns nun lenkt zunächst der Führer das Gespann: darauf erweist sich ihm das eine Pferd als edel und gut und von ebensolcher Herkunft, das andere dagegen von entgegengesetzter Herkunft und Beschaffenheit, wild und unedel. Die Lenkung des Wagens ist also bei uns (den Menschen) notwendig beschwerlich und mühsam.“14 Es fällt bei diesem Gleichnis einerseits auf, dass die Seele als Kraft offensichtlich nicht an die Gesetze der Erde gebunden ist; die Seele wird also nicht als ein räumlich-physisches Gebilde dargestellt; andererseits wird die Seele in diesem Gleichnis in drei verschiedene Teile differenziert: in einen Lenker, sowie in ein edles und ein unedles Pferd. Platon spricht von den verschiedenen „Formen“ oder „Arten“ der Seele. Diese drei Formen bilden aber eine Einheit, ein „zusammengewachsenes Vermögen“. Dennoch sind diese drei Arten oder Formen auch selbstständige Kräfte der Seele: das unedle Pferd repräsentiert offensichtlich den begierdehaften, emotionalen Teil der Seele, das edle Pferd gleicht dem mutigen, willenshaften Teil der Seele, während der Lenker dem vernünftigen Teil der Seele, dem Denken entspricht. Wir werden ähnliche Dreigliederungen der Seele im Lauf der Geschichte wiederfinden. An anderer Stelle bei Platon15 finden wir noch einen wichtigen Hinweis auf die ontologische Konstitution der Seele: die Seele befindet sich in ihrem Sein in der Mitte zwischen Ideenwelt und Sinneswelt. Die Seele hat an beiden Welten Teil, wenn sie die Präsenz der ewigen Ideen in der physisch-vergänglichen Welt erkennt. Durch die Mittelstellung der menschlichen Seele zwischen Geist und Körper wird die geistige Ordnung an die physisch-lebendige vermittelt.16 Der sichtbare Ausdruck davon sind Proportionen, Zahlenverhältnisse und Gestaltbildung.
Bei Platons Schüler Aristoteles finden wir die Seele wieder in einem Gleichnis vorgestellt, aber es liest sich sehr anders: „Es ist nun die Seele Ursache und Ursprung des lebenden Körpers. Diese Begriffe haben einen vielfachen Sinn. Dementsprechend ist die Seele Ursache nach den drei bestimmten Arten: denn sie ist Ursache der Bewegung und auch Ursache als Zweck und als Wesen der belebten Körper. Dass sie es als Wesen ist, ist klar. Denn bei allen ist das Wesen die Ursache des Seins, und das Leben ist für die Lebewesen das Sein, und Ursache und Ursprung davon ist die Seele. […]
Klar ist, dass die Seele auch Ursache als Zweck ist. Wie nämlich der Geist um eines Zweckes willen schafft, auf dieselbe Weise tut es auch die Natur und dies ist ihr Ziel. Derart ist der Natur gemäß in den Lebewesen die Seele. Denn alle natürlichen Körper sind Werkzeuge der Seele, und zwar bei den Pflanzen ebenso wie bei den Tieren, sodass also diese alle um der Seele willen sind. In zweifacher Bedeutung wird das um eines Zweckes willen verstanden, als das Wozu und als das Womit.“17
Bei Aristoteles erfahren wir von drei verschiedenen Arten von Seele: bei den Pflanzen, den Tieren und den Menschen. Die Seele der Pflanzen ist eine vegetative (Anima vegetativa), nur lebendige, mit den Eigenschaften des Wachstums und der Fortpflanzung; die Seele der Tiere ist eine animale, mit den zusätzlichen Eigenschaften der Ortsbewegung, der Wahrnehmungen und Empfindungen; die Seele des Menschen ist dagegen eine denkende, vernunftbegabte und damit geistige Seele.
Jede Seele wird durch ihre jeweils höchste Funktion definiert. So hat die Seele der Tiere und Menschen auch vegetative Funktionen, die der Menschen auch die animalen, triebhaften Eigenschaften wie die Tierseele, aber sie transzendiert diese Eigenschaften durch ihre geistige Fähigkeit. „Es ist der Geist, der die menschliche Seele zu einer menschlichen macht. Der Mensch ist nicht ein Tier, zu dem dann, wenn er auf dem Höhepunkt seiner Entfaltung ist, noch ein überpersönlicher Geist hinzutritt, sondern er ist Mensch in jeder seiner Funktionen.“18
Steiner bemerkt zu diesen beiden frühen Seelendarstellungen in Rätsel der Philosophie19: „[…] für Platon kommt in Betracht, was in der Seele lebt und als solches an der Geistwelt Anteil hat; für Aristoteles ist wichtig, wie die Seele sich im Menschen für die eigene Erkenntnis darstellt.“
Bei Lukrez (ca. 93–ca. 55 v. Chr.) können wir im ersten Jahrhundert vor Christus eine ganzheitliche, aber überraschend materialistische Anschauung von der Seele finden: „Damit steht fest, ihrer Natur nach sind Geist und Seele beide ein Teil des Menschen […] Was aus dem Gesagten folgt, zeige ich nun: Geist und Seele sind körperlich, sind materieller Natur. Wir erleben, wie der Geist die Glieder anstößt, aus dem Schlaf sie rüttelt, ihr Verhalten verändert, den ganzen Menschen leitet und lenkt – nichts dergleichen könnte ohne Anstoß und Berührung geschehen, und kein Anstoß wäre umgekehrt möglich, ohne Körper oder Materie. […] Vom ganzen Leib geschützt ist die Seele zugleich dessen Wächterin, Ursache auch seines Lebens. Denn durch gemeinsame Wurzeln hängen Leib und Seele zusammen; sie sind nicht zu trennen, ohne dass beide vergingen. […] So mächtig das Wirken der Seele sein mag, in noch stärkerem Maß ist der Geist Wächter der das Leben bewahrenden Riegel, mehr noch als die Seele ist er Herr und Lenker des Lebens. Denn sind Geist und Bewusstsein verloren, kann selbst für kürzeste Zeit kein Seelenpartikel mehr im Leib verweilen: Als dessen Gefährten folgen sie alle dem Geist, lösen sich auf in die Luft, lassen die Glieder zurück, die erkalten in der Froststarre des Todes. Sind aber Geist und Denken eines Menschen im Leib geblieben, dann bleibt dieser am Leben. […] Der Leib nämlich bildet das Gefäß für Seele und Geist; und sollte dir dies Bild nicht recht erscheinen, dann stelle dir etwas anders vor, das die enge Verbindung deutlicher fasst, mit Körper und Seele verknüpft.“20
Hier hören wir von einer in sich gegliederten Einheit von drei verschiedenen, aber zusammengehörenden „Dingen“: Leib, Seele und Geist, die durchaus unterschiedliche und hierarchisch geordnete Aufgaben haben, aber alle voneinander abhängen. Im Unterschied zu heutigen materialistischen Seelenauffassungen, sind bei Lukrez die Seele und der Geist keine Folge körperlicher Tätigkeiten, sondern durchaus etwas Eigenständiges: sie sind „aus kleinsten Partikeln gebaut“, sie „müssen aus kugelrunden und äußerst winzigen Keimen bestehen.“
In nachchristlicher Epoche zeigen sich wieder andere Sichtweisen auf die Seele. So können wir den Kirchenlehrer und Philosophen Augustinus (354 – 430) als Ahnherrn einer Ich-Psychologie erkennen. In seinem Hauptwerk De Trinitate lesen wir:
„Kurz gesagt: ich bin es, der durch das Gedächtnis sich erinnert, ich bin es, der durch den Intellekt denkt, ich bin es, der durch die Liebe liebt. Ich bin nämlich nicht das Gedächtnis, ich bin nicht der Verstand, ich bin nicht die Liebe, sondern ich habe sie.“21
Der Scholastiker Thomas von Aquin (1225–1274) beschreibt die Herkunft der vielfältigen Seelenfähigkeiten: „Die menschliche Seele besitzt solch eine Fülle verschiedener Vermögen, weil sie im Grenzgebiet der geistigen und körperhaften Wesen wohnt; in ihr vereinigen sich daher die Kräfte beider Schöpfungsbereiche.“ Ausgehend von Aristoteles De Anima beschreibt auch Thomas die Seele zunächst als Lebensprinzip, das bei Pflanzen, Tieren und Menschen zu finden sei (Anima vegetativa); Empfinden und Fühlen finde man aber erst bei den Tieren, sie haben entsprechend eine Anima sensitiva. Nur dem Menschen komme aber ein Erkenntnisvermögen, eine Denkfähigkeit zu, nur er habe eine Anima rationalis oder Anima intellectiva. Im Erkennen zeigt sich die Kraft des Geistes in der Seele, der Geist ist die Form der Seele (scientia forma animae), so wie die Seele die Form des Leibes ist (anima forma corporis).22
Wir finden bei Thomas also sowohl eine Dreigliederung der Seele in den Qualitäten der Lebensfähigkeit, der Empfindungsfähigkeit und der Denkfähigkeit, wie auch die Mittelstellung der Seele zwischen Geist und Körper.
In der Renaissance wird die Seele als „das alle Dinge schaffende Formprinzip bezeichnet, das im Großen und Kleinen wirkt und das aus dem Sein das Mögliche, das heißt seine Potenzialität hervorbringt. Als die die Welt gestaltende Kraft ist die Seele unsterblich“.23
Marsilio Ficino (1433–1399), Freund und Lehrer von Pico della Mirandola, bestimmte die Seele, „die er in die Mitte des Seins setzt, als ein Stabiles, das aus zwei Momenten besteht. Einer invariablen Wesensform und einer variablen Tätigkeits- oder Handlungsform die aus dieser Wesensform entspringt. Die Seele ist also selbst eine jeder zeitlich-räumlichen Entfaltung vorgreifende Einheit aus Verschiedenem, aus Unbewegtem und Bewegtem, aus Einheit und Vielheit, aus Identität und Differenz, aus Unteilbarem und Teilbarem“.24
Der viel kritisierte Leib-Seele-Dualismus von René Descartes (1596–1650) hat eine nicht zu unterschätzende positive Bedeutung für die Geschichte der Psychologie: denn aus der Betonung des Unterschieds von Leib und Seele ihren Eigenschaften und Qualitäten nach, konnte die wesenhafte Eigenart und Eigengesetzlichkeit des Seelischen erkannt, erforscht und beschrieben werden. Ohne diese auf Descartes aufbauende Differenzierung von Leib und Seele, hätte sich wohl die Psychologie in ihrer Eigenständigkeit als Wissenschaft von der Seele nicht entwickeln können. Außerdem hatte Descartes bei aller Unterscheidung auch einen ganzheitlichen Gesichtspunkt: „In erster Linie bemerke ich einen großen Unterschied zwischen Leib und Seele, insofern nämlich der Leib seiner Natur nach stets teilbar, die Seele dagegen durchaus unteilbar ist. Denn wenn ich mich nur als denkendes Wesen betrachte, so kann ich keine Teile in mir erkennen, vielmehr erkenne ich in mir ein durchaus einheitliches Ganzes. Zwar scheint der ganze Geist mit dem ganzen Körper geeint zu sein, wenn man mir jedoch einen Fuß, einen Arm oder einen anderen Körperteil abnimmt, so merke ich doch nicht, dass dem Geist dadurch etwas genommen worden ist. Auch können die Fähigkeiten zu wollen, wahrzunehmen, zu erkennen und so weiter nicht Teile der Seele genannt werden, denn es ist stets ein und dieselbe Seele, die will, wahrnimmt und erkennt. Umgekehrt kann ich keine körperliche oder ausgedehnte Sache denken, die ich nicht in Gedanken leicht in Teile zerlegen kann, und deren Teilbarkeit ich daran erkenne. Dies allein würde hinreichen, mich den völligen Unterschied zwischen Seele und Körper zu lehren, wenn ich ihn nicht schon aus anderen Gründen klar erkannt hätte.“25
Mit dem schottischen Philosophen David Hume (1711–1776) erleben wir im 18. Jahrhundert eine neue Qualität des Denkens über Geist, Selbst und Seele: der Geist ist nichts anderes als eine „Menge oder Ansammlung von verschiedenen Wahrnehmungen“, ohne eine eigene Identität. Dem Geist können immer nur Wahrnehmungen präsent sein, dabei gibt es Sinneswahrnehmungen und Selbstwahrnehmungen (Empfindungen und Leidenschaften) auf der einen Seite und Ideen auf der anderen Seite; Ideen sind allerdings lediglich die Abbilder der Eindrücke von Wahrnehmungen. Ideen sind also abgeleitet von den Wahrnehmungen und haben keine eigenen Eigenschaften unabhängig von den Eindrücken beziehungsweise den ihnen zugrundeliegenden Wahrnehmungen. Das Selbst des Menschen ist, ähnlich wie der Geist, „ein Bündel oder eine Ansammlung von verschiedenen Wahrnehmungen, die einander mit einer unvorstellbaren Schnelligkeit nachfolgen und permanent in Fluss und in Bewegung sind.“26
In diesem Verständnis wird der Mensch, werden Geist, Selbst und Seele auf „Perzeptionen“, auf Wahrnehmungen reduziert; jede Wahrnehmung ist bewusst und ohne Wahrnehmung von Objekten sind wir nichts. Die Erfahrungswelt ist alles.
Damit war der Weg zu einer rein empirischen Psychologie vorbereitet. Hume hielt Begriffe, die auf etwas nicht unmittelbar Wahrnehmbares hinweisen, wie beispielsweise „Ich“ oder „Seele“, für sinnlos und schloss sie aus der psychologischen Untersuchung aus.27
1822 unternahm Johann Christian August Heinroth (1773–1843), seit 1811 Inhaber des ersten deutschen Lehrstuhls für Psychiatrie in Leipzig, in seinem Lehrbuch der Anthropologie den entschiedenen Versuch, eine dualistische Betrachtung des Menschen zu überwinden – im Sinne eines anthropologischen Monismus. Er beschreibt den Menschen als „Ichheit“ und als „ersten Freigelassenen der Schöpfung“. Heinroth, befreundet mit Goethe, sah den Menschen immer als Einheit: „[D]er Mensch ist ebenso wenig aus Leib und Seele zusammengesetzt als das Licht aus Farben. Wie das Licht durch das Prisma in Farben, so wird das Grundwesen des Menschen durch die Besonderheit des Raumes und der Zeit in Raumwesen und Zeitwesen zerlegt.“28Räumlich ist der physische Leib des Menschen; unräumlich, aber zeitlich erscheint die Seele, die im Menschen als einem einheitlichen Ichwesen lebt.
Carl Gustav Carus (1798–1869) hat in seinem großen Werk Psyche – zur Entwicklungsgeschichte der Seele bereits 1846 bemerkenswerte Aussagen über ein bis dahin nicht beschriebenes Phänomen gemacht: „Der Schlüssel zur Erkenntnis vom Wesen des bewussten Seelenlebens liegt in der Region des Unbewusstseins. Alle Schwierigkeit, ja alle scheinbare Unmöglichkeit eines wahren Verständnisses vom Geheimnis der Seele wird von hier aus deutlich. Wäre es eine absolute Unmöglichkeit, im Bewussten das Unbewusste zu finden, so müsste der Mensch verzweifeln, zum Erkennen seiner Seele, das heißt zur eigentlichen Selbsterkenntnis, zu gelangen. Ist diese Unmöglichkeit nur eine scheinbare, so ist es die erste Aufgabe einer Wissenschaft von der Seele, darzulegen, auf welche Weise der Geist des Menschen in diese Tiefen hinabzusteigen vermöge.“29
Carus beschreibt die Psychologie als die Wissenschaft von der Entwicklung der Seele vom Unbewussten zum Bewussten. Er ist der erste, der den Begriff des Unbewussten in die Wissenschaft eingeführt hat – vor Eduard von Hartmann, Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud und C. G. Jung. Allerdings wurde das Wort „unbewusst“ in der deutschen Sprache erstmals von Goethe 1776 passenderweise in dem Gedicht An den Mond (erste Fassung) verwendet. Vorher gab es im Deutschen das Wort „unbewusst“ nicht. Carus, der Goethe persönlich kennengelernt hatte, kannte mit Sicherheit die Gedichte von Goethe und hat vermutlich bei ihm dieses bisher unbekannte Wörtchen unbewusst gelesen und seine Bedeutung für die Seele des Menschen erkannt. Goethe selbst hatte in seiner zweiten Fassung des Gedichts unbewusst durch nicht gewusst ersetzt; offenbar, weil unbewusst von den Zeitgenossen damals noch nicht verstanden worden war.
Carus hatte als erster erkannt, welche Bedeutung das Unbewusste für die menschliche Seele hat und sich sehr eingehend mit diesem Phänomen beschäftigt. Damit wurde er – leider bisher nicht angemessen gewürdigt – zum Pionier einer Psychologie des Unbewussten, einer Tiefenpsychologie lange vor Freud, der seine Vorläufer in seinen Werken leider nicht erwähnt.
Carus unterscheidet drei Schichten des Unbewussten: Erstens das allgemeine absolute Unbewusste, das für unser Wachbewusstsein ganz unzugänglich ist (wie der Schlaf); zweitens das teilweise absolute Unbewusste, dem er die Prozesse der Bildung, des Wachstums, der Organtätigkeiten zuordnet. Dieser Teil des Unbewussten, der von den Organfunktionen ausgeht, übt einen mittelbaren Einfluss auf unser Gefühlsleben und auf unsere Stimmungen aus. Carus nennt die Organtätigkeiten der inneren Organe „Bezirke der Seele“. Jeder dieser Bezirke hat eine ihm eigene Gefühlstönung und Stimmung und prägt die allgemeine vitale Grundstimmung des Menschen. Carus vertrat sehr überzeugt eine psychosomatische Einheit. Dabei übersah er nicht, dass es auch eine Wirkung vom bewussten Seelenleben auf das (teilweise absolute) Unbewusste gibt, durch unsere Gedanken und Absichten. Daraus erklärte er, warum die Physiognomie eines Menschen seinen Charakter zeigen kann. Drittens nennt Carus das relative oder sekundäre Unbewusste, das die Gesamtheit aller unserer Gefühle, Stimmungen, Wahrnehmungen und Vorstellungen umfasst, die wir jemals hatten und die unbewusst, vergessen sind, aber wieder erinnert werden können.
Weiter schreibt Carus dem Unbewussten eine prometheische und eine epimetheische Qualität zu, das heißt, es sei der Zukunft und der Vergangenheit zugewandt, habe aber keine Ahnung von der Gegenwart! Das Unbewusste sei unermüdlich und brauche – im Unterschied zu unserem Wachbewusstsein – keine Erholungspausen, denn es ist auch im Schlaf und Traum aktiv. Interessanterweise nennt er das Unbewusste grundsätzlich gesund, eine seiner Funktionen sei „die Heilkraft der Natur“. Die gesunde seelische Entwicklung des Menschen charakterisierte er im Sinne des Wachbewusstseins: „Die ganze Geschichte der gesunden psychischen Entwicklung des Menschen zeigt ein fortwährendes Wachstum der bewussten Region seines Seelenlebens und ein Zunehmen des Bestimmtwerdens des Unbewussten durch das Bewusste.“30
Die drei für die Psychotherapien des 20. Jahrhunderts wichtigen Begründer eigener Schulen, Sigmund Freud (1856–1939), Alfred Adler (1870–1937), Carl-Gustav Jung (1875–1961) und Rudolf Steiner (1861-1925) waren Zeitgenossen. Steiner hatte Kenntnis von den psychologischen Grundanschauungen, insbesondere von Freud und Jung. An verschiedenen Stellen nahm Steiner überwiegend kritisch, teils aber auch anerkennend Stellung zu Aussagen von Freud und Jung. Um das Seelenverständnis der Anthroposophie Rudolf Steiners im historischen Kontext wahrnehmen zu können, sollen hier wenigstens einige Andeutungen zum Seelenverständnis von Freud und Jung gegeben werden; für eine angemessene Darstellung und Würdigung ihrer Werke und Leistungen ist hier allerdings nicht der Ort.
Zeitgleich ist in den USA von John Broadus Watson (1878–1958) der Grundstein für die Verhaltenspsychologie und -therapie gelegt worden. Sie stellte einen krassen Gegenentwurf zur Tiefenpsychologie dar, die im deutschen Sprachraum entstanden ist. Watson vertrat 1913 in dem Artikel Psychologie, wie ein Behaviorist sie sieht die folgenden radikalen Ansichten: „Die Psychologie, wie ein Behaviorist sie sieht, ist ein vollkommen objektiver, experimenteller Zweig der Naturwissenschaft. Das theoretische Ziel ist die Vorhersage und Überprüfung von Verhalten. Introspektion spielt keine wesentliche Rolle, […] bei dem Bemühen, ein einheitliches Bild der Reaktionen von Lebewesen zu gewinnen, erkennt der Behaviorist keine Trennungslinie zwischen Mensch und Tier an. […] Die Zeit scheint reif zu sein, dass die Psychologie jeden Bezug auf das Bewusstsein aufgeben muss und sich nicht mehr der Illusion hingeben darf, dass sie Bewusstseinszustände zum Gegenstand ihrer Beobachtungen machen kann. […] Die Psychologie, die ich versuche aufzubauen, nimmt als Ausgangspunkt erstens die beobachtbare Tatsache an, dass Organismen – Menschen und Tiere – sich mithilfe einer ererbten und gelernten Ausstattung an ihre Umwelt anpassen. Dieses Anpassungsverhalten kann vollkommen adäquat sein oder so inadäquat, dass der Organismus seine Existenz kaum aufrechterhalten kann. Zweitens gehe ich davon aus, dass es bestimmte Reize gibt, die die Organismen zu den Reaktionen veranlassen. In einem vollständigen System der Psychologie kann die Reaktion vorausgesagt werden, wenn die Reize bekannt sind. […] Mein Ziel ist es, das Anpassungsverhalten und seine Auslösereize genau kennenzulernen. Der Grund dafür ist, dass ich allgemeine und spezielle Methoden finden möchte, durch die man Verhalten kontrollieren kann.“31
Watson war mit dem Anspruch aufgetreten, die Psychologie endgültig zu einer Naturwissenschaft zu machen, indem er sie ausschließlich auf das äußerlich „Beobachtbare“ beschränkte. Und dies sei nur das „Verhalten“, alles andere – wie Bewusstsein, Wille, Gefühl, Vorstellungen – sei nicht beobachtbar und könne deshalb auch nicht Gegenstand (natur)-wissenschaftlicher Untersuchungen sein.32 Im Fortgang dieser naturwissenschaftlich-psychologischen Anschauung wird der Mensch nicht als Individuum sondern als Objekt gesehen, wie die Natur – und auch so behandelt: mit „Vorhersage und Kontrolle des Verhaltens“.33
So viel zum historischen Ursprung der Verhaltenspsychologie, die Steiner nicht direkt kommentiert hat, wohl weil er sie noch nicht kennengelernt hatte. Es scheint deutlich, dass hier die Denkungsart von Hume wieder in die Psychologie Einzug hält. Auch heute empfiehlt ein Vertreter der von der Verhaltenstherapie kommenden neuen Richtung der „Schematherapie“, für die Psychotherapie nur von dem „naturwissenschaftlich aktuell Begründbaren“ auszugehen und nicht darüber „hinauszuschießen“.34 Das ist ein Plädoyer für die Perpetuierung des naturwissenschaftlichen Reduktionismus in der Psychotherapie des 21. Jahrhunderts. Dagegen können gerade Psychiatrie und Psychotherapie zeigen, dass nur ein Mehr als Naturwissenschaft, dass erst ein Hinausgehen über die Naturwissenschaft zu einer wirklichkeitsgemäßen Erfassung der Seele, des Ich sowie seelischer und geistiger Phänomene in Gesundheit und Krankheit beiträgt.35
„Die Weise unseres Erfahrens hängt allein ab von der Weise der anthropologischen Entwürfe und von den in ihnen begründeten Methoden.“36
„Die Psychoanalyse ist sozusagen mit dem 20. Jahrhundert geboren; die Veröffentlichung, mit welcher sie als etwas Neues vor die Welt tritt, meine ‚Traumdeutung‘, trägt die Jahreszahl 1900. Aber sie ist, wie selbstverständlich, nicht aus dem Stein gesprungen oder vom Himmel gefallen, sie knüpft an älteres an, das sie fortsetzt, sie geht aus Anregungen hervor, die sie verarbeitet.“37
In dieser Traumdeutung entwickelte Freud ein topographisches Modell des „psychischen Apparats“, in dem er die Systeme das Unbewusste, das Vorbewusste und das Bewusste einführte und unterschied. Freud betonte damit das Unbewusste in seiner Bedeutung für die Psychologie. Allerdings war das Unbewusste keine Entdeckung von Freud; vielmehr war es Dichtern und Denkern wie auch Psychiatern der Romantik bereits als ein Bereich der menschlichen Seele bekannt. Zu Freuds Zeit selbst hatte der Philosoph Eduard von Hartmann sein Hauptwerk die Philosophie des Unbewussten veröffentlicht. Darin schreibt Eduard von Hartmann: „Der Begriff des Unbewussten mutet aber gerade dem Denken zu, dieses Vorurteil zu überwinden und den Begriff des Psychischen so zu erweitern, dass er neben dem bewusst Psychischen auch ein unbewusst Psychisches umfasst“.38
Trotzdem bedeutete es für die Psychologie als Wissenschaft eine Umwälzung, den Begriff des Unbewussten als Gegenstand der Psychologie aufzunehmen.
„Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo“ – „Wenn ich die oberen Götter nicht beugen kann, so will ich die unteren bewegen“; diesen Satz aus der Aeneis Vergils machte Freud zum Motto seiner Traumdeutung – und das ist gewissermaßen das Motto seiner ganzen Tiefenpsychologie. So schrieb er in seiner Schrift Das Interesse an der Psychoanalyse 1913: „[M]an darf es wohl aussprechen, dass das psychoanalytische Studium der Träume den ersten Einblick in eine bisher nicht geahnte Tiefenpsychologie eröffnet hat. Es werden grundstürzende Abänderungen der Normalpsychologie erforderlich sein, um sie in Einklang mit diesen neuen Einsichten zu bringen.“ In Freuds letztem und endgültigem System seines psychischen Apparats, das er 1923 als „Strukturmodell“ bezeichnet hat, sind die neuen Instanzen des psychischen Apparats das Es, das Ich und das Über-Ich. Was bisher das Unbewusste hieß, nennt Freud nun in Anlehnung an Nietzsche das Es. „Das Es ist der dunkle, unzugängliche Teil unserer Persönlichkeit; das wenige, das wir von ihm wissen, haben wir durch das Studium der Traumarbeit und der neurotischen Symptombildung erfahren, und das meiste davon hat negativen Charakter, lässt sich nur als Gegensatz zum Ich beschreiben. […] Das Ich ist jener Teil des Es, der durch die Nähe und den Einfluss der Außenwelt modifiziert wurde. Die Beziehung zur Außenwelt ist für das Ich entscheidend geworden, es hat die Aufgabe übernommen, sie bei dem Es zu vertreten, zum Heil des Es, das ohne Rücksicht auf diese übergewaltige Außenmacht im blinden Streben nach Triebbefriedigung der Vernichtung nicht entgehen würde.“39
Das Ich ist derjenige Teil des psychischen Apparats, der für den Menschen dem Wachbewusstsein zugänglich ist. Das unbewusste Seelenleben nimmt dem gegenüber den viel größeren Raum ein, es umfasst Es, Über-Ich und Anteile des Ich. Der immer wieder in der Psychologie auftauchenden Gleichstellung von „psychisch“ und „bewusst“ widersprach Freud mit aller Entschiedenheit: „Nein, die Bewusstheit kann nicht das Wesen des Psychischen sein, sie ist nur eine Qualität, die viel häufiger vermisst wird, als sie vorhanden ist. Das Psychische an sich, was immer seine Natur sein mag, ist unbewusst, wahrscheinlich von ähnlicher Art wie alle anderen Vorgänge in der Natur, von denen wir Kenntnis genommen haben.“40
Wir sehen, wie bei dem Bild der Seele, wie es in dem „Psychischen Apparat“ des „Topographischen Modells“, wie auch im späteren „Strukturmodell“ dargestellt wird, eine Dreigliederung auftaucht, die stark an die ursprüngliche Dreigliederung in Platons Seelenlehre erinnert. Und wir dürfen bei dem in antiker Literatur gebildeten Freud durchaus annehmen, dass er die Seelenlehre Platons kannte. Dabei darf allerdings auch nicht übersehen werden, dass Freud im Grunde ein materialistisches Verständnis von der Seele und auch von den seelischen Erkrankungen41 hatte: „Wir nehmen an, dass das Seelenleben die Funktion eines Apparates ist, dem wir räumliche Ausdehnung und Zusammensetzung aus mehreren Stücken zuschreiben und den wir uns so ähnlich vorstellen wie ein Fernrohr, ein Mikroskop oder dergleichen.“42
In dem Vortrag Anthroposophie und Seelenwissenschaft vom 5. November 1917 in Zürich charakterisiert Steiner das Grundproblem einer anthroposophischen Psychologie, indem er sagt: „Seelenwissenschaft wird eine Bewusstseinsfrage werden.“43
In Freuds Seelenmodel ist das Unbewusste das jeweils persönliche Unbewusste des Menschen. Es besteht aus primär nicht bewussten Seeleninhalten wie auch aus vergessenen und insbesondere aus verdrängten Seeleninhalten.
Demgegenüber ist das Unbewusste bei C. G. Jung nicht nur ein persönliches. Bei Jung ist die Struktur der Psyche in fünf Schichten gegliedert. Die erste Schicht ist das Ich, die zweite Schicht das Bewusstsein, die dritte das persönliche Unbewusste; die vierte Schicht ist der Teil des kollektiven Unbewussten, der bewusst gemacht werden kann, der nie bewusst zu machende Teil des kollektiven Unbewussten bildet die fünfte Schicht. Die tiefste, fünfte Schicht hat den größten Umfang. Auf ihr ruhen übereinander geschichtet nach Art einer Pyramide die übrigen Schichten und die Spitze bildet das Ich.44 Die Schicht des persönlich Unbewussten entspricht dem Unbewussten bei Freud; es bildet sich im Laufe der persönlichen Entwicklung und beinhaltet Vergessenes und Verdrängtes. Die vierte Schicht des kollektiven Unbewussten, das bewusst werden kann, ist das phylogenetische Unbewusste im Unterschied zu dem persönlichen Unbewussten, das auch das ontogenetische Unbewusste genannt werden kann. Inhalt des phylogenetischen, also des kollektiven Unbewussten sind die Archetypen. „Bei den Archetypen handelt es sich nicht um ererbte Vorstellungen sondern um ererbte Bahnungen.“45 Ihre Sinnbilder und Bedeutungen reichen vom Anorganischen bis hinauf zum Geistigen: Gott und Satan, Riese und Zwerg, Elfe und Hexe, Fisch und Drache, Sonne und Mond, Baum und Berg, Erde, Feuer, Wasser und Luft, Kreis und Mandala, Paradies und Sündenfall – um nur einige Beispiele zu nennen.
Das Ich als Spitze der psychischen Struktur wird von Jung folgendermaßen beschrieben: „[U]nter Ich verstehe ich einen Komplex von Vorstellungen, der mir das Zentrum meines Bewusstseinsfeldes ausmacht und mir von hoher Kontinuität und Identität mit sich selber zu sein scheint. Ich spreche danach auch von Ich-Komplex. Der Ich-Komplex ist ein Inhalt des Bewusstseins sowohl wie eine Bedingung des Bewusstseins; denn bewusst ist mir ein psychisches Element, insofern es auf den Ich-Komplex bezogen ist. Insofern aber das Ich nur das Zentrum meines Bewusstseinsfeldes ist, ist es nicht identisch mit dem Ganzen meiner Psyche, sondern bloß ein Komplex unter anderen Komplexen.“46 Allerdings ist auch das Ich, wie das gesamte psychische System bei Jung immer nur mehr oder weniger bewusst. „Es ragt in individuell unterschiedlichem Grade in den Bereich des Unbewussten hinein. Im Laufe des Lebens entdecken wir uns erst allmählich, nehmen Licht- und Schattenseiten, Grenzen und Möglichkeiten in uns wahr, integrieren wir bisher unbewusste Anteile des Ichs.“47 Im Weiteren unterscheidet Jung das Ich vom Selbst, „insofern das Ich nur das Subjekt des Bewusstseins, das Selbst aber das Subjekt meiner gesamten also auch der unbewussten Psyche ist. In diesem Sinne wäre das Selbst (ideelle) Größe, die das Ich in sich begreift.48
Bei C. G. Jung erkennen wir ein sehr differenziertes und komplexes Bild von der Seele, das über die Berücksichtigung der individuellen Seele auch überindividuelle Aspekte miteinbezieht.
Offensichtlich handelt es sich bei den hier erwähnten drei großen Psychologien vom Anfang des 20. Jahrhunderts, die sich zu psychologischen Therapieformen entwickelt haben, um sehr verschiedene, zum Teil einander stark widersprechende Ansätze und Richtungen im Verständnis und in der Therapie seelischer Erkrankungen.
Im Vordergrund der Psychotherapeutischen Richtungen stehen einerseits ein Verständnis der Seele und eine Ordnung ihrer verschiedenen Funktionen, andererseits eine Bearbeitung des Phänomens des Bewusstseins mit Betonung des unbewussten Anteils am Bewusstsein (Freud und Jung) beziehungsweise einer Ablehnung des Bewusstseins für die Psychologie in den Anfängen der Verhaltenspsychologie (Watson) – die sich natürlich, wie die Psychoanalyse und analytische Psychologie und Anthroposophie auch, im Lauf des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts erheblich weiterentwickelt haben.
Aus heutiger Sicht haben Psychologen, Mediziner und Philosophen sehr unterschiedliche Vorstellungen von dem, was die Seele sei. Der Medizinnobelpreisträger Francis Crick, Entdecker der Struktur des DNA-Moleküls, beschreibt beispielsweise in seinem Buch Was die Seele wirklich ist: „[S]ie [die Seele, Anm. d. Verf.], ihre Freuden und Leiden, ihre Erinnerungen, ihre Ziele, ihr Sinn für ihre eigene Identität und Willensfreiheit – bei alledem handelt es sich in Wirklichkeit nur um das Verhalten einer riesigen Ansammlung von Nervenzellen und dazugehörigen Molekülen […].“49 „Ein moderner Neurobiologe braucht die religiöse Vorstellung einer Seele nicht, um das Verhalten von Menschen und anderen Lebewesen zu erklären; […] wir müssen also schärfer fassen, worum es geht. Die wissenschaftliche Überzeugung besteht darin, dass unser Geist – das Verhalten unseres Hirns – sich durch die Wechselwirkungen von Nervenzellen (sowie anderen Zellen) und den dazugehörigen Molekülen erklären lässt. Für die meisten Menschen ist dies eine wirklich überraschende Vorstellung. Es fällt nicht leicht zu glauben, dass ich das differenzierte Verhalten einer Menge von Nervenzellen bin, auch wenn es noch so viele und ihre Wechselbeziehungen noch so verwickelt sind.“50
Ganz anders sieht dies der amerikanische Philosoph Alva Noë in seinem Buch: Du bist nicht dein Gehirn – eine radikale Philosophie des Bewusstseins51, in dem er formuliert: „Damit wir das Bewusstsein von Mensch und Tier verstehen können, dürfen wir den Blick nicht in die stillen Winkel unseres Inneren richten, sondern müssen untersuchen, wie jeder Einzelne von uns als ganzheitliches Lebewesen das Leben in der Welt, mit der Welt und als Reaktion auf die ihn umgebende Welt lebt. Das erlebende Subjekt ist nicht ein Stück Fleisch unseres Körpers. Wir sind nicht unser Gehirn. Das Gehirn ist vielmehr ein Teil dessen, was uns ausmacht.“52 Weiter heißt es: „Das Bewusstsein ist nicht etwas, das unser Gehirn allein hervorbringt, sondern es erfordert die Zusammenarbeit von Gehirn, Körper und Welt. Es wird von einem ganzheitlichen Lebewesen im Kontext seiner Umwelt hervorgebracht. Kurzum, ich streite ab, dass wir unser Gehirn sind. Aber ich leugne nicht, dass wir ein Gehirn haben. Und ganz gewiss bezweifle ich nicht, dass wir einen Geist haben. Doch braucht es mehr als ein Gehirn, um einen Geist zu haben. Gehirne haben keinen Geist, Menschen (und Tiere) hingegen schon.“53
Für den bekannten deutschen Hirnforscher Gerhard Roth ergibt sich wieder ein anderes Verständnis von Bewusstsein, Persönlichkeit und Seele: „Das limbische System ist der Entstehungsort unserer Persönlichkeit und damit des Psychischen. Es überrascht deshalb nicht, dass alle psychischen Erkrankungen mit Fehlfunktionen einzelner limbischer Zentren und ihrer Wechselwirkung untereinander und mit nichtlimbischen, zum Beispiel kognitiven Hirnarealen verbunden sind. Die Erforschung dieses Zusammenhangs ist ein aktuelles und höchst wichtiges Thema, bei dem es bisher leider nur wenig wirklich gesicherte Erkenntnisse gibt. Dies hat, wie bereits kurz angedeutet, seine Gründe teils in der Komplexität psychischer Zustände und Erkrankungen, teils in der Tatsache, dass die Aktivität subcortikaler limbischer Hirnareale mit Hilfe der funktionellen Kernspintomographie viel schwieriger zu erfassen ist, als diejenige kognitiver kortikaler Zustände. Auch die Geschehnisse und Defizite auf neuropharmakologischer Ebene bei psychischen Erkrankungen sind alles andere als eindeutig.“54
Für den Heidelberger Psychosomatiker G. Rudolf ist die Leib-Seele-Diskussion ein Scheinproblem: „Der lebende Körper ist nicht bloß Materie im physikalischen Sinne und das Psychische, das Mentale, ist nicht Bestandteil einer höheren geistigen Welt. In der Tat sind mentale Prozesse an die Architektur und die Funktionsweisen des zentralen Nervensystems gebunden. Im synaptisch vernetzten System von Milliarden Nervenzellen erfolgt eine abgestimmte Aktivierung an verschiedenen Orten, in der Großhirnrinde, in der Formatio reticularis und im limbischen System, wobei Letzteres den kortikalen Prozessen der Wahrnehmung und des Denkens die emotionale Bedeutung und die gedächtnishafte Verknüpfung gibt. Die lokale Aktivierung des ZNS während mentaler Prozesse kann an der Stoffwechselaktivität und gesteigerten Durchblutung abgelesen werden. Geistiges oder Seelisches lässt sich somit als körperliches Aktivierungsmuster im ZNS beschreiben. Dabei geht es zunächst um die Wahrnehmung der Außenwelt und die emotionale Bewertung des Wahrgenommenen; das Bewusstsein dieser Vorgänge folgt mit einer gewissen Verzögerung, das heißt es ist Folge, nicht Ursache.“55
Die Situation ist also weiterhin kontrovers. Sind Seele, Geist, Bewusstsein eigenständige menschliche Qualitäten und Fähigkeiten – oder sind sie Folge hirnphysiologischer Vorgänge? Ist der Mensch sein Gehirn – oder ist er ein Wesen, das Leib, Seele und Geist besitzt und damit leibliche, seelische und geistige Eigenschaften und Fähigkeiten hat?
Die erste Wissenschaft, in der es der Geist mit sich selbst zu tun hat, ist die Psychologie.Der Geist steht sich betrachtend selbst gegenüber.
Rudolf Steiner56
Die Seele ist das Thema der Psychologie und – im Zusammenhang mit seelischen Erkrankungen und ihrer Therapie – auch der Psychotherapie und Psychiatrie.
Nun können Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie, ja, kann die ganze Medizin keine reine Naturwissenschaft sein57, da die Seinsbereiche des Menschen offensichtlich über das mit naturwissenschaftlichen Methoden Erfassbare hinausreichen. Viele Bereiche und Phänomene des Menschen, die wir der Seele oder dem Geist zuschreiben und mit denen sich die Medizin beschäftigt, sind nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden allein zufriedenstellend erklärbar. Dies zeigen beispielsweise Phänomene wie Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Persönlichkeit, Intentionalität, Wille, Gefühle, Gedanken, Erinnerungen, Ethik und Würde, aber auch Schmerz und die subjektive Bewertung von Erlebnissen.
Die Seele ist naturwissenschaftlich nicht fassbar. Aber sie ist eine menschliche Wirklichkeit.58 Auch der Mensch ist naturwissenschaftlich allein nicht zu fassen. Deshalb sind geistes,-kunst- und kulturwissenschaftliche Ergänzungen für die Medizin notwendig.59
„Das naturwissenschaftliche Leitbild der heutigen Medizin entspricht in seiner Begrifflichkeit den exakten Naturwissenschaften im klassischen Sinne. In Bezug auf die Wirklichkeit des Menschen in Gesundheit und Krankheit bedeutet dies einen krassen methodologischen – und damit erfahrungsgemäß letztlich auch ontologischen – Reduktionismus, dem man ja fernab vom Patienten aus heuristischen Gründen der subjektiven Neigung huldigen mag, der sich aber gegenüber der Wirklichkeit des kranken Menschen und der konkreten Arzt/ Patienten-Begegnung stets als zu kurz gegriffen und in seinen praktischen Folgen oftmals als fragwürdig erweist.“60
Die Anthroposophische Medizin versteht sich als eine spezifische geisteswissenschaftliche Ergänzung zur naturwissenschaftlichen Medizin. „Nur ein Mehr-Sein als Naturwissenschaft in dem oben zitierten Sinne verleiht der Medizin überhaupt erst ihre Wissenschaftlichkeit.“61
Auch das jahrhundertealte Leib-Seele-Problem62 hat sich für die Naturwissenschaft als nicht lösbar gezeigt. Es wird lediglich „Geistiges oder Seelisches als körperliches Aktivierungsmuster im ZNS“ behauptet63. Damit werden wir aber der Wirklichkeit der Seele nicht gerecht. Die Seele oder das Psychische als Folge von Hirnaktivität zu beschreiben, ist Ausdruck eines naturwissenschaftlichen Reduktionismus, der nur Sichtbares und Messbares gelten lassen möchte und nicht-materielle Phänomene ignoriert beziehungsweise auf Materielles reduziert. Dabei soll hier nicht bezweifelt werden, dass neurophysiologische Vorgänge notwendige Bedingungen für seelische Vorgänge sind; aber sie sind nicht die Seele.
„Wir sind uns als bewusste Wesen unzweifelhaft gewiss. In dieser elementaren Tatsache beweist sich, dass die Seele nicht ein bloßes Hirngespinst ist. Versteift man sich dennoch auf diese Ansicht, so müsste man angeben, wer denn der Träger dieses Hirngespinstes ist, eine Frage, die die Neurophysiologie nicht beantwortet.“64
Wenn ein Mensch in Erinnerungen schwelgt, sich Gedanken macht, Gefühle hat, Schmerzen spürt, oder einen Willensentschluss fasst, so ist sich dieser Mensch dessen mehr oder weniger bewusst, das heißt, er weiß darum und er kann seine Gedanken, Erinnerungen steuern, seine Schmerzen deuten, seine Gefühle bewerten. Denn es ist der Mensch, der das alles hat, es erlebt und spürt und damit deutend, wertend, verändernd umgehen kann; es ist nicht sein Gehirn, das fühlt oder denkt oder erinnert, Schmerzen spürt oder handelt, es ist immer der Mensch – und das Gehirn ist lediglich die notwendige (aber nicht hinreichende) Bedingung für das bewusste Erleben der genannten Phänomene.
Vor dem Hintergrund der angedeuteten historischen Entwicklung eines Verständnisses von der menschlichen Seele und im Kontext der zu Rudolf Steiner zeitgenössischen Psychologien am Beginn des 20. Jahrhunderts und unter Einbeziehung heutiger wissenschaftlicher Standpunkte eines Verständnisses von der Seele, nimmt das von Steiner in der Anthroposophie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts entwickelte Bild von der Seele eine eigenständige, einmalige und umfassende Position ein. Es passt in keine der gängigen philosophischen, naturwissenschaftlichen oder esoterischen Schubladen, sondern es hat in seiner Komplexität und Differenzierung eine eigenständige Bedeutung und Relevanz für Medizin, Psychologie und Psychotherapie.
Das Menschenbild der Anthroposophie ist ein differenzierter und in sich gegliederter Monismus, der als Trichotomie (leibliche-seelische und geistige Dreigliederung) beschrieben werden kann: „Der Mensch besteht aus Leib, Seele und Geist.“6566 In dieser Dreigliederung von Leib, Seele und Geist nimmt die Seele eine Mittelstellung ein, wie es der Blick in die Geschichte der Seele schon mehrfach gezeigt hatte. Sie hat sowohl zum Leib einerseits wie auch zum Geist andererseits Berührungen und Beziehungen. Dabei zeigt sich die Seele zwar als eigenständig in ihren Eigenschaften und Funktionen, nicht aber als unabhängig vom Leib. Der Leib und dessen organischen Funktionen dienen in unterschiedlicher Weise und Bedeutung der Seele und dem Ich des Menschen als Entwicklungs- und Verwirklichungsgrundlage im Lauf des Lebens. Wobei mit Leib im Unterschied zu Körper immer der belebte Leib des Menschen gemeint ist. Die Seele selbst ist eine offensichtlich immaterielle, nichtphysische, in diesem Sinne psychische Organisationsform, die, da sie nicht physisch-materiell ist, auch mit unseren Sinnen oder mit technischen Apparaten nicht wahrnehmbar ist. Dies hat immer wieder dazu verführt, eine Existenz der Seele abzulehnen, weil sie nicht sichtbar sei. Man denke hier beispielsweise an den berühmten Ausspruch des großen Pathologen Rudolf Virchow (1821–1902): „Ich habe so viele Leichen seziert und nie eine Seele gefunden.“
Die sich zu einer Naturwissenschaft entwickelnde Psychologie im Beginn des 20. Jahrhunderts hatte keinen Begriff von der Seele; sie beschäftigte sich ausschließlich mit empirischen und messbaren Phänomenen. So kam es zu der Bezeichnung einer „Psychologie ohne Seele“. Dies war die Situation, auf die Steiner Bezug nahm. 1879 hatte Wilhelm Wundt das erste „psychologische Labor“ eröffnet; er hatte zuvor in Heidelberg „Experimentelle Physiologie“ und „Medizinische Physik“ gelehrt und sich für eine wissenschaftliche Psychologie engagiert, was nach seinem Verständnis ausschließlich naturwissenschaftlich bedeutete und die Methoden der Naturwissenschaft, das Experiment und die Statistik, auf die Fragestellungen der Psychologie anzuwenden.67 „Diese Reduzierung der Psychologie auf die experimentelle und die gleichzeitige Ausdehnung des Experiments auf die ‚höheren geistigen Vorgänge‘ blieb – von philosophischer Seite – nicht unwidersprochen: Wilhelm Dilthey (1833–1911) bezeichnete die experimentelle Psychologie als ‚Psychologie ohne Seele‘.“68 Ähnlich hatte sich bereits Franz Brentano (1838–1917), bei dem Steiner in Wien Psychologie-Vorlesungen gehört hatte, 1874 in seiner Schrift Psychologie vom empirischen Standpunkt kritisch gegen Wundt geäußert. „Im selben Jahr, in dem Wundt seine ‚Grundzüge der physiologischen Psychologie‘ veröffentlichte, wandte sich Brentano gegen die ‚Spekulation über hypothetische physiologische Mechanismen‘, die ebenso zu vermeiden seien wie ‚metaphysische Spekulationen‘.“69 Es gibt aber unbezweifelbar viele Tatsachen und Phänomene die nicht materieller Natur und damit nicht sichtbar sind, manchmal dennoch in ihren Folgen messbar, wie zum Beispiel Energie, Elektrizität, Wachstum oder Phänomene wie Gerechtigkeit, Liebe, Treue, Sicherheit, Vertrauen und andere mehr, die unser Leben beeinflussen und prägen können, obwohl noch nie ein Mensch diese „Dinge“ gesehen hat.
Die Seele ist in ihrer Wirklichkeit ein nicht sichtbarer, nicht physischer, nicht materiell-räumlicher Organismus. Wir können sie uns als einen „energetischen“ Organismus oder als Kraft- beziehungsweise als Fähigkeiten-Organismus vorstellen. Organismus meint in seinem ursprünglichen Sinn aus dem Griechischen „Organon“ abgeleitet: Werkzeug, Instrument. Insofern ein Organismus auf ein Ziel hin orientiert ist, also zielgerichtet (teleologisch) ist, ist er, wie bereits Aristoteles beschrieben hat, immer mehr als die Summe seiner Teile; er bildet ein Ganzes, das seinem Ziel als „Werkzeug“ dient und das gleichzeitig sein Ziel in sich selbst hat, seine Entelechie. Dieses Ziel kann für den physisch-lebendigen Organismus Leben genannt werden; für den seelischen Organismus kann es Erleben und Erfüllung sein, für die „Ich-Organisation“, den geistigen Organismus kann es sinnvolle Lebensführung sein. Der leibliche Organismus dient also dem Leben (physiologisch-biologisches Leben); der seelische Organismus dient dem Erleben (Seelenleben) und der geistige Organismus dient der Orientierung an der Sinnhaftigkeit im bewusst geführten Leben (Biografie).
„Eine ganzheitliche Betrachtung des Menschen, eine ganzheitliche Medizin konstituiert sich nicht dadurch, dass der Leib des Menschen als ein Gebilde ausschließlich materieller Vorgänge aufgefasst wird und additiv ein abstrakter seelischer Bereich hinzu hypostasiert wird, sondern durch das Begreifen des Leibes und aller seiner Prozessrichtungen als Ausdruck des Seelischen und Geistigen des Menschen, durch das Aufzeigen, dass der menschliche Leib nie nur Körper der materiellen Dingwelt ist.“70
Der Zusammenhang von Leib, Seele und Geist ist also kein additiver, kein zusammengesetzter, sondern ein dynamischer, ein sich wechselseitig bedingender wie auch erfüllender, bei aller wesensgemäßen Verschiedenheit der Qualitäten von Leib, Seele und Geist.